John Sinclair 2318 - Timothy Stahl - E-Book

John Sinclair 2318 E-Book

Timothy Stahl

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Beschreibung

Das Niklas-Fest war vorbei, wieder einmal, und Martin Rogler fand das gut so. Vielleicht als Einziger im ganzen Ort war er froh darüber. Er mochte dieses alljährliche Treiben in der Adventszeit nicht. Trotzdem ging er hin, alle Jahre wieder, weil man das eben so tat in einem Ort wie Toteneck, wo der Zusammenhalt der Dorfgemeinschaft noch gelebt wurde. Man nahm sich nirgends aus, machte überall entweder aktiv mit oder wenigstens seine Aufwartung.
Doch allein Letzteres fiel Martin Rogler beim Niklas-Fest sehr schwer. Es kostete ihn regelrechte Überwindung, und er glaubte zumindest, es nur dann überstehen zu können, wenn er den Alkoholpegel in seinem Blut möglichst schnell in die Höhe soff.
Entsprechend schwer und unsicher waren seine Schritte, als er sich nun als einer der Letzten auf den Heimweg machte.
Und ein starres Augenpaar beobachtete aus dem Schutz der Dunkelheit heraus jeden einzelnen dieser behäbigen Schritte Martin Roglers ...

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Inhalt

Cover

Gruß vom Krampus

Briefe aus der Gruft

Vorschau

Impressum

Gruß vom Krampus

von Timothy Stahl

Das Niklas-Fest war vorbei, wieder einmal, und Martin Rogler fand das gut so. Vielleicht als Einziger im ganzen Ort war er froh darüber. Er mochte dieses alljährliche Treiben in der Adventszeit nicht. Trotzdem ging er hin, alle Jahre wieder, weil man das eben so tat in einem Ort wie Toteneck, wo der Zusammenhalt der Dorfgemeinschaft noch gelebt wurde. Man nahm sich nirgends aus, machte überall entweder aktiv mit oder wenigstens seine Aufwartung.

Doch allein Letzteres fiel Martin Rogler beim Niklas-Fest sehr schwer. Es kostete ihn regelrechte Überwindung, und er glaubte zumindest, es nur dann überstehen zu können, wenn er den Alkoholpegel in seinem Blut möglichst schnell in die Höhe soff.

Entsprechend schwer und unsicher waren seine Schritte, als er sich nun als einer der Letzten auf den Heimweg machte.

Und ein starres Augenpaar beobachtete aus dem Schutz der Dunkelheit heraus jeden einzelnen dieser behäbigen Schritte Martin Roglers ...

Das Gros der Menge hatte sich längst aufgelöst. Viele der Totenecker mochten sogar schon zu Hause und die Lichter des Ortes hinter den meisten auswärtigen Besuchern verschwunden sein. Nur hier und da sah man jenseits der Grenzen von Toteneck noch den flackernden Fackelschein oder das wabernde Leuchten von Laternen, die heimwärts Wandernden den Weg durch die Nacht erhellten. Aber auch diese Lichtpunkte entfernten sich zusehends und wurden dann von der Nacht verschluckt.

Martin Rogler hingegen strich noch das Duftgemisch von Glühwein, Süßigkeiten und siedendem Backfett um die Nase, welches das Festgeschehen durchweht hatte – wie auch der muffige Geruch alter Kostüme aus Tierfellen und Stoffen und dem Schweiß der unverheirateten jungen Männer, die in diesen traditionellen Kostümen steckten und ihr Unwesen trieben, die Gesichter hinter furchterregenden, schweren Holzmasken verborgen.

Genau diese Gestalten waren es, die Martin Rogler am Niklas-Fest nicht mochte. Sie waren ihm nicht geheuer, machten ihm Angst. Eine Heidenangst sogar. Obwohl er freilich genau wusste, dass es nur Masken und Kostüme waren und nicht etwa echte Geister und Dämonen oder dergleichen. Nicht einmal als Kind hatte er das geglaubt ... oder doch?

Ehrlich gesagt, konnte er sich an die Niklas-Feste seiner Kindheit kaum erinnern. Wer weiß? Vielleicht hatte er damals ja ein traumatisches Erlebnis gehabt, auf dem sein bis heute anhaltendes Unbehagen gegenüber all diesen Hexen, Rauweibern, Habergeißen und den Schiach-‍, Schnabel- und Schönperchten gründete? Das war denkbar, natürlich. Und wenn es so gewesen war, sollte er eigentlich froh sein, sich nicht daran erinnern zu können. Andererseits aber war diese Ungewissheit, das Gefühl, etwas aus dem eigenen Leben nicht mehr zu wissen, ein ausgezeichneter Nährboden für immer neue Ängste.

