Jesses Erbe - Hans Schneeweiß - E-Book

Jesses Erbe E-Book

Hans Schneeweiß

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Beschreibung

Dem Wiener Reporter Hanno Hohenberg werden bei der Beerdigung seiner Kollegin zwei Super-8-Filme zugesteckt. Da die Aufnahmen von schlechter Qualität sind, ist darauf nur wenig zu erkennen. Die Tatsache aber, dass dies etwas mit dem Tod der Kollegin auf sich haben könnte, lässt ihn nicht mehr los und er beginnt zu recherchieren. Seine intensiven Nachforschungen führen Hanno schließlich auf die Spur eines dunklen Geheimnisses. Als er merkt, dass er längst im Fadenkreuz seines Gegenspielers gelandet ist, wird es für ihn immer enger...

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Ähnliche


HANSSCHNEEWEIß

JESSESERBE

KRIMINALROMAN

Dachbuch Verlag

1. Auflage: November 2020

Veröffentlicht von Dachbuch Verlag GmbH, Wien

ISBN 978-3-903263-25-3

EPUB ISBN 978-3-903263-26-0

Copyright © 2020 Dachbuch Verlag GmbH, Wien

Alle Rechte vorbehalten

Autor: Hans Schneeweiß

Lektorat: Nikolai Uzelac

Korrektorat: Ines-Mercedes Freitag, Teresa Emich

Satz: Daniel Uzelac

Umschlagmotiv: Alessandro Cristiano/Shutterstock.com

Umschlaggestaltung: Katharina Netolitzky

Besuchen Sie uns im Internet

www.dachbuch.at

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Prolog

»Ein Wahnsinn … diese Stimmung. Ich bin so glücklich!«, sagt sie. »So muss es allen anderen hier auch gehen. Rundherum nur fröhliche Menschen.«

Jeder hat ein Lächeln im Gesicht. Viele halten sich an den Händen oder gehen eingehängt. Ein paar singen. Mit ihnen gehen wir nach Tel Aviv. Es ist eine warme Nacht. Die Lichter der Stadt lassen das Meer glitzern. Wenn mir vor zwei Wochen jemand gesagt hätte, dass ich das alles erleben werde, hätte ich ihn ausgelacht.

»Vorne sind schon die ersten Häuser«, sagt sie dann.

»Es ist nicht mehr weit.«

»Schade eigentlich. Das war der schönste Nachtspaziergang meines Lebens.«

»Du bist noch nicht oft in der Nacht spazieren gegangen, oder?« Sie zwickt mich in die Seite.

»Ich will, dass es immer so zwischen uns bleibt«, sage ich und gebe ihr einen Kuss.

Die ersten Häuser. Eine asphaltierte Straße. Wir sind wieder im bebauten Stadtgebiet angekommen. Hier erleuchten Straßenlaternen die Nacht. Wirklich schade. Wenn ich könnte, würde ich gerne die vergangenen Stunden noch einmal erleben.

Wir lassen uns im Menschenstrom noch eine Weile dahintreiben und drängen uns dann auf der linken Seite an den Rand. Biegen in eine Gasse ab. Jetzt sind es nur mehr zehn Minuten bis zum Haus.

Da rast ein Lieferwagen heran. Neben uns bleibt er mit quietschenden Reifen stehen. Die Türen fliegen auf. Zwei dunkle Gestalten springen heraus. Sie schreit. Einer stülpt mir einen Sack über den Kopf. Ich versuche, mich zu wehren. Sie ziehen mich in den Lieferwagen hinein. Der Wagen fährt los.

Zwei Wochen zuvor

1

Hä? Was ist denn da …? Mein Büro … Schränke sind aufgebrochen, Aktenordner aufgerissen, Schnellhefter zerfetzt, Zettel zerrissen, dazwischen liegen Magazine und Zeitschriften. Alles übereinander, untereinander, durcheinander. Und unsere Tischbildchen, die paar Kakteen und Überraschungseier-Figuren, die wir über die Jahre hinweg gesammelt haben, irgendwo am Boden verstreut. Was für ein Saustall! Claudias Computer ist weg. Claudia … Ihren Arbeitsplatz hat es am ärgsten erwischt. Meiner gegenüber schaut noch relativ geordnet aus. Dort herrscht der normale Wahnsinn. Auf meiner Seite sind keine Schränke offen. Da hat jemand was gesucht. Bei Claudias Sachen. Aber wer? Was? Und warum? Seit einer Woche war sie nicht mehr da. Waren die Einbrecher auch in den anderen Redaktionsräumen? Ich schaue hinüber. Liegt viel herum, schaut aber doch ganz normal aus. Ich muss den Chef anrufen. Aber der schläft sicher noch. Was würde er auch sagen? Ruf die Polizei! Und dann einen langen Vortrag halten. Dass die Pressefreiheit in unserem Lande gefährdet sei und so weiter. Die Zeit, mir das anzuhören, will ich mir nicht nehmen. Ich rufe gleich die Polizei. Eine halbe Stunde später stehen zwei Herren in dunkler Uniform vor der Eingangstür. Ich lasse sie herein.

»Benny?«, frage ich. Einer der beiden sieht einem meiner ehemaligen Schulkollegen verdammt ähnlich.

»Hanno?«, fragt er. »Wir haben uns ewig nicht mehr gesehen.«

Wir schütteln lange die Hände.

»Du warst, glaube ich, zwei Klassen über mir. Im Sportunterricht waren wir aber immer zusammen«, sage ich.

Er klopft mir auf die Schulter.

»Ich kann mich an jedes Tor, das du mir geschossen hast, erinnern.«

»Echt?«

»Waren es zwei oder drei?« Er grinst. »In den ganzen Jahren …«

»Das waren mindestens vier«, sage ich und lache. »Äh, … ich wusste gar nicht, dass du bei der Polizei …«

»Chefinspektor«, sagt Benny. »Heute ist Not am Manne. Der Staatsbesuch.« Er deutet auf den zweiten Polizisten. »Mein Kollege Jurek.«

Ich schüttle auch seine Hand.

»Also …«, sagt er. »Es wurde eingebrochen?«

Ich zeige zu meiner offenen Bürotür. Er schaut sich zuerst die Eingangstür an. Macht sie auf und zu und beugt sich hinunter zum Schloss.

