John Sinclair 2081 - Timothy Stahl - E-Book

John Sinclair 2081 E-Book

Timothy Stahl

0,0
1,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Stolz blickte Haon auf sein Werk: Das Schiff war fertig gebaut. Nur der Antrieb fehlte noch. Dann konnte er endlich von dieser verlorenen Welt fliehen - zusammen mit dem wertvollsten Gut, das sie besaß und das nicht mit ihr untergehen durfte: ihren Kindern.
Zu Haons Füßen lag bewusstlos einer der grausamen Magier, die diese Welt mit ihrem unstillbaren Machthunger dem Untergang geweiht hatten. Seine Kraft würde es dem Schiff erlauben, diesem Los zu entgehen. Ironie des Schicksals.
Haon hob den Speer, den er mit zweien seiner vier schwarz geschuppten Hände hielt. Mit den Fingern der anderen beiden zeichnete er mit knappen Gesten komplizierte Zeichen, die er sich genau eingeprägt hatte, in die Luft. Ein einziger Fehler konnte das ganze Ritual zum Scheitern bringen ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 164

Veröffentlichungsjahr: 2018

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Cover

Impressum

Das Grab im Vulkan

Briefe aus der Gruft

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: breakermaximus/shutterstock

eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7325-6433-0

„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.

www.john-sinclair.de

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Das Grab im Vulkan

von Timothy Stahl

Stolz blickte Haon auf sein Werk: Das Schiff war fertig gebaut. Nur eines fehlte ihm noch: Der Antrieb. Eine Kraft, die das Schiff in Bewegung setzte. Damit Haon von dieser verlorenen Welt fliehen konnte – zusammen mit dem wertvollsten Gut, das sie besaß und das nicht mit ihr untergehen durfte: ihren Kindern.

Doch der Antrieb, den sein Schiff noch brauchte, war schon bereit.

Zu Haons Füßen lag einer der grausamen Magier, die diese Welt mit ihrem unstillbaren Machthunger dem Untergang geweiht hatten. Seine Kraft würde es dem Schiff erlauben, diesem Los zu entgehen. Ironie des Schicksals.

Haon hatte dem Magier eine Falle gestellt, und dieser war hineingetappt. Nun lag er da, ohne Besinnung und wehrlos. Haon musste ihn nur noch töten!

Er hob den Speer, den er mit zweien seiner vier schwarz geschuppten Hände hielt. Mit den Fingern der anderen beiden zeichnete er mit knappen Gesten komplizierte Zeichen, die er sich genau eingeprägt hatte, in die Luft. Ein einziger Fehler konnte das ganze Ritual zum Scheitern bringen …

Mit zischelnden Worten begleitete Haon die beschwörenden Handbewegungen. Seine dünne Zunge flatterte ihm dabei hektisch über die Lippen.

Ein Knistern ging wie ein Flüstern aus vielen Mündern durch den von Zwielicht erfüllten Bauch des Schiffes, das tief unter dem Boden verborgen lag, in einem Raum, den niemand außer Haon kannte.

Die Atmosphäre war spürbar angespannt. Ein unsichtbares Netz legte sich ringsum. Ein Fangnetz, das dem Geist des Magiers die Flucht verwehren würde.

Alles war bereit.

Haon stach zu!

Die Spitze des Speers bohrte sich zwischen den aufklaffenden Hälften des herrschaftlichen Mantels hindurch in die tonnenförmig gewölbte Brust des Magiers. Zwängte sich knirschend zwischen die Rippen und fand das Herz. Haon überwand den schwammigen Widerstand und stieß mit aller Kraft hinein, bis er spürte, wie die Speerspitze hinten aus dem Leib des Magiers wieder austrat und auf den harten Boden unter ihm traf.

Der Magier schlug noch einmal die Augen auf. Dann erlosch der goldene Glanz darin, die Lider schlossen sich wieder, der Magier starb, und sein Geist fuhr aus.