Aber zum Glück, das redete Martin Rogler sich jedenfalls mit einigem Erfolg ein, gab es ein wirksames Mittel, mit dem sich diese Ängste betäuben ließen, vorübergehend jedenfalls und lange genug, um in den Schlaf zu fallen ... wo sie dann wieder erwachten, und zwar als Albträume jener Sorte, die einem nach dem Aufwachen zwar noch anhingen wie irgendein Ding mit kalten, klebrigen Händen, nur ließ sich dieses Ding, dieser Alb, nicht ins Gesicht schauen und erkennen.

Vielleicht hätten diese Geister dann ihren Schrecken verloren oder wenigstens nach und nach eingebüßt, um irgendwann ganz verschwunden zu sein ... aber nein, so funktionierte das nicht für Martin Rogler. Er blieb geschlagen mit diesen Ängsten und mit dem Gefühl, in praktisch jeder Nacht seines Lebens einen Albtraum zu haben und sich an keinen einzigen davon erinnern zu können.

War das überhaupt ein Leben?, fragte er sich, und das nicht zum ersten Mal. Lohnte sich so ein Leben?

Ächzend blieb er stehen.

Wie weit war er schon gegangen? Wo im Dorf befand er sich? Er wohnte ganz an dessen östlichem Rand, im unteren Dorf, wie dieser etwas tiefer liegende Teil genannt wurde. Der Weg von der Dorfmitte dorthin führte an der Kirche vorbei und am Friedhof – und an dessen Mauer fand Martin Rogler sich wieder.

Er spürte den feuchten, rauen Stein, das Moos und die Flechten, die das Mauerwerk angesetzt hatte, unter seiner linken Hand und wurde sich erst jetzt bewusst, dass er sich Halt suchend daran abstützte. Sehr weit war er demnach noch nicht gekommen, nicht einmal die Hälfte seines Heimwegs hatte er geschafft.

Der Atem bildete Dampfwölkchen vor seinen Lippen, und die rasche, kaum abreißende Folge dieser Wölkchen zeigte an, wie schnell sein Atem ging. Ungesund schnell. Alkohol und Übergewicht forderten gnadenlos ihren Tribut. Mehrfach schon hatte ihm der alte Dr. Neuner prophezeit, dass er es so nicht mehr lange machen würde.

Vielleicht erwischt's mich ja jetzt, direkt vor dem Friedhof, ging es ihm durch den Kopf, dann müssen sich mich wenigstens nicht mehr weit tragen.

Er lachte rau, dann musste er husten. Selbst ein bisschen Lachen war schon anstrengend für ihn.

Er hätte sich gern wieder in Bewegung gesetzt, um endlich heim und ins Bett zu kommen. Aber noch fühlte er sich dazu nicht in der Lage. Er visierte das sogenannte Mitfahr-Bänkchen am Fuß der Friedhofsmauer an. Dort konnte man sich tagsüber hinsetzen, wenn man in einen der umliegenden Orte oder die nächste Stadt wollte, und wenn jemand mit dem Auto vorbeikam und denselben Weg hatte, wurde man mitgenommen. Mit dem Bus war das kaum noch möglich, der fuhr die Runde nur noch einmal am Tag und am Wochenende gar nicht.

Ein paar Minuten nur, sagte sich Martin Rogler. Ein wenig ausruhen, dann wird's schon besser gehen.

Ohne die stützende Hand von der Friedhofsmauer zu nehmen, tappte er los. Schritt für Schritt schleiften seine Füße über den nachtfeuchten Asphalt. Langsam näherte er sich der Bank. Das Geräusch seiner Schritte hallte scheint's überlaut wider – als bewegten sich rings um ihn her andere mit ihm im Gleichschritt, aber unsichtbar wie Geister.

Da war sie wieder, die Angst. Diese ewige Scheißangst. Sie lähmte ihn. Keuchend blieb Martin Rogler stehen. Das Schlurfen seiner Schritte verstummte augenblicklich – doch erst im nächsten Moment und damit ein klein wenig zu spät ihr Nachhall ... oder das, was Martin Rogler für das Echo seiner Schritte gehalten hatte.

Hinter ihm war dieses andere Geräusch, waren diese anderen Schritte, die Schritte von jemand anderem verklungen. Da war dieser Jemand genau wie er stehen geblieben.

Die linke Hand immer noch an der Friedhofsmauer, drehte er sich halb um, bis er über die Schulter nach hinten blicken konnte – und den Leibhaftigen sah!