»Hier gibt es keine Einbruchsspuren. Ist dir etwas aufgefallen, als du hereingekommen bist?«

»Nein.«

»Und bei deiner Bürotür?«

»Auch nicht. Die Tür ist mit einem Magnetschlüsselsystem gesichert.«

Ich halte ihm meinen Schlüsselbund hin und ziehe das kleine Ding mit dem runden Metallteil heraus.

»Solche Schlüssel kann man nicht nachmachen«, sagt Benny.

»Das heißt … sie haben einen gehabt?«

»Von dem ist auszugehen. Aber wir wissen noch nicht, ob es mehrere Täter waren.«

»Natürlich.«

So kenne ich ihn gar nicht. Beim Fußball haben sie ihn immer ins Tor gestellt, weil er nicht unbedingt … Egal.

»Schaut euch einmal drinnen um. Ich mach mir einen Kaffee.« Den vierten. In der Zeit, in der ich auf die Polizei gewartet habe, habe ich schon drei getrunken. »Kommt auch die Spurensicherung?«, frage ich ins verwüstete Büro hinein.

»Wir sind die Spurensicherung«, antwortet Benny.

Während der Automat surrt, höre ich sie drinnen reden. Mit meinem Automatenkaffee stelle ich mich in den Türrahmen. Die beiden schauen sich in dem Durcheinander um. Jurek macht mit einer kleinen Kamera Fotos.

»Ist irgendetwas Besonderes in den letzten Tagen passiert?«, fragt mich Benny.

»Claudia, meine Bürokollegin, ist gestorben.«

»Wann ist das passiert?«

»Der Chef hat uns gestern gesagt, dass sie umgebracht worden ist. Und dass man sie schon in der vergangenen Woche gefunden hat. Mehr hat er nicht gewusst. Da müssten deine Kollegen mehr wissen.«

»Werde mich mit denen gleich kurz schließen«, sagt Benny, holt ein Mobiltelefon aus der Tasche, wählt eine Nummer und telefoniert.

Das war vielleicht ein Schock … Claudia. Die beste Kollegin, die ich mir hätte wünschen können. Nicht nur, weil sie fast nie da war und ich das Büro für mich allein gehabt habe. Wenn sie einmal herinnen war, ist dauernd der Schmäh gelaufen und Musik im Hintergrund. Unser Büro war das Partyzimmer der Redaktion. Und jetzt ist sie tot. Wer, wann, wo, wie und warum haben gestern alle gleichzeitig den Chef gefragt. Aber der hat eben nicht viel gewusst. Vielleicht weiß Benny jetzt mehr.

»… okay«, höre ich ihn sagen, als er auflegt.

»Und?«, frage ich.

»Weißt du, woran sie zuletzt gearbeitet hat?«, übergeht er meine Frage.

»Nein. Claudia war das letzte Mal vor einer Woche da. Genau … gestern vor einer Woche. Am vergangenen Montag. In der Zwischenzeit kann sie alles Mögliche aufgerissen haben.«

»War sie irgendwie anders? Ist dir was aufgefallen?«

»Nein. Gut aufgelegt. So wie immer. Und? Weißt du was?«, frage ich erneut und nippe an meinem Kaffee.

»Es gibt natürlich einen pathologischen Befund. Aber der ist unter Verschluss. Der Einbruch könnte mit ihrem Tod zusammenhängen. Laufende Ermittlungen, du verstehst.«

»Aber ihr Begräbnis war gestern.«

»Sie wurde schon bestattet?«, fragt Benny.

»Ich war als einziger von der Redaktion dort. Wir haben gerade Schlussproduktion. Das Heft muss fertig werden. Außer Wolfgang, ihren Mann, hab ich niemanden gekannt.«

Er deutet auf den leeren Platz am Tisch. »Die Einbrecher haben ihren Computer mitgenommen?«

»Ich glaube nicht, dass sie besonders wichtige Sachen darauf gespeichert hatte. Sie hat meistens zuhause gearbeitet, hat nur die Ausstattung und die Bildtexte hier herinnen gemacht.«

»Herr Chefinspektor! Das müssen Sie sich ansehen«, sagt der andere Polizist.

Benny dreht sich zu seinem Kollegen. Dieser zeigt auf ein paar offene Aktenordner am Boden.

»Es gibt jede Menge Fußspuren. Die sind da überall draufgestiegen«, erklärt er.

»Aufnehmen!«

»Hab ich schon. Meine erste Analyse hat ergeben, dass es sich um drei Täter gehandelt haben muss. Da!« Er zeigt auf drei offene Aktenordner am Boden.

»Drei verschiedene Schuhprofile …«, murmelt Benny. »Sehr gut, Jurek!«

Dann dreht er sich zu mir und fragt: »Und die anderen Räume?«

»Hab ich schon hineingeschaut«, sage ich. »Sehen aus, wie immer.« Ich gehe zur rechten Tür, öffne sie. »Wenn du willst?«

Benny schaut in den Raum, geht ein paar Schritte hinein, bleibt stehen, kommt zurück und schaut sich auch den anderen Redaktionsraum an, in den ich mit meinem Schlüssel reinkomme.

»Da waren sie anscheinend nicht. Welche Geschichten macht ihr so?«, fragt er, als er sich langsam wieder zu mir dreht.

»Politik, Geschichte, Science, Wirtschaft, Menschen. Alles quer durch die Bank.«

»Ich hab euer Magazin, glaube ich, irgendwann einmal beim Zahnarzt durchgeblättert. Hatte deine Kollegin ein besonderes Ressort?«, fragt er.

»Nein, aber der ist immer irgendwas eingefallen.« Ich trinke meinen Kaffee aus.

»Und du?«

»Ich hatte meine großen Momente. Gleich, als ich zum Magazin gekommen bin. Damals hab ich eine Titelstory nach der anderen geschrieben.«

»Und jetzt?«

»Momentan kümmere ich mich um den Kleinkram … Ankündigungen und so.«

»Dem Superjournalisten fehlt also die große Story?«, sagt Benny und schmunzelt.

»Hat der Superbulle große Fälle?«, beiße ich zurück.

»Nananana! Glücklicherweise sind wir hier in Wien. Da ist alles gemütlich.«

Wir gehen wieder in mein Büro. Jurek ist noch mit den Aktenordnern beschäftigt.

»Wo ist eure Toilette?«, fragt Benny.

