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Sei die Beste. Und wenn nötig, sei unsichtbar.
Mit diesem Credo hat Hadley McCauley in ihrer Familie gelernt zu überleben. Perfekte Schülerin, perfekte Sportlerin, perfekte Tochter: Nur so kann sie ihren Vater bei Laune halten. Denn hinter der makellosen Fassade der McCauleys verbirgt sich ein hässliches Geheimnis. Um ihre kleine Schwester Lila vor dem unberechenbaren Vater zu schützen, tut Hadley alles. Doch dann tritt Charlie Simmons in ihr Leben und zwischen den beiden entwickelt sich eine verzweifelt-intensive Beziehung. Unterdessen eskaliert daheim die Gewalt, und Hadleys Strategie, nichts preiszugeben, greift nicht mehr. Doch auch als es zur Katastrophe kommt, schweigt sie ...
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Seitenzahl: 454
Veröffentlichungsjahr: 2018
AMY GILES
Aus dem amerikanischen Englisch
von Isabel Abedi
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© für die deutschsprachige Ausgabe 2018
cbj Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
© 2017 Amy Giles
Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Now Is Everything« bei Harper Teen, an imprint of HarperCollins Publishers
Übersetzung: Isabel Abedi
Covergestaltung: Geviert, Andrea Hollerieth
Covermotiv: © shutterstock
(trekandshoot, PEPPERSMINT, swa182)
TP • Herstellung: AJ
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-19720-9V002
www.cbj-verlag.de
Für Pat, Maggie und Julia
jetzt
Um mich herum wimmeln die Notfallsanitäter über den Hügel wie Ameisen auf der Jagd nach Verwertbarem. Wir schwingen auf verschiedenen Frequenzen. Ihre ist manisch und fieberhaft, sie suchen, was noch lebendig ist, während ich zuschaue, ohne wirklich etwas zu sehen.
Das Szenario, dem ich da unten entkommen bin, drängt alles andere in den Hintergrund. Starre Augen. Ein blutgetränktes Cornell-Sweatshirt. Unnatürlich verrenkte Hälse. Wütende Glutfäuste, die mir auf den Rücken trommelten, als ich unter dem Wrack hervorkroch.
Aber der Himmel strahlt in einem perfekten Knallblau, als hätte jemand vergessen, ihm zu sagen, er solle sich dieses selbstgefällige Grinsen aus dem Gesicht wischen.
Niemand überlebt einen Flugzeugabsturz. Ich dürfte gar nicht hier sein.
Schritte knirschen auf frostigem Laub. »Sie steht unter Schock.«
Ein Mann geht vor mir in die Knie. Er trägt eine marineblaue Windjacke mit gelb-reflektierenden »NTBS«-Buchstaben auf dem Ärmel.
Ich starre nach unten, auf seine billigen, schwarzen Lederschuhe, sie sind Welten entfernt von den italienischen Designerschuhen, die sich im Schrank meines Vaters aneinanderreihen.
»Hadley?«
Mein Blick wandert hoch zu einem kantigen Gesicht mit feinen Fältchen um die blauen Augen, die behutsam Kontakt aufnehmen.
Als ich seinem Blick begegne, lächelt er sanft.
»Sie werden dich jetzt ins Krankenhaus bringen, okay?«
Während ich an dem Anhänger herumnestle, der in der Kuhle über meinem Schlüsselbein hängt, schiele ich runter zu meinem linken Arm. Schlaff ruht er auf meinem Bauch.
»Es tut weh.« Die dünne Stimme klingt ganz und gar nicht wie meine.
»Sie werden sich gut um dich kümmern.« Er deutet mit dem Kopf zu den beiden Sanitätern, die mit einer Transportliege hantieren.
Es war eine lange Klettertour den steilen Hang hinauf. Dornige Zweige und scharfkantige Steine rissen an meinen Klamotten, gruben sich in mein Fleisch, versuchten, mich zurück in den lodernden Höllenschlund zu ziehen.
Ein Feuerwehrmann rennt an mir vorbei, nach unten zu dem lodernden Rauch. Ich sollte ihm sagen, dass kein Grund zur Eile besteht. Sie sind tot.
»Deine Großmutter ist benachrichtigt worden.«
Mein Blick hüpft zu ihm hoch. Er hält es für einen Hoffnungsschimmer. Die Fältchen um seine Augen vertiefen sich.
Seine Hoffnung beschämt mich. Ich werde diesen wildfremden Mann enttäuschen müssen.
BRADY: Wir haben den 6. Januar. Uhrzeit … 8:30 Uhr. Darf ich Ihre Stellungnahme aufzeichnen?
CW: Klar.
BRADY: Nennen Sie bitte Ihren Namen und Ihr Alter.
CW: Claudia Wiley. Siebzehn. Im Mai werde ich achtzehn.
BRADY: Miss Wiley, ich bin Gerald Brady, Oberinspektor der Flugsicherheitsbehörde NTBS. Wie Sie wissen, waren die McCauleys Opfer eines Flugzeugabsturzes. Hadley hat als Einzige überlebt. Da wir mögliche Ursachen für den Absturz ermitteln, vernehmen wir außer Zeugen auch Freunde und Familienmitglieder, damit wir uns, sozusagen, ein umfassenderes Bild machen können.
Unter Hadleys Bekannten tauchte auch Ihr Name auf. Wenn ich es richtig verstanden habe, waren Sie beide im selben Lacrosse-Team?
CW: Also, na ja. Im Herbst haben wir beide in der Auswahlmannschaft gespielt und im Frühjahr in der Schulmannschaft. Aber das war’s dann eigentlich auch schon. Ehrlich gesagt, verstehe ich nicht, warum Sie mich befragen. Hadley und ich waren keine Freundinnen … wir mochten uns nicht mal besonders.
BRADY: Und warum nicht?
CW: Weil die McCauleys nicht gerade eine liebenswerte Familie sind. Waren, meine ich.
BRADY: Können Sie das etwas deutlicher machen? Was genau an den McCauleys war nicht liebenswert?
CW: Alles. Zum Beispiel, dass sie immer raushängen ließen, wie reich sie waren. Bei den McCauleys drehte sich ALLES ums Geld. Kucken Sie mich nicht so an, als wäre ich ein Miststück. Ich sag nur, wie’s ist. Das können Sie jeden hier fragen.
BRADY: Können Sie mir vielleicht ein Beispiel geben?
CW: Da, also, da gibt es so viele, dass ich echt nicht weiß, wo ich anfangen soll. Aber okay, hier ist eins: Als die Band einmal Orangen und Grapefruits verkauft hat, um Geld für unseren Trip zur Rose Parade nach Kalifornien aufzutreiben. Da hat Hadley keine einzige verkauft. Nicht mal ’ne leere Lattenkiste. Ist einfach an irgendeinem Tag bei der Schulband aufgekreuzt, mit einem dicken fetten Scheck von ihrem Vater. Keine Ahnung, wie viele Nullen auf diesem Scheck standen, aber Mr. Rosen sind die Augen aus dem Kopf gefallen. In einem Trickfilm wären seine Augen mit einem lauten BOING aus ihren Höhlen geploppt und auf den Boden geknallt. So lief das bei den McCauleys ab.
BRADY: Hm. Und welchen Mitschülern stand Hadley dann nah?
CW: Ehrlich gesagt nur Meaghan und Noah. Meaghan Maki und Noah Berger. Das sind die beiden, mit denen Sie sprechen sollten. Nicht mit mir.
Und Charlie. Charlie Simmons. Wenn irgendwer irgendwas weiß, dann ist es Charlie.
BRADY: Wir haben den 6. Januar. 8:37 Uhr. Darf ich Ihre Stellungnahme aufzeichnen?
MM: Ja.
BRADY: Nennen Sie bitte Ihren Namen und Ihr Alter.
MM: Meaghan Maki, siebzehn.
BRADY: Miss Maki, würden Sie mir bitte etwas über Ihre Beziehung zu Hadley erzählen?
MM: Ich weiß nicht, was Sie hören wollen. Ich meine, Hadley ist meine beste F-frrrrrr- …
BRADY: Miss Maki, glauben Sie, wir können weitermachen?
MM: Ja. Tut mir leid. Das hier ist heftiger, als ich dachte.
BRADY: Seit wann kennen Sie Hadley McCauley?
MM: Schon ewig, seit der zweiten Klasse. Wir fangen beide mit »M« an. McCauley, Maki – also haben wir nebeneinandergesessen. Ms. White hat gemeint, wir würden ihr damit helfen, unsere Namen besser zu lernen. Ich meine, zwischen uns beiden hat es einfach gefunkt – zwischen Hadley und mir. Nicht zwischen mir und Miss White. Weil es zwischen uns bestimmt nicht gefunkt hat. Das war echt ein schlimmes Jahr. Ich kann nur sagen: Danke, lieber Gott, für Hadley. Tut mir leid, ich weiß, das hilft Ihnen nicht.
