Jetzt sind wir Geschwister - Judith Parker - E-Book

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Judith Parker

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Beschreibung

Der Sophienlust Bestseller darf als ein Höhepunkt dieser Erfolgsserie angesehen werden. Denise von Schoenecker ist eine Heldinnenfigur, die in diesen schönen Romanen so richtig zum Leben erwacht. Das Kinderheim Sophienlust erfreut sich einer großen Beliebtheit und weist in den verschiedenen Ausgaben der Serie auf einen langen Erfolgsweg zurück. Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, mit Erreichen seiner Volljährigkeit, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. Die bernsteinfarbenen Augen des Bernhardiners richteten sich erwartungsvoll auf Magda. Lächelnd erwiderte die Köchin von Sophienlust den Hundeblick und sagte dann: »Hab' noch ein wenig Geduld, Barri. Es dauert nur noch wenige Minuten, dann kannst du den Frühstückskorb zu Justus tragen.« Nur widerwillig setzte sich der Bernhardiner nieder, doch er ließ Magda keine Sekunde aus den Augen, als sie die Esssachen in den Korb legte. Das Hausmädchen Lena, das in Sophienlust alt geworden war, und das junge Stubenmädchen Ulla frühstückten an dem länglichen Tisch in der Fensternische. Amüsiert beobachteten sie den sichtlich ungeduldigen Barri, der jeden Vormittag das zweite Frühstück in die Werkstatt hinter den Stallungen des Gutshofes brachte. »Magda, nicht wahr, du hast alles so hergerichtet, dass Justus ohne Mühe das Frühstück verzehren kann?«, fragte Lena besorgt. »Aber ja«, bekam sie leicht ungehalten zur Antwort. »Ich weiß doch, dass Justus mit seiner verletzten rechten Hand sehr hilflos ist.« »Er ist entsetzlich unglücklich, weil er dadurch zur Tatenlosigkeit verurteilt ist«, mischte sich Ulla ein. »Eines Tages hat ja so etwas geschehen müssen«, meinte Magda und stellte die mit heißem Milchkaffee gefüllte Thermosflasche in den Korb. »Justus glaubt nach wie vor, er sei noch ein Springinsfeld und könne dasselbe leisten wie in seiner Jugend. Ich habe ihm von der neuen Kreissäge abgeraten, aber er wollte sie ja durchaus haben«, brummte sie. »Und ich habe recht behalten«, fügte sie fast triumphierend hinzu.

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Seitenzahl: 164

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Sophienlust Bestseller – 231 –Jetzt sind wir Geschwister

Ein Weg ins Glück mit Hindernissen

Judith Parker

Die bernsteinfarbenen Augen des Bernhardiners richteten sich erwartungsvoll auf Magda. Lächelnd erwiderte die Köchin von Sophienlust den Hundeblick und sagte dann: »Hab’ noch ein wenig Geduld, Barri. Es dauert nur noch wenige Minuten, dann kannst du den Frühstückskorb zu Justus tragen.«

Nur widerwillig setzte sich der Bernhardiner nieder, doch er ließ Magda keine Sekunde aus den Augen, als sie die Esssachen in den Korb legte.

Das Hausmädchen Lena, das in Sophienlust alt geworden war, und das junge Stubenmädchen Ulla frühstückten an dem länglichen Tisch in der Fensternische. Amüsiert beobachteten sie den sichtlich ungeduldigen Barri, der jeden Vormittag das zweite Frühstück in die Werkstatt hinter den Stallungen des Gutshofes brachte.

»Magda, nicht wahr, du hast alles so hergerichtet, dass Justus ohne Mühe das Frühstück verzehren kann?«, fragte Lena besorgt.

»Aber ja«, bekam sie leicht ungehalten zur Antwort. »Ich weiß doch, dass Justus mit seiner verletzten rechten Hand sehr hilflos ist.«

»Er ist entsetzlich unglücklich, weil er dadurch zur Tatenlosigkeit verurteilt ist«, mischte sich Ulla ein.