Dem Teufel nämlich war die grässliche Gestalt zum einen buchstäblich wie aus dem Gesicht geschnitten und zum anderen tatsächlich nachempfunden. Letzteres wusste in der hiesigen Gegend ein jedes Kind, und sie fürchteten diesen schrecklichen Buhmann, weil es hieß, er würde die bösen Kinder mitnehmen, dorthin, wo er selbst herstammte, in die Hölle also!

Früher jedenfalls war das so gewesen. Da hatten die Kinder das geglaubt, was ihnen die Erwachsenen und vor allem die Alten erzählten. Schaurige Geschichten waren das gewesen, die man in der heutigen Zeit keinem Kind mehr zumutete. Aber auch die Kinder waren anders geworden, weniger leichtgläubig, aufgeklärterer.

Ob das nun etwas Gutes oder eher Schlechtes war oder etwas von beidem, sei dahingestellt, und Martin Rogler gingen all diese Gedanken im Augenblick auch nur ganz flüchtig durch den Kopf. In erster Linie ging darin momentan alles drunter und drüber, und dominierend war eine Frage, die er auch laut stellte: »Was soll der Unsinn?«

Der von Kopf bis Fuß behaarte Geselle kam einen Schritt näher. Er klang seltsam, dieser Schritt, und Martin sah auch gleich, warum das so war– weil der eine Fuß des Kerls ein Huf war und beim Auftreten entsprechend hart aufs Pflaster schlug.

Dann blieb die Gestalt wieder stehen, wie um Martin Gelegenheit und Zeit zu geben, sie in Augenschein zu nehmen.

Borstiges Fell sah er, auf dem Rücken einen großen, alten Tragekorb, dazu noch Ketten, die um die massige Gestalt geschlungen waren und bei der leisesten Bewegung klirrten. Ein grob dreieckiges Gesicht und Hörner, die aus dem Schädel ragten, der zwar täuschend echt aussah, aber doch eine Maske sein musste.

Wer steckte darunter? Einer der Burschen aus dem Dorf, der sich einen Scherz mit ihm erlaubte. Wer sonst? Man wusste, dass Martin Rogler ein ziemlicher Schisser war, und er galt als Sonderling in vielerlei Hinsicht. Schon oft war er Opfer von mitunter derben Streichen geworden. Worauf waren sie diesmal aus? Wollten sie schauen, ob sie ihm so viel Angst machen konnten, dass er sich einnässte? Zuzutrauen war ihnen das, diesen Lackeln. Ja, das wäre ein »Jux« ganz nach ihrem Geschmack gewesen. Und dann würde man ihn wochenlang damit aufziehen – bis man sich den nächsten »Spaß« mit ihm erlaubte ...

In Martin Rogler wallte etwas auf, das ihn im ersten Moment beinahe erschreckte. Weil es ein Gefühl war, das er lange nicht mehr verspürt hatte. Tatsächlich konnte er sich spontan gar nicht erinnern, wann es zuletzt dazu gekommen war ... wann er das letzte Mal so wütend gewesen war.

Es reichte!

Ihm reichte es. Er hatte genug. Es musste endlich einmal Schluss sein. Und er würde Schluss machen – heute Nacht, hier und jetzt.

Mit einem Mal gar nicht mehr schwankend und schwerfällig tat er drei, vier Schritte auf die Gestalt zu, die sich nicht rührte und ihm starren Blickes entgegenglotzte. Und noch im Gehen holte der einmal zu oft drangsalierte Mann mit dem rechten Arm aus und ballte die Hand zur Faust ...

... während gleichzeitig Bewegung auch in sein Gegenüber kam!

Der teuflisch Vermummte holte ebenfalls aus, auch mit rechts, und er hielt in dieser Hand eine Rute, ein Bündel aus Zweigen, deren Enden zu einem Griff zusammengebunden waren. Traditionell verwendete man für diese Ruten Birkenzweige, die sich ihrer Biegsamkeit wegen gut eigneten.

Allerdings hatte man sich bei dieser Rute nicht auf die Zweige der Birke beschränkt. Das bekam Martin Rogler in der nächsten Sekunde schmerzhaft zu spüren – und noch bevor er seinerseits zum Schlag oder auch nur zur Abwehr kam.

Denn in puncto Zuschlagen war der andere um die entscheidende Winzigkeit schneller.

Der Hieb mit der Rute traf das Opfer von der Seite her ins Gesicht, peitschend, brennend und vor allem reißend – denn in das Bündel eingebunden waren offenbar auch Dornenzweige, die sich in der