»Am Gang. Die Tür gegenüber.«

Ich gehe mit ihm auf den Gang hinaus, deute auf die Tür. Er geht hinein. Ich lasse meinen leeren Kaffeebecher in den Bechersammel-Container rutschen. Ein paar Minuten später kommt er zurück.

»Auf der Toilette waren sie nicht. Dort gibt es keine Spuren.«

»Mir ist gerade was eingefallen«, sage ich. »Als ich vorhin …« Ich schaue auf meine Armbanduhr. »Vor fast einer Stunde … Als ich vor dem Haus über die Straße gegangen bin, hätte mich beinahe ein Auto überfahren.«

»Was …?«, fragt Benny und runzelt die Stirn.

»Ich habe das Auto nicht kommen hören. Wenn es die Straße entlang gefahren wäre, hätte ich es gehört. Das muss vorm Haus, direkt vorm Eingangstor gestartet und weggeschossen sein.«

»Du meinst –«

»Ich weiß es nicht«, sage ich.

»Kannst du das Auto beschreiben?«

»Ein dunkelblauer BMW. W 9731 BF.«

Benny notiert das Kennzeichen auf einem Notizblock. »Kann aber auch Zufall sein. Wir werden uns die Sache anschauen.«

Sein Kollege packt ein paar von Claudias Aktenordnern zusammen.

»Die müssen wir mitnehmen. Das sind die mit den Fußspuren«, sagt er. »Es gibt noch ein bisschen Papierkram zu erledigen. Drinnen sind wir fertig.«

»Ihr habt gar keine Fingerabdrücke genommen und auch nach keiner DNS gesucht?«

»Du schaust zu viele Krimis«, sagt Benny und lacht.

Im Tatort im Fernsehen ist der Pathologe oder der Forensiker oft wichtiger als der Hauptkommissar selbst. Und der Bösewicht ist immer schon nach eineinhalb Stunden gefasst. Würde mich wundern, wenn die beiden auch so flott wären.

Jurek kommt mit einem Block. Wir nehmen noch das Protokoll auf. Alles, was ich Benny erzählt habe, will er noch einmal wissen und schreibt es auf. Dann sind meine technischen Daten gefragt: Name, Adresse und Telefonnummer – weil ich die Polizei gerufen habe. Danach verabschieden sich die beiden.

»Hanno«, sagt Benny beim Rausgehen und hält mir seine Visitenkarte hin. »Falls dir noch was einfällt.«

»Oder damit wir uns auf ein Bier verabreden können. Müssen wir unbedingt einmal machen.«

Bennys Kollege grinst. Dann sind sie weg. Das Ganze hat keine dreiviertel Stunde gedauert.

Wieder allein im Büro setze ich mich auf meinen Sessel. Was ist da los? Claudia ist umgebracht worden. Und dann bricht noch jemand hier ins Büro ein? Ist sie bei ihrer Recherche irgendjemandem auf die Füße getreten? Hat sie irgendwas herausgefunden, was sie nicht rausfinden hätte sollen?

»Was ist denn da passiert?« Mit offenem Mund steht der Chef in der Tür. »Hast du was gesucht, Hanno?« Er hat sein blaues Sakko an und kratzt sich am Kopf. Zwischen seinen drei grauen Haaren.

»Ich nicht«, antworte ich. »Da hat jemand eingebrochen.«

»Bei uns in der Redaktion?«

»Nur hier im Büro. Die waren bei Claudias Platz«, sage ich.

»Du musst sofort die Polizei verständigen.«

»Die war schon da und hat alles aufgenommen.«

»Die war schon da? Seit wann bist du denn herinnen?«, fragt er und stellt seine Tasche auf meinen Tisch.

»Ich bin früh rein gefahren, weil ich meinen letzten Artikel fertig machen wollte.«

»Und was sagt die Polizei?«

»Dass der Einbruch anscheinend mit Claudias Tod in Verbindung steht. Weißt du, woran sie zuletzt gearbeitet hat?«

»Sie hat mir vor einer Woche nur erzählt, dass sie hinter einer großen Story her ist. Näheres wollte sie mir erst später sagen.«

»Welche große Story?«

»Darüber zerbreche ich mir schon die ganze Zeit den Kopf.« Er greift sich mit der Hand an die Stirn. »Sie hatte so viele Themen. Da kann sie an allem dran gewesen sein … Nicht einmal eine Andeutung hat sie gemacht.«

»Ja, wenn die hinter irgendetwas her war, dann war sie verschwiegen wie ein …«

»Ich weiß auch nicht, wie man damit umgeht.«

»Es ist furchtbar«, sage ich.

»Wie war das Begräbnis gestern?«

»Der Pfarrer dürfte sie gar nicht gekannt haben. Der hat nur Standardsätze runtergebetet. Und es hat geregnet.«

Er schaut auf das Durcheinander. »Was haben die nur gesucht?«

Ich greife in meine Tasche, hole ein großes, orangefarbenes Kuvert heraus und sage: »Vermutlich das hier.«

2

Die Arbeit am Artikel will nicht recht. Es ist der letzte, den ich für die aktuelle Ausgabe noch abgeben muss. Das sollte mich eigentlich beflügeln, weil ich danach – bis zur Sitzung am kommenden Dienstag – hier herinnen nichts zu tun habe. Die anderen Storys sind bereits fertig. Normalerweise bin ich eher ein Deadlinejunkie, der seine Texte erst kurz vor Druckschluss abgibt. Diesmal nicht. Aber dieser eine Text ist enorm umfangreich und aufwändig und seit Langem wieder einmal ein großer Artikel. Arbeitstitel: »Der Mensch wird zum Cyborg.« Dazu habe ich viel recherchiert, zwei Bücher gelesen, vier Wissenschafter interviewt und das ganze Material dann in eine sechsseitige Geschichte verpackt. Runter geschrieben habe ich die Story schon, der Text ist aber noch zu holprig. Jetzt muss ich gründlich drüber gehen, einen Vorspann schreiben und einen schönen Titel finden. Ich hole mir noch einen Kaffee. Am Ende soll ein Artikel so klingen, als würde man ihn frei von der Leber weg seinem besten Freund erzählen. Locker und leicht. Aber bis die Wörter so richtig flutschen – das wird noch dauern.