»Eines Tages hat ja so etwas geschehen müssen«, meinte Magda und stellte die mit heißem Milchkaffee gefüllte Thermosflasche in den Korb. »Justus glaubt nach wie vor, er sei noch ein Springinsfeld und könne dasselbe leisten wie in seiner Jugend. Ich habe ihm von der neuen Kreissäge abgeraten, aber er wollte sie ja durchaus haben«, brummte sie. »Und ich habe recht behalten«, fügte sie fast triumphierend hinzu. »Er hat sich damit den halben Daumen abgeschnitten.«

»Glücklicherweise hat man ihn wieder annähen können«, bemerkte Lena und schlürfte behaglich ihren Milchkaffee.

»Aber Justus ist nun zur Untätigkeit verurteilt«, erwiderte Magda und wandte sich dann an Barri. »Da, nimm nun den Korb und lauf zu Justus.«

Das ließ sich der Hund nicht zweimal sagen. Behutsam nahm er den Henkel des Korbes zwischen seine prachtvollen Zähne und lief mit seiner Last zur Hintertür der Küche, die in den Gemüsegarten führte.

Ulla war schon aufgestanden und öffnete die Tür für den Bernhardiner. Er sah sie dankbar an und lief davon. »Barri ist wirklich sehr gescheit«, stellte das Mädchen fest und setzte sich wieder.

»Ja, das stimmt«, pflichtete Lena ihr bei. »Wenn der Hund bei den Kindern ist, braucht man sich keine Sorgen um sie zu machen.« Ein weiches Lächeln erhellte die runzligen Züge der alten Frau »Wenn mir einer früher, noch zu Lebzeiten der alten Dame, gesagt hätte, dass Sophienlust einmal ein Kinderheim werden würde, dann hätte ich ihn für verrückt erklärt.«

»Ja, das stimmt, Lena. Aber unsere liebe Sophie von Wellentin war eine kluge und sehr gütige Frau. Durch ihre weise Voraussicht sind schon zahlreiche Menschen glücklich geworden.«

»Sophie von Wellentin muss aber auch eine sehr hübsche Frau gewesen sein«, mischte sich nun auch Ulla wieder in die Unterhaltung der beiden alten Hausangestellten ein, die, ebenso wie Justus, schon bei Dominiks Urgroßmutter in Diensten gestanden hatten. »Auf dem Gemälde im Biedermeierzimmer sieht man das.«

»Sie war bildschön und sehr lieb. Alle mochten sie sehr«, entgegnete Magda wehmütig. »Sie hatte ein Herz für uns alle.«

»So wie unsere junge gnädige Frau, nicht wahr?« Ulla sah die beiden alten Frauen fragend an.

»Du sagst es. Das hat die alte gnädige Frau auch sofort erkannt, als sie die Witwe ihres Onkels und den damals noch kleinen Nick, ihren Urenkel, zum ersten Mal in Italien sah. Diese Begegnung hat die alte Dame ja auch zur Änderung ihres Testaments veranlasst. Ihr seht, dass im Leben Zufälle die größte Rolle spielen.« Magda schenkte sich nun ebenfalls Kaffee und Milch ein und ließ sich auf der Fensterbank nieder. »Hoffentlich erlebe ich noch Nicks Hochzeit«, fügte sie hinzu.

»Das wirst du bestimmt erleben«, entgegnete Lena lachend. »Und ich auch. Bei diesem guten Leben hier und der gesunden Luft hat man alle Aussicht, hundert Jahre alt zu werden.«

»Das beste Beispiel dafür ist unsere gute Huber-Mutter«, meinte Ulla lächelnd. »Sie ist rüstiger denn je.«

»Das kann man wohl sagen.« Magda schnitt sich eine Scheibe von dem saftigen Schinken ab. »Seit Kurzem unternimmt sie wieder längere Spaziergänge und sucht nach Heilkräutern.«

Während sich die drei Frauen lebhaft unterhielten, lief Barri den Weg entlang, der zu Justus’ Werkstatt führte. Die kleine Heidi hatte von der Freitreppe aus den Hund erspäht und lief ihm nun selig nach. Auch sie verbrachte die Vormittage oft bei dem alten Mann, der so spannende Geschichten erzählen konnte.

