John Sinclair 2137 - Marc Freund - E-Book

John Sinclair 2137 E-Book

Marc Freund

0,0
1,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der gleißend helle Strahl des Bugscheinwerfers fraß einen Keil aus Licht in die Finsternis. In ihm wirbelten dicke Schneeflocken, die die Sicht auf der hoch gelegenen Kommandobrücke des Frachters Greetje zunehmend erschwerten.
Vor dem Bug des niederländischen Schiffs erstreckte sich das dichte Packeis, das vom schneidenden Südwind in die Meerenge zwischen Schweden und Finnland getrieben wurde.
Der Erste Offizier Klaas-Jan Zweers rieb sich die Augen und starrte zum wiederholten Mal durch das Fernglas. Bis er draußen, mitten auf dem Eis eine einsame Gestalt wahrnahm ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 164

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Cover

Impressum

Der Kuss der Eisbraut

Briefe aus der Gruft

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: artyme83; iurii/shutterstock

Datenkonvertierung eBook: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7325-8176-4

„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.

www.john-sinclair.de

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Der Kuss der Eisbraut

von Marc Freund

Der gleißend helle Strahl des Bugscheinwerfers fraß einen Keil aus Licht in die Finsternis. In ihm wirbelten dicke Schneeflocken, die die Sicht auf der hoch gelegenen Kommandobrücke des Frachters Greetje zunehmend erschwerten.

Vor dem Bug des niederländischen Schiffs erstreckte sich das dichte Packeis, das vom schneidenden Südwind in die Meerenge zwischen Schweden und Finnland getrieben wurde.

Der Erste Offizier Klaas-Jan Zweers rieb sich die Augen und starrte zum wiederholten Mal durch das Fernglas. Bis er draußen, mitten auf dem Eis eine einsame Gestalt wahrnahm …

»Was, zum Teufel …?«

Zweers setzte das Fernglas ab, blinzelte und versuchte es erneut. Kein Zweifel, da war etwas. Tief unter ihnen, auf dem Eis, gegen das ihr Schiff jetzt schon seit mehreren Stunden vergeblich ankämpfte.

Inmitten der wirbelnden Flocken stand eine Frau. Sie trug ein weißes Kleid, dessen Saum im Wind flatterte, genauso wie ihr langes Haar, in dem irgendetwas befestigt war, das Zweers auf diese Distanz allerdings nicht erkennen konnte.

Die Erscheinung stand still da, als würde sie auf die Greetje warten. Auf die Kollision, die unvermeidbar schien.

Zweers setzte das Fernglas erneut ab und fuhr sich mit seiner rechten Hand über das stoppelige Kinn.

Mit einem kurzen Blick über seine Schulter stellte er fest, dass er noch immer allein war, seit Walter Hulsman, der Ingenieur und Steuermann die Brücke zum Pinkeln verlassen hatte.

Er tastete nach der kleinen Rolle mit Pfefferminzbonbons in seiner Hosentasche, pfriemelte sie umständlich heraus und steckte sich die letzten beiden Bonbons in den Mund. Die Dinger nahm er hauptsächlich, um den Geruch der halben Flasche Wodka zu kaschieren, die er über Tag geleert hatte. Jetzt bereute er es, die verdammte Flasche angerührt zu haben.

Die Maschinen der Greetje liefen auf vollen Touren, und doch kam das Handelsschiff nur langsam voran, in der Hoffnung, aus eigener Kraft eisfreies Gewässer zu erreichen.

Zweers war von Anfang an skeptisch gewesen, was diesen Punkt ihrer nächtlichen Reise anging.

Jetzt hingegen hatte er ganz andere Sorgen.

Wenn er sich anstrengte, konnte er die Gestalt auf dem Eis inzwischen mit bloßen Augen erkennen.

Sie bildete einen Ruhepol inmitten eines chaotischen Szenarios aus Schnee, Sturm und Eis.

Zweers setzte noch einmal das Fernglas an und erschrak, als er feststellte, dass die Frau dadurch inzwischen zum Greifen nah erschien. Sie stand da, mit leicht gesenktem Kopf. Die Augen waren nicht zu erkennen. Vielleicht waren sie geschlossen.

Es war ein Ding der Unmöglichkeit. Niemand konnte bei den Temperaturen da draußen lange überleben. Die letzte Messung im Wind hatte minus vierundzwanzig Grad Celsius ergeben.