Ich muss ständig an meinem Computer vorbei hinüberschauen zu Claudias Platz. Ich kann mich nicht konzentrieren, weil ich an die vielen witzigen Momente hier im Büro mit ihr und gleichzeitig an das Begräbnis denken muss. Dann ist da noch dieses Kuvert, das mir Wolfgang nach dem Begräbnis gegeben hat. Zwei Super-8-Filme sind drinnen. Was ist da drauf? Hat der Inhalt der Filme mit Claudias letzten Recherchen zu tun? Wurde sie deshalb umgebracht? Und wo kriege ich einen Apparat her, mit dem ich mir die Filme anschauen kann? Haben wir so einen noch im Haus? Aus! Schluss! Eins nach dem anderen. Mach erst deinen Artikel fertig, Hanno! Für alles andere hast du nachher Zeit. Mühsam quäle ich mich also durch die Zeilen. Ich habe zu oft »auch« und »noch« verwendet. Die fliegen alle raus. Ich entdecke einige vage Formulierungen. Wenn etwas so ist, wie es ist, dann ist es so. Und nicht »vielleicht«, »wahrscheinlich« oder »vermutlich.« Ganze Sätze streiche ich und formuliere um. Kürze und schreibe einen ganzen Absatz neu. Ich streiche sogar ein paar meiner Lieblingssätze – »Kill Your Darlings« heißt diese Redigierregel. Ich weiß zwar nach all den Jahren noch immer nicht, warum man gerade seine Lieblingsformulierungen löschen soll, aber dem Text tut es gut. Drei Stunden später ist es endlich geschafft. Jetzt sitzten Text und Vorspann. Nur Titel will mir keiner einfallen. »Wir Cyborgs«, »Der Mensch 2.0«, »Homo cyborgensis«. Alles kein wirklicher Burner, zu lahm. Nachdenken. Manchmal habe ich einen passenden Titel schon beim Schreiben im Kopf. Manchmal sogar gleich, wenn ich ein Thema übernehme. Diesmal nicht.

Weil mich in den darauffolgenden Minuten noch immer nicht die Muse küssen will, rufe ich Dragan an. Unseren Hauswart.

»Challo? Was gibt’s?«

Dragan ist Kroate und seit einer Ewigkeit hier im Haus. Wenn man etwas braucht, muss man ihn nur anrufen. Ich erzähle ihm von den Super-8-Filmen und dass ich sie mir anschauen will. Er klingt nicht begeistert. Wahrscheinlich muss er, um so einen alten Projektor zu finden, das ganze Lager durchkramen.

Falls es doch so ein Gerät im Haus geben sollte, wird Dragan es finden und – wie ich ihn kenne – sicher eine Stunde, wenn nicht sogar länger, fürs Suchen und Bringen brauchen. Genug Zeit also für den perfekten Cyborg-Titel. Zuerst aber noch ein Kaffee. Ich trinke zu viel Kaffee. Seitdem ich mit dem Rauchen aufgehört habe, muss ich hin und wieder meine Hände beschäftigen.

Zehn Minuten später tippe ich »Die Evolution des Menschen« in die Tastatur, drücke auf Speichern und schicke die Story ab. Der Titel ist in Ordnung. Vielleicht nicht der beste oder originellste, aber in Ordnung. Die Arbeit für das aktuelle Heft ist somit erledigt. Da klopft es an der Tür. Dragan kommt mit einem Super-8-Projektor herein. Ein Projektor mit Bildschirm. Sieht aus wie ein alter, kleiner Fernseher.

»Scheiße, was denn da passiert?«, sagt er zur Begrüßung.

Ich erzähle ihm vom Einbruch und dass die Polizei schon da war.

»Herr Hohenberg immer ganz vorne dabei«, feixt er.

Dann stellt Dragan den Super-8-Projektor auf meinen Tisch. Er wirkt etwas abgekämpft. Wie immer. Wahrscheinlich macht er, wenn er zu uns herauf muss, schnell zwanzig Liegestütze, damit er ein paar Schweißperlen auf der Stirn hat. Er steckt das Gerät an die Steckdose und schaltet es ein.

»Strom«, sagt er. »Was willst schauen?«

Ich gebe ihm eine der beiden Filmspulen. Sie sind nummeriert. Mit »2« und »3«. Er fädelt den Film in den Apparat ein und drückt auf »Start«. Der Film läuft. Aber nichts tut sich. Der Bildschirm bleibt dunkel. Dragan drückt verschiedene Knöpfe des Gerätes.

»Hm«, sagt er. »Film läuft, aber nix Bild.«

Er drückt noch einmal an den Knöpfen herum. Der Bildschirm bleibt dunkel. »Glaube Lampe kaputt«, murmelt er. »Hm …«, sagt er schließlich. »Gerät uralt. Heute alles digital … Aber vielleicht wir haben andere Lampe. Muss schauen.« Und geht zur Tür hinaus.

Ich bin irgendwie froh, dass Dragan das nicht zusammengebracht hat. Ich hätte für das gleiche Ergebnis eine gute Stunde gebraucht und wäre danach vollkommen frustriert gewesen. Wenn Dragan das Ding nicht zum Laufen bringt, dann schafft das niemand sonst. Er ist ein Mann vom Fach, sein zweiter Vorname wahrscheinlich Schukostecker. Der kennt sich aus. Ich habe zwar ein gewisses technisches Grundwissen – kann immerhin ein iPhone von einem iPad unterscheiden –, aber wenn Komplikationen auftreten – und die treten eigentlich immer auf – bin ich froh, dass es Experten gibt.

Da klopft es schon wieder an der Tür. Es ist ständig was los in diesem Irrenhaus. Ich frage mich, wie ich in den vergangenen Jahren all meine Artikel fertig stellen konnte.

»Hallo, störe ich?«, haucht es zur Tür herein. Elisa, unsere Praktikantin. Sie sieht das Durcheinander bei Claudias Platz und mich zerknirscht am Schreibtisch lehnen. »Was ist denn da los?«, fragt sie.

Ich erzähle auch ihr von dem Einbruch und der Polizei.

»Wie war das Begräbnis gestern? Du warst ja dort.«

»Es hat geregnet.«

»Und du wieder ohne Schirm?«

Als Pazifist lehne ich jede Art von Waffe ab.

»Ich war waschelnass.«

»Und sonst?«

»Nichts«, raunze ich.

