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Jill und die Welpenmafia spielt an der Ostsee in Graal-Müritz. Die 12 Jahre alte Jill und ihr Bruder Lucas aus Potsdam verbringen die Sommerferien bei den Großeltern am Meer. Als Jill eines Tages vom Pferdehof nach Hause fährt, fällt ihr ein Auto mit eingesperrten Welpen auf. Sie verfolgt den Wagen auf ihrem Fahrrad bis tief in den Wald und beobachtet, wie Männer mehrere Käfige mit Hunden in ein altes Forsthaus tragen. Bis Jill mit ihren Freunden vom Pferdehof die Welpen in einer aufregenden Rettungsaktion befreien kann, passiert so einiges in dem sonst so beschaulichen Küstenort.
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Seitenzahl: 167
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Gefangen
Riskante Flucht
Im dunklen Wald
Notbehandlung beim Tierarzt
Welpenhandel in Graal-Müritz?
Schulschluss – und so begann das Abenteuer
Der Seesternweg 7 an der Ostsee
Mysteriöser Welpenverkauf am Hafen
Eine neue Freundin für Jill
In falschen Händen
Welpen im Kofferraum
Ein kleiner Berner Sennenhund verschwindet
Spurensuche
Reiterfreuden
Tabby muss bleiben!
Ein neues Zuhause für den Zwingerhund
Opas alter Kummer
Heimliche Beobachter
Mit krimineller Energie
Wer hilft den Welpen im Waldhaus?
Louis stöbert einen ausgesetzten Welpen auf
Der Einsatz beginnt!
Eine unglaubliche Entdeckung im Keller
Blaulicht in der Rostocker Heide
Vernehmung im Kriminalkommissariat Rostock
Sina lernt Jills Familie kennen
Fernsehstar Jill
Untersuchungshaft für Frau Pohlenz
Ein Traum geht in Erfüllung
Nun fängt es auch noch an zu regnen. Jill hält ihre Hand schützend über die beiden Hundebabys. Angestrengt starrt sie in die Dunkelheit, war da nicht gerade ein Geräusch? Sie spürt kaum noch ihre Beine, seit Ewigkeiten, so scheint es ihr, versteckt sie sich schon in dem fremden Garten. Wind kommt auf und fährt in ihre langen, dunklen Haare. Sie duckt sich noch tiefer ins Gebüsch, atmet den herben Geruch der Erde. Plötzlich hört Jill, wie die Haustür aufgeht.
„Wenn ihr mir nächsten Donnerstag Ware bringt“, sagt eine Frau zornig, „dann hat sie bessere Qualität als dieses Mal. Sonst ist unser Geschäft beendet.“ Sie bleibt in der Tür des alten Hauses stehen und schaut den beiden Männern nach, wie sie auf ihr Auto zugehen.
„Ist das klar?“, ruft sie ihnen hinterher, und Jill kann aus ihrem Versteck hören, wie einer der Männer sagt: „Diese Alte. Zieht aus allem ihren Vorteil. Was können wir dafür, wenn die Hunde unterwegs schlapp machen?“
„Wo sind denn überhaupt die Welpen, hattest du sie nicht dorthin gelegt?“, fragt der andere Mann und zeigt auf die große Mülltonne an der Hauswand. Verwundert schauen sich die Männer um.
„Genau neben die Tonne habe ich die Hunde gelegt“, antwortet der erste Mann. „Die waren doch beide schon so schwach, die werden doch nicht noch abgehauen sein?“
Jills Herz beginnt zu klopfen, so laut, dass sie fürchtet, man könne es bis ans hintere Ende des Gartens hören. „Sie dürfen nicht nach euch suchen. Wenn sie anfangen zu suchen, dann finden sie uns bestimmt“, flüstert Jill erschrocken den Hundebabys zu. Die Zwölfjährige hat Angst, entsetzliche Angst. Die barsche Stimme des einen Mannes schreckt sie auf.
„Ach, was solls. Die Welpen können nicht überleben. Selbst wenn sie noch einige Schritte gelaufen sind, findet die beiden niemand. Ist doch alles total verwildert hier. Und zu der alten Pohlenz kommt doch freiwillig keiner.“
„Hast recht“, antwortet der andere Mann, „außerdem ist der Zaun hoch und das Tor verschlossen. Los, hauen wir endlich ab, wir sollen Ware in Danzig übernehmen und dann runter nach München, neue Order vom Chef.“
Unendliche Erleichterung überkommt Jill. Endlich kann sie ihr Versteck verlassen. Sobald der Wagen abfährt, wird sie aufstehen und sich vorsichtig durch das Tor schleichen. Leise erhebt sie sich und will gerade die Hundebabys in ihre Armbeuge legen, um gefahrlos mit ihnen laufen zu können, als wieder die Haustür geöffnet wird. Die alte Frau, die vorhin so böse den Männern hinterhergerufen hatte, steht im Lichtkegel. Sie zieht den Schlüsselbund aus dem Türschloss und geht vor sich hin schimpfend auf die Toreinfahrt zu.
„Dummköpfe! Wie können sie mir kranke Welpen mitbringen und auch noch glauben, dass ich nicht merke, in welchem schlechten Zustand die Tiere sind? Die kauft mir doch niemand ab, und ich bleibe dann auf den Hunden sitzen. Kann sie noch durchfüttern, ne, nicht mit mir.“ Sie gibt dem Tor einen Schubs, bis es laut einrastet und schließt zwei Mal ab.
Entsetzt wird Jill klar, dass sie auf dem unbekannten Grundstück eingesperrt ist. Sie schaut auf die Welpen in ihrem Arm. Der kleinere ist blond, der größere schwarz mit braunen Flecken an den Beinen, der Brust und im Gesicht.
Beide Hundebabys haben die Augen geschlossen und sind ganz still. Stimmt es, was die Männer gesagt haben, fragt sich Jill. Sind die Hunde krank, werden sie sterben?
„Ihr müsst durchhalten, wir schaffen das!“, beschwört sie die Welpen. Doch wenn sie nur wüsste, wie! Der stabile Zaun hat Längsstreben, an denen sie keinen Halt zum Klettern findet und der einzige Zugang, das Tor, ist verriegelt. Und wie soll Jill überhaupt mit den Welpen im Arm klettern? Auch durch die eng stehenden Zaunstreben kann sie die Tiere nicht schieben und darunter durch geht ebenfalls nicht. Der Zaun selbst reicht bis dicht auf die Erde. Jill legt ihre Wange an den Körper des goldblonden Welpen und spürt seinen Herzschlag. Auch beim dunklen Welpen kann sie ihn fühlen.
Schritte! Da sind Schritte auf der anderen Zaunseite! Jills Atem stockt, die Männer sind zurück! Suchen sie jetzt doch nach den beiden verschwundenen Welpen? Sie hält den Atem an, duckt sich bis tief auf die Erde.
„Jill“, flüstert es. Ihr Bruder Lucas, kann das wirklich sein? „Lucas?“, fragt sie mit zittriger Stimme.
„Ich habe deine Whatsapp bekommen“, antwortet Lucas leise. „Hast du ein Glück, dass ich dich trotz deiner ungenauen Wegbeschreibung gefunden habe. Von der Rostocker Straße sollte ich links in den Teerofenweg und solange geradeaus, bis der Weg eine Rechtskurve macht. Und der Kurve nicht folgen, sondern stattdessen den kleinen Weg links reinfahren und dann würde man auf die Lichtung mit dem Haus hier im Wald stoßen. Ich habe noch mal versucht, dich anzurufen, aber dein Handy war aus.“
„Ja, wegen der Männer. Damit sie mich nicht hören.“
Lucas durchsucht seine Jackentaschen: „Na super! Ich habe mein Handy zu Hause gelassen!“ Er stöhnt. „Welche Männer? Komm bloß raus aus dem Garten, bevor dich jemand sieht!“
„Ich kann nicht. Das Tor ist verschlossen, und über den Zaun schaffe ich es nicht, du musst mir helfen!“
„Aber warum hast du dich überhaupt auf das Grundstück geschlichen? Bist du völlig verrückt geworden? Dich kann man echt keine Minute alleine lassen“, sagt Lucas genervt.
„Das war so“, rechtfertigt sich Jill. „Ich habe von da hinten“, sie zeigt auf den Wald, wo noch ihr Fahrrad liegt, „gesehen, wie zwei Männer Welpen aus ihrem Auto ins Haus getragen haben. Richtig viele Tiere, mindestens 50 oder so, haben sie aus dem Kofferraum herausgeholt. Zwei Welpen waren ganz schwach. Die Männer haben die beiden Hundebabys ans Haus direkt neben die Mülltonne gelegt. Sie sagten, sie würden sowieso bald sterben. Das konnte ich nicht zulassen, ich musste sie doch retten! Als die Männer gerade mit den anderen Welpen im Haus waren, bin ich in den Garten gerannt. Ich habe die Hunde ganz schnell aufgehoben, aber da kamen die Männer schon wieder aus dem Haus und blieben oben auf der Treppe stehen. Sie konnten mich an der Hauswand durch das dichte Gebüsch nicht sehen, aber ich hätte zum Tor an ihnen vorbei gemusst…“.
Jill verstummt und durchlebt noch einmal den Schreck, der sie durchfuhr, als sie die beiden Männer in unmittelbarer Nähe reden hörte.
„Was geht denn da ab? Was wollen die Leute denn mit den vielen Welpen?“, fragt Lucas verwundert. „Ich suche jetzt den Zaun ab, ob es eine Lücke gibt oder einen Holzstoß, auf den du klettern könntest und von da über den Zaun. Hast du denn die Welpen bei dir? Leben sie noch?“
„Ja, sie atmen noch, und ich spüre, wie ihr Herz klopft“, antwortet Jill leise und schon läuft ihr großer Bruder los.
Der sportliche Vierzehnjährige bewegt sich zügig, aber vorsichtig, passt auf, dass er keine Geräusche macht. Immer wieder schaut er auf das düstere Haus. Das gesamte Obergeschoss ist dunkel, und auch im Erdgeschoss leuchtet es nur trübe hinter einem vergitterten Fenster.
Lucas duckt sich beim Gehen, er weiß, dass ihm jedes dunkle Fenster zur Gefahr werden kann. Wenn von oben jemand aus den dunklen Räumen in die abendliche Dunkelheit schauen würde, wäre er sofort zu erkennen. Aber es bleibt alles ruhig, kein Fenster öffnet sich, um ihm ein „HALT! STEHEN BLEIBEN!“, hinterher zu rufen.
An die Rückseite des Hauses grenzt ein kleiner Holzschuppen. Vom Waldweg nicht einsehbar, von der Zaunseite durch wuchernde Sträucher verdeckt, hätte Lucas den Verschlag kaum wahrgenommen, wenn ihn nicht ein leises Geräusch irritiert hätte. Ein fernes Winseln dringt an sein Ohr, er schauert zusammen. Sind das die Welpen, von denen Jill vorhin sprach? Wieso sind sie mit dem Wagen hierher gebracht worden und warum so viele? Dürfen sich einzelne Menschen gleich 50 Welpen liefern lassen? Und woher bekommt man so viele Welpen?
Lucas kennt sich mit Hunden überhaupt nicht aus, wenn jemand Bescheid weiß, dann Jill. Schließlich bearbeitet sie ihre Eltern schon seit Jahren mit ihrem Wunsch nach einem eigenen Hund. Seine kleine Schwester ist dabei so hartnäckig, dass er, wäre er der Vater, schon längst weich geworden wäre. Zu jedem Fest, Weihnachten, Ostern oder Geburtstag, schreibt Jill nur einen Wunsch auf ihren Wunschzettel. „Ich möchte UNBEDINGT einen Hund haben! Ich tue alles für ihn und werde ihn immer lieb haben!“
Und Mama wiederholt dann, was Jill nicht mehr hören kann. Ein Hund gehört nicht in die Wohnung, ein Hund braucht einen Garten und vor allem eine Familie, die mehr Zeit hat.
„Du weißt, dass wir beide unseren Job haben, Papa und ich“, sagt sie dann zu Jill. „Ich würde mich noch erweichen lassen, wenn wir ein Haus am Rand von Potsdam finden würden, das bezahlbar ist und so nah an der Stadt liegt, dass ihr mit dem Fahrrad in die Schule fahren könntet. Dann kann der Hund im Garten sein, bis ich aus der Uni komme oder einer von euch aus der Schule.“
Während Lucas diese Gedanken durch den Kopf gehen, ist er inzwischen einmal ganz um das verwilderte Grundstück herumgelaufen. Nichts hat er gesehen, was Jill das Klettern über den Zaun ermöglichen könnte. Verdammt, dann muss er auf seinem Fahrrad durch den inzwischen stockfinsteren Wald nach Hause rasen und mit Oma und Opa wiederkommen – und Jill alleine in der Dunkelheit zurücklassen. Die Ärmste, denkt Lucas, hoffentlich macht sie das mit. Ob seine Großeltern überhaupt schon aus Rostock zurückgekommen sind?
„Jill, nichts, es gibt keine Chance von deiner Seite über den Zaun zu kommen“, sagt er verzweifelt. „Kannst du noch aushalten? Ich muss Oma und Opa holen, wir kommen mit dem Auto wieder und bringen eine Leiter und eine Taschenlampe mit. Außerdem einen Korb für die Hunde.“
„Nein“, wimmert Jill, „lass mich nicht alleine. Fahr nicht weg, bitte, bitte.“
„Pst, nicht so laut, sonst hört dich noch jemand“, beschwichtigt Lucas seine Schwester. Er fühlt sich überfordert mit der Situation. Wie soll er ihr helfen, wenn er keine Hilfe holen darf? Warum hat er bloß sein Handy vergessen? Noch nie in seinem Leben hat er das Handy dringender gebraucht als jetzt. Da fällt sein Blick auf die Mülltonne. Es ist eine der großen stabilen Tonnen auf Rädern. Lucas sieht sofort, dass seine Schwester die Mülltonne alleine nicht vom Fleck bewegen kann.
„Pass auf“, sagt er leise, „ich komm rüber zu dir.“
Er lehnt sein Fahrrad schräg an den Metallzaun, setzt einen Fuß auf den Gepäckträger, zieht sich an den Zaunstäben hoch und springt aus fast zwei Meter Höhe.
Lucas geht in die Knie und rollt sich gekonnt über die Seite ab, um die Härte des Aufpralls abzufedern. Er winkt seiner Schwester ihr Versteck zu verlassen.
„Leg die beiden Welpen in deine Jacke und bring sie dort zum Zaun“, raunt Lucas ihr zu, als er sie kurz beruhigend in die Arme nimmt. „Dann komm zurück und hilf mir mit der Mülltonne.“
Die Tonne ist schwer, lässt sich trotz des ausgetrockneten Bodens, an dem der kurze Regenschauer von vorhin fast spurlos vorbei gegangen ist, gut bewegen. Gemeinsam gelingt es ihnen, die Mülltonne ohne Lärm bis an den Zaun zu schieben. An dieser Seite des Hauses sind keine Fenster; sie müssen also nicht befürchten, gesehen zu werden.
Er hebt seine zierliche Schwester auf die Mülltonne und schiebt ihr die beiden Hundebabys, die reglos in Jills ausgezogener Kapuzenjacke liegen, zwischen die Füße.
„Halt dich am Zaun fest und beweg dich nicht, damit du die Hunde nicht trittst“, warnt Lucas und zieht sich nach einem kräftigen Absprung an der schmalen Seite der Tonne hoch. Wäre sie leer gewesen, hätte der Plan nicht funktioniert, geht es ihm durch den Kopf. Dann wäre sie bei jedem seiner Versuche, sich hochzuziehen, seitwärts gerollt.
„Ich muss versuchen, beim Klettern über den Zaun mit dem rechten Fuß so auf dem Sattel aufzukommen, dass das Fahrrad nicht kippt“, erklärt Lucas. „Dann gibst du mir die Welpen in deiner Jacke wie in einem Beutel. Leg sie in die Mitte der Jacke und fasse die Ränder so zusammen, dass sie nicht herausfallen, ja genau so.“
Doch es kann nicht funktionieren, das wird Lucas in dem Moment klar, als er mit dem rechten Bein auf dem Sattel und mit dem linken schon auf dem Gepäckträger steht. Um das Rad nicht durch sein Gewicht kippen zu lassen, muss er sich mit beiden Händen an den Zaunstreben festhalten. Wie soll er so mit den Welpen rückwärts vom Fahrrad springen, ohne sich oder die Hunde zu verletzen?
„Jill, gib erst einen Welpen zu mir rüber“, ruft Lucas mit gedämpfter Stimme. Er hat eine Idee: Die Ärmel seiner Funktionsjacke sind sehr weit geschnitten, das Bündchen am Handgelenk ist aber ganz eng. Behutsam nimmt er das kleine Hundchen und lässt es mit dem Hinterteil zuerst in den rechten Ärmel gleiten. Er spürt, wie der Welpe am Handgelenk durch das enge Bündchen aufgehalten wird.
Jetzt lässt er sich an der Längsverstrebung des Zauns herab gleiten. Seine linke Hand wird durch die Reibung im Nu heiß und beginnt zu brennen, doch schon hat er den Boden erreicht. Schnell holt er den Welpen aus dem Ärmel und hält seine Hand vor die kleine Nase. Als warmer Atem an seine Hand dringt, ist er erleichtert. Er trägt den Kleinen ein wenig vom Zaun weg und holt auf demselben Weg den zweiten Hund.
Seine Schwester schafft es oben vom Zaun nicht auf den Fahrradsattel. Er sieht sofort, dass ihre Beine nicht lang genug sind.
„Du musst springen. Los, beeil dich, wenn jetzt jemand aus dem Haus kommt, sieht der gleich, dass wir über den Zaun abhauen, spring jetzt!“
Und Jill macht die Augen zu und springt. Sie stöhnt auf.
„Alles in Ordnung?“, fragt Lucas besorgt und hilft ihr beim Aufstehen. Schnell schauen die Geschwister nach den Hundebabys, die Lucas vorhin auf eine, mit weichem Moos bewachsene Stelle gelegt hatte.
„Wie transportieren wir die Hunde auf dem Fahrrad?“, überlegt Lucas laut. „Hast du deinen Fahrradkorb hinten drauf?“
„Ja“, antwortet Jill, „ich war doch noch beim Reiten und hatte Brot für die Pferde dabei.“
„Die Welpen können auf keinen Fall im Korb auf dem Gepäckträger mitfahren“, sagt Lucas gerade. „Sie würden bei jeder Unebenheit einen Stoß kriegen, das geht gar nicht.“
Lucas balanciert jetzt schon. Er führt mit der einen Hand sein Rad über den holprigen Waldweg und mit der anderen hält er den hellblonden Hund dicht an seiner Brust.
Inzwischen sind die Geschwister bei Jills Fahrrad angekommen. Vorhin hat sie es eilig hier abgestellt, die markierte Buche mit dem weißen Ring hat sie sich gemerkt. Ein weißer oder grüner Ring oder Punkt bedeuten, dass der Baum gesund oder besonders gerade gewachsen ist und auf keinen Fall gefällt werden darf, hatte Opa ihr einmal erklärt. Ein senkrechter roter Strich dagegen heißt, dass er gefällt werden muss.
„Kannst du den Korb mit einer Hand halten, während du fährst?“, fragt Lucas. „Mit dem Mountainbike geht das schlecht oder wir tauschen die Fahrräder, wenn dir das lieber ist.“
Jill nickt, sie ist mit Omas altem Tourenrad unterwegs, bei dem nur noch ein Gang funktioniert. Im schwersten Gang über sandige Waldwege zu fahren und mit einem Arm einen Korb mit zwei Hundebabys zu transportieren, ist eher etwas für ihren durchtrainierten älteren Bruder.
Jill und Lucas tauschen die Fahrräder und polstern den Fahrradkorb so mit ihren Jacken aus, dass die Welpen einigermaßen geschützt liegen. Lucas steigt aufs Rad, und Jill gibt ihm, während er schon rollt, den Fahrradkorb in die Hand. „Fahr vor“, ruft Lucas, „das Licht von Omas Rad geht nicht.“
„Gut, ich bin schon unterwegs“, antwortet Jill und tritt eilig in die Pedale. „Pass auf, hier zieht sich eine ganz dicke Wurzel über den Weg“, ruft sie ihm zu und hofft, dass die Hundebabys den Transport überstehen. Ob die beiden wirklich so krank sind, wie die Männer gesagt haben? Werden sie sterben? Oh nein, bitte, nur das nicht, fleht Jill in Gedanken und wird immer schneller auf Lucas Mountainbike.
„Da vorne geht der Teerofenweg schon in die Landstraße über“, kündigt sie ihrem Bruder an, den sie ab und zu hinter sich fluchen hört. Der Küstenwald, durch den sie gerade fahren, ist eines der letzten großen zusammenhängenden Waldgebiete in Deutschland. Die Rostocker Heide, wie die 6000 Hektar große Fläche bezeichnet wird, besteht aus Laub- und Nadelwäldern, Mooren und Wiesen sowie aus einem weit verzweigten Netz aus Gräben und Bächen. Weite Teile des Küstenwaldes sind Landschaftsschutzgebiet.
Auf der asphaltierten Rostocker Straße fährt es sich für Lucas besser, der Fahrradkorb hängt nun ohne zu schaukeln an seinem Arm. „Ein wenig sind sie schon durchgeschüttelt worden, deine kleinen Hunde“, sagt er besorgt zu Jill. „Ein paar Wurzeln und Kuhlen im Boden habe ich zu spät gesehen. Hoffentlich hat es ihnen nicht geschadet.“
Doch da fällt ihm ein, dass die Welpen gar nicht gesund sein sollen. Die Männer hatten die Hunde ja wohl an die Mülltonne gelegt, weil sie glaubten, dass sie bald sterben würden. So hatte es Jill erzählt. Trotzdem leben die beiden aber noch. Jill und Lucas hatten genau gespürt, wie die kleinen Herzen der Hunde schlugen, als sie sie vorsichtig in den gepolsterten Korb legten. Er wirft einen Blick auf die Tiere. Sie liegen auf der Seite, die Pfötchen des blonden Welpen stoßen an den Rücken des schwarzen-braunen Hundebabys. Sind sie Geschwister? fragt sich Lucas, wie alt mögen sie sein? Sie wirken so hilflos, so zerbrechlich.
„Jill, was machen wir zuerst? Zu Oma und Opa oder gleich in diese Tierarztpraxis, wie heißt sie noch?“, fragt Lucas.
„Berghoff“, antwortet Jill. Sie erinnert sich deshalb so genau, weil Oma vor ein paar Tagen etwas über die Tierarztpraxis in Graal-Müritz erzählt hatte.
„Ein Glück, dass die Berghoffs ihre Tierarztpraxis jetzt im eigenen Haus in der Parkstraße 13 haben“, hatte Oma am Abendbrottisch gesagt. „Ihr kennt doch Rufus, den braunen Neufundländer vom ‚Fischerhus‘ am Funkturm? Der hatte plötzlich einen Kreislaufkollaps, fiel um, atmete ganz schwer und erbrach sich. Frau Dr. Berghoff tippte gleich auf Gift…“
„Das ist ja total gemein!“, hatte Jill empört dazwischengerufen. „Wie kann jemand so fies sein und einen Hund vergiften? Der Rufus ist doch total lieb, alle mögen den.“
„Nein, nein“, sagte Oma da ganz schnell beschwichtigend, „niemand hat Rufus vergiftet. Er hat irgendetwas gefressen, was er nicht vertragen hat. Für Hunde können bestimmte Pflanzen giftig sein, einige Pilze oder auch Medikamente von Menschen. Wer kann schon wissen, was Rufus gefunden hat?“
„Am ‚Fischerhus‘ gehen ja viele Leute vorbei oder essen da“, hatte sich Opa eingeschaltet, „vielleicht ist einem Gast etwas aus der Tasche gefallen, was Rufus gefressen haben könnte? Tabletten vielleicht? Manche Schmerzmittel, die Menschen helfen, können bei Hunden schwere Vergiftungen auslösen.“
„Jedenfalls hat Karl, das ist der Besitzer vom ‚Fischerhus‘“, hatte sich Oma erklärend an Jill und Lucas gewendet, „seinen Hund sofort ins Auto getragen und gleich bei den Berghoffs angerufen. Beide sind ja Tierärzte und zum Glück war Frau Dr. Berghoff zu Hause.“
Jill erinnert sich, dass Oma weiter erzählt hatte, dass der arme Rufus durch ein Medikament, das ihm gespritzt wurde, alles erbrechen musste, was in seinem Magen war und er dann noch etwas bekommen hatte, was Durchfall auslöste. Rufus war wieder ganz gesund geworden, Jill hatte ihn gesehen, wie er Tage später am Strand Wellenjagen spielte, während sein Besitzer im Meer schwamm.
„Wo ist denn nun diese Tierarztpraxis? Ich habe dich nun schon zum dritten Mal gefragt“, sagt Lucas ungeduldig. „Jetzt ist echt nicht die Zeit, um irgendwelchen Gedanken nachzuhängen.“