Irgendwo hinter sich hörte Zweers ein Geräusch. Schritte näherten sich.

Hulsman kehrte auf die Brücke zurück. »Verdammt, ich hatte eigentlich gehofft, dass wir vor morgen Früh in Oulu sind. Umso schneller wären wir wieder zurück gewesen.«

Der Steuermann ließ sich auf seinen Stuhl bei den Instrumenten fallen. Auf der freien Fläche daneben befanden sich ein Porzellan Kaffeebecher mit kaltem Inhalt und ein Sudoku Rätselblock nebst Kugelschreiber.

Zweers antwortete nicht. Er starrte noch immer durch das Fernglas. Die Frau hatte sich bis jetzt nicht gerührt.

Nun allerdings hob sie ganz langsam den Kopf und schlug die Augen auf. Ein durchdringender Blick traf den Ersten Offizier.

»Scheiße«, flüsterte Zweers.

»Kannst du laut sagen«, gab Hulsman zurück. »Ich wäre jetzt auch lieber …«

»Nein, nein«, rief der andere und deutete durch die von Schnee verschmierte Scheibe. »Da draußen ist jemand!«

»Was?«, machte Hulsman.

»Da steht jemand auf dem Eis! Eine Frau!«

Der Steuermann sah den Offizier fragend an, wohl um zu überprüfen, ob der sich einen Scherz mit ihm erlaubte. Allerdings hätte das nicht zu Zweers gepasst.

Hulsman stand auf und trat zu seinem Kollegen hinüber. Mit einer beiläufigen Bewegung schaltete er die Scheibenwischer ein, die es schwer haben würden, für eine annähernd freie Sicht zu sorgen.

»Sieh selbst«, presste Zweers hervor und reichte das Fernglas an den Steuermann weiter.

Das Schneetreiben hatte zugenommen. Die beiden Männer hatten Mühe, überhaupt noch die Eisfläche unter ihnen zu erkennen.

»Nichts ist da draußen«, sagte Hulsman nach ein paar Sekunden. »Gar nichts.«

Das war der Moment, vor dem Zweers sich insgeheim gefürchtet hatte. Der verfluchte Alkohol und die Übermüdung durch die Wechselschicht und den unregelmäßigen Schlaf. Eine vertrackte Kombination, die sich jetzt rächte.

Andererseits war er sich sicher gewesen, die Gestalt auf dem Eis gesehen zu haben. Verdammt, er hatte sich extra noch mal vergewissert. Sie musste da sein.

»Das gibt’s doch nicht«, zischte er und riss seinem Kollegen das Fernglas aus der Hand. Er setzte es an seine Augen und starrte durch die wirbelnden Flocken in die weiße Hölle hinaus.

Nichts als Schnee, Eis und Dunkelheit. Konnte er sich denn wirklich so getäuscht haben?

Die Greetje geriet inzwischen in immer dichteres Eis. Der zunehmende Wind drückte zudem die gefrorenen Massen gegen den Rumpf des Schiffes, was zu einer Gefahr werden konnte. Sie würden schon bald festsitzen, wenn das so weiterging.

»Kein eisfreies Gewässer zu sehen«, murmelte Hulsman.

Klaas-Jan Zweers registrierte ihn kaum. Fieberhaft suchte er das Eis vor ihnen mit dem Fernglas ab.

Wo konnte sie …

»Da!«, schrie er plötzlich auf und packte den Steuermann an der Schulter. »Da ist sie! Sie ist direkt vor uns auf dem Eis!«

Hulsman nahm das Fernglas entgegen, zögerte aber noch, es an seine Augen zu setzen. Vielmehr bedachte er den Ersten Offizier mit einem skeptischen Blick. Dann endlich starrte auch er hindurch.

Für einen schrecklichen Augenblick nahm Zweers an, dass Hulsman erneut nichts sah, doch dann entfuhr dem Mann ein verblüffter Laut, der beinahe wie ein Knurren klang.

»Verflucht, was ist das?«

»Ich weiß es nicht«, zischte Zweers. »Sie steht einfach da und starrt uns an.«

»Aber es ist weit und breit kein Schiff zu sehen«, presste Hulsman heraus. »Und … und auf dem Radar ist auch nichts. Überhaupt nichts!«

»Stopp die Maschinen, Hulsman«, entschied der Offizier.

Der Angesprochene reichte wortlos das Fernglas zurück und nickte entschlossen.