Mir ist bewusst, dass das die häufigste Antwort ist, die Männer Frauen geben, wenn sie fragen, was denn los sei. Woraufhin Frauen mit einem eigenen Sinn, den sie nur für die Bewertung der Antwort auf diese eine Frage entwickelt haben, sofort wissen, dass »Nichts« eine vollkommen unvollständige Aussage ist. Ein männlicher Kollege hätte vermutlich: »Wir müssen wieder einmal auf ein Bier gehen«, gesagt und es dabei belassen. Frauen sind da hartnäckiger. Elisa kommt näher. Sie streicht mir mit der Hand durch die Haare. Das hat sie seit der letzten Weihnachtsfeier nicht mehr getan. Ja, wir hatten da was. Aber nur geschmust. Sonst nichts. Sie ist blond, schlank, mittelgroß, aber vierzehn Jahre jünger als ich, steckt mitten im Studium, ist unsere Praktikantin, und eigentlich viel zu bieder. Wenn ich damals nicht so betrunken gewesen wäre … Seitdem glaubt sie, dass da irgendetwas ist. Zwischen uns.

»Geht der noch?« Sie hat den Super-8-Apparat entdeckt.

»Film läuft, aber nix Bild.«

»Ah, Dragan war schon da«, sagt sie und lacht.

»Er sucht noch eine andere Lampe.«

»Lampe?« Sie geht zu dem Apparat und schaut ihn sich an. »Was machst du mit dem alten Ding?«

»Wolfgang, Claudias Mann, hat mir gestern nach dem Begräbnis ein Päckchen gegeben. Da waren zwei Filme drin.«

»Von Claudia?«, fragt sie.

»Von wem sonst?«

»Was ist drauf?«

»Keine Ahnung.«

Sie schaltet den Apparat ein.

»Dragan hat schon alles versucht. Die Lampe ist kaputt.«

Aber sie lässt sich nicht beirren, überprüft das Kabel, schaltet das Gerät ein und aus.

»Also der hat Strom. Müsste eigentlich funktionieren.«

Wenn Dragan schon alles ausprobiert hat, was macht sie da? Sie schaut sich nochmals das Gerät und die Kabelverbindung an und dreht an den Schaltern herum.

»Na geh, Drecksding!«, sagt sie ungeduldig und klopft mit der flachen Hand drauf. Aber auch das bringt nichts, der Bildschirm bleibt dunkel. »Vielleicht ist gar nichts auf dem Film drauf«, sagt sie.

»Gib mir mal den Film.«

Elisa spannt ihn aus, wickelt ihn auf und gibt ihn mir.

Ich schaue ihn mir von allen Seiten an. Schwarzes Plastik und der Filmstreifen. Ein normaler Super-8-Film. So wie ich ihn aus meiner Kindheit in Erinnerung habe. Ich spule ihn ein bisschen ab. Und halte den Film gegen das Licht der Deckenlampe. Da ist was drauf. Aber was? Nicht zu erkennen.

»Und wenn Dragan keine Lampe findet?«

»Dann muss ich herumfragen, wer noch so ein altes Gerät hat. Wahrscheinlich niemand. Heute ist alles digital.«

Egal, was auf dem Film drauf ist, die Suche nach einem passenden Abspielgerät wird mich wohl mehr herausfordern als der Inhalt.

»Ich hab so einen Apparat«, sagt sie.

»Und das sagst du erst jetzt?«

In diesem Augenblick klingelt das Telefon. Mit einem schlichten »Dragan«, meldet sich der Hauswart. »Habe ganze Lager gesucht«, sagt er. »Nix Lampe.«

»Ich habe mittlerweile schon einen anderen Apparat gefunden«, dabei schaue ich Elisa mit zusammengekniffenen Augen an. Sie lächelt.

»Gut. Wenn du was brauchst …«, sagt Dragen.

Ich lege den Hörer langsam auf – im Büro telefonieren wir noch mit alten Tisch-Tasten-Telefonen.

»Du hast so ein Ding?«, frage ich Elisa.

»Ein uraltes Gerät. Von meinem Vater. Als ich in die WG gezogen bin, habe ich es mitgenommen. Du musst nur zu mir kommen«, sagt sie mit einem Augenaufschlag.

Und das ist auch der Haken an der Sache.

»Wann?«, frage ich.

3

Zehn Minuten vor sieben Uhr stehe ich in der Fasangasse. Mal schauen, was die Filme hergeben. Ich läute bei Top 38 an. Sofort meldet sich eine Mädchenstimme:

»Ja?«

»Ich bin‘s. Hanno.«

»Hi.«

Im gleichen Augenblick surrt der Türöffner und ich trete durch das schwere Holztor des Gründerzeithauses ein. Hinten in der Einfahrt finde ich die Stiege und im dritten Stock die Tür mit der Nummer 38. Ich läute erneut. Eine Sekunde später öffnet sich schon die Tür. Elisa strahlt mich an. »Hi«, sage ich. Sie zieht mich hinein.

»Hallo«, sagt ein zweites Mädchen, das gerade am Herd steht und kocht. »Ich bin Bernadette.«

Die hat was, denke ich, eigentlich interessanter als Elisa. Ich grüße zurück, aber sie wendet sich gleich wieder ihrem Kochtopf zu.

»Wir teilen uns die WG«, erklärt Elisa.

»Hab ich mir gedacht. Ich hab die Filme mit«, sage ich und tippe auf meine Tasche.

»Komm!«

Hier, in der Küche, die eigentlich ein großes Vorzimmer ist, gibt es drei Türen. Elisa lenkt zur mittleren und öffnet sie in einen großen Raum. Rechts steht ein Bett, an den Wänden befinden sich Regale und Kästen und in der Mitte des Zimmers steht ein Phonomöbel mit einem Fernseher drauf. Nicht der größte, aber ein Flatscreen. Davor hat sie auf einer Kiste den Super-8-Projektor aufgestellt. Ebenfalls einer mit Bildschirm. An der Wand lehnen zwei große Polster zum Sitzen.

»Da«, sage ich und gebe ihr die Filme in die Hand.

Elisa geht wortlos zum Apparat und bückt sich hinunter, um den ersten Film mit der Nummer Zwei einzuspannen.