BRADY: Alles, was Sie uns sagen, ist hilfreich. Warum erzählen Sie mir nicht ein bisschen über ihre Familie?
MM: Also, ich weiß, dass es zu Hause nicht gerade gut lief, aber Hadley sprach nicht gern über ihre Familie. Außer über Lila. Eine lustige Lila-Geschichte hatte Hadley immer auf Lager.
BRADY: Sie stand ihrer Schwester nah?
MM: Super nah …
BRADY: Lassen Sie sich Zeit.
MM: Tut mir leid … Diese ganze Sache ist echt hart für mich. Das alles zu verarbeiten …
BRADY: Sind Sie in der Lage fortzufahren? Wir können einen neuen Termin machen.
MM: Nein … ich versuch’s.
BRADY: Erzählen Sie mir von Hadleys Vater. Wie war Hadleys Beziehung zu ihm?
MM: (stöhnt) Der Drillmeister? Er war ein Albtraum. Wussten Sie, dass er sie jeden Morgen um 4:30 Uhr aus dem Bett gescheucht hat, damit sie mit ihm laufen ging? Und sie hat’s getan. Obwohl sie es gehasst hat. Und dann noch dieses Krafttraining. Ich glaube, er war so ein Vater, der lieber einen Sohn gehabt hätte statt einer Tochter, verstehen Sie? Er war … komplett besessen von Hadley.
BRADY: Besessen? Inwiefern?
MM: Er war ein Kontrollfreak. Er hat Hadleys Leben zu seinem eigenen gemacht. Hat sie unter Druck gesetzt, aufs Cornell-College zu gehen, weil er aufs Cornell-College gegangen ist … Lacrosse zu spielen, weil er Lacrosse gespielt hat … Flugstunden zu nehmen, weil er einen Flugschein hatte. Oh, und dann gab es noch dieses Generalverbot, mit Jungs auszugehen.
BRADY: Aha … Aber Hadley ging mit einem Jungen namens Charlie Simmons, habe ich recht? Wusste ihr Vater davon?
MM: Na ja, irgendwann dann schon. Als er es rauskriegte, hat sie Megaärger bekommen.
BRADY: Was für eine Art von Ärger?
MM: Den üblichen. Hausarrest. Ähm … wann glauben Sie, darf ich Hadley sehen?
BRADY: Es ist 9:37 Uhr. Darf ich Ihre Stellungnahme aufzeichnen?
…
BRADY: Mr. Simmons, unsere Ermittlungen dienen dem Zweck, die möglichen Ursachen für den Flugzeugabsturz herauszufinden, damit wir die Flugsicherheit erhöhen können. Zu diesem Zeitpunkt können wir noch nicht feststellen, ob sich der Unfall auf technisches Versagen oder auf einen medizinischen Notfall oder auf etwas anderes zurückführen lässt. Wir würden Ihre Mitarbeit in diesem Verfahren wirklich sehr begrüßen.
…
BRADY: Wenn es Grund zur Annahme gibt, dass Sie im Besitz hilfreicher Informationen sind, ist unsere Aufsichtsbehörde befugt, Ihnen eine polizeiliche Vorladung zur Zeugenaussage zu erteilen.
CS: Bestens. Erteilen Sie Ihre Vorladung. Ich spreche nämlich nicht mit Ihnen oder mit Mr. Murray oder mit den Reportern oder mit Gott persönlich, bis mich jemand zu Hadley lässt. Also, wenn Sie das Krankenhaus nicht dazu bringen, diesen »Nur-direkte-Angehörige«-Scheiß sausen zu lassen, könnt ihr euch allesamt verpissen.
damals
Der Himmel vor meinem Schlafzimmerfenster ist schwarz und unfreundlich. Er befiehlt meinem Körper, weiterzuschlafen, aber leider haben auf unser Haus selbst die himmlischen Gesetze keinen Einfluss.
Unten scheppert der Metalllöffel gegen den Glasbehälter, in dem sich Dads kostbare Gourmetbohnen befinden. Es folgt das nervenzerfetzende Knirschen der Kaffeemühle, das mir wie eine Kreissäge ins Trommelfell schneidet. Whirr, whirr. So klingt mein Wecker, fünf Tage die Woche.
Die Schwerkraft presst sich auf meinen schläfrigen Körper und drückt mich tiefer in meine Matratze. Aber mich für das bisschen Schlummern wieder den Schlaf zu kämpfen, lohnt sich nicht. Ich schlüpfe unter der warmen Bettdecke hervor, streife meinen Schlafanzug ab, zwänge mich in die schwarzen Lauftights mit den Reflexstreifen, dann in den Sport-BH und ins Top. Ich schnüre mir gerade die Schuhe zu, als er gegen die Tür bollert.
»Ich komm ja schon«, flüstere ich. Ich beuge mich vor und drehe zum Öffnen den Türknauf.
Dad schlürft geräuschvoll seinen Kaffee. Es erstaunt mich immer wieder, wie er mit diesem ganzen Kaffeegeschwappe in seinem Bauch laufen kann.
»Wir sind spät dran.« Er versucht nicht mal, seine Stimme für das schlafende Haus zu dämpfen.
Ich beeile mich, um ihn wenigstens von Lilas Tür fernzuhalten. Als ich in ihrem Alter war, hätte ich problemlos vierzehn Stunden am Stück durchschlafen können, wenn mich jemals irgendwer gelassen hätte. Hat aber niemand. Ob’s Lila glaubt oder nicht: Die Erstgeborene zu sein, hat nicht den geringsten Vorteil.
Mit ihren zehn Jahren hält Lila mein Leben für aufregend. Ich gehe zu feierlichen Preisverleihungen mit meinem Lacrosse-Team. Ich nehme Flugstunden am McKinley-Flughafen. Ihr ist noch immer nicht bewusst, wie viel von meinem Leben mir in Wirklichkeit gar nicht gehört.
»Mach schon, wir wollen los«, sagt Dad mit einem Blick auf die Uhr. Wenn wir eine Stunde laufen, hat er Zeit für eine kurze Dusche und kriegt noch den Zug um 6:17 Uhr. Das Aufstehen um diese gottlose Zeit von 4:30 Uhr passt in seinen Tagesplan. Ich komme nach Hause, gehe duschen, frühstücke, dann helfe ich Lila bei der täglichen Kleiderfrage. Ginge es nach Mom, würde Lila wie ein erbärmliches Barbiepüppchen rumlaufen. Hätte Lila das Sagen, würde sie aus der Haustür marschieren, als wäre sie die Moderatorin der MTV-Music-Awards. Sie fährt total auf Musik und Tanzen ab, deshalb habe ich sie damals angebettelt, mich zu ihrer Stylistin zu ernennen.
»Jede Diva, die etwas auf sich hält, hat eine«, klärte ich sie auf.
Es macht Spaß, Modenschau mit ihr zu spielen. Bevor sie geboren wurde, war ich sieben Jahre lang ein Einzelkind. An dem Tag, als Mom aus dem Krankenhaus kam, setzte sie Lila in ihrer Babywippe auf dem Boden ab.
Ich saß vor ihr und beobachtete sie stundenlang, um sicherzugehen, dass sie nicht einfach aufhörte zu atmen. Der Gedanke, ihre Lungen könnten aufgeben, weil es zu anstrengend war, machte mich schier wahnsinnig. Wer glaubte, Leben und Atmen sei selbstverständlich, überschätzte die ganze Sache total. Indem ich Lila keine Sekunde aus den Augen ließ, rief ich sie durch meine eigene Willenskraft ins Dasein.
Und dann durfte ich sie auf den Arm nehmen. Hell und blond wie meine Mutter, mit großen, blauen Augen – anders als Dad und ich mit unseren langweiligen braunen Haaren und tristen Braunaugen – sah Lila aus wie meine höchstpersönliche Babypuppe.
»Jetzt bist du eine große Schwester«, sagte meine Mutter und lächelte auf mich herab, als spräche das pinkfarbene ICH BIN EINE GROSSE SCHWESTER-T-Shirt, das sie mir im Krankenhaus gekauft hatten, nicht für sich selbst.
»Du musst sie beschützen und dich wirklich gut um sie kümmern.«
Von allem, was meine Mutter jemals von sich gegeben hat, ist diese Aufforderung wahrscheinlich das Einzige, was ich todernst genommen habe.
Dad und ich dehnen uns in der Auffahrt, und auf der nachtschwarzen Straße übernimmt er die Führung. Vor jeder Whopper-Villa, an der wir vorbeikommen, gehen die Bewegungsmelder an und erhellen den Weg hinter uns. Unser Block ist eine Neubausiedlung, die auf dem Gelände einer ehemaligen Kartoffelfarm errichtet wurde, weshalb wir Imidacloprid, DDT und andere Pestizide im Grundwasser fürchten müssen, die für die erhöhte Krebsrate rund um Long Island verantwortlich sind. Daher gehört der Poland Spring-Wassertankwagen hier zum festen Inventar.