»Barri! Barri!«, rief sie. »So warte doch auf mich.«

Der Bernhardiner blieb sofort stehen und wendete seinen Kopf. Dabei wedelte er begeistert mit seiner buschigen Rute. Das ungefähr vierjährige Mädchen legte seine Rechte auf den dicken Kopf des Hundes und schritt dann neben ihm her.

Justus stand, die unvermeidliche Pfeife im Mundwinkel, unter der Tür des Schuppens, in dem er sich im Laufe der letzten Jahre eine komplette Werkstatt eingerichtet hatte, blickte den beiden lächelnd entgegen. Als Heidi ihn erblickte, nahm sie die Hand vom Kopf des Hundes und eilte freudestrahlend auf den alten Mann zu. Mit ausgebreiteten Armen erwartete Justus das Kind.

»Fein, dass du mich besuchst«, sagte der ehemalige Gutsverwalter nach der herzlichen Begrüßung.

»Barri bringt dein Frühstück«, erklärte die Kleine eifrig.

»Ich sehe es. Bist ein braver Hund«, lobte er das Tier, als es ihm den Korb vor die Füße stellte. Barri fuhr ihm schnell mit der Zunge über den Handrücken.

»Ich helfe dir!«, rief Heidi und fasste nach dem Henkel des Korbes, als Justus diesen in die Werkstatt trug. »Tut es noch sehr weh?«, fragte sie mitleidig nach einem Blick auf seine dick verbundene Hand.

»Überhaupt nicht mehr, Heidi.« Der alte Mann stellte den Korb auf den Tisch, und Heidi half ihm beim Auspacken der Esswaren. »Magda meint es nach wie vor gut mit mir«, meinte er lachend.

»Ich helfe dir beim Decken!«, rief Heidi und holte schon die Tasse und den Teller vom Regal. Barri machte es sich neben der Tür bequem und beobachtete den alten Mann und das Kind aus halbgeschlossenen Augen.

Heidi beteiligte sich mit gutem Appetit an dem reichhaltigen Frühstück. Dabei überschüttete sie ihren großväterlichen Freund mit unzähligen Fragen, die sie alle beantwortet bekam. Ihrer Meinung nach gehörte Justus zu den klügsten und weisesten Männern auf der großen weiten Welt.

Lächelnd blickte der alte Mann in die großen staunenden Kinderaugen. Er hatte die kleine Person, die ihre Eltern auf eine so tragische Weise verloren hatte, tief in sein einsames altes Herz geschlossen. Auch heute dachte er wieder an das Schicksal der Eltern von Heidi Holsten. Der Vater war ein haltloser Mensch gewesen, dem Rauschgift verfallen, der seine Frau erschossen hatte und danach tödlich verunglückt war. Zurückgeblieben war dieses noch nicht vierjährige Kind, das nun eine Heimat in dem Kinderparadies Sophienlust gefunden hatte.

Barri fuhr aus seinem Halbschlummer hoch, lauschte, und schlug dann voller Freude mit seiner Rute auf den Boden. Danach erhob er sich zu seiner ganzen Größe und winselte leise.

»Da kommt jemand!«, rief Heidi. Sie rutschte von der Bank und eilte zur Tür, um sie zu öffnen. »Es ist Tante Isi!«, berichtete sie erfreut.

Denise von Schoenecker fing das kleine Mädchen in ihren Armen auf und gab ihm einen zärtlichen Kuss. »Ich dachte mir doch, dass ich dich hier finden würde«, sagte sie und lächelte über Heidis blonden Haarschopf hinweg Justus an, der auf der Türschwelle stand. Er erwiderte schmunzelnd ihr Lächeln und begrüßte sie ebenso erfreut wie das Kind und der Hund.