Er stieg wie öliger schwarzer Rauch aus der Wunde, als Haon den Speer aus dem Leichnam zog. Hätte er keine Vorkehrungen getroffen, wäre diese Essenz des toten Magiers verflogen, sie hätte sich verflüchtigt wie tatsächlicher Rauch eines Feuers. So aber verhedderte sie sich in dem unsichtbaren Netz. Funken sprühten, als sie sich wie ein gefangenes Tier darin wand.

Und sie zappelte auch noch, als Haon mit seinem Speer danach stieß und sie aufspießte. Dazu zischelte er weitere Worte einer alten Sprache, und der Rauch ringelte sich wie ein körperloser Wurm um die Speersitze. Solange Haon sprach, klebte der ungestalte Geist des Magiers daran fest. Und Haon sprach, bis er die Spitze in den Boden seines Schiffes rammte. Da löste sich der Rauch und ging, sich dabei wie schwarze Blitze verästelnd, im Korpus des Schiffes auf.

Haon spürte einen Ruck, der durch sein Schiff ging. Wie es sich zu rühren begann. Wie es sich bewegte.

Aus toter Materie war lebende geworden.

Er hatte seinem Werk buchstäblich Leben eingeimpft.

Doch dieses Leben wehrte sich! Es wollte nicht, wie er wollte und was er wollte. Es war wütend. Und entsprechend gebärdete es sich. Haons Schiff drohte auseinanderzubrechen!

Aber auch für diesen Fall hatte er Vorsorge getroffen. Zu seinen Füßen zerfiel der Leichnam des Magiers zu Staub. Übrig blieben nur der Zaubermantel und der prachtvolle Kopfputz, der dazu gehörte.

Haon bückte sich, hob beides mit den feinen und vielgliedrigen Fingern seiner vier Hände auf und legte sowohl den Mantel als auch den Kopfschmuck selbst an.

Sofort spürte er die Veränderung, die mit ihm vor sich ging. Wie er eins wurde mit dem Geist des Körpers, der diese Tracht vor ihm getragen hatte.

Das Schiff beruhigte sich. Gehorchte Haon, der sein Erbauer und Herr war.

Eine Einheit entstand, in der er, Haon, das Sagen hatte und haben würde – solange er lebte und den Mantel des Magiers trug …

Haons Welt ging früher unter, als er erwartet hatte. Die Völker anderer Welten, nach denen die Herrscher seiner Heimat ihre gierigen Finger ausstreckten, setzten sich schneller zur Wehr als gedacht – und sie taten es rigoroser, als irgendjemand es sich hätte vorstellen können. Denn sie verfügten über Waffen, mit denen niemand gerechnet hatte – und deren Vernichtungskraft alles übertraf, was man kannte. Sie war groß genug, um eine ganze Dimension zu zerstören, mit allen Welten, Reichen und Völkern darin.

Nur Haon entging dem Untergang. Er, sein Schiff und die kostbare Fracht, die sie in Sicherheit brachten, die Brut einer verdammten Welt. Irgendwo würden sie neu anfangen. Wo immer das Schicksal sie hintrug.

Haon trieb das vom Geist eines toten Magiers beseelten Schiff voran. Immer weiter, während hinter ihnen Welten im Chaos versanken und von Feuer und Finsternis verschlungen wurden.

Haon befahl, und der Geist gehorchte und handelte nach seinem Willen. Lenkte das Schiff auf den Weg, den Haon bestimmte, noch ohne das Ziel zu kennen. Er würde es erkennen, wenn er es sah. Vielleicht würde es wie eine aufgehende Sonne am Horizont des schwarzen Meeres erscheinen, über das sie fuhren. Oder wie ein Licht am Ende des Tunnels, der sie zwischen den Dimensionen hindurchführte und fort vom Untergang, der hinter ihnen tobte wie ein Ungeheuer.

Was Haon jedoch nicht bedacht hatte und auch nicht kennen konnte, war ein Gesetz, das über allen Dingen stand: Wenn etwas endete, musste auch etwas beginnen. Um das kosmische Gleichgewicht zu wahren.

Und so entstand, während einerseits und hier eine Welt verging, andererseits und weit entfernt eine neue. Die dabei auf beiden Seiten frei werdenden Kräfte trafen über alle Barrieren hinweg aufeinander, rangen miteinander und vermengten sich schließlich zu einem Strom, der vom Ende fort und zum Beginn hin floss, um mit den brachliegenden Kräften der sterbenden Welt eine neue zu speisen.