Unser Eigenheim-Modell hat die obligatorischen fünf Schlafzimmer, viereinhalb Badezimmer, Luxusküche, Granit-Arbeitsplatten und dreieinhalb Meter hohen Kassettendecken. Anstelle des Heimkinos, das alle anderen Häuser haben, beauftragte Dad die Bauunternehmer, unseren Keller in ein Fitnessstudio umzuwandeln. Dad trainiert, als ginge es zu den Olympischen Spielen. Und das bedeutet: Ich tue dasselbe.
Ein paar Hunde bellen, als wir an ihren Häusern vorbeilaufen. Die Nachbarn sind sicher hellauf begeistert. Niemand sollte um diese Zeit wach sein. Nicht wir. Nicht die Hunde. Ich hechle zum Rhythmus meiner auf das Straßenpflaster eintrommelnden Füße. Ich schätze mal, so ähnlich läuft das auch beim Meditieren. Meine Aufmerksamkeit auf das Atmen zu lenken, hilft mir, den stechenden Schmerz in meiner Hüfte zu ignorieren. Die Oktoberluft ist schon so frostig, dass ich meinen Atem sehen kann. Bald wird es richtig kalt, aber unsere Joggingrunden sind über jedes Wetter erhaben.
»Die Deadline zur Vorab-Registrierung steht an«, schnauft Dad, während eine weiße Atemfahne seine Worte unterstreicht. Ich nicke. Er schaut mich abwartend an, aber ich tue so, als würde ich mich auf das Laufen konzentrieren.
»Erster November.«
»Jep.« Ich keuche.
»Cornells Lacrosse-Team hat letztes Jahr extrem gut abgeschnitten. Die von Brown waren ein bisschen besser, aber …« Er bricht ab.
»Ich weiß.« Du hast es mir erklärt. Die präzise Wahl meiner Worte ist für mich eine wichtige Überlebenstechnik, so wie man in der Wildnis das Feuermachen oder das Sammeln essbarer Pflanzen beherrschen muss.
»Wir sollten an einem der nächsten Wochenenden mal hochfliegen. Uns noch mal umschauen. Und dann auch mit dem Trainer reden.«
Ich nicke.
Er keucht. »Zieh das Tempo an, du hinkst hinterher.«
Keine Ahnung, wie ich hinterherhinken kann, wenn wir Kopf an Kopf sind, aber ich ziehe an, gerade so viel, dass er sich jetzt anstrengen muss, mit mir Schritt zu halten.
Plötzlich hält er inne, krümmt sich, greift sich an die Brust. Er hustet und schnappt nach Luft.
»Dad, bist du okay?« Angst und Panik und irgendetwas unfassbar Leuchtendes an den Rändern meines Sichtfeldes nageln mich am Boden fest. Er antwortet nicht. Endlich richtet er sich auf und spuckt einen Rotzflatschen auf die Straße.
»Mir ist was in den Rachen geflogen«, schnauft er mit tränenden Augen. »Ich bin okay.«
Er rennt weiter und ich folge ihm.
Vor der dritten Stunde erwarten mich Meaghan und Noah an unseren Spinden.
»Na, Muscles?«
Meaghan beugt sich vor und zwickt mir zur Begrüßung in den Bizeps.
Noah lehnt mit verschränkten Armen und abschätzig heruntergezogenem Mundwinkel an seiner Spindtür. Als er mich sieht, weiten sich seine Augen.
»Du läufst wie meine Nana kurz vor ihrer Hüft-OP«, sagt er.
Ich hinke leicht, aber von dem schlurfenden Taumeln, das Noahs Großmutter draufhatte, bin ich ja wohl weit entfernt. Allerdings fühlt sich mein Körper trotz der zwei Ibuprofen so alt und verknarzt an wie ihrer.
Ich drehe an meinem Spindschloss und vergewissere mich, dass ich die richtigen Zahlen treffe. Mein Schloss ist so widerspenstig und unflexibel wie der gesamte Rest meines Lebens.
»Ich hab Ärger mit der Hüfte.« Ich durchwühle den Spind nach meinem Spanischbuch.
»Schon wieder?« Noah seufzt. Er zieht sein Handy aus der Tasche und tippt darauf herum. Mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck dreht er das Display zu mir und zeigt mir eine Fitness-Website. »Das solltest du mal deinem Vater zeigen.«
»Drillmeister«, hustet Meaghan in ihre Faust.
Noah lächelt zustimmend, bevor er fortfährt. »Zehn Warnzeichen für ein Übertraining. Anhaltende Muskelschmerzen stehen ganz oben auf der Liste.« Noah wirft einen vielsagenden Blick auf meine schmerzende Hüfte.
Hinter ihm sehe ich Charlie Simmons auf dem Schulflur. Er läuft auf uns zu, das Spanischbuch unter den Arm geklemmt. Unsere Blicke treffen sich. Wahrscheinlich bilde ich mir das nur ein, aber ich hab das Gefühl, als würde Charlie seinen Kurs um ein paar Grad in meine Richtung korrigieren. Beschwören kann ich’s nicht, weil ich die Gelegenheit nutze, herumzuwirbeln und in den Spiegel meiner Spindtür zu schauen, vorgeblich um mir durch die Haare zu wuscheln, bis ich sein Spiegelbild hinter mir weggehen sehe.
Sein hochgewachsenes, wunderschönes Spiegelbild.
Als ich sicher bin, dass ich mich wieder umdrehen kann, studiert Noah noch immer stirnrunzelnd die Liste. »Nummer fünf ist interessant. Wie steht es mit deiner Periode?«
»Das geht dich nichts an.« Ich knalle die Spindtür zu.
Als hätte ich ihm gerade das entscheidende Stichwort geliefert, reckt Noah den Finger in die Luft. »Reizbarkeit. Nummer sieben.« Er lässt das Handy wieder in der Hosentasche verschwinden.
Mrs. Marino steckt den Kopf aus einem der Klassenzimmer und wirft uns Nachzüglern finstere Blicke zu. »Was soll das Getrödel? Ab in den Unterricht!«
Hastig winke ich Noah zum Abschied und liefere mir mit Meaghan ein Wettrennen die Treppen rauf zu Spanisch.
Selbst mit meiner schmerzenden Hüfte stecke ich sie locker in die Tasche. Ich bin darauf gedrillt, gegen den Schmerz anzulaufen. Es ist der Ruhezustand, in dem sich der Schmerz einnistet – eine Kombination aus meinen steif werdenden Muskeln und meiner Unfähigkeit, zu ignorieren, was gefühlt werden muss. Als Meaghan und ich unsere Sitzplätze im Klassenzimmer einnehmen, läutet es gerade zum Unterrichtsbeginn.
»Gehst du nach der Schule mit mir shoppen?«, fragt Meaghan während sie ihr Hausarbeitsheft aufklappt. »Ich brauch ein neues Outfit für die Party bei Mike DiNardi morgen.« Dem Zwinkern ihrer grünen Augen nach zu urteilen, fährt sie mal wieder auf jemand Neuen ab.
Ich ziehe die Hausaufgaben hervor.
»Echt jetzt? Wer ist der Glückliche?«
Sie verdreht die Augen. »Mike DiNardi!«
»Oh, der Gastgeber. Alles klar.« Ich muss lachen.
»Also kommst du mit?«
»Kann nicht. Hab Flugstunde.«
Sie schaut genervt zur Seite. »Unfassbar.«
Beim Zusammenraffen meiner Arbeitsblätter senke ich den Blick und versuche, mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich das getroffen hat.
Meaghan beißt sich seufzend auf die Unterlippe. »Tut mir leid. Hab nur Spaß gemacht. Ich …«
Lächelnd drehe ich meinen Kopf zu ihr.
Sie nickt feierlich und lässt es gut sein.
»Zur Party kommst du aber schon, oder?«, fragt sie mit ihrem todernsten Leg-dich-nicht-mit-mir-an-Blick. Meaghan nervt mich ständig damit, dass ich mehr für mich einstehen soll.
»Hab endlich mal Eier«, lautet – begleitet von geballten Fäusten – ihr Standardspruch.
»Hätte ich sofort, aber leider ist mein Y-Chromosom mit der Lieferung im Rückstand«, lautet meine Standard-Retourkutsche.
Über die Jahre habe ich zahlreiche Ratschläge zum Umgang mit Vätern von ihr erhalten. Wobei ihr Vater das totale Weichei ist.
Ich nicke. »Ich werd’s versuchen.«
»Nicht versuchen. Machen! Ich brauch dich dort! Du bist meine …«
»Wing Woman?«, frage ich und wir müssen beide lachen.
»Geht klar«, sagt sie.
Es läutet. Señora Moore rauscht ins Klassenzimmer, im langen Folklorerock und mit Folklorebluse. Sie sieht aus, als ginge es zur Fiesta Mexicana.