»Ich wollte mich nur nach Ihrem Befinden erkundigen, Justus«, erklärte Denise, als sie die Werkstatt betrat. Barri schmiegte sich an ihre schlanken Beine und sah anbetungsvoll zu ihr auf. Auch Heidi blieb dicht neben der geliebten Tante Isi, die für sie zur zweiten Mutter geworden war.

»Ich habe keine Schmerzen mehr«, berichtete Justus und bot der Besucherin einen Stuhl an. »Ich wollte heute zu Ihnen kommen, um mit Ihnen über eine Krankenschwester im Maibacher Krankenhaus zu sprechen«, fügte er hinzu.

»Über eine Krankenschwester, Justus?« Denise schaute ihn an.

»Ja, Frau von Schoenecker. Es handelt sich um Schwester Ingrid. Sie heißt mit Familiennamen Laurens und hat zwei kleine Kinder. Ich glaube, Sie könnten der Familie vielleicht helfen.«

»Helfen? Aber warum denn? Ist Frau Laurens Witwe?«

»Nein, Frau von Schoenecker, das nicht, aber ihr Mann hat sie verlassen. Jedenfalls habe ich das gehört. Er soll ein Tunichtgut sein.«

»Woher wissen Sie das alles?«

»Man hört es halt. Schwester Ingrid hat in den letzten Tagen immer meinen Verband erneuert. Dabei habe ich sie näher kennengelernt. Sie ist sehr hübsch und noch sehr jung. Ich mag sie gut leiden. Aber mir ist gleich aufgefallen, dass sie immer sehr traurig aussieht. Im Wartezimmer habe ich dann von einer Frau erfahren, dass sie zwei Kinder hat, einen Buben und ein Mädchen, die den ganzen Tag sich selbst überlassen sind, wenn die Mutter ihren Dienst im Krankenhaus versieht. Dabei sollen die Kinder noch nicht einmal in die Schule gehen.«

»Justus, wie stellen Sie sich das nur vor«, meinte Denise kopfschüttelnd. »Ich kann doch nicht einfach ins Krankenhaus gehen und zu Schwester Ingrid sagen: Ich habe gehört, dass Sie sich in Not befinden und Hilfe brau-

chen.«

»Warum nicht?« Justus sah sie sinnend an. »Es wäre doch nicht das erste Mal, dass Sie in ein Schicksal eingreifen und Menschen helfen«, fügte er hinzu.

Heidi war der Unterhaltung der

Erwachsenen mit steigendem Inter-

esse gefolgt. »Bekommen wir neue Kinder?«, fragte sie schließlich leb-

haft.

»Aber nein, Heidi.« Denise strich ihr über das seidenweiche helle Haar. »So schnell schießen die Preußen nicht.«

»Ich glaube, dass man Frau Laurens und ihren Kindern doch helfen sollte«, erklärte Justus hartnäckig. »Im Laufe der Jahre, die ich hier verbracht habe, bekommt man so etwas wie einen sechsten Sinn für derlei Dinge. Wenn Sie es wünschen, Frau von Schoenecker, versuche ich, mehr über die Familie Laurens herauszubekommen«, bot er an.

»Meinetwegen.« Denise gab nur zögernd nach, denn sie dachte an ihren Mann, der immer wieder zu ihr sagte, sie könne nicht jedem Menschen helfen, der in tragischen Verhältnissen lebe. Das übersteige auf die Dauer ihre Kräfte. Sie gab ihm darin auch recht. Trotzdem konnte sie nicht gegen ihre Natur an. Sobald sie von einem tragischen Schicksal erfuhr, gingen ihr diese in Not geratenen Menschen nicht mehr aus dem Sinn. So war es auch jetzt. Doch sie legte sich noch nicht fest. Im Stillen hoffte sie aber, dass Justus tatsächlich mehr über die Laurens’ in Erfahrung bringen würde.