Er drehte sich um und machte sich an den Hebeln des Schaltpults zu schaffen. Wenig später würden die großen Dieselmotoren im Bauch der Greetje ihre Leistung auf ein absolutes Minimum zurückfahren. Was allerdings auch bedeutete, dass sich das Schiff vermutlich nicht mehr aus eigener Kraft aus dem Eis würde befreien können. Aber so, wie die Dinge jetzt lagen, war das im Augenblick ohnehin eher zweitrangig.

Die beiden Männer starrten durch die Scheibe nach draußen. Da der stürmische Wind offenbar für einen Moment ein Einsehen hatte, war die Erscheinung gut zu erkennen.

»Siehst du das?«, fragte Zweers. »Sie sieht aus, als würde sie überhaupt nicht mit dem Schnee in Berührung kommen.«

»Verdammt, ja«, antwortete der Steuermann. »Als ob das Zeug ihr ausweicht oder die Flocken vorher schmelzen.«

Träge schob sich der Bug der Greetje weiter auf die Erscheinung zu. Die Frau machte noch immer keine Anstalten, dem gigantischen Stahlkoloss auszuweichen.

Irgendwo unter ihnen brach das Eis, allerdings nicht mehr in meterlangen Rissen, sondern nur noch stückchenweise, weil sich der fehlende Schub bereits jetzt bemerkbar machte.

Ein zickzackförmiger Riss lief auf die Frau in dem weißen Gewand zu, kam aber wenigstens drei Meter vor ihr zum Stillstand.

Zweers zuckte zusammen, als Hulsman hinter ihm das Signalhorn des Schiffes betätigte. Fünf kurze Töne hintereinander, das Signal für Gefahr.

Es machte auf die Erscheinung keinen Eindruck. Sie wich nicht zur Seite.

Hinter den beiden Männern näherten sich hektische Schritte auf der Metalltreppe.

»Was ist hier los?«, bellte eine tiefe Stimme. »Warum wurden die Maschinen gestoppt?«

Kapitän Joury Van Dijk, von dem man behauptete, er würde immer wenigstens mit einem Ohr über den gewaltigen Dieselmotoren schlafen, hastete zur Kommandobrücke hinauf. Das Hemd hing ihm aus der Hose, und er war noch immer dabei, sich umständlich seine Jacke anzuziehen.

Die beiden Männer beachteten ihn kaum.

Das Schiff hatte die Frau fast erreicht. Gleich würde ihre Gestalt vom Bug der Greetje verdeckt werden.

Klaas-Jan Zweers zerbiss geräuschvoll seine Pfefferminzbonbons, ohne es zu merken.

»Würde mir vielleicht mal einer der Herren erklären …«, polterte Van Dijks Stimme hinter ihnen. Er führte seinen Satz nicht zu Ende, weil er die Gestalt im letzten Augenblick gesehen hatte, bevor sie im Schatten der Bugaufbauten verschwand.

Van Dijk, einem kräftigen Mann mit grauem Backenbart, sackte die Kinnlade herunter.

Im selben Moment kam die Greetje zum Stehen.

Und dies konnte als Startschuss für die grässlichen Ereignisse angesehen werden, die sich in den kommenden Stunden abspielen sollten.

Vier Stunden zuvor.

Ich hatte Stockholm gegen Mittag erreicht und war froh, meine warme Daunenjacke zusammengerollt in meinem Handgepäck zu wissen.

Die schwedische Hauptstadt empfing mich von ihrer kältesten, zugleich aber auch von einer ihrer schönsten Seiten.

Vom Flughafen Arlanda ging es weiter auf die Heiliggeist-Insel, auf der unter anderem der schwedische Reichstag und damit der Sitz des Parlaments untergebracht ist.

Dort angekommen, nahm mich ein Sicherheitsbeamter in Empfang, ein schweigsamer Mann, der ein gutes Stück größer war als ich. Seine Augen lagen halb unter dem Schirm seiner Mütze verborgen. Er führte mich in das Gebäude, bis in einen Wartebereich, wo er mir zu verstehen gab, genau dies zu tun.

Ich wartete also ab, meine Reisetasche zwischen meinen Füßen und mich umsehend.