»Hola.«
»Hola, Señora Moore.« Eine Kakofonie der Teilnahmslosigkeit schallt ihr entgegen. Nur die Insider-Gang redet ungerührt weiter, als wären sie die Sonne, die wir umkreisten. Heute ist Madelyn an der Reihe, einen französischen Zopf geflochten zu bekommen. An manchen Tagen beobachte ich sie und denke an Jane Goodall und ihre Schimpansen, die sich gegenseitig das Fell lausen.
Pat Michaels, die Beine zu einem weiten, gechillten V gespreizt, hebt die Hand. »Kann ich aufs Klo?«
»En español, Patricio!« Señora Moore hebt den Zeigefinger.
Am anderen Ende des Klassenzimmers sitzt Charlie Simmons über sein Pult gebeugt und kritzelt wie immer vor sich hin.
Sie geht zu ihm und tippt auf seinen Tisch.
»Presta atención, Carlito!« Sie zeigt mit zwei Fingern auf sich und Charlie nimmt eine aufrechte Haltung an.
Ich starre auf seine honigbraunen Haare, die sogar im Licht der Neonröhren schimmern, und auf die schmale, umgedrehte Pyramide seines Rückens unter seinem eng anliegenden grauen T-Shirt. Er hat den hochgewachsenen, definierten Körper eines Schwimmers. Er war im Schwimmteam, hat aber aufgegeben. Charlie Simmons gibt alles auf. Er war im Robotik-Club und im Debattierteam. Klug, aber ein Aufgeber.
Genau in diesem Moment dreht er sich um und ertappt mich zum zweiten Mal an diesem Tag dabei, wie ich ihn anstarre. Ruckartig senke ich den Kopf, fange an, wie wild in meinem Heft herumzukritzeln und fühle, wie mir das Blut in die Wangen steigt. Allerdings erst, nachdem er mich angelächelt hat.
Ich wünschte, ich lebte in einer Welt, in der es Hoffnung gäbe für mich und Charlie Simmons.
BRADY: Wir haben den 10. Januar. Uhrzeit … 10:17 Uhr. Darf ich Ihre Stellungnahme aufzeichnen?
KM: Selbstverständlich.
BRADY: Nennen Sie bitte Ihren Namen und Ihr Alter.
KM: Kathleen Moore. Ich war Hadleys Spanischlehrerin in der elften und zwölften Klasse.
BRADY: Was können Sie mir über Hadley erzählen?
KM: Hadley war eine kluge, gewissenhafte Schülerin. Sie hat mir immer Freude gemacht. Sie zu unterrichten, war das reinste Vergnügen. Sagen wir das nicht immer über die Stillen? Manche Lehrer ziehen die Stillen vor. Wir müssen es jedes Jahr mit so vielen Großmäulern aufnehmen, dass die Stillen ein Segen sind. Aber Hadley war anders. Hadley war auf eine Weise still, die mir Sorgen gemacht hat. Ihre Stille fühlte sich an, als … hätte sie jemand zum Schweigen gebracht.
BRADY: Zum Schweigen gebracht? Inwiefern?
KM: (seufzt) Bei Hadley wusste man nie so genau, was unter der Oberfläche ablief. Ja, sie war tatsächlich still, das allerdings nur in der Gegenwart von Erwachsenen. Im Unterricht gab sie keinen Mucks von sich, bis ich sie aufrief. Nur wenn ich sie aufrief.
Also hab ich das in ihrem ersten Zwischenbericht erwähnt. Aber bedenken Sie bitte, dass wir für unsere Zwischenberichte nicht einfach unsere persönlichen Anmerkungen auf ein leeres Blatt Papier schreiben können. Es gibt eine Auswahl an Kommentaren, die wir ankreuzen müssen.
Der Kommentar, der in Hadleys Fall noch am ehesten meine Gefühle ausdrückte, lautete: »Mehr Teilnahme erforderlich«.
Tja, als das arme Mädchen am nächsten Montag zur Schule kam, war sie den Tränen nah. Sie bat mich um ein persönliches Gespräch. Sie flehte mich an, den Kommentar aus ihrem Bericht zu entfernen. Ich sagte: »Hadley, Schätzchen, dein Leistungsstand in meiner Klasse ist perfekt. Ich möchte nur, dass du dich ein bisschen öfter meldest, das ist alles. Und sie fragte mich: »Wie oft?« Ich dachte, sie scherzt. Aber dann habe ich den Ausdruck auf ihrem Gesicht gesehen. Sie wollte genau wissen, wie oft sie sich melden müsste, damit so etwas nie wieder passieren würde.
Ich schwöre Ihnen, von diesem Tag an, hob das Mädchen drei Mal in der Stunde ihre Hand. Sie zählte mit. Irgendjemand hat ihr eine Höllenangst gemacht, und ich verspreche Ihnen, ich war es nicht.
damals
Das Haus von Mike DiNardi ist unschwer zu finden, dank all der Autos, die kreuz und quer auf beiden Straßenseiten geparkt sind. Wir müssen ausweichen und uns ein paar Blocks weiter in die Jackson Street stellen. Auf dem Weg zu Mikes Haus kommen wir an Claudias weißem Acura vorbei, erkennbar an seinen fetten Kratzspuren am Seitenspiegel und an der Fahrertür. Mit halber Reifenbreite steht er auf dem Gehweg. Das Mädel kann ums Verrecken nicht Auto fahren, geschweige denn vernünftig einparken.
»Diese Schuhe sind nicht zum Laufen gemacht. Die sind zum Rumstehen und scharf Aussehen.« Meghan stoppt und lehnt sich gegen Noah, um ihren Füßen, die sie in nagelneue Stilettostiefel gequetscht hat, eine Pause zu gönnen.
Noah lacht. »Und um ein paar Zentimeter Höhe rauszuschinden, damit du heute Nacht nicht allen unter den Achselhöhlen stecken bleibst.« Er hakt sich bei uns beiden ein und wir schlendern weiter. Die ganze Straße entlang haben ungeduldige Anwohner ihre Gärten für Halloween geschmückt, obwohl es bis dahin noch drei Wochen sind. RIP Grabsteine verwandeln die Vorgärten in Friedhöfe, während an Pflöcken befestigte Kürbis-Luftballons im Wind herumschaukeln, als wollten sie verzweifelt entkommen.
Noah dreht sich zu mir. »Dass du dich ständig als Fahrer opferst, macht mir irgendwie schon ein schlechtes Gewissen.«
Ich schaue zu ihm hoch und erwidere sein Lächeln. Mit seinen 1,90 Metern blickt Noah auf jeden herab.
»Ich kann eh nix trinken, selbst wenn ich wollte. Morgen hab ich ein Spiel. Also, gönnt euch. Es sei denn, du willst nicht zu verkatert sein für Matt.«
Noah dreht sich weg. »Er kommt nicht.«
Meaghan wirft mir einen entnervten Blick zu, dann wendet sie sich wieder an Noah. »Und was ist diesmal sein Problem?«, knurrt sie.
Seit Matt auf dem College ist, hat er sich kein einziges Mal hier blicken lassen. Noah zuckt mit den Achseln.
Ein Windhauch wirbelt gefallenes Laub über unsere Füße. Meaghan bleibt noch einmal stehen, um sich an einen alten Ahorn zu lehnen. Sein breiter Stamm nimmt den halben Gehweg ein.
»Ihr wisst schon, wer sonst noch ziemlich heiß ist, oder?«, wechselt Noah das Thema. »Charlie Simmons.«
Auf dem Bürgersteig tut sich ein klaffender Abgrund auf, bereit, mich mit Haut und Haar zu verschlucken.
»Was?« Entgeistert starre ich ihn an.
Noah schlägt eine Hand vors Gesicht und reißt mit geheuchelter Verlegenheit die Augen auf. »Also das ist jetzt aber schon irgendwie schräg. Du etwa auch?«
Nur stolpernd kommt mein Herzschlag wieder in Gang. »Du verarschst mich, oder?«
»Ein bisschen.« Er legt seinen langen Arm um meine Schulter.
Noch immer gegen den Baum gelehnt, pflückt Meaghan ein aufgespießtes Blatt von ihrem Absatz.
»Wenn du zugibst, dass du ein Problem hast, ist das schon der erste Schritt.«
»Ich habe kein Problem«, entgegne ich, aber meine glühenden Wangen, die sich anfühlen wie kurz vor der Kernschmelze, verraten mich.
Meaghan und Noah tauschen wissende Blicke aus – die Art von Blicken, die mich aus unserem gemütlichen Trio herauskatapultieren und mir das Gefühl geben, dass die beiden hinter meinem Rücken über mich reden.