Justus las in dem Gesicht dieser gütigen Frau wie in einem offenen Buch und war sicher, dass sie der Familie helfen würde. Er sollte sich darin auch nicht täuschen.

*

Ingrid Laurens blickte auf ihre beiden Kinder, die beim Frühstück saßen. Die vierjährige Kuni blitzte sie aus ihren dunklen Augen schelmisch an. Wenn ihr Töchterchen sie auf diese Weise ansah, spürte Ingrid jedes Mal einen schmerzhaften Stich in der Herzgegend. Genauso hatte ihr Mann Guido sie früher angeschaut, wenn er etwas von ihr gewollt hatte. Ja, Kuni, vier Jahre alt, ähnelte ihrem Vater in einer fast schon lächerlichen Weise. Mathias glich dagegen mit seinen tiefblauen Augen und den dunklen Haaren ihr selbst. Er war drei Jahre alt.

Wie hübsch die beiden sind, schoss es Ingrid durch den Sinn. Obwohl Mathias ein Jahr jünger war als seine Schwester, war er fast so groß wie sie. Auch waren die beiden bereits erstaunlich vernünftig. Trotzdem befand Ingrid sich ständig in Sorge um sie, wenn sie die beiden allein lassen musste. Zwar kümmerte sich die Nachbarin, eine vierzigjährige Frau, gelegentlich um die Kinder, aber die meiste Zeit waren die beiden doch sich selbst überlassen.

Die Kindergärtnerin hatte Ingrid versprochen, dass sie so bald wie möglich Plätze für Kuni und Mathias im Kindergarten bekommen würde. Doch es würde noch einige Zeit vergehen, bis es so weit sein würde.

»Mutti, du brauchst nicht so traurig auszuschauen«, riss Kuni sie aus ihren quälenden Gedanken. »Mathias und ich sind bestimmt ganz brav. Wir spielen unten im Sandkasten. Schau doch mal zum Fenster hinaus. Die Sonne scheint wunderschön.«

»Glücklicherweise. Du bist ein Schatz!« Ingrid strich ihrem Töchterchen über den blonden Scheitel. »Ich weiß, dass ich mich auf dich verlassen kann.«

»Auf mich auch!«, rief Mathias eifersüchtig. »Schließlich bin ich der Mann im Haus, seitdem Vati fortgefahren ist. Nicht wahr?«

»Natürlich, Mathias!«, entgegnete Ingrid lachend. »So, und nun muss ich gehen, wenn ich nicht zu spät kommen will. Gegen vier Uhr bin ich wieder daheim. Heute esst ihr bei Frau Geit-

ner.«

»Aber sie kocht lange nicht so gut wie du, Mutti«, stellte Mathias fest. »Oft schmeckt alles so bitter.«

»Das kommt daher, dass sie das Essen sehr oft anbrennen lässt«, belehrte Kuni ihren Bruder.

Ingrid verabschiedete sich zärtlich von ihren Kindern und verließ dann schweren Herzens die kleine Wohnung. Bevor sie das Haus verließ, läutete sie noch an der Tür der Nebenwohnung und sagte Lisa Geitner, dass sie jetzt gehe.

»Ich schaue jede Stunde nach den beiden«, versprach die Nachbarin.

»Vielen Dank, Frau Geitner.« Ingrid nahm sich vor, ihr am Abend wieder eine gute Flasche Rotwein und Zigaretten mitzubringen.

Bevor Ingrid die Straße überquerte, blickte sie noch einmal nach oben. Wie jeden Tag standen die Kinder am Wohnzimmerfenster und winkten ihr nach. Ingrid winkte zurück und ging dann weiter.

Auf dem kurzen Weg zum Maibacher Krankenhaus beschäftigten sich ihre Gedanken mit ihrem Mann. Immer wieder fand sie neue Entschuldigungen für seine Handlungsweisen, die alles andere als verantwortungs- und liebevoll waren. Dabei hatte sie geglaubt, dass die Erbschaft, die ihn nach dem Tod seines Onkels nach München gerufen hatte, ein Segen für ihre Ehe werden würde. Doch bisher schien es nicht so zu sein.