Währenddessen erreichten weitere Personen das Gebäude, wurden durch eine Sicherheitsschleuse geführt oder passierten ganz einfach mit einem speziellen Ausweis den Eingangsbereich. Allem Anschein nach war ich nicht allein zu diesem Gespräch gebeten worden. Man hatte eine ganze Konferenz einberufen. Die Tür zu einem größeren Besprechungsraum öffnete und schloss sich nahezu im Sekundentakt.

Nachdem ich mir zwei oder drei Minuten lang das bunte Treiben angesehen hatte, trat ein blonder Mann in Zivil vor die Tür und sah sich suchend um. Sein Blick wanderte durch die Halle und blieb schließlich auf mir haften.

In sein Gesicht trat ein entschlossener Ausdruck, als sich der Mann in Bewegung setzte. Mit wenigen, ausgreifenden Schritten hatte er mich erreicht.

»Oberinspektor John Sinclair?«, fragte er mit warmer, nahezu akzentfreier Stimme.

Ich nickte und ergriff die mir entgegengestreckte Hand. Angesichts seines Äußeren und seiner Statur erwartete ich einen kräftigen Händedruck … und bekam ihn.

»Mein Name ist Kommissar Per Forsberg von den Piketen.«

Als ich ihn offenbar mit leicht fragendem Gesichtsausdruck ansah, fügte er hinzu: »Eine Abteilung der Nationalen Einsatzkräfte der schwedischen Polizei. Schön, dass Sie so schnell kommen konnten, Mister Sinclair. Ich glaube nämlich, dass wir Sie brauchen können.«

Ich breitete kurz die Hände aus. »Ich stehe Ihnen zur Verfügung, Herr Forsberg. Allerdings bin ich noch gar nicht so recht im Bilde, was mich eigentlich erwartet. Mein Chef, Sir James Powell, hat mich auf die Schnelle nur mit den notwendigsten Informationen versorgt.«

»Typisch Vorgesetzte, eh?«, machte der schwedische Polizist und grinste kurz. »Das geht uns hier nicht anders. Aber ich kann Sie beruhigen. Alles, was Sie über die Sache wissen müssen, erfahren Sie da drinnen.«

Er deutete auf die Tür, in deren Rahmen in diesem Augenblick ein uniformierter Mann vom Sicherheitsdienst auftauchte und uns einen strengen Blick zuwarf, der wohl bedeuten sollte, dass man da drinnen auf unser Erscheinen wartete.

Die Sache, wie Forsberg sie ein wenig salopp genannt hatte, stellte sich, wie es nicht anders zu erwarten gewesen war, als eine ernste Angelegenheit heraus.

Vor drei Tagen war ein Fischkutter kurz vor der finnischen Hafenstadt Oulu von der Strömung an die Küste gespült worden. Von den ehemals drei Besatzungsmitgliedern fehlte jede Spur. Und dies, obwohl die See ruhig gewesen war. Der Kutter mit dem Namen Toivo wies keinerlei Schäden auf, und als man den Motor startete, sprang dieser sofort an. Eine groß angelegte Suchaktion war bisher erfolglos geblieben.

Nur einen Tag später war auf dem Bottnischen Meerbusen, einem Teil der nördlichen Ostsee, eine Yacht entdeckt worden, die allein vor sich hindümpelte und Gefahr lief, ins Packeis zu geraten und von diesem aufgeschlitzt zu werden.

Die Besatzung eines schwedischen Seenotkreuzers hatte das Schiff in Schlepp genommen, nachdem sich auch dort niemand an Bord aufzuhalten schien.

Die vier Besatzungsmitglieder waren spurlos verschwunden. Als die Yacht Cinderella schließlich an der Küste von Kräften der finnischen Polizei untersucht worden war, stieß man auf ein Smartphone, das einem der Segler gehört hatte. Der Mann hatte offenbar kurz vor seinem Verschwinden eine Videoaufnahme gestartet, die an einem bestimmten Punkt abrupt abbrach und im weiteren Verlauf für reichlich Diskussionsstoff sorgte.

Die heute einberufene Konferenz bestand aus verschiedenen Einsatzkräften der finnischen und der schwedischen Polizei, sowie Vertretern aus Politik und Militär.

Den Vorsitz führte ein hagerer Mann Ende fünfzig, der einen schlecht sitzenden, hellblauen Anzug trug. Wie sich herausstellte, handelte es sich bei dem Grauhaarigen mit dem Bürstenschnitt um einen hochrangigen Angestellten der Stockholmer Bürgermeisterbüros, der darüber hinaus noch weitere Ämter bekleidete.