»Du hast so was von einem Problem.« Meaghan lacht. »In jeder Spanischstunde starrst du seinen Rücken an. Und wenn er sich dann zu dir umdreht, machst du einen auf unsichtbar.«
»Na und?«, schnappe ich zurück und hebe meinen Kopf ein paar Zentimeter. »Ich habe Augen. Ich bin ein Mensch.«
Ich stürme voran, die steinernen Stufen zu Mikes Haus hoch. Noah rennt hinter mir her und holt mich auf dem Treppenabsatz ein.
»Wenn ich dir das abnehmen soll, müsstest du mir schon einen handfesten Beweis liefern.« Er senkt den Kopf, um mich unter seinen dichten Wimpern zu mustern. Dann wedelt er mit der Hand durch die Luft, als ob ihm dieses ganze Gespräch stinkt. »Wie auch immer, ich hab gehört, er hat was mit Claudia.«
Mir dreht sich der Magen um. »Nicht sie«, stöhne ich.
Noah lacht und klatscht in die Hände. »Das ist ja wie beim Angelspiel. Du bist so leicht zu ködern.«
Jetzt ist auch Meaghan oben angekommen. »Had, Charlie ist perfekt für dich. Er ist heiß, er steht ganz offensichtlich auf dich und er ist der Abschleppkönig unserer Klasse.« Sie zählt Charlies ultimative Dreierkombi an den Fingern ab. »Einmal ficken, weiterschicken.«
Mit einem Augenzwinkern gibt sie mir zu verstehen, dass sie es halb im Scherz gemeint hat.
Als ich die Tür öffnen will, legt Noah seine Hand auf meine Schulter.
»Spaß beiseite, Claudia fährt voll auf ihn ab. Wenn du dich also an ihn ranmachen willst, dann am besten gleich.«
Besorgt starre ich ihn an.
»Na toll. Jetzt ist sie traumatisiert. Zufrieden?« Meaghan öffnet die Tür für uns.
»Ich?« Protestierend hält Noah seine Hand an die Brust. »Das hier geht ja wohl auf dein Konto, Madame Einmal-ficken-weiterschicken.«
Die Partys von Mike DiNardi sorgen immer für einen gigantischen Massenandrang; Schulter an Schulter quetschen sich die Leute in den Eingangsflur. Drinnen wurden bereits Sofakissen und ausgewählte Schoßplätze in Beschlag genommen. Ich folge Meaghan und Noah in die Küche und weiche der Gruppe Jungs aus, die eine Bierbong rumwandern lassen. Meaghan füllt einen Plastikbecher mit Mineralwasser und drückt ihn mir in die Hand; eine Requisite, damit ich mich nicht zum Idioten mache, dann suchen wir uns einen Platz im Esszimmer. Das Haus dampft vor erhitzten Körpern. Um mich herum rutschen die Träger knapper Kleidchen über betrunkene Schultern. Ich schiebe mir meine Ärmel bis zu den Ellenbogen hoch.
Die Party teilt sich in lauter Minigrüppchen. In den Zimmerecken stehen exakt dieselben Leute zusammen, die sonst in der Schulcafeteria um einen Tisch hocken.
Noah hat die Rolle des Paten. Nach allen Seiten Ghettofäuste und Umarmungen verteilend, bahnt er sich seinen Weg durch die Menge. Meaghan und ich hängen uns an ihn ran, während die Leute angeschwärmt kommen, um seinen Ring oder was auch immer zu küssen. Mit uns wird nur aus Höflichkeit geredet. Nach einer Weile wird Noah kribbelig und fängt an, die Party mit seinem Periskopblick abzuscannen, während er den Kopf im Rhythmus zur Musik wippen lässt.
»Ich zieh jetzt mal Leine, Mädels.« Blitzartig taucht er ein ins Gewühl, aber ich verliere ihn nie aus den Augen; bei seiner Größe ragt sein Kopf überall heraus.
Meaghan bleibt auch nur noch für einen Herzschlag an meiner Seite.
»Da ist Mike. Bin gleich wieder da.«
Genau aus diesem Grund hasse ich Partys. Je mehr Leute um mich herum sind, desto einsamer fühle ich mich.
Während ich an meinem Wasser nippe, umfasse ich mit dem freien Arm meine Taille und suche nach einem freundlichen Gesicht, das mich willkommen heißt. Die Blicke der anderen gleiten in vollem Bewusstsein an mir vorbei. Sie behandeln mich, als wäre ich Luft. Alle sind in ihre eigenen Gespräche vertieft, niemand fühlt sich berufen, mich in seinen Kreis rüberzuwinken. Aus dem Familienzimmer dröhnt mir Kims schallendes Gelächter entgegen. Wie eine rollige Katze streckt sie ihren Hintern in die Höhe, was Winona kichernd mit ihrem iPhone dokumentiert. Bis morgen wird sie über dreihundert Likes auf Instagram haben. Kims Arschfotos kommen immer gut.
Als sich eine Gasse zum Wohnzimmer bildet, fange ich Claudias Blick auf. Sie dreht sich zu Faith und flüstert ihr irgendwas zu. Die Art, wie sie beide zeitgleich losprusten, lässt außer Zweifel, dass es sich bei der Witzfigur um mich handelt. Das ist mein Todesstoß. Die Scheiße von Claudia bin ich gewöhnt, aber Meaghan und Noah sollten inzwischen echt gerafft haben, dass sie mich hier nicht als sozialen Outcast hängen lassen können.
Jetzt müssen sie halt selbst sehen, wie sie nach Hause kommen. Ich hab mich bestimmt nicht für diese Party gemeldet, um mich öffentlich demütigen zu lassen. »Nachschub gefällig?« Ein honigfarbener Wuschelkopf taucht hinter mir auf und beugt sich über meinen Becher.
Ich zucke zusammen und werfe einen verstohlenen Blick über meine Schulter.
Es ist nicht Charlies Anwesenheit, die mich überrascht: Er ist ein guter Freund von Mike. Um genau zu sein, ist Charlie ein guter Freund von allen, der Nomade, der auftauchen kann, wo er will, und überall ganz selbstverständlich dazugehört.
Überrascht bin ich davon, dass Charlie mich anspricht.
»Äh. Um ehrlich zu sein, es ist Mineralwasser.« Ich versuche, den Lärm zu übertönen, aber meine Zunge schwillt auf zehnfache Größe an und saugt jeden Tropfen Spucke aus meinem Mund. Sie fühlt sich an wie diese magischen Kapseln, die Lila und ich mal in die Badewanne geschüttet haben, um zu beobachten, wie sie zu gigantischen Wabbelmeerestieren aufquellen.
»Fährst du?«, schreit Charlie und imitiert mit den Händen das Lenkrad für den Fall, dass die dröhnenden Lautsprecher über uns seine Stimme übertönen.
Ich nicke. »Jep. Der auf ewig bestimmte Fahrer«, schreie ich zurück. Er zeigt auf sein Ohr, schüttelt den Kopf und bedeutet mir durch eine Geste, mit ihm zu kommen.
Ich starre auf seinen entschwindenden Rücken und für ein paar Sekunden bin ich wie gelähmt. Dann folge ich ihm.
Charlie gräbt uns ein Wurmloch durch die Menschenmasse in der Küche, dreht sich um und schaut über seine Schulter, um sich zu vergewissern, dass ich nachkomme. Als er mich sieht, lächelt er.
Auf die eiserne Hintertür zeigend, umfasst er mein Handgelenk und zieht mich das letzte Stück mit sich. Er hält die Tür für mich auf, bis wir die drei Steinstufen zur Veranda runtergelaufen sind.
Zigarettenspitzen glimmen in der Nacht wie Glühwürmchen. Die Herbstluft jagt mir eine Gänsehaut über die Arme. Ich reibe sie weg und wünschte, ich hätte meine Jacke nicht im Auto liegen lassen.
Charlie bemerkt es sofort. »Frierst du?«
»Nein«, sage ich aus Angst, dass die Wahrheit uns wieder nach drinnen befördern wird.
Er zieht seinen Hoodie aus und reicht ihn mir.
»Lügnerin.« Er feixt. Seine dunklen Augen funkeln im Licht der Halogenstrahler.
Ich schiebe seine Kapuzenjacke zurück. »Aber ich will nicht, dass du frierst.«
Er beugt sich vor. Als er mir den Hoodie um die Schultern legt, streifen seine Finger über meinen Hals, und mich durchzuckt der nächste Schauder.
»Ich friere so gut wie nie. Da muss es schon unter null sein.« Er trägt ein blaues T-Shirt, das gleiche Modell wie das graue, das er neulich anhatte. Es ist nicht zu eng, sondern passt ihm auf diese echt gute Art.
»Ich weiß noch, wie ich dich letzten Februar in Shorts auf dem Skateboard gesehen hab«, platze ich raus – gleichzeitig windet sich alles in mir. Oh Gott, gerade habe ich zugegeben, dass ich ihn seit fast einem Jahr stalke.
»Sag ich doch. Ich friere nicht.«
Lächelnd beiße ich mir auf die Lippen und heuchle Interesse an den hochgewachsenen Kiefernbüschen, die sich um das Grundstück ranken, während ich mein Gehirn, nach irgendeinem brauchbaren Satz durchforste.
Meaghan hat mit so was nie ein Problem. Wahrscheinlich hat sie schon bei ihrer eigenen Geburt mit dem entbindenden Arzt geflirtet.
»Also«, sagt Charlie und versucht, meinen Blick aufzufangen. Nervös schaue ich ihn an und hoffe, er hat mehr Talent als ich, das Gespräch in Gang zu halten. Ich will nämlich nicht, dass es aufhört.
»Ich finde, wir sollten uns langsam auf das nächste Level begeben«, sagt er trocken und schiebt ein verführerisches Grinsen hinterher.
»Das nächste … Level?«
»Du weißt schon, dieses ganze heftige, deftige Anschmachten. Ich dachte, jetzt wird’s mal langsam Zeit für ein echtes Gespräch.«
Meine Wangen brennen, als ich daran denke, wie er mich gestern zweimal beim Starren ertappt hat. »Äh. Ich …«
Sein Blick huscht über mein Gesicht. »Um dich in Verlegenheit zu bringen, braucht es nicht viel, was? Süß.«
Im Scheinwerferlicht des Hinterhofes, in dem mein schamrotes Gesicht offensichtlich im Zentrum seiner Aufmerksamkeit ist, bin ich komplett ungeschützt. Da drinnen ignoriert zu werden, scheint mir gerade doch die reizvollere Alternative zu sein. Ein würgend heißes Gefühl wirbelt durch meinen Magen.
Noah hatte recht. Ich bin das reinste Angelspiel.
»Geht dir einer dabei ab, wenn du ein Mädel verarschst?« Meine Augen brennen vor Scham.
»Was?« Seine Gesichtszüge entgleisen, dann verzieht er den Mund. »Nein, verdammt«, stöhnt er. »Ich dachte, ich flirte. War ich so schlecht?«
Ich starre ihn an und breche in schallendes Gelächter aus. »Wenn das Flirten sein sollte, dann ja: Das war echt grottenschlecht.«
Er lässt Daumen und Zeigefinger in die Luft schnellen. »Befehlstaste Z!« Ich kapiere sofort. Löschen, neuer Versuch.
Jetzt lachen wir uns beide kaputt, wodurch sich wenigstens ein Teil der aufgestauten Anspannung in mir löst.
»Ich hätte wohl besser auf Nummer sicher gehen sollen, nach dem Motto: Du hast echt richtig, richtig schönes Haar.« Er streckt die Hand aus und streicht zärtlich über eine Strähne, die mir über die Schulter fällt.
Es schockt mich, wie nervös mich seine Gegenwart macht. Meine Zunge vibriert wie eine Stimmgabel in meinem Mund. Ich fühle mich lebendig – unerträglich, schmerzhaft lebendig.
Wir entdecken eine Bank unter einem Baum und setzen uns. Es wird merklich kühler. Ich will nicht wieder rein, also schiebe ich meine Hände durch die Ärmel seines Hoodies. Als Charlie gerade nicht hinsieht, schnüffle ich instinktiv an einem der Ärmel, um seinen Körpergeruch einzuordnen, in den sich noch etwas anderes hineinmischt. Kalter Zigarettenrauch. Von der Party, nehme ich an. Dann stecke ich meine Hände in die Taschen.
»Deine?« Ich reiche ihm die Packung Zigaretten.
»Jep«, gibt er betreten zu und nimmt sie entgegen.
»Du rauchst?«, frage ich bestürzt.
»Hilft es, wenn ich sage, dass ich versuche, aufzuhören?«
Ich verziehe das Gesicht. »Ehrlich gesagt, hasse ich alles daran. Wie es riecht. Was es mit deinem Körper macht. Ich meine, es sind deine Lungen.« Ich zeige auf seine Brust. »Ich habe einfach nie kapiert, wie man so wenig Wertschätzung für sein eigenes Leben haben kann.«
Er nickt. »Ich weiß. Es war bescheuert, überhaupt damit anzufangen.«
»Warum hast du? Du warst mal im Schwimmteam.« Ich sage das, als wären wir im selben Verein. Dem Sportverein.
»Hör mal!«, wehrt er mich ab. »Ich hab doch gerade gesagt, ich versuche, es aufzugeben.«
Ich rudere zurück. Und ich habe ihn einen erbärmlichen Flirter genannt. »Okay, hab’s begriffen. Sorry für die Moralpredigt.«
Vornübergebeugt, die Ellenbogen auf den Knien, starrt er seine Sneakers an, dann hebt er den Kopf und mustert mich. Er öffnet die Packung, zieht eine Zigarette raus und hält sie zwischen unsere Gesichter.
»Für den Notfall.« Er klemmt sich die Zigarette hinters Ohr und dreht sich um. »Hey, Willie. Fang.«
Charlie schleudert Willie die Packung entgegen, dann dreht er sich wieder zu mir. »Ich werd mir mehr Mühe geben.« Sein Blick ist ehrlich, ein aufrichtiges Versprechen liegt darin.
»Danke«, sage ich und begreife, was für eine unfassbare, megagroße Sache diese Geste ist.
Er streckt seine Hand aus und greift nach meiner. Ich starre sie an, die Wärme seiner Handfläche durchströmt meinen ganzen Körper.
Ich bin siebzehn und hatte noch nie einen festen Freund, was, laut Meaghan, eine größere Katastrophe ist als unsere Staatsschulden und der Ausbruch von Masern/Ebola/Zika-Viren zusammen. Dabei ist es nicht so, als hätten die Jungs es nicht bei mir versucht. Erst vor ein paar Wochen hat mich Dylan Finnigan gefragt, ob ich mit ihm ins Kino gehen wolle, wobei er aus lauter Nervosität mit seiner Faust auf meinen Spind geklopft hat, die Segelohren rot entflammt. Doch selbst so ein liebenswerter Kerl wie Dylan ist den Haufen Ärger, den mich eine Zusage kosten würde, nicht wert. Das hat mein Vater letztes Jahr unmissverständlich klargestellt, als er bei der bloßen Erwähnung, mich könnte möglicherweise ein Junge ausführen, das Weinglas meiner Mutter gegen den Küchenschrank knallte.
Aber Charlie Simmons, der sein Selbstbewusstsein trägt wie eine zweite Haut, ist seit Jahren meine heimliche Liebe. Ich habe nur nie damit gerechnet, dass etwas daraus werden würde.
Dieser eine kleine Traum, den ich für mich behalten, in mir verborgen und in meinem Innersten geschürt habe, scheint gerade völlig unerwartete Wirklichkeit zu werden, was mir auf die beste und schlimmste Weise die Fußnägel aufrollt. Ich weiß, dass meine Realität ihn bei der erstbesten Möglichkeit zerplatzen lassen wird.
»Also Hadley. Irgendwelche amüsanten Anekdoten, die du mit mir teilen willst?« In seinen Augenwinkeln tanzen die Lachfältchen.
»Irgendwelche amüsa…?«
»Ach, vergiss es. Erzähl mir einfach von dir. Wie tickst du so?«, drängt er.
Mit seiner Hand in meiner und seinen Augen, die herausfinden wollen, welche Versatzstücke von mir sich wohl hinter meiner Fassade verbergen, fällt es mir schwer, einen schlüssigen Satz zustande zu bringen. Sein warmer Blick und die Wärme, die sein Körper ausstrahlt, bringen mich um den Verstand.
Mein Notendurchschnitt von 0,7 nützt mir in der wahren Welt rein gar nichts.
»Äh … ich spiele Lacrosse?«
»Erzähl mir etwas, das ich nicht weiß.« Er lacht. »Auf dem Lacrosse-Feld bist du so etwas wie eine Legende. Muscles McCauley.« Er hebt seinen Arm, lässt die Muskeln spielen und gibt seinen Bizeps zum Besten wie ein Superheld.
»Was? Nein!« Ich schnappe nach Luft. »Nur Meaghan nennt mich so.«
»Tut mir leid, dass ich deine Illusionen zerstören muss. Alle nennen dich so.« Er sieht mir an, was ich fühle, und versucht, es wieder herunterzuspielen. »Entspann dich. Es ist sexy.« Er schmunzelt.
»Sexy?«, jaule ich. »Es ist alles andere als sexy. Es klingt, als wäre ich der Terminator.«
Darüber muss er richtig lachen, was die Demütigung zumindest ein bisschen lindert.
Er rückt näher an mich heran und hält eine Hand in die Luft. »Ich schwöre dir, du bist nicht gebaut wie der Terminator.« Ich will es gerade gut sein lassen, als er seine langen Finger um meinen Oberarm schlingt. »Obwohl du schon beneidenswerte Geschosse hast. Ich sollte dich in meiner Nähe behalten, falls ich mal wieder ein Gurkenglas nicht aufkriege.«
Ich verberge das Gesicht hinter meiner freien Hand.
»Aber ernsthaft jetzt«, sagt er zwischen den Lachern. »Lacrosse ist also voll dein Ding?« Er versucht, tiefer zu dringen.
»Nein«, gebe ich zu.
»Vollgas gibst du aber trotzdem. Ich hab dich spielen sehen. Da draußen bist du die reinste Kampfmaschine. Nicht zu bremsen.« Er hebt den Arm und imitiert einen Wurf.
»Na ja«, sage ich unbestimmt.
Er kneift die Augen zusammen, um mich unter die Lupe zu nehmen. »Hast du ein Problem mit Komplimenten? Oder bist du immer noch sauer über den Witz mit dem Gurkenglas? War doch nur Spaß. Ein bisschen wenigstens.« Er versucht, meinen Blick aufzufangen und lächelt, als wäre es unser gemeinsamer Witz, als teilten wir bereits unsere kleinen Geheimnisse.
Schließlich seufze ich. »Ich spiele nur wegen meinem Vater«, gebe ich zu. »Lacrosse war voll sein Ding im College. Durch mich kann er seinen Traum weiterleben.«
»Echt jetzt?« Überrascht lehnt sich Charlie zurück.
Hier im Schatten des Baumes, wo uns von der Party nur ein schmaler Lichtstreifen erreicht, sind seine Augen so dunkel wie der Nachthimmel. Aber ich weiß, dass sie im richtigen Licht bernsteinfarben sind. Ich weiß es, weil ich ihn schon so lange beobachtet habe.
»Es macht aber echt den Eindruck, als ob du mit dem Herzen dabei bist«, sagt er. Ich starre in seine Augen, lange genug, um zu befürchten, dass ein Teil von mir sich dort verfängt und für immer mit ihm verschmilzt.
»Dann bin ich wohl eine ziemlich gute Lügnerin.«
»Hmmm.« Charlie zieht die Zigarette hinter seinem Ohr hervor und rollt sie zwischen seinen Fingern hin und her. Gerade als ich denke, jetzt zündet er sie an und zerstört alles, steckt er sie zurück und nimmt wieder meine Hand.
»Okay … also, was macht Muscles McCauley, wenn sie nicht grad Lacrosse spielt?«
»Flugstunden nehmen?«, biete ich an.
Er stampft mit dem Fuß auf. »Hammer! Flugstunden? Wie krass ist das denn? Und damit kommst du jetzt?«
Ich lache, dann schaue ich auf unsere verschlungenen Hände. »Ehrlich gesagt, das ist auch nicht so mein Ding. Es ist eher mein Vater, der dafür sorgt, dass ich sie nehme.«
»Das also auch, hm?« Charlie kratzt sich an der Wange und räumt meinem peinlichen Geständnis ein paar Atemzüge Platz ein.
»Cupcake Wars!«, platze ich raus.
»Cupcake Wars?«, wiederholt er und lacht.
»Ja. Das kuck ich immer mit meiner Schwester.« Den Teil, dass wir es vor allem deswegen anschauen, weil Cupcakes, wie auch jede andere Sorte Junkfood im McCauley Haushalt zu den verbotenen Früchten zählen, lasse ich außen vor.
»Okay.« Schmunzelnd wiegt Charlie den Kopf. »Was noch?«
»Katastrophenfilme«, gebe ich zu.
»Ernsthaft? Ich auch!«
»Ich liebe sie! Je geschmackloser, desto besser. Vulkane, Tornados, Erdbeben, weltberühmte antike Kulturstätten, die wie Kartenhäuser in sich zusammensinken. Am besten in 3-D.«
Charlie nickt zustimmend. Dann zeigt er mit dem Finger auf sich und mich. »Du und ich? Wir gehen zusammen in einen Katastrophenfilm, Muscles. Okay, red weiter. Bist grad so schön in Fahrt.«
Ich beiße mir auf die Lippe. »Ich mag Töpfern.« Keine Ahnung, wo das jetzt herkam. Vor Jahren hab ich mal einen Töpferkurs im Sommercamp gemacht, da war ich ungefähr so alt wie Lila jetzt. Ich hab’s geliebt. Hab geliebt, wie der kalte, nasse Ton unter meinen Händen Form annahm. Unser Lehrer gab uns eine Kostprobe seiner Kunst auf seiner Töpferscheibe. Wir durften sie noch nicht benutzen. »Eines Tages«, sagte er damals mit einem Blick auf mich. Es juckte mich so in den Händen, einmal daran zu drehen. Ich konnte es nicht erwarten, auf der Highschool einen Töpferkurs zu belegen, aber dafür gab es in meinem Stundenplan niemals Platz.
All das erzähle ich Charlie und er hört mir intensiv zu, und dann kommen Meaghan und Mike nach draußen und setzen sich zu uns, womit meine perfekte Oase der Zweisamkeit ruiniert wäre.
»Rutsch rüber«, befiehlt Mike. Charlie rückt dichter an mich ran und legt einen Arm um meine Schulter. Mike setzt sich neben ihn und zieht Meaghan auf seinen Schoß.
»Juhu! Wir haben ein Double-Date!« Meaghan schwenkt ihre Siegerfäuste durch die Luft.
»Wo ist Noah?«, frage ich.
»Matt hat ihn überrascht«, sagt sie, kurz bevor Mike sich über sie beugt, seine Handfläche um ihren Hinterkopf schmiegt und ihre Lippen zu sich heranzieht. Hemmungslos fangen die beiden an, rumzumachen, direkt neben uns. Halb belustigt, halb entgeistert beäuge ich meine geräuschvoll schmatzende Freundin.
»So sieht Zurückhaltung bei Meaghan aus«, sage ich und grinse Charlie an.
»Warum lassen wir die beiden nicht ein bisschen allein?« Charlie steht auf und zieht mich an beiden Händen hoch. »Dir ist ja eiskalt.« Er umfasst die Hand, die vorhin nicht in seiner lag, und reibt sie zwischen seinen weitaus größeren, weitaus wärmeren.
»Komm, lass uns reingehen, damit dir warm wird.«
Drinnen ist die Party sichtlich ausgedünnt. Charlie beugt sich zu meinem Ohr runter. »Ich hol mir nur kurz Nachschub«, sagt er, bevor er das Bierfass ansteuert. Aus der Küche beobachte ich, wie Claudia im Wohnzimmer zu lautstarken »Schaut-mich-an«-Whooohoos auf dem Tisch tanzt. Die wilden Kicks lassen ihr kurzes Röckchen hochfliegen, immer wieder sehe ich ihren Slip hervorblitzen. Was der springende Punkt ist, denke ich. Morgen auf dem Spielfeld wird sie wieder zu nichts zu gebrauchen sein.
Apropos, morgen früh. Ich werfe einen Blick auf die Küchenuhr. Es ist schon nach elf.
»Fass ist fast leer«, schreit Charlie über die Musik hinweg, als er wieder einen Arm um meine Schulter legt.
»Charlie?« Das glückliche Leuchten in seinen Augen verblasst, als er meinen düsteren Gesichtsausdruck bemerkt.
»Tut mir leid. Ich muss gehen. Ich hab morgen ein Spiel in Riverhead.«
Blödes, blödes Spiel.
»Oh … das ist ja richtig Scheiße.« Er sieht so enttäuscht aus, wie ich mich fühle, und eigentlich sollte mich das nicht glücklich machen. Tut es aber.
Er schaut aus dem Küchenfenster zu Meaghan und Mike, die immer noch versuchen, sich gegenseitig aufzufressen. »Ich glaube nicht, dass Meaghan schon loswill. Mike kann sie nach Hause fahren. Komm.« Wieder nimmt er meine Hand. »Ich bring dich zum Auto.«
Mit mir im Schlepptau bahnt er sich einen Weg durch die Menge. Als wir schon fast an der Tür sind, springt Claudia vom Tisch runter.
»Charlie!«, kreischt sie. »Wo willst du denn hin?« Sie stürzt auf ihn zu und schlingt ihre Arme um seinen Hals. Von der schweißtreibenden Tanzerei ist das Make-up, mit dem sie sich auf jeder Party zukleistert, auf ihrem Gesicht zerlaufen. An ihrer verschwitzten Stirn kleben zerzauste, blonde Strähnen.
Charlie lässt meine Hand los und greift sich in den Nacken, um sich aus der Fessel ihrer Hände zu befreien.
»Hey Claudia.« Sanft schiebt er sie ein paar Schritte zurück. »Ich will grad raus.«
Blinzelnd und schielend versucht sie, ihn zu fokussieren. »Charlie, geh nicht«, bettelt sie, während sie ihn begrapscht. »Ich hab dich schon den ganzen Abend gesucht. Wo warst du?«
»Hinten im Hof.« Er windet sich aus ihrem Griff.
In diesem Teil des Hauses ist die Musik nicht so laut, weshalb ich ganz sicher bin, dass ich mir die folgenden Sätze nicht einbilde.
»Charlie«, Claudia beugt sich vor und legt ihre Hände auf seinen breiten Brustkorb, um sich abzustützen. Ihre Augen sind groß und ernst, ihre Stimme ist ein lautes Flüstern. »Soll ich dir einen blasen? Meine Blowjobs sind echt gut.«
Ich drehe mich zu ihren Leuten um. Warum sorgen die nicht für Ablenkung? Warum kümmern die sich nicht um sie? Stattdessen stehen Faith und Claudias sogenannte Freunde um sie rum und lachen sie aus.
Wieder wehrt Charlie ihre Hände ab. »Nein, Claudia. Stopp. Geh nach Hause oder was auch immer.«
Sie weicht zurück, verletzt, dann wütend. »Was ist dein Problem?«, fährt sie ihn an, dann bemerkt sie mich. Und zwar richtig. Stück für Stück sickert es in ihr Bewusstsein. Durch ihre auf Halbmast hängenden Augenlider trifft mich ein vernichtender Blick.
»Egal.« Sie dreht sich um und torkelt davon. Charlie greift nach meiner Hand und zieht mich durch die Eingangstür nach draußen. Auf dem Bürgersteig fährt er sich mit der Hand durchs Haar.
»Sorry«, bringt er schließlich kopfschüttelnd hervor.
»Du hast nichts gemacht«, sage ich, obwohl ich noch immer geschockt bin. »Was war das?« Ich zeige mit dem Daumen nach hinten.
»Das Mädel gehört ernsthaft in Behandlung«, sagt er. »Wo steht dein Auto?«
Ich zeige nach links. »Auf der Jackson.« Hand in Hand laufen wir über den schmalen Bürgersteig und steigen vorsichtig über die knorrigen Wurzeln hinweg, die sich alle paar Meter zwischen den Betonplatten hervordrängen.
»Also … gehst du gleich wieder zurück zur Party?«, frage ich.
Entschuldigend drückt er meine Hand. »Ja … Ist aber sicher bald vorbei. Wenn Mike erst mal das Bier ausgeht, hauen alle ab.«
Dass er nach dieser Sache wieder auf die Party geht, erschreckt mich. Was, wenn er nur deshalb Nein gesagt hat, weil ich direkt neben ihm stand? Welcher gesunde, leidenschaftliche, normale siebzehnjährige Junge würde da nicht Ja sagen? Und gibt es wirklich so etwas wie einen schlechten Blowjob?!
Als hätte er mir die Gedanken von der Stirn abgelesen, sagt er: »Ich werde mich von Claudia fernhalten.«
Bei der Vorstellung, wie viel er von meinem inneren Dialog mitbekommen haben könnte, überläuft mich ein Schauder.
Er lacht und wir bleiben vor meinem Auto stehen.
»Ich schwöre, du hattest die reinste Sprechblase über dem Kopf. Ich konnte sie sehen. Es war alles in Großbuchstaben, fett gedruckt, mit vier, nein, fünf Ausrufezeichen.« Er imitiert eine riesige Blase über meinem Kopf.
Meaghan macht noch immer mit Mike rum und Claudia tanzt wahrscheinlich wieder auf dem Couchtisch, und gerade als es für mich interessant wird, muss ich diesen perfekten Abend beenden, nur damit ich noch ausreichend Schlaf vor dem Spiel bekomme. Noch nie habe ich mein eigenes Leben so gehasst wie in diesem Moment.
Ich wende den Blick ab. »Ich hab nicht das geringsten Recht, von dir zu erwarten, dass du irgendwas tust … oder nicht tust.« Ich meine keine Silbe von dem, was ich sage. Ich sage es nur, um meine eigenen Erwartungen im Zaum zu halten, die gerade völlig verrücktspielen.
Widerwillig öffne ich den Reißverschluss, um ihm seinen Hoodie zurückzugeben. Anstatt ihn zu nehmen, legt er mir die Hände auf die Schultern und fesselt mich mit seinem Blick.
»Irgendwie hast du es aber doch«, sagt er. Er beugt sich vor und küsst mich. Ich presse beide Arme gegen meinen Körper, um sie davon abzuhalten, sich wie ein Lasso um seinen Hals zu schlingen. Dieser Kuss soll nicht aufhören. Niemals.
Als er zurückweicht, gesteht er mir: »Das habe ich schon so lange tun wollen.«
BRADY: Wir haben den 10. Januar. Uhrzeit … 13:05 Uhr. Darf ich Ihre Stellungnahme aufzeichnen?
NB: Ja.
BRADY: Nennen Sie bitte Ihren Namen und Ihr Alter.
NB: Noah Berger. Ich bin siebzehn.
BRADY: Noah, in welcher Beziehung stehen Sie zu Hadley?
NB: Wir sind Freunde. Enge Freunde.
BRADY: Erzählen Sie mir etwas über Hadley.
NB: Also, Hadley ist ungelogen einer der liebenswürdigsten, mitfühlendsten Menschen auf der ganzen Welt. Punkt.
BRADY: Okay, weiter bitte.
NB: Wissen Sie, Hadley ist ein sehr verschlossener Mensch. Es fühlt sich nicht gut an, so über sie zu reden. Hat sie irgendwelchen Ärger oder so?
BRADY: Nein, nichts dergleichen. Wir versuchen lediglich, etwas mehr über sie zu erfahren.
NB: Ja, aber warum?
BRADY: Die Ermittlungen laufen. Wir suchen noch immer nach den Ursachen für den Absturz. Ich verspreche Ihnen, Sie werden Hadley nicht hintergehen. Sie werden hier höchstens helfen. Ich möchte einfach ein paar Fragen über Hadleys Familienleben stellen. Unser Eindruck ist, dass Hadleys Vater ziemlich dominant war. Stimmen Sie dem zu?
NB: Oh Gott, ja.
BRADY: Also erzählen Sie mir ein bisschen davon.
NB: Tja … okay … also letztes Jahr, da hat er ihr verboten, Peer Helper zu werden. Hadley und ich wurden beide ausgewählt, was echt eine megagroße Sache ist. Es gibt nur neunzig ehrenamtliche Peer Helper von insgesamt vierzehnhundert Schülern. Quasi jeder muss einen anonymen Fragebogen ausfüllen, um herauszufinden, welchen Mitschülern man am ehesten seine Probleme anvertrauen würde. Hadley wurde genannt … und zwar richtig oft.
Aber Hadley hatte einen Kurs, der genau auf den Tag des Peer Helper-Seminars fiel. Es war ein Vorbereitungskurs für den Uni-Aufnahmetest. Hadleys Dad war unzufrieden mit ihren Ergebnissen … er hat sie diesen verdammten Test im letzten Jahr fünfmal wiederholen lassen. Ich hätte schon für ihr SCHLECHTESTESErgebnis töten können. Aber er war der Meinung, sie könnte mehr.
Mr. Murray – das ist unser Vertrauenslehrer, der das ganze Peer Helper-Projekt leitet – hat gesagt, dass man nur Helfer werden kann, wenn man an dem Seminar teilnimmt. Mr. Murray hat Mr. McCauley sogar angerufen und versucht, ihn umzustimmen. Ich meine, hallo? Hadley hätte echt mal auf einen Vorbereitungskurs verzichten können. Aber ein Nein von Mr. McCauley war in Stein gemeißelt. So liefen die Dinge halt bei ihr zu Hause.
BRADY: War Hadley enttäuscht?
NB: Na ja, logisch. Aber so was passierte ständig. Sie hat sich einfach an die Enttäuschungen gewöhnt. Was echt richtig traurig ist. Wahrscheinlich mache ich sogar ein größeres Ding draus als sie selbst.
Hören Sie, nichts von all diesem Zeugs, das ich Ihnen hier erzähle, hätte sie je in die Welt posaunt, okay? Wir sind eng befreundet. Mir und Meaghan vertraut sie. Und jetzt Charlie. Das war’s. Wir alle brauchen jemanden, um uns anzulehnen. Gibt’s darüber nicht sogar ’nen Song oder so?
jetzt
Ich kriege nichts und alles mit.
Gummiräder bewegen sich quietschend über den Linoleumboden, als sie mit mir zur Notaufnahme rasen. Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass der Flur von besetzten Krankenliegen überfüllt ist. Sie stehen dicht an dicht. An der Decke flackert das verschwommene Licht der Leuchtstoffröhren. Über mir schweben Gesichter, ihre Mienen sind professionell und ausdruckslos. Wir fahren an einer Frau vorbei, deren monotone Schreie blöken wie die Alarmanlage eines Autos.
Aber in meiner Brust ist es hohl und leer.
Irgendjemand sagt: »Findet ein Zimmer für sie. Die Journalisten versuchen schon reinzukommen.«