Ingrid unterdrückte einen tiefen Seufzer und betrat dann das Krankenhaus. Von diesem Augenblick an war sie so beschäftigt, dass sie an nichts anderes mehr denken konnte. Das begrüßte sie jedoch sehr.

An diesem Vormittag gab es besonders viel zu tun. Das Wartezimmer der ambulanten Patienten war übervoll. Auch Justus wartete geduldig, bis er an die Reihe kam. Neben ihm saß dieselbe alte Frau, die ihm vor ein paar Tagen von Schwester Ingrid erzählt hatte. Geschickt verwickelte er sie auch an diesem Tag wieder in ein Gespräch. Nur zu gern berichtete die Frau ihm alles, was er wissen wollte.

»Ich kenne die beiden Kinder zufällig. Sie spielen an schönen Tagen in der Sandkiste bei uns hinten im Hof.

Es sind arme Kinder. Und von der

Frau Geitner, der Schwester Ingrid so großes Vertrauen schenkt, kann man leider auch nichts Gutes berichten. Wissen Sie, die Frau trinkt und raucht wie ein Schlot. Sie hatte einen Liebhaber, der sie verlassen hat. Oft ist sie so betrunken, dass sie alles anbrennen lässt. Das riecht man dann im ganzen Haus. Na ja, Frau Laurens bemüht sich ja, die Kinder im Kindergarten unterzubringen. Aber Sie wissen ja, wie das heutzutage ist. Bevor ein Kind dort einen Platz bekommt, ist es erwach-sen.«

»Man müsste den Laurens’ helfen«, brummte Justus.

»Ja, das müsste man. Aber heutzutage denkt ja jeder nur an sich selbst. Zwar heuchelt man Mitleid, doch helfen tut keiner.«

»Ich kenne Menschen, die wirklich helfen«, erwiderte Justus, war aber froh, dass die Frau im selben Augenblick aufgerufen wurde und im Sprechzimmer verschwand. Er hatte genug erfahren und wollte nun in Ruhe nachdenken.

Noch am gleichen Tag sprach Justus mit Denise. Diese war nun entschlossen, sich mit Schwester Ingrid in Verbindung zu setzen. Dass Frau Laurens Plätze für ihre Kinder im Kindergarten suchte, war ein plausibler Grund für eine Unterredung.

*

So kam es, dass Ingrid, als sie das Krankenhaus am nächsten Tag um die Mittagszeit verlassen wollte, plötzlich einer bildschönen schwarzhaarigen Dame in einem schlichten Leinenkleid gegenüberstand.

»Ich habe auf Sie gewartet, Frau Laurens«, ergriff Denise in ihrer zurückhaltenden, aber selbstsicheren Art das Wort, als sie bemerkte, dass die junge Frau sichtlich verlegen war.

»Auf mich? Aber …«

Denise nannte ihren Namen und fügte hinzu, es handle sich um ihre beiden Kinder.

»Um Kuni und Mathias? Haben die beiden etwas angestellt?«, fragte Ingrid erschrocken.

»Aber nein. Ich habe von …« Denise erzählte nun, auf welche Weise sie von den Kindern gehört hatte. »Und deshalb bin ich gekommen«, fügte sie hinzu. Ingrid überlegte nicht lange und bat Denise, sie doch in ihre Wohnung zu begleiten.

»Gern.« Denise erklärte sich sofort einverstanden und betrat kurz darauf das dreistöckige Mietshaus. Kuni und Mathias begrüßten ihre Mutter stürmisch und blickten dann Denise verwundert an.

»Das ist Frau von Schoenecker, Kinder«, stellte Ingrid die Besucherin vor. »Bitte, kommen Sie doch weiter«, bat sie, öffnete die Tür zum Wohnzimmer.

Auf den ersten Blick stellte Denise fest, dass die kleine Wohnung sehr gepflegt war. Dann aber konzentrierte sie sich wieder ganz auf das kleine blonde Mädchen und den dunkelhaarigen Jungen. Was für entzückende Kinder, dachte sie und war nun fest entschlossen, die beiden in Sophienlust aufzunehmen. Allerdings wusste sie noch nicht, ob Frau Laurens sich von ihren Kindern trennen würde.

Ingrid überlegte krampfhaft, was diese reizende Dame von ihr wohl wollte.

»Mutti, wir können bald essen«, sagte Kuni. »Ich habe die Kartoffeln pünktlich aufgestellt. Sie müssen bald gar sein.«

»Vielen Dank, Kuni. Sie sehen, meine Tochter ist schon sehr tüchtig.«

»Das sehe ich«, erwiderte Denise lächelnd. Danach raunte sie Ingrid zu: »Ich würde Sie gern einen Augenblick allein sprechen.«

Unter einem Vorwand schickte Ingrid ihre beiden Kinder noch schnell in das Lebensmittelgeschäft. Die beiden Frauen waren nun allein.

»Wie ich Ihnen schon sagte, gehört Sophienlust meiner Familie«, begann Denise.

»Sophienlust?« Eine steile Falte bildete sich zwischen den Brauen der jungen Frau. »Natürlich, Sophienlust!«, rief sie dann. »Das ist ja das Kinderheim, von dem man wahre Wunderdinge hört.«

»Und ich glaube, nicht zu Unrecht. Die Kinder fühlen sich dort wie in einer großen Familie.«

Ingrid begriff plötzlich. Doch das würde eine Trennung von ihren Kindern bedeuten, obwohl sie sich dann keine Sorgen mehr um sie zu machen brauchte. Aber sie besaß ja auch nicht genügend Geld, um den Aufenthalt der beiden dort bezahlen zu können, stellte sie gleich danach fast erleichtert fest. Somit war sie des Zwiespalts bereits wieder enthoben.

»Wir würden Kuni und Mathias gern dort aufnehmen«, sagte Denise nun.

»Das ist sehr nett von Ihnen, aber es ist unmöglich. Leider bin ich nicht mit irdischen Gütern gesegnet«, erklärte Ingrid. Es sollte scherzhaft klingen, aber das gelang ihr nicht ganz. Denn auf einmal hatte sie das heftige Verlangen, dieser gütigen Dame mit den

dunklen Augen, in denen sie nur Verständnis las, ihr Herz auszuschütten. Wie von selbst kamen ihr die weiteren Worte über die Lippen.

»Ich bin nicht sehr glücklich«, begann sie zögernd. »Mein Mann hat seine Stelle in der Rechtsanwaltskanzlei hier in Maibach aufgegeben, weil er die Anwaltspraxis eines Onkels in München geerbt hat. Er muss jedoch erst eine Wohnung für uns suchen, damit wir nachkommen können.« Ingrid verschwieg, dass ihr Mann auch ein Haus geerbt hatte, das groß genug war, um sie alle aufzunehmen. Dafür erklärte sie: »Das kann noch etwas dauern. Solange nicht alle Erbschaftsangelegenheiten geregelt sind, muss ich noch arbeiten gehen. Mein Mann kann mir in dieser Zeit kein Geld schicken.« Doch im selben Augenblick, als sie das aussprach, wurde ihr wieder einmal bewusst, dass Guido ihr Geld hätte schicken können, wenn er das tatsächlich gewollt hätte.

An Ingrid Laurens’ unsicherer Stimme erkannte Denise, wie sehr sich die junge Frau bemühte, ihren Mann in ein gutes Licht zu stellen. Jedenfalls war es für sie nicht schwer zu begreifen, dass die Ehe der beiden alles andere als harmonisch zu sein schien. Und wie meist in solchen Fällen waren wieder einmal die Kinder die Leidtragenden.