Wir saßen an hellen Konferenztischen, die zu einem großen U zusammengestellt worden waren. An der Decke war ein Beamer installiert, dessen Licht auf eine große, weiße Leinwand fiel.

Forsberg hatte neben mir Platz genommen, warf jedoch in die zuvor ausgeteilten Unterlagen keinen einzigen Blick, was mich zu der Annahme führte, dass der Beamte alle wesentlichen Informationen daraus bereits kannte.

Ich nahm einen letzten Schluck aus meiner Kaffeetasse und stellte sie auf den Unterteller zurück, bevor der Mann im blauen Anzug in knappen Worten eine Überleitung zu der Handyaufnahme fand.

Er trat zu einem kleinen Tisch hinüber, auf dem ein eingeschalteter Laptop aufgebaut war. Mit einer raschen Tastenkombination gelangte er zu einer Datei, die einen verschlüsselten Namen hatte. Mit einem Doppelklick startete er die angekündigte Aufnahme des vermissten Bootseigners.

Wir wurden kopfüber hineinkatapultiert in eine dramatische Szenerie. Zunächst war nicht das Geringste zu erkennen. Die Kamera zeigte offenbar in den Nachthimmel. Der Wind traf das sensible Mikrofon und erzeugte dabei verzerrte, knisternde Laute. Dazwischen vermeintlich die Rufe von Männern, die sich irgendwo außerhalb des Aufnahmebereichs befanden.

Derjenige, der das Handy führte, befand sich mitten in der Bewegung. Für den Bruchteil einer Sekunde war das Steuerhaus einer Yacht zu sehen, dann wurde die Leinwand von Bootsplanken ausgefüllt. Harte, hämmernde Schritte waren zu hören, zumindest für die wenigen Sekunden, in denen der Wind nicht alles andere übertönte.

Der Handybesitzer atmete lautstark. Keuchte vielmehr, so als wäre er vor etwas oder jemandem auf der Flucht.

Die Bilder wechselten in rascher Folge. Segel, Planken, Kleidung und die Schwärze der Nacht, die nur durch den herabfallenden Schnee unterbrochen wurde.

Schnee lag auch auf den Planken und auf den Aufbauten der Yacht. Der Mann mit dem Handy rutschte weg. Für einen Moment schien es, als sei die Aufnahme unterbrochen. Dann hatte sich der Filmende offenbar wieder gefangen.

Er war auf dem Weg zum Heck des Schiffs, so viel konnte man als Zuschauer erahnen.

Dann wieder Atemgeräusche. Das Bild wurde ruhiger, wenn auch nur ein wenig. Ich vermutete, dass der Mann mit seinem Smartphone an der hinteren Reling angekommen war und sich möglicherweise mit dem Rücken dagegen lehnte. Die Position, aus der heraus er weiter filmte, sprach jedenfalls dafür.

Aus einiger Entfernung gellte ein markerschütternder Schrei über das Deck der Cinderella. Das Geräusch kam so unvermittelt, dass ich kurz zusammenzuckte. Aus den Augenwinkeln heraus erkannte ich, dass es den meisten anderen Zuschauern ebenfalls so erging.

Auf der Leinwand waren Schneeflocken zu sehen, die über das Deck des Schiffes wirbelten.

Das erste Mal war jetzt die Stimme des Handybesitzers zu hören. Logischerweise sprach der Mann schwedisch, doch die moderne Technik hatte es möglich gemacht, seine Worte am unteren Bildrand mit englischen Untertiteln zu versehen:

Mika Hedlund von Bord der Cinderella. Etwas ist bei uns. Wir … Sie war plötzlich da. Wie aus dem Nichts!

Es waren laute Atemgeräusche zu hören. Eine Windbö zerrte an der Jacke des Mannes.

Sie muss über die Reling am Bug gestiegen sein. Ich habe gesehen, wie sie Vic (Anm: Viktor Magnusson) getötet hat. Mit … mit ihren Klauen! Nima und Alvar sind verschwunden. Ich … ich kann sie nicht mehr sehen. Ich glaube, dass sie sie ebenfalls geholt hat!

Zu hören war ein lautes Schniefen. Die Kamera schwenkte hin und her. Bildfetzen waren zu sehen. Die Rückseite des Kabinenniedergangs, ein Mast mit eingeholtem Segel, dann wieder Schwärze und Schnee, bevor Hedlund sein Smartphone wieder neu ausgerichtet hatte.

Ich weiß nicht, ob ich das hier überlebe. Falls das nicht der Fall ist, möchte ich … Emmi, ich liebe dich, hörst du? Ich möchte, dass du weißt … Oh, mein Gott!

Die Kamera des Handys schwenkte ein winziges Stück nach links und zeigte jetzt wieder die Aufbauten des Niedergangs.

Da ist sie! Ich … ich kann sie deutlich sehen. Ich schwöre es, bei allem, was mir heilig ist. Sie kommt! Sie …

Hedlund stieß einen angsterfüllten Schrei aus, der keiner Übersetzung, keiner Untertitel bedurfte. Er gab sich Mühe, das Gerät in seiner Hand ruhig zu halten.

Zu sehen war … nichts. Zumindest dachte ich das im ersten Augenblick.

Forsberg, der die Aufnahmen mit Sicherheit nicht das erste Mal betrachtete, blickte interessiert zu mir herüber, als wollte er feststellen, ob es mir auch auffallen würde.

Und das tat es.

Etwas näherte sich Mika Hedlund vom Dach des Kabinenniedergangs her. Eine Gestalt, die entfernt an einen Menschen erinnerte. Um wen auch immer es sich handelte, er oder sie war nicht zu sehen.

Wohl aber der Schnee, der an genau dieser Stelle eine Art Umriss zeichnete. Er blieb nicht direkt auf der Erscheinung liegen, sondern veränderte seine Fallrichtung und ging schließlich auf anderen Wegen zu Boden. Auf diese Weise entstand ein seltsamer Anblick, der sich gleich darauf in eine Bewegung verwandelte.

Es sprang herunter auf das Deck und kam auf Hedlund zu. Ich beobachtete, wie auf den Planken etwas Ähnliches wie Fußabdrücke im Schnee entstanden.

Hedlund warf sein Handy beiseite. Die Kamera war zunächst unscharf und zeigte schließlich nur noch die Unterseite eines Mastes. Trotzdem brach die Aufnahme noch immer nicht ab.

Hedlund musste noch immer irgendwo in der Nähe sein.

Ein einzelnes Wort war noch zu hören, dann folgte ein platschendes Geräusch. Obwohl die Kamera diese Szene nicht mehr eingefangen hatte, konnte ich mir bildlich vorstellen, dass Hedlund keinen anderen Ausweg mehr für sich gesehen hatte, als über die Reling in das eiskalte Wasser zu springen.

Als Letztes war ein schleifendes Geräusch zu hören, so als wäre jemand ganz nah an dem noch immer eingeschalteten Smartphone vorbeigegangen und hätte dabei etwas hinter sich hergezogen.

Dann war der Spuk vorüber. Sowohl die Aufnahme als auch die Vorführung waren zu Ende.

Für mehrere Sekunden herrschte absolutes Schweigen im Raum. Betretene Blicke. Niemand wusste so recht, wie er sich verhalten sollte.

Auch auf mich hatte die Aufnahme ihre Wirkung nicht verfehlt. Insbesondere das letzte Wort, das Mika Hedlund über die Lippen gekommen war, klang düster in mir nach. Es war, vermutlich aus einer Nachlässigkeit, nicht mehr übersetzt worden. Aber ich wusste auch so, was es bedeute.

Isbruden – die Eisbraut!

»Offiziell spricht man noch von Vermissten«, erklärte Per Forsberg, als die Konferenz für eine kurze Pause – die viele der Versammelten nach den letzten Bildern nötig gehabt hatten – unterbrochen worden war. »Für mich sind es Tote. Sieben Tote innerhalb von zwei Tagen.«

Wir befanden uns wieder im Foyer des Gebäudes, von dessen Wänden zahlreiche ehemalige schwedische Staatsoberhäupter auf uns niederblickten. Forsberg und ich hatten uns an einen Stehtisch im hinteren Bereich zurückgezogen, der eigentlich für Raucher bestimmt war. Doch weder ich noch vermutlich Forsberg frönten dieser fragwürdigen Beschäftigung.

»Was glauben Sie, was wir auf diesem Handyvideo gesehen haben?«, fragte ich den Polizisten.

Der Schwede lächelte matt. »Dasselbe wollte ich Sie gerade fragen. Aber gut. Wissen Sie, woran ich dabei als Erstes denken musste? An Claude Rains.«

»An wen?«