»Hab gestern erst einen Film geschaut. Mein Projektor funktioniert hundertprozentig! Mit der Kamera können wir ein paar Hotspots abfotografieren.« Sie deutet auf die Spiegelreflex, die daneben am Boden liegt.

»Perfekt. Habe mich schon gefragt, wie wir das Filmmaterial auf meinen Laptop kriegen.«

»Digitalisieren geht auch irgendwie. Aber das kann ich nicht.«

»Wenn wir ein paar Bilder davon machen können, ist das schon super. Übrigens hat mich vorhin der Chef angerufen, ob ich die Filme bereits gesehen habe.«

»Dem kann auch nichts schnell genug gehen. Manchmal hat der richtig Torschlusspanik«, sagt sie und verzieht ihr Gesicht.

Ich setze mich auf einen Polster.

»Magst du was trinken? Rotwein?«, fragt sie.

»Gerne«, sage ich.

Sie verschwindet kurz aus dem Zimmer und kommt mit zwei bauchigen Gläsern und einer Flasche zurück.

»Haben wir zwar schon vorhin aufgemacht, ist aber noch fast voll.«

»Dekantiert, quasi.«

»Genau«, sagt sie und schenkt uns beiden ein.

»Na dann, Prost.«

»Auf den Film!«

Ich nehme einen Schluck. Ich kenne mich mit Weinen nicht besonders aus. Weiß nicht, wann einer eine Blume hat oder noch ein bisschen Säure vertragen könnte. Und kann auch all die Geschmacksnoten nicht herausschmecken, auf die man bei einer Weinverkostung aufmerksam gemacht wird. Ich kann nur unterscheiden zwischen einem Wein, der mir schmeckt und einem, der mir nicht schmeckt. Das ist ein richtig guter Roter. Elisa startet die Filmvorführung und setzt sich auf den Polster neben mir.

»Na dann schauen wir mal …« Der Bildschirm ist hell. »Meine Lampe funktioniert«, sagt sie und strahlt.

Dann kommt ein Bild. Ein Hörsaal. Ein älterer Herr mit grau melierten Haaren schiebt gerade die Tafel hinauf. Auf der Tafel ist irgendwas. Ein Bild? Ein Bild von irgendetwas.

»Halt!«, rufe ich. »Können wir noch einmal starten? Da war was an der Tafel.«

»Okay.« Elisa geht zum Gerät, spult den Film zurück und startet ihn erneut.

Wieder rutscht gerade die Tafel hinauf. Man sieht das, was darauf ist nur zur Hälfte und kann es nicht erkennen, weil die Tafel in Bewegung ist. Irgendwas langes Dünnes. Dann wendet sich der Vortragende den Hörern zu. Gesehen hat man die zwar noch nicht, aber ich nehme an, dass jemand im Hörsaal sitzt. Der Mann spricht, macht seinen Mund auf und zu. Aber man hört nichts.

»Ist der Ton an?« frage ich.

»Ton ist voll an«, sagt sie. »Ältere Super-8-Filme haben keine Tonspur.«

Kein Ton? Das kann mühsam werden.

»Kennst du den?«, fragt Elisa.

»Noch nie gesehen«, antworte ich. »Den Hörsaal kenn ich auch nicht.«

Die Kamera fährt nach links, nach rechts und zoomt in der Mitte hinunter, fährt wieder zurück. In den Bankreihen sitzen etliche Leute. Ihre Haare sind grau.

»Die schauen nicht wie Studenten aus«, sagt Elisa. »Eher Seniorstudenten. Das Bild ist aber so verschwommen.«

Die Auflösung ist schlecht. Das habe ich schon vermutet. Natürlich kein gestochen scharfes HD- oder 4K-Bild. Nicht einmal PAL. Das Bild rauscht viel schlimmer. Die Farben wirken unecht, Details erkennt man so gut wie gar nicht.

»Liegt es an den alten Leuten, den Farben oder der grottenschlechten Auflösung, dass man denkt, der Film muss schon uralt sein«, sagt Elisa.

»Ich glaube, der ist uralt. Wer würde denn heute auf die Idee kommen, einen Film in der Qualität zu drehen?«

»Es gibt ein paar Künstler …«

»Künstler! Die setzen wohl auf die Ästhetik des Rauschens.«

»Da geht es mehr um den Inhalt der Filme.«

»Den man nicht erkennt, weil das Bild so schlecht ist?«, spotte ich.

»Hach! HD, 4K, HDR, 3D – das sind doch nur Kürzel für die Werbewelt.«

»Du bist ja eine richtige Fernsehtechnikerin …«

»Nicht wirklich. Ich habe nur ein Praktikum bei einem Technikmagazin gemacht.«

»Wann? Du bist bei uns Praktikantin?«

»Davor. Ich will viele Dinge ausprobieren.«

Ich frage nicht, ob sie vielleicht noch andere Praktika hinter sich hat. Zuzutrauen wäre es ihr. Was habe ich mit zweiundzwanzig gemacht? Ich bin von einem Studentenheimfest zum nächsten getorkelt. Ausprobiert habe ich, ehrlich gesagt, damals auch nicht viel. Ein paar Mal, wieviel Wodka in mich reingeht.

»Mach einmal ein Foto von dem alten Mann.«

Elisa nimmt ihre Kamera, zoomt und klickt. Der Vortragende macht seinen Mund auf und zu. Das erinnert an einen Fisch in einem Aquarium.

»Kannst du Lippenlesen?« frage ich.

»Nein«, sagt Elisa. »Ich denke, dass sich auch ein professioneller Lippenleser bei der Auflösung schwer tun wird. Da sieht man nur, dass der den Mund auf und zu macht. Genaue Lippenbewegungen aber nicht.«

Ich kenne niemanden, der sich auf das Auslesen derartiger Stummfilme spezialisiert hat. Und ein Lippenleser von der Polizei ist womöglich schwierig zu bekommen. Ich nippe wieder am Wein. Der ist nicht nur gut, der wird auch immer besser. Drum nippe ich nicht mehr, sondern trinke jetzt.

Im Film bewegt sich wieder was. Das heißt der alte Mann bewegt sich. Er dreht sich um und zeigt mit der Hand zur Tafel, die er vorhin nach oben geschoben hat. Leider ist die nicht im Bild. »Ein toller Kameramann«, bemerke ich. Aber dann fährt die Kamera doch langsam nach oben. Ganz langsam wandert das Bild, das noch immer den Mann zeigt, hinauf. Da kommt die Tafel. Dann ist der Rand des Bildes, das daran befestigt ist, zu erkennen. Ein Stückchen noch nach oben. Noch ein Stückchen. Noch ein Stückchen. Dann bleibt die Kamera in Position.