In diesen Strom gerieten Haon und sein Schiff. Er riss sie mit, durch ganze Dimensionen hindurch und über die Grenzen dazwischen hinweg, bis zu dem Punkt, wo auf einem großen, von Wolken umfangenen, blauen Planeten just eine neue kleine Welt Gestalt annahm, die in ihrer Geburtsstunde jedoch selbst noch Feuer und glutflüssige Schlacke spie.

Dieser brennende und glühende Pfuhl raste auf Haon und das Schiff mitsamt seinem teuren Frachtgut zu – scheinbar. Tatsächlich war es nämlich umgekehrt: Die Schwerkraft streckte ihre langen Finger nach ihnen aus, packte sie und riss sie an sich.

Sie stürzten ab.

Das Blau des Meeres ringsum wich, die glühend brodelnde Insel vereinnahmte Haons ganzes Blickfeld. Nur an dessen Rand sah er noch einen Moment lang, wie der Ozean kochend und dampfend gegen die Glut blutenden Gestade brandete.

Das Schiff selbst wurde heiß unter der Reibung an der Atmosphäre dieser Welt und zog einen feurigen Schweif hinter sich her. Und dann tauchte es hinein in die kochende Schlacke, und die verschluckte es und schloss sich über ihm, als wäre nichts gewesen.

Das Schiff sank tiefer, an Bord das Erbe einer fremden Welt und Haon, der aufgebrochen war, um eine neue Heimat zu suchen.

Er hatte sie nicht gefunden, und er wusste, dass die Arche, die er gebaut hatte, um sich und die Kinder seiner Welt zu retten, nun zu seinem Sarg werden würde und die flüssige Glut zu seinem Grab.

So war er am Ende zwar einer Hölle entkommen, nämlich der seiner untergehenden Welt, jedoch nur, um schließlich in einer anderen zu sterben.

Hölle, so nannte Haon das Eiland, das da gerade erst sein feuriges Haupt aus einem Ozean gereckt hatte und das Licht dieser Welt erblickte, weil es noch keinen eigenen Namen hatte. Erst in Zehntausenden von Jahren würden Menschen ihren Fuß auf diese neue Insel setzen und sie mit einem Wort aus ihrer Sprache taufen: Das Wort war Heimat, und Heimat hieß auf Polynesisch Hawaii.

Heute

Tief unter mir lag, die einzelnen Inseln im Sonnenschein grün schimmernd wie Smaragde auf meerblauem Samt in der Auslage eines Juweliers, das Traumziel von Touristen aus aller Welt: Hawaii.

Ich genoss die herrliche Aussicht, die sich mir von meinem Fensterplatz im Flugzeug aus bot, dennoch war meine Stimmung trüb, die Gedanken in meinem Kopf kreisten einzig um Unglück und den Tod.

Wieder einmal hatte er zugeschlagen in meiner nächsten Nähe und mir eine Freundin von der Seite gerissen. Diesmal hatte es die Russin Karina Grischin getroffen. Jahrelang hatte uns die taffe Agentin immer wieder unterstützt im Kampf gegen die andere Seite. Bis sie jetzt zum jüngsten Opfer in diesem Krieg ohne Ende geworden war, gefallen in einer weiteren Schlacht gegen Rasputin.1)

Ich schluckte trocken und schmerzhaft. Müde hob ich eine Hand, winkte über die Kopflehnen der Sitzreihen vor mir hinweg der Stewardess und zeigte auf mein leeres Plastikbecherchen.

Die hübsche Hawaiianerin in ihrer himmelblauen Uniform kam mit einer Flasche Orangensaft, beugte sich etwas vor und schenkte mir nach. Dabei rutschte ihr die große lachsrote Blumenblüte aus dem nach hinten gebundenen Haar. Ich fing sie geistesgegenwärtig auf und reichte sie ihr. Sie nahm sie und bedankte sich lächelnd: »Mahalo.«

Die exotische Schönheit ging, steckte sich die Blüte wieder über dem Ohr ins schwarze Haar, und ich sah ihr kurz nach und trank einen Schluck. Der Saft tat meinem trockenen Hals gut.

