Jetzt, wo ich schon mal nicht tot bin - Silvana Koch-Mehrin - E-Book
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Jetzt, wo ich schon mal nicht tot bin E-Book

Silvana Koch-Mehrin

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Beschreibung

Jede*r hat Angst. Angst gehört zum Menschsein. Doch wir gestehen sie uns oft nicht ein, weil wir lieber stark als schwach sind. Aber wie wäre es, wenn wir offen über unsere Ängste sprechen würden? Über die Angst, Fehler zu machen, vor dem Alleinsein, vor dem Tod. Vor noch mehr Kriegen und Katastrophen. Und davor, dass die neuen Zeiten keine guten werden könnten. Wie können wir es schaffen, einen Umgang mit unseren Ängsten zu finden, ohne zu verzweifeln?Silvana Koch-Mehrin, ehemals Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments und Gründerin eines internationalen Frauennetzwerks, hatte in ihrem Leben mehr Ängste auszustehen, als ihr lieb war. Sie erlebte als Politikerin Aufstieg und Fall, verlor ein Kind, eine Karriere, eine Brust an den Krebs.In diesem sehr persönlichen Buch beschreibt Koch-Mehrin ihr altes und neues Leben. Wie sie es schaffte, Halt zu finden. Sie möchte eine Debatte anstoßen – darüber, was für ein Gewinn es wäre, wenn wir mehr voneinander wüssten, ehrlich miteinander sprechen und uns nicht hinter Fassaden verstecken würden.

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Seitenzahl: 236

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Befund

Blumen in Brüssel

James

Mit Angst leben lernen

Furcht und Angst

Biopsie

Freiheit

Angst toppt Angst

Corona

Gruppencall

Evolution

Sich zu tun machen

Rape Culture

Über den Wolken

Alte Angst

Stiftung

Bonjour, Madame Kosch-Märän

Island

Flopsy

Verabschiede dich von deiner Brust

Mutausbruch

Krieg

German Angst

Leben und Tod

Guido

Mehr Party wagen

Wahlsieg

Glass Cliff

Gekommen, um zu bleiben

Greta

Politik

Flucht

Gespräch mit den Kindern

Umarmung

Brust ab

Totgeburt

Schmerzbetäubt

Schlagzeile

Zu viel Kaffee

Broken Heart

Gefühle

Ganz oben

Verleugnung

Liegen bleiben

Absturz

Chemotherapie

Ohne Titel

Großeltern

Wie geht es dir?

Frauensache

Krise

Resilienz

Angst messen

Dreimonatsfrau

Dank

Quellenverzeichnis

 

 

Wirf deine Angstin die Luft

 

Baldist deine Zeit umbaldwächst der Himmelunter dem Grasfallen deine Träumeins Nirgends

 

Nochduftet die Nelkesingt die Drosselnoch darfst du liebenWorte verschenkennoch bist du da

 

Sei was du bistGib was du hast

 

Rose Ausländer

Vorwort

Ehrlich gesagt: Ich hatte Angst vor diesem Buch. Vor der Begegnung mit meinen Gefühlen und meinem Schmerz, vor der Erinnerung an das, was vermeintlich überwunden und vergessen wurde. Es würde auch wehtun, wenn Menschen dächten, ich nehme mich zu wichtig.

Andererseits: klappt das mit dem Vergessen natürlich nicht, der Körper merkt sich alles. Und jede Nachricht von einem Menschen, der krank wird, erinnert mich an meine eigene Angst.

Die Angst ist immer da, jeden Tag.

Angst versetzt uns in Panik, Angst wird zum Zustand. Die Angst vor dem Tod lässt uns das Leben fürchten.

Unser Dasein ist fragwürdig geworden in diesen Tagen. So, wie wir denken. So, wie wir arbeiten. So, wie wir miteinander umgehen. Der Krieg in der Ukraine, der Krieg gegen die Natur, der Kampf um Lebensmittel: Die Krise ist nicht Ausnahme, sondern Regel.

Was gerade geschieht, verändert unsere Haltung zur Welt. Wir werden nicht mehr weitermachen können wie bisher.

Wir haben Angst. Vor dem, was ist. Und vor dem, was kommt.

Ich habe mehr Ahnung von Angst, als mir lieb ist. Angst ist ein großes Thema in meinem Leben. Viel verloren, ein Kind, eine Brust, eine Karriere. Viel gewonnen: Die Angst hat mich freier gemacht.

Ich habe gelernt, dass Leben und Leiden zusammengehören. Und ich habe gelernt, wie gut es tut, seine Angst zu teilen. Sich mitzuteilen.

Deshalb dieses Buch. Wir haben es gemeinsam geschrieben, Uli Hauser und ich. Wir haben geredet über das, was uns bewegt. Gedanken getauscht. Und wir glauben, dass unsere Angst die Angst von vielen ist. Wir sind nicht allein damit.

Wir müssen reden. Raus mit der Sprache: in einem Land, in dem sich so viele Menschen so einsam fühlen. In einem Land, in dem so viele Menschen nicht mehr bei sich sind. In einem Land, in dem alles perfekt sein soll. In einem Land, in dem das Leben es bisher sehr gut mit uns meinte. Und Frieden ein Geschenk der Geschichte war.

Es gibt viele Gründe, Angst zu haben. Und auch viele, sich nicht zu fürchten. Leben heißt Leiden. Sorgen, die uns umtreiben, bringen aber auch Bewegung. Die Auseinandersetzung mit Angst kann Aufbruch bedeuten. Aktion.

Wir wünschen uns, dass wir gemeinsam zu Akteuren werden. Aufhören, nur zu beobachten oder zu bewerten.

Denn die wirklich großen Probleme, die da sind und noch auf uns zukommen werden, verlangen unsere größte Konzentration. Die Klimakrise und die Verbreitung der Viren. Die Sorge um Geld und Gesundheit. Davor, keine gemeinsame Sprache mehr zu finden. Dass uns mehr trennt, als uns eint.

Wir brauchen eine Kraftanstrengung, Lösungen zu finden. Lasst uns unsere Ängste richtig verstehen, damit wir nicht das Falsche tun.

Während wir schreiben, wuseln in der Küche viele Leute. Kinder aus der Ukraine. Ihre Eltern haben sie geschickt, sie sind bei uns in Sicherheit. Nastia, Ivan und Andreii, 16, 15, 14 Jahre alt. Sie kamen mit einem Rucksack und einer großen Salami im Gepäck. Ihre großen Brüder durften nicht raus.

Ich habe ihre Mutter angerufen und gesagt, ihre Kinder sind gut angekommen. Es war mein erster Videocall in einen Bunker. Das Bild geht mir nicht mehr aus dem Kopf.

Dieses Buch ist eine Entdeckungsreise, eine Expedition in die Angst. Wir wollen diese Reise mit Dir und Ihnen und Euch teilen und herausfinden, wie wir einen Umgang finden mit der Angst. Was wir tun und was wir lieber lassen sollten. Und wie wir es schaffen, Angst zu einem Ratgeber zu machen. Und uns nicht von ihr beherrschen zu lassen.

Es ist am Ende die Angst vor dem Tod, die uns das Leben fürchten lässt.

Eines Tages werden wir sterben müssen. Aber alle anderen Tage nicht.

Befund

Da ist was, sagte der Arzt.

Jedes Jahr im Juli ging ich zur Vorsorge, jedes Jahr im Juli ging es gut. Der Gynäkologe hatte meine Brust abgetastet, vorsichtig und mit dem Wissen langer Berufsjahre. Es fühlt sich gut an, sagte er, keine Knoten, alles fein. Machen Sie es gut, wir sehen uns im nächsten Jahr wieder, au revoir.

Ich war beruhigt, großartig, schon wieder gesund. Mit 48 Jahren macht man sich ja schon Gedanken. Danach wartete noch die Mammografie, in Belgien gehört dieses Früherkennungsprogramm zur Vorsorge. Wunder der Technik: Deine Brust wird durchleuchtet, diesmal untersucht dich eine Maschine.

Auch Maschinen können Menschen lesen, es ist nur nicht angenehm. Mammografie ist ätzend, ein einziges Quetschen, deine Brust wird zusammengedrückt und die Röntgenplatten sind kalt. Haben Sie Schmerzen, fragte die Radiologin. Nein, keine, sagte ich, es geht mir gut. Es war wichtig, hier zu sein, aber dieses Brust-auf-Platte-Pressen ist nicht angenehm. Das Gerät machte zwei Aufnahmen, von oben nach unten und von außen nach innen, Sie können sich wieder anziehen, danke.

Ich war bester Laune, die Vorsorge abgehakt. So eine Untersuchung ist nicht schön, sagte ich zu meiner Tochter, aber bitte verpasse später keine, das musst du auch mal machen. Ich hatte ihr versprochen, ein Eis essen zu gehen, sobald ich zurück war vom Arzt.

Brüssel meldete Hochdruck, das Wetter war ein Traum. Flirrend heiße Luft, wie ich das liebe. Sommerleicht, das Leben. Wir setzten uns ins Auto und fuhren lachend in die Stadt. Plötzlich ein Anruf. Mein Handy brummte. Der Arzt. Da ist was, sagte er. Wir haben da was gesehen. Eine Veränderung im Gewebe, wir können sie nicht zuordnen, wir brauchen noch eine Aufnahme. Wir erwarten Sie, bis gleich.

Er sagte das ganz ruhig. Es ist sein Job, einen Schrecken gelassen anzusprechen. Wir müssen noch mal kurz zum Doktor, sagte ich, kleiner Umweg, dauert nicht lange.

Ich sagte es beiläufig, unaufgeregt. So unaufgeregt, wie es mir möglich war. Einen solchen Moment wollte ich nie erleben, ausgerechnet im Beisein meiner Tochter. Wir sagen uns viel, aber ich sage nicht alles. Sie soll ein unbeschwertes Leben haben, mein Job ist es, dafür zu sorgen. Ich hatte schon viele schwierige Situationen gemeistert, ohne dass meine Kinder Wind davon bekamen. In ihnen war Gewissheit, dass ihre Eltern das Leben im Griff haben. Wir haben ein schönes Leben.

Du warst doch gerade erst dort, sagte meine Tochter. Sie blickte verwundert. Ist was? Nein, sagte ich. Ich suchte nach diesem Griff, für mein Leben. Und krallte mich am Steuer fest. Nein, Schatz, Ärzte haben immer noch Fragen, das kann passieren, ich soll da noch was angeben, ich musste noch einen Zettel ausfüllen, da habe ich wohl was vergessen. Ich weiß nicht mehr genau, was ich sagte, ich sagte, was mir gerade einfiel. Was Ruhe brachte in meine Aufregung. Bleib im Auto sitzen, es dauert nicht lange, ich bin gleich zurück. Meine Tochter nickte.

Nur wenige Ärzte in Brüssel praktizieren in eigenen Räumen. Sie mieten sich in größere Zentren ein, in grauem Weiß gestrichen und alles andere als persönlich gehalten. Keine persönlichen Bilder an den Wänden, von Familie oder Freunden, funktionale Leere. Das einzige Grün ist die Farbe des Fußbodens. So sieht es auch in Gewerbegebieten aus. An der Rezeption keine Sprechstundenhilfe, mit der man vielleicht sogar noch ein bisschen plaudern kann, sondern eine Mitarbeiterin für die Hausordnung. Hier Krebs, da Geburt. Mammografie war im Keller.

Gut, dass Sie so schnell zurück sind, sagte der Arzt. Double check, eine reine Vorsichtsmaßnahme, nur zu Ihrer Sicherheit. Ich stellte mich noch einmal vor das Gerät, mein Körper wurde justiert, Brust raus. Bitte noch ein wenig nach rechts, vielleicht ein bisschen schräger, ja, danke, das reicht, und jetzt bitte nicht bewegen. Lassen Sie den Arm hängen.

Die Prozedur ist schmerzhaft. Wer denkt sich solche Maschinen aus? Kein Mann muss ein solches Prozedere über sich ergehen lassen, dachte ich, wenn es um die jährliche Prostata-Vorsorge geht. Legen Sie mal das Gemächt auf diese Platte, das sagt kein Arzt. Noch hatte ich Kapazität für solche Gedanken.

Bitte nicht atmen, danke, das war es.

Als ich wieder durfte, atmete ich tief durch. Einmal richtig tief Luft holen und raus damit. Ich dachte an meine Tochter, hoffentlich kommt sie nicht rein und fragt nach mir. Nein, du hast ihr ein gutes Gefühl gegeben, hörte ich mich denken, das kannst du doch, Situationen überspielen, es wäre nicht die Erste gewesen in deinem Leben.

Es war sehr vernünftig, hier zu sein, das hast du gut gemacht, stell dir vor, du hättest diesen Termin verlegt, prima. Ich rede mir gern gut zu, einer muss es ja machen. Ich bin eine Freundin neurolinguistischer Programmierung. Ich glaube an die Macht positiver Gedanken; wenn es kalt ist, sage ich mir so lang, es ist nicht kalt, dass mir warm wird. Ich habe einen Freund, der sich bei jedem Telefonat mit dem Satz meldet, na, was hast du Schönes auf dem Herzen. Das klingt doch gleich ganz anders, zugewandt und optimistisch. Statt ständig Plage und Klage.

Silvana, bleib ruhig. Ich würde gleich in der Sonne einen Cappuccino trinken, mit ein wenig Schaum darauf, nicht zu viel. Vielleicht noch einen Keks dazu, was habe ich für ein Glück.

Kurz danach waren die neuen Bilder beim Gynäkologen, es ging schnell. Technik ist toll. Der Arzt schaute mich ernst an. Da scheint etwas nicht in Ordnung zu sein, sagte er. Sehen Sie, sein Finger berührte das Röntgenbild, diese weißen Punkte, das sind Mikroverkalkungen. Sie können, sie müssen aber nicht Krebs bedeuten. Wir sollten eine Biopsie machen, wir brauchen eine Gewebeprobe.

Es war genau das, was ich nicht hören wollte. Biopsie. Die macht man nicht einfach so. Biopsie, das bedeutet nichts Gutes. Nicht mehr nur Maschine, sondern Eingriff. Ich sollte etwas abgeben, Körper rausrücken, einen Teil von mir. Gewebeprobe, wie sich das anhört.

Es kostete mich große Mühe, Fassung zu bewahren. Draußen meine Tochter, drinnen der Tod. Ich habe also Krebs, jetzt auch ich. Ich kannte viele Frauen, die erkrankt waren.

Ich war aufgewühlt. Ich wankte zurück, nein, ich ging entschlossen. Bevor ich den Maschinenraum verließ, nahm ich Haltung an. Ich hatte ein Geheimnis, ein Geheimnis sollte man für sich behalten.

Man kann am Gang eines Menschen erkennen, wie er sich fühlt und in welcher Verfassung er ist. Ich nahm mir vor, nicht gehetzt zu wirken, betont lässig. Das Auto stand vor der Tür, ich lächelte meine Tochter an. Sie schaute skeptisch: Ist was, Mama? Es war was, ich schwieg. Nein, sagte ich, alles gut. Ich kenne keinen, der nicht alles gut sagt, wenn er gefragt wird, wonach auch immer. Vielleicht war ja auch alles gut.

Ich hatte nur noch etwas abholen müssen, Schatz. War ja nicht mal gelogen, auf eine Art. Papiere, sagte ich, ich weiß nicht mehr genau, was ich gesagt habe. Ich habe gesagt, was mir in diesem Moment aus dem Kopf purzelte. Ich wollte nicht beunruhigen, ich wollte Zeit gewinnen, ich wollte der Angst keinen Vorsprung geben. Ich musste mich sortieren. Gewebe, das aussieht wie ein Klumpen, das kann ja mal passieren, was weiß ich, in so einem Körper ist ja immer etwas los. Ich war gesund, was sonst?

Du guckst so komisch, sagte meine Tochter. Nein, alles gut, sagte ich.

Wir gingen Eis essen. Meine Tochter liebt Vanilleeis, gern mit Spekulatius darin. Bei uns in Brüssel ist Spekulatius ein Grundnahrungsmittel. Nationalkeks. Spekulatius gibt es länger als dieses Land, die Leute machen ein großes Theater darum. Sie brauen sogar Bier damit. Meine Tochter bestellte zwei Kugeln. Ich mag kein Eis. Das ist mir zu kalt. Ich trinke lieber Kaffee, ich habe es gern warm. Lecker, Mama, sagte meine Tochter. Ich sah sie versonnen an, sagt man das noch, versonnen? All meine Liebe legte ich in diesen Blick. Ich würde es ihr nicht lange verheimlichen können.

In meinem Kopf war Wahnsinn. Ich würde es allein nicht schaffen, ich brauchte Hilfe. Wenn man müde ist, kann man sich hinlegen, wenn man Hunger hat, was essen. Aber wenn da was ist in deinem Körper, das nur eine unsichtbare Macht sichtbar macht: Dann wird es unheimlich.

Ich wollte Tränen vermeiden, nicht hier, nicht vor meiner Tochter, starke Mutter, starkes Kind. Unwirklich, alles. Vielleicht war der Krebs auch schon viel weiter, dachte ich. Moment, du hast keinen Krebs, mach dich nicht verrückt, das war eine Untersuchung, es gilt die Unschuldsvermutung. Das Ergebnis kommt noch. Und ist es nicht so, dass sich auffällige Befunde auch als unbegründet herausstellen können?

Die Kugel war größer als sonst, das Eis schmolz in der Sonne. Meine Tochter war damit beschäftigt, nicht zu kleckern. Sie wollte ihr buntes Sommerkleid nicht schmutzig machen. Sie löffelte andächtig, anmutig fast; verweile doch, du bist so schön. Ich staunte, dass sich die langen Haare meiner Tochter nicht im Eis verfingen.

Ich kenne Eltern, da müssen sich die Kinder einen Zopf binden, wenn sie Eis essen.

Meine Tochter lächelte selig. Eis. Mama, darf ich noch ein Eis, wie ich diese Frage früher liebte. Jetzt war sie schon so groß und würde bald studieren. When Irish eyes are smiling, dachte ich, es gibt da so ein Lied. Ihr Vater kommt aus Irland. James ist die Liebe meines Lebens.

Hoffentlich ist dieser Brustkrebs nicht vererbbar, dachte ich. Hatte ich Brustkrebs gedacht? Bitte, beherrsch dich. Toll hier, oder? Meine Tochter nickte. Ich genoss den Moment, ich dehnte ihn aus, ich wollte gar nicht mehr weg. Mama, wollen wir weiter? Ach, lass uns noch ein bisschen bleiben, sagte ich. Es klang so wie: Ach, lass mich noch ein bisschen leben.

Später meinte meine Tochter, sie habe gespürt, dass etwas nicht in Ordnung sei. Aber sie wollte mich nicht beunruhigen.

Blumen in Brüssel

Über Angst zu denken, über Angst zu schreiben: Es ist genau, was man nicht will. Ich würde lieber von Büchern erzählen, die ich gelesen habe, über Filme, über spannende Ideen, darüber, wie man es sich schön macht zu Hause. Oder über Hunde, ich liebe Hunde. Ich könnte mich den ganzen Tag mit Hunden beschäftigen, Welpen, so süß.

Was ich auch gut finde, ist, Menschen zu beobachten. Auf dem Markt. Wir haben in Brüssel viel Markt. Ältere Paare vor einem Blumenstand, wunderbar. Der Mann sagt, wir nehmen rote Tulpen, die Frau sagt, Nein, lieber die gelben. Oder? Entschuldigung, warten Sie, lieber die dahinten, was meinst du, Schatz? Die Leute hinter dem Stand müssen viel Geduld haben, aber die ist eingepreist.

Manche Paare halten Händchen und kommen mit Körben aus Bast. Die warten darauf, gefüllt zu werden mit guten Gaben. Ist der Einkauf beendet, wird noch einmal geschaut, ob etwas vergessen wurde. Vergessen? Ja, die Narzissen, sie haben die Narzissen übersehen. Die sind heute besonders schön, sagt der Verkäufer, er beherrscht das Spiel. Madame, sehr gern, sonst noch was, brauchen Sie Papier?

Blumen brauchen vor allem einen guten Platz. Und eine große Vase, sie müssen sich entfalten können. Vielleicht noch ein bisschen Schleierkraut dazu, Monsieur? Der schaut seine Frau an, ja, wenn du meinst. So geht es eine ganze Weile, es ist ein Hin und Her, ach, lieber die, ach, lieber nicht.

Ich fühle mich auf unserem Markt zu Hause. Mein Hund bekommt hier Möhren, er liebt Möhren. Flopsy kann so süß gucken.

Wenn ich dann meinen Einkauf im Wohnzimmer drapiert habe, freue ich mich schon auf das nächste Wochenende. Auf neue Blumen und die alten Leute. Und denke, eines Tages, wenn ich alt bin, stehe ich da auch mit James und halte Händchen.

Vielleicht werde ich aber auch gar nicht alt.

James

Ich sagte es meinem Mann, er sagte nichts. James sagt gern einmal nichts, es gibt nicht immer was zu sagen. Ich kenne ihn seit über zwanzig Jahren. James ist Rechtsanwalt, aber das ist nur sein Beruf. James hat schon viel in seinem Leben probiert. Früher spielte er Rugby, heute fährt er Fahrrad. Ich hatte ihn eines Morgens kennengelernt, um halb sieben am Bahnhof. Wir waren Praktikanten bei der EU-Kommission und auf dem Weg von Brüssel nach Straßburg. James sah ein bisschen mitgenommen aus, er hatte kaum geschlafen. War eine prima Nacht gewesen mit seinen Freunden. Iren können feiern, und wie.

James stand in der Küche, als ich es ihm sagte. Er machte sich einen Tee, Barry’s Golden Blend, seinen irischen Spezialtee. Die Iren sind angeblich Weltmeister im Teetrinken. Ich muss zur Biopsie, sagte ich, es kann Krebs sein. Ich sagte es so unaufgeregt wie möglich, Aufregung mögen wir beide nicht.

James nahm den Teebeutel aus der Tasse und klatschte ihn in die Spüle. Er macht das immer. Ich würde ihm das gern abgewöhnen, ich finde das eklig. Ich mache daraus aber kein Drama, ich räume einfach hinter ihm her. Das ist schon fast ein Ritual, unser Leben hat eine gewisse Ordnung. Wenn man sich so lang kennt, darf man sich ruhig auch mal an was gewöhnen. James nahm einen Schluck aus seiner Tasse. Ich bin sicher, er war längst vorbereitet.

Komm, sagte er, gehen wir rüber. Wir setzten uns an den langen Tisch. Wir haben einen sehr schönen langen Tisch; wenn James nicht mit dem Rad unterwegs ist, sitzt er am liebsten dort. Der Tisch und er gehören zusammen, das ist eine Einheit. Die Sonne blinzelte ins Wohnzimmer, die Kinder waren aus dem Haus.

Absurd, jetzt an Tod zu denken. James sah mich an. So wie immer, den Kopf leicht zur Seite gebeugt. Das ist seine Angewohnheit, leichte Schräge. So als wolle er ein wenig mehr Abstand gewinnen, aus noch größerer Entfernung eine noch bessere Sicht haben. Ich liebe diesen Blick. Er war mal Türsteher, damit hat er sich sein Jurastudium finanziert. James kann auch gut gucken. Er schaut genau hin. Entweder kommst du rein, oder eben nicht. Waren die Jungs am Tresen betrunken und zu nichts mehr zu gebrauchen, hielten sich die Mädels an James. Er hatte nach der Schicht Zeit für sie.

Hast du Angst, fragte er mich. Ja, sagte ich.

Mit Angst leben lernen

Angst. Was macht sie mit dir, was macht sie mit mir? In diesen Zeiten, in diesen Tagen? Es ist Krieg in Europa, es ist Krieg in der Welt und nicht mal mehr fünf Minuten vor Weltuntergang. Das ist die Stimmung, derzeit. Endzeitstimmung. Corona war, Corona ist, nach der Krise ist vor der Krise. Wir sollten Vorräte anlegen, für alle Fälle, sagen Politiker.

Es wird einem schwindlig, wenn man die Nachrichten verfolgt. Wenn man sie überhaupt noch lesen will. Ein Alarm folgt dem nächsten, die einen winken ab, die anderen geraten in Panik. Unser Nachbar beendete letztens eine Party mit ein paar Böllern auf der Straße. Man lachte. Unsere Gäste aus der Ukraine zuckten zusammen, die Einschläge kommen näher, dachten sie. Wir mussten sie beruhigen, keine Angst, da haben nur welche gefeiert.

Wir Menschen haben es schon weit gebracht. Wir sind eine ziemliche Erfolgsgeschichte. Und ziemlich verwöhnt hierzulande. Wenn wir Wasser brauchen, drehen wir den Hahn auf. Anderswo sind Leute dafür Stunden zu Fuß unterwegs. Haben wir Hunger, tippen wir eine Bestellung ins Handy, und dann bringt einer was vorbei.

Aber Angst haben wir trotzdem. Die kann man nicht einfach wegdrücken wie einen Anruf, den man nicht entgegennehmen will. Angst gehört zum Leben. Ohne Angst wären wir nicht mehr am Leben. Im Laufe unserer Geschichte haben wir gelernt, dass Angst uns vor Gefahren schützt. Angst lenkt unsere Aufmerksamkeit darauf, was uns nicht guttut. Es versteht sich von selbst, dass man sich dann nicht die schönsten Gedanken macht.

Angst ist das unangenehmste Gefühl von allen. Die Menschen vor uns haben versucht, dieses Gefühl zu beschreiben. Das indogermanische »anghu« bedeutet so viel wie »sich bedrängt fühlen«. Die alten Griechen sagten »agchein«, würgen, drosseln. So ist Angst, sie schnürt dir die Kehle zu.

Let’s do the biopsy, sagte James. Let’s take it step by step. Einen Schritt nach dem anderen.

Furcht und Angst

Ein Freund meinte, ach, ihr schreibt über Angst? Ihr wisst schon, sagte er, dass es einen Unterschied gibt zwischen Furcht und Angst? Also Angst, sagte er, die gibt es so gar nicht. Das ist nur eine Vorstellung. Angst ist in der Zukunft. Du denkst, dann und dann wird was passieren. Aber was du eigentlich hast, das ist Furcht. Wenn du vor einem Hund stehst und der fletscht die Zähne oder bellt so komisch, dann fürchtest du dich. Mit Angst hat das erst mal nichts zu tun. Du denkst voraus, dass dieser Hund dir ins Bein beißt. Dies ist eine Möglichkeit, die berechnest du in deine Reaktion ein. Du fürchtest, jetzt angefallen zu werden, aber hast Angst, vielleicht verletzt zu werden. So ist das, sagte er. Der Mann ist Lehrer, er kann gut erklären.

Für mich macht es keinen Unterschied, ob ich mich fürchte oder Angst habe. Du hast keine Angst vor dem Hund, du fürchtest dich. Schon verstanden. Es ist schön, in einem Land zu leben, das genug Gelegenheiten bietet, über so etwas nachzudenken. Ivan sagt, bei euch fallen keine Bomben, darf ich länger bleiben?

Biopsie

Angst ist auch Geschäft. Ein Makler meinte mal, Angst läuft sehr gut. Angst bringt gutes Geld. Er verkauft Versicherungen. Das Versprechen, sich vor Gefahren schützen zu können. Leben Sie, wir kümmern uns um den Rest. So in etwa. Wir checken den Markt, sagte der Mann, und dann bieten wir ein Produkt. Ich würde sofort eine Versicherung abschließen gegen Brustkrebs. Und eine Zusatzversicherung gegen die Klimakrise. Und, wenn noch Geld übrig ist, auch noch eine gegen Dummheit und Gewalt. Gibt es aber leider nicht, solche Versicherungen.

Die Frau an der Rezeption im Krankenhaus sagte, ich solle mich setzen, man werde mich aufrufen. Das Wartezimmer war voll, bange Erwartung. Die einen versanken in ihrem Handy, die anderen schauten stumm. Ich fragte mich, was die wohl haben. Glücklich sah keiner aus.

Ich sagte mir, gut, hier zu sein. Komm, vergiss es, es ist nicht gut, hier zu sein. Besser wären jetzt Pommes auf dem Markt oder Eis essen mit meinen Kindern, alles besser als das hier. Ich saß da und behielt mich für mich. Ich hätte die anderen Patienten fragen können: Haben Sie auch Brustkrebs? Das macht man nicht. Warum eigentlich nicht?

Endlich war ich an der Reihe. Bitte machen Sie sich frei, sagte der Arzt. Nichts lieber als das, dachte ich.

Ich hatte mich vorher erkundigt, was passieren würde, ich war gefasst. Das hier war was zwischen uns, zwischen mir und dem Arzt. Er war da, mir zu helfen. Er war da, mich zu retten. Er würde herausfinden, was in meinem Körper vagabundierte. In meinem Körper, ich habe ihn so lieb.

Neurolinguistische Programmierung ist eine Methode, dein Denken zu steuern. Man kann es versuchen. Denkst du die ganze Zeit schlecht von der Welt, ist die Welt auch schlecht. Macht mein Hund mal wieder auf den Teppich, sage ich nicht, du blöder Hund, sondern: Ich liebe ihn. Ist ja auch Quatsch, anders zu denken, ich habe mir ja den Hund angeschafft und nicht der mich. Wenn die Stimmung zu kippen droht, rufe ich mich zur Ordnung.

Ich werde jetzt diese Nadel in die Haut einführen und eine Probe entnehmen, sagte der Arzt. Seine Assistentin brachte einen Kopfhörer und sagte, ich könne wählen zwischen Möwen am Meer oder Vögeln im Wald. Also nicht richtig, Geräusche von denen. Ist ja erwiesen, dass Natur hilft. In Kanada, habe ich gelesen, verschreiben die Ärzte neuerdings frische Luft, die bekommst du dort auf Rezept. Die Patienten müssen Wald und Wiese einnehmen, zweimal die Woche, mindestens zwanzig Minuten am Stück. Und raus. Die Ärzte schicken sie zum Spazieren ins Grüne. Die Kassen rechnen das ab. Wald senkt den Blutdruck und reduziert den Stress. Ich wäre jetzt auch gern in Kanada, dachte ich.

Nein danke, sagte ich, ich brauche keine Geräusche. Mir reichte eine kleine Betäubung, es war mir alles zu viel.

Ich hatte eine gute Zeit gehabt in den Wochen davor. Wenn du dir vorstellst, eines Tages tot zu sein, und wenn dir vorher auch noch gesagt wird, woran du sterben könntest, lebt es sich intensiver. Das Leben hatte eine Ordnung. Der Tag ging abends schlafen. Und wachte morgens auf. Im Osten die Sonne. Im Westen der Mond. Sterne am Himmel, schau mal James, wie schön. Dachte ich bislang, der Vorhang im Wohnzimmer könnte auch mal neu, erwog ich nun eine Liebeserklärung. Was für ein prima Vorhang, dachte ich, das war eine wirklich gute Idee, dass wir dich damals gekauft haben, bleib mal schön da hängen. Morgens schmierte ich den Kindern Brote für die Schule, mittags kam die Müllabfuhr.

Schübe von Dankbarkeit, für alles, was ich bisher machen durfte, für mein Leben, meine Familie, meine Eltern. Mit 17 Jahren war ich das erste Mal allein los, nach Afrika, dorthin, wo meine Eltern eine Zeit lang gelebt hatten. Meine Mutter als Lehrerin, mein Vater bei der deutschen Botschaft. Über Moskau und Angola flog ich in die sambische Hauptstadt Lusaka. Ich wollte das Land erkunden und die Victoriafälle sehen, so nah wie möglich.

Ich war Wochen dort, einen Sommer lang. Ich fuhr in Sammeltaxis und übte Geduld. Stunden vergingen, bis es endlich losging. Buntes Treiben: Frauen mit Körben auf dem Kopf und Babys um den Bauch. Kinder verkauften Wasser in kleinen Tüten. Abends schüttelte ich Staub aus dem Haar, feinen roten Staub. Schotterpiste rechts, Schotterpiste links. Am Straßenrand Leute mit Beilen, sie hackten Fleisch. Dahinter Hütten. Frauen stampften Maniok. Die Männer kauten Süßholz. Ich setzte mich zu ihnen, sie luden mich zum Essen ein, und wir teilten Reis.

In der Hauptstadt tanzte ich die Nächte durch. Die Männer guckten, die Frauen guckten, irgendwann fiel ich müde ins Bett. Dann schüttelte es mich. Mir war kalt, ich fror. Die Glieder schmerzten, Bauchkrämpfe. Hohes Fieber.

Du meine Güte, hörte ich eine Frau reden, ich sah ihre Umrisse über mir. Ich wohnte bei Freunden meiner Eltern, ich lag in einem Zimmer mit einer grünen Wand, und die Wand kam auf mich zu. Ich stammelte und stöhnte, da hinten, seht ihr, da ist was, warum seht ihr das nicht. Stunden ging das so. Bis irgendwann jemand Tabletten aufgetrieben hatte und ein Arzt da war mit schwarzer Brille. Komisch, dachte ich, der kann dich doch gar nicht erkennen, du bist doch gar nicht mehr da, was soll das? Plötzlich stand mein Vater im Zimmer. Was macht der denn jetzt hier, Papa, bist du das? Deiner Tochter geht es sehr elend, hatten die Freunde gesagt, die Leute sterben hier wie die Fliegen, komm schnell. Er setzte sich in den nächsten Flieger.

Papa holt mich, dachte ich, aber ich bin doch tot. Er kommt zu spät. Wie schade. Ich sterbe, Papa. Nein, sagte er, du lebst. Später sagte er, du hast richtig Glück gehabt. Schwerste Malaria.

Seitdem denke ich immer, was kann mir schon noch groß passieren. Von nun an verglich ich alles Schlechte mit diesem Erlebnis. Schlimmer kann es nicht mehr kommen. Mit 17 hat man noch Träume.

Der Arzt nahm die Spritze mit der hauchdünnen Nadel und setzte an. Einmal, zweimal, dreimal. Ungewöhnliche Zellveränderungen können viele Gründe haben, sagte er, wir wollen ausschließen. Die Untersuchung dient Ihrer Sicherheit, wir brauchen eine genaue Diagnose. Als es endlich vorbei war, gab er mir Anweisung. Den Arm bitte in den nächsten zwei Tagen nicht bewegen und an dieser Stelle die nächsten sieben Tage kein Wasser, ich gebe Ihnen ein Pflaster mit. Sie können jetzt nichts tun, außer zu warten, wir melden uns, sobald das Ergebnis da ist.

Das erste Ergebnis war ein hässliches Hämatom.

Ich empfehle jedem dringend, zur Vorsorge zu gehen. Je früher ein Krebs erkannt wird, umso höher die Chance, dass er keine Chance hat. Ich bin da ganz pragmatisch. Die Biopsie war wie eine Bestandsaufnahme, mal gucken. Im besten Fall, sagte ich mir, wird mein Leben so weitergehen wie bisher. Ich füllte noch einen Fragebogen aus, mit der Krankheitsgeschichte meiner Familie, da war mal was, war aber nicht weiter wichtig. Ich dachte an meine Kinder, soll ich ihnen was sagen, lieber nicht, sie würden noch mehr Angst haben als ich, erst mal das Ergebnis abwarten.