»Was ist das?«, fragt Elisa.

»Keine Ahnung. Das ist lang und spitz …«

Von dem Bild an der Tafel sieht man nur die untere Hälfte. Die Kamera zoomt nicht hin, man sieht nur ein Stück von einem spitzen, grauen Ding.

»Warum fährt die Kamera nicht noch ein Stückchen nach oben?«, frage ich.

»Vielleicht hat der Kameramann das Ding vorher schon die ganze Zeit gefilmt. Wir haben ja nur Teil zwei und drei der Trilogie.«

»Halten wir einmal fest«, sage ich. »Da sitzen ältere Leute in einem Hörsaal, ein Mann mit graumelierten Haaren trägt etwas vor. Anscheinend geht es um das Ding an der Tafel, das wir leider nur zur Hälfte sehen können …«

In diesem Augenblick wird der Bildschirm des Apparates weiß.

»Film zu Ende«, sagt Elisa und krabbelt nach vorne, um die Filme zu wechseln. Eigentlich gar nicht so uninteressant, wie sie sich bewegt. Aber ich bin nur zum Filmschauen da.

Der zweite Film läuft an. Man sieht wieder den Vortragenden.

»Wer ist der Kerl?«, frage ich.

»Vielleicht ein Uni-Professor. Oder ein Arzt.«

Im Film fährt die Kamera wieder durchs Publikum. Sie zoomt auf einige Zuhörer, die Auflösung ist aber so schlecht und weil die Leute nur nach vorne schauen, sind keine Gesichter zu sehen. Keiner schaut in die Kamera oder macht irgendwelche Späßchen. Alle Köpfe sind stur nach vorne gerichtet. Zum Vortragenden, zum negativen Podium des Hörsaals. Jede Bühne, auf der eine Zwei-Mann-Schlager-Kombo »Du hast mich tausendmal belogen« spielt, ist erhöht. Doch das Wissen wird weltweit in Hörsälen vermittelt, in denen der Vortragende und somit der, der das Wissen besitzt, unten ist. Und die Nicht-Wissenden oben sind. Darüber sollte man einmal nachdenken.

»Mach bitte doch ein Foto von den Zuhörern. Obwohl man sie nur von hinten sieht.«

»Okay.«

Elisa krabbelt wieder zum Apparat, lässt den Film ein Stückchen zurück, dann wieder normal ablaufen. Und macht ein Bild von den Hörern. Auf einmal hebt der Vortragende seine rechte Hand.

»Der macht jetzt aber keinen Hitlergruß?«, sagt Elisa empört.

»So alt ist der Film auch wieder nicht.«

»Aber das könnten doch Altnazis sein, die sich da zusammengerottet haben.«

»Ich bin sicher, dass die Leute dann irgendwann gemeinsam ein altes, verbotenes Lied gesungen hätten, um der konspirativen Runde eine gewisse feierliche Stimmung zu verleihen.«

»Wir haben ja keinen Ton«, sagt Elisa.

»Wenn die ein Lied gesungen hätten, hätten wir das gemerkt. Und die Kamera hätte das singende, womöglich dabei stehende, Publikum gezeigt.«

»Vielleicht haben sie das im ersten Teil gemacht.«

»Vielleicht.«

»Darum haben wir den auch nicht.«

Haben wir ihn deswegen nicht? Warum war in dem Kuvert keine Filmspule mit einer Eins drauf? Der Vortragende macht ein paar Schritte zur Seite.

»Da ist was«, rufe ich. »Kannst du kurz anhalten?«

»Yepp.«

Elisa krabbelt erneut zum Apparat und drückt einen Knopf, der Film stoppt. Dort, wo der Mann die ganze Zeit gestanden hat, ist jetzt etwas an der Wand zu erkennen.

»Foto!«

»Was ist das?«, fragt Elisa während sie knipst.

»Ein Graffiti ist es nicht. Vielleicht irgendein Wappen, ein Logo?«

»Für ein Wappen hat es nicht die übliche Schildform.«

»Dann ein Firmenlogo. Irgendwie kommt mir das Zeichen bekannt vor. Aber keine Ahnung woher.«

Jetzt fährt die Kamera von dem alten Mann in den Publikumsbereich. Ein Mädchen steht auf und geht die Stufen hinunter. Der alte Mann nimmt ihre Hand und führt sie in die Mitte des Podiums. Es sieht so aus, als würde er sie vorstellen.

»Vielleicht ist das seine neue Assistentin? Ich mache ein Foto.«

»Und er ist Archäologieprofessor. Gemeinsam waren sie auf Expedition und haben dieses komische Ding, das wir nur zur Hälfte gesehen haben, gefunden. Aufgabe fertig, Rätsel um den Stummfilm gelöst.«

Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese junge Frau nur die Assistentin des alten Herren ist und sie deshalb vor dem Publikum vorgestellt wird. Assistenten sind nur der Schatten der Leute, die im Licht stehen.

»Aber irgendwer muss sie sein, sonst hätte sie der Kerl nicht nach vorne geholt«, sagt Elisa.

Ja, irgendwer muss sie sein. Irgendwer muss auch der Kerl sein. Irgendetwas muss auch das Ding an der Tafel sein. Und irgendetwas muss hinter diesen Rätseln stecken, sonst hätte ich die Filme gar nicht von Wolfgang bekommen. Worum geht es darin? Woran war Claudia dran? Warum hat sie mir die Filme überhaupt zukommen lassen? Ich muss das wissen. Ich trinke mein Glas aus. Guter Stoff. Elisa schenkt nach.

»Das Mädchen dürfte recht schüchtern sein«, sagt sie. »Es windet sich richtig im Rampenlicht.«

Der jungen Frau scheint die Aufmerksamkeit, die sie jetzt hat, nicht zu gefallen. Sie hält ihren Kopf die ganze Zeit gesenkt und schaut nur hin und wieder kurz ins Publikum.

»Vielleicht wollte das Mädel nicht auf die Bühne. Bekannt werden …«, sagt sie.