Die Bordverpflegung hatte sich auf diesem letzten Stück meiner langen Reise aufs Allernötigste beschränkt. Nach dem Umstieg in Honolulu hatte sich der Start eigentlich kaum gelohnt. Die kleine Maschine befand sich jetzt, keine halbe Stunde später, fast schon im Anflug auf Big Island, die größte der Hawaii-Inseln, die auch mein endgültiges Ziel war. Denn in dem Paradies dort unten schien die Hölle ausgebrochen zu sein.

Ich verscheuchte, was mir diesbezüglich im Kopf herumspuken wollte. Es reichte, wenn ich mich nach der Landung damit befasste. Von hier oben aus, eingepfercht in den schmalen Sitz und den winzigen Fußraum, in dem ich meine langen Beine nur mühsam unterbrachte, konnte ich sowieso nichts tun gegen das, was auf der Insel passiert war und nun auf mich wartete.

Vor dem Fenster links von mir wischten faserige Wolkenfetzen vorbei. Die Maschine drehte ein wenig, die Mittagssonne brannte herein und blendete mich. Ich zog das blickdichte Rollo herunter. Auf dem Platz rechts neben mir seufzte die junge Dame, die gerade ihr Handy gezückt hatte, um ein Foto durchs Fenster zu schießen.

»Das Bild wäre doch sowieso nichts geworden«, sagte ich brummig.

»Na und?«, gab sie schnippisch zurück.

Ich hob die Schultern. »Möchten Sie den Platz mit mir tauschen?«

Sie winkte ab. »Schon gut.«

Das hatte ich mir gedacht. Das Mädchen, eine Amerikanerin im Studentenalter, hatte in ihrem Sitz ähnliche Platzprobleme wie ich, allerdings aus anderen Gründen: Während ich einfach zu lang war für die Sitzplätze in dieser verfluchten Sardinenbüchse, hätte die Kleine vielleicht ein paar Mal weniger oft in irgendwelchen Burgerläden … na ja, lassen wir das.

Gute zehn Minuten blieben uns laut Durchsage des Kapitäns noch bis zur Landung auf dem Kona International Airport. Ich hatte auf dem langen Flug von London nach San Francisco halbwegs gut geschlafen und auch im Anschluss auf der fünfstündigen Weiterreise nach Oahu noch ein wenig die Augen zugemacht. Kein Wunder, die Erlebnisse in Russland hatten an meinen Kräften gezehrt, und mir war danach kaum Zeit geblieben, um mich auch nur ein bisschen zu erholen.

Fast umgehend hatte ich mich auf den Weg nach Hawaii machen müssen, und das ohne Suko. Meinen chinesischen Freund und Kollegen hatte es dermaßen erwischt, dass er vorerst nicht einsatzfähig war. Er hatte sich ein Schleudertrauma eingefangen, und sein Trommelfell war arg in Mitleidenschaft gezogen worden, als direkt neben ihm ein paar von Rasputins Leuten explodiert waren. Na, immerhin war es für einen guten Zweck geschehen …2)

Ein Lächeln zupfte an meinen Mundwinkeln und wollte sich zum Grinsen mausern – bis mir Karina Grischin wieder durch den Sinn geisterte und es von Neuem um meine Laune geschehen war. Mein Bauch grummelte, aber das mochte auch daran liegen, dass der Flieger in diesem Moment ein Stück tiefer sackte, und das sehr unsanft.

Vielleicht, dachte ich, ließ Hawaiian Airlines auf den Kurzstrecken zwischen den Inseln diejenigen Piloten ans Steuer, die noch nicht so viel Übung hatten.

Ich hatte zumindest so viel Übung als Flugpassagier, dass ich mir den Orangensaft trotzdem nicht in den Schoß schüttete. Weil ich mich auf dieses Glück nicht noch einmal verlassen wollte, trank ich den Becher rasch aus und warf ihn in den Müllbeutel der Flugbegleiterin, die just jetzt den Gang herunterkam und den Abfall einsammelte.

Die Maschine ging bereits in den Landeanflug über. Mich bat die schöne Stewardess, das Rollo zur Landung wieder hochzuschieben, meine junge Sitznachbarin wurde aufgefordert, sich anzuschnallen. Ich hatte den Sicherheitsgurt nach dem Start gar nicht erst gelöst.

Die junge Frau rechts neben mir zerrte nun ächzend an ihrem Gurt herum und grummelte vor sich hin. Dabei rammte sie mir – wahrscheinlich ohne es zu merken – den Ellbogen, das Einzige an ihr, das knochig war, gegen den Oberarm. Und dann gleich noch einmal.

Das schien mein Schicksal zu sein in letzter Zeit: Ich kassierte einen Schlag nach dem anderen. In unserer Welt, die beinah wie im Geheimen neben jener existierte, die den allermeisten Menschen bekannt war und in der Geister, Dämonen und Konsorten als Hirngespinste galten, schien nun schon seit geraumer Zeit ein neuer Wind zu wehen. Ein rauerer Wind.

Das Schicksal fasste uns härter an als in den Jahren zuvor. Sheilas Tod und Bills daraus resultierender Niedergang waren zumindest bislang das herausragende Ergebnis dieser Entwicklung gewesen. Die Sache hatte letztlich zwar ein gutes Ende genommen, Sheila war aus dem Jenseits zurückgekehrt, ja … aber Johnny, der Sohn der Conollys, war nach wie vor verschwunden.

Der Kampf war schwerer geworden. Es war, als sei für uns eine neue Ära angebrochen. Und alles, was zuvor gewesen war, kam mir mitunter vor, als wäre es unendlich weit weg. So konnte ich mich zum Beispiel auch kaum erinnern, wann ich zuletzt in Hawaii gewesen war. Auch jener damalige Fall schien mir heute nur noch wie ein ganz kleiner Teil eines anderen Lebens und einer anderen Zeit.

Aber, fragte ich mich, war es wirklich auch eine bessere Zeit gewesen? Im Rückblick verklärte sich bekanntlich vieles.

In mich hinein seufzend zog ich innerlich einen Schlussstrich unter diese Überlegungen. Sie führten zu nichts, waren müßig. Ich musste mich konzentrieren auf das, was präsent war und noch kam. Um zu verhindern, dass sich wiederholte, was zuletzt geschehen war.

Denn die Wunde, die mir Karinas Tod zugefügt hatte, war viel zu frisch und schmerzte noch zu sehr, als dass ich bereit gewesen wäre, schon wieder eine solche Schlappe zu verwinden.

Ich hätte es nicht ertragen, noch einen Menschen, der mir nahestand, zu verlieren.

Ein Ruck ging durch die Maschine. Sie hatte aufgesetzt und wurde rasch langsamer. Durch das kleine Fenster sah ich die Bauten des Flughafens vorbeiziehen.

Ich wünschte mir von Herzen, Chris Ainsworth und Jane Collins würden dort auf mich warten, gesund und munter. Unversehrt.

Aber da war und blieb der Wunsch wieder einmal Vater des Gedanken …

Gestern

»Aloha, mein Freund«, sprach Shane Dorian in die Nacht hinaus, und das Rauschen des in der nächtlichen Dunkelheit unsichtbaren Ozeans antwortete ihm.

Das Meer war sein Freund. Seine Geliebte. Sein Leben. Und irgendwann würde der Pazifik sein Friedhof werden, so oder so – entweder würde er dort draußen das Spiel mit den Wellen eines Tages verlieren, oder man würde seine Asche ins Wasser streuen, nachdem er an Land gestorben war.

Wie es auch enden würde, Shane Dorian hoffte, dass es noch lange hin war. Er hatte es nicht eilig mit dem Sterben. Auch wenn es für Außenstehende, für Leute, die sich mit dem Zuschauen begnügten, so aussehen mochte, wenn er bäuchlings auf seinem Surfboard liegend weit aufs Wasser hinauspaddelte und sich auf gewaltigen Wellen, die ihn wie gläserne Mäuler verschlingen wollten, zum Ufer zurücktragen ließ. Ja, der Tod ritt immer mit, das stimmte wohl. Aber die Kunst bestand darin, sich nicht kirre machen zu lassen. Respekt musste man ihm zollen, ja. Nur fürchten durfte man ihn nicht. Denn Angst war auf dem Brett ein weit schlechterer Begleiter als der Tod – die Angst griff ein und lenkte mit, der Tod hingegen wartete nur ab, endlos geduldig und tatenlos.

Shane schauderte und verscheuchte den Gedanken ans Sterben. Es drohte schließlich nicht nur Surfern wie ihm, sondern jedem Menschen, der am Morgen den Fuß aus dem Bett setzte … sofern er nicht schon über Nacht im Schlaf gestorben war.

Doch Shane fröstelte nicht nur wegen des kurzen Abstechers seiner Gedanken in die Gefilde des Todes. Es war kalt heute Morgen. Zwar war das Wetter auf den hawaiianischen Inseln das ganze Jahr über tropisch warm bei kaum schwankenden Tagestemperaturen zwischen 25 und 30 Grad. Aber wenn der Wind von Norden oder Osten her wehte und Wolken über den Himmel trieb, dann konnte es insbesondere in den späten Stunden der Nacht auch unangenehm frisch werden. Und er, Shane, war anfällig geworden für alles unter 20 Grad. Kaum zu glauben, dass er eigentlich aus Oregon stammte und dort als Teenager auch winters oft ohne Jacke aus dem Haus gegangen war. Tatsächlich konnte er sich selbst kaum noch vorstellen, einmal dieser Junge gewesen zu sein. Er war heute ein anderer Mensch. Hawaii hatte ihn neu geboren.

Vor fast zwanzig Jahren war er hergekommen. Eigentlich nur zum Urlaub. Zwischen Highschool-Abschluss und College-Anfang war er mit ein paar Freunden umhergereist. Seine Freunde waren alle heimgekehrt aufs Festland, hatten studiert oder zu arbeiten begonnen. Shane war hiergeblieben. Oder vielmehr hatte Hawaii ihn nicht mehr gehen lassen. Und die Einheimischen, die Locals, hatten ihn als einen der ihren aufgenommen. Er mochte nicht von hawaiianischem Blut sein, aber in seiner Seele wohnten das Herz und die Seele eines Hawaiianers. Mehr als einmal hatten sie ihm das bescheinigt. Und er surfte, als hätte er wie ein Hawaiianer von Kindesbeinen an auf dem Board gestanden, statt in Oregon auf Skiern und Schlitten verschneite Hänge hinabzubrettern.

Seit jenem Sommer jobbte Shane in verschiedenen Surfshops in Hilo, der Hauptstadt der Insel. Anfangs als Mädchen für alles, aber dann auch als Surflehrer, und bald zählte er unter diesen zu den beliebtesten und besten. Reich wurde er damit nicht, aber er konnte davon leben, und das tat er bis heute. Tagsüber. Aufleben hingegen, das tat er am frühen Morgen, am Meer, meist hier in dieser Bucht, Tombstones genannt, wegen der vielen Gedenksteine, die an Surfer erinnerten, die für ihre Leidenschaft mit dem Leben bezahlt hatten …

Tief sog Shane die feuchte, salzige Luft ein. Sie flutete seine Atemwege, erfrischte ihn, vertrieb allerletzte Reste von Müdigkeit.

Noch vor dem Aufstehen hatte Shane gewusst, dass der Morgen draußen um sein kleines Haus kalt war. Aber Kälte hieß Wind, und der Wind bescherte hier an der lavafelsigen Nordostküste der Insel die größten Wellen. Deshalb war es ihm nicht schwergefallen, aus dem Bett zu kommen.

Das fiel ihm nie schwer, wenn der Pazifik nach ihm rief. Und das tat der Pazifik fast immer, wenn die Nacht sich ihrem Ende zuneigte, gerade lange genug vor Tagesanbruch, damit Shane rechtzeitig vor Ort sein konnte, wenn die Sonne als glühend roter Ball, wie selbst aus Lava geformt, in der Ferne aus dem Wasser emporstieg.