»Oder es hat davor noch nie auf einer gestanden.«

Es sieht so aus, als würde der alte Mann etwas erklären. Etwas, das mit dem Mädchen und dem Ding auf dem Bild zusammenhängt. Er schaut dabei immer wieder zur Tafel. Aber wenn das Mädchen davor noch nie auf einer Bühne, vor Publikum gestanden hat und sich dabei sichtlich unwohl fühlt, warum tut der Alte ihr das an? Warum will er den Leuten im Saal, seinen Freunden oder Geschäftspartnern – oder wer auch immer die sind – das junge Ding überhaupt vorstellen? Was haben diese Leute davon?

Das Bild ruckelt, als hätte jemand gegen die Kamera gestoßen.

»Was ist jetzt?«, schreckt Elisa auf.

Die Kamera schwenkt vom Vortragenden schnell ins Publikum. Dort steht ein schwarz gekleideter Mann und fuchtelt mit den Armen. Er scheint sehr wütend zu sein und etwas in Richtung des alten Mannes und des Mädchens zu schreien.

»Der regt sich aber ordentlich auf.«

»Mich würde interessieren, was der schreit«, sage ich. »Hast du ihn schon geknipst?«

Die Kamera schwenkt zurück zum Podium. Der alte Mann ist völlig ruhig, das Mädchen scheint verwirrt, rauft sich die Haare und hält sich die Ohren zu.

»Anscheinend passt dem Typen irgendwas nicht. Und dem Mädchen passt nicht, dass der sich so aufregt.«

»Dann wird der alte Mann auch kein Archäologieprofessor sein. Und das Mädchen nicht seine Assistentin«, räumt Elisa ein.

Die Kamera schwenkt wieder zum Störenfried ins Publikum. Der hat sich aus seiner Bank gedrängt und bewegt sich in Richtung Kamera.

»Na, jetzt gibt’s Action«, sagt Elisa.

Der schwarzgekleidete Mann, der ganz unten gesessen ist, springt auf eine Bank, dann auf ein Pult und weiter von Pult zu Pult nach oben. Die Leute um ihn herum schrecken zur Seite.

»Ist das ein Pfarrer?«, fragt sie.

Er hat einen weißen Kragen. Jetzt sieht man das große Kreuz, das er um den Hals trägt. Der Mann ist der Kamera schon ganz nahe gekommen.

»Noch ein Bild!«, rufe ich.

»Was hat der vor?«

In dem Augenblick erreicht der Mann im Film die oberste Sitzreihe des Hörsaales. Er brüllt irgendetwas und holt mit der Hand aus. Dann ist der Bildschirm dunkel, die Aufzeichnung zu Ende.

»Was war das jetzt?«, fragt Elisa.

»Das jüngste Gericht für die Kamera.«

»Und von wegen: Da ist ein weißes Licht am Ende des Tunnels. Wenn eine Kamera stirbt, ist der Bildschirm schwarz.«

»Auf der Rolle ist sonst nichts mehr drauf?«, frage ich.

Wir lassen den Film bis zum Ende durchlaufen. Aber der Bildschirm bleibt dunkel. Unverbrauchtes Filmmaterial.

»Gibst du mir einmal die Kamera?«

Elisa reicht mir die Spiegelreflex. Auf dem kleinen Monitor klicke ich die Bilder der Filme durch. Recht gut geworden sind sie nicht. Ziemlich dunkel. Aber man erkennt darauf, worum es geht.

»Ich kann sie dir auf dein Handy schicken?«, sagt sie.

»Schick sie mir via E-Mail. Ich hätte sie lieber auf meinem Laptop.«

Viel haben wir nicht in Erfahrung bringen können. Die Leute, die in dem Film vorkommen, kenne ich nicht. Und so alt wie das Filmmaterial ist, dürften die meisten schon verstorben sein. Was die ganze Sache nicht einfacher macht. Der einzige Anhaltspunkt ist dieses Firmenlogo. Das kommt mir bekannt vor. Aber keine Ahnung woher. Vielleicht weiß der Chef was damit anzufangen, wenn ich ihm morgen die Bilder zeige.

»Magst du noch Wein?«, fragt Elisa. »Gerne«, sage ich.

Zwei Stunden später ziehe ich mich wieder an und fahre nachhause.

4

Am nächsten Tag bin ich erst am späten Vormittag in der Redaktion. Ich habe alles erledigt und keinen Stress. Und auch schon über ein paar Themen für die nächsten Ausgaben nachgedacht.

Da gibt es diese Klinik auf den Malediven. Plastische Chirurgie für Fortgeschrittene. Medizinisch ist dort alles möglich. Etwa Implantate am Hinterkopf zur Kühlung des Gehirns und Steigerung der Synapsentätigkeit oder Schwimmhäute an Händen und Füßen, um schneller schwimmen zu können. Ein interessantes Thema, wobei die Internetseite nur ein Fake und alles von einem Künstler erfunden worden ist. Auch ist das ein bisschen zu eng verwandt mit meinem Cyborg-Thema in der aktuellen Ausgabe. Notiert habe ich es mir trotzdem.

Auf einer anderen Seite im Internet habe ich einen Artikel über das Ende der Physik gefunden. Physik hat mich zwar noch nie interessiert, aber warum ist sie am Ende? Ich habe mich ein bisschen durch den Artikel gelesen. Die Physiker sind schon immer auf der Suche nach einer Weltformel. Und die Stringtheorie liefert unendlich viele Lösungen und ist somit gescheitert. Ein schwieriges Thema. Mal schauen.

Auch interessant ist noch die Gladiatorenausbildung in Rom. In einer kleinen Arena an der Via Appia kann man sich zum antiken Kämpfer ausbilden lassen. Will ich mit Tunika und Sandalen in diese Arena? Warum nicht? Könnte witzig werden.

In den Redaktionsräumen herrscht reger Betrieb. Alle Kollegen starren in ihre Computer, sind tief in ihre Geschichten eingetaucht. Sie nehmen mich gar nicht richtig wahr, als ich zur Tür hineinschaue und »Hallo« sage. Da kommt kein »Na, auch schon da?« oder »Harte Nacht gehabt?« Man hört nur das Hämmern in die Tastaturen. Sonst ist es still. Elisa sehe ich nicht auf ihrem Platz. Vielleicht besser so. Ich hole mir einen Kaffee und gehe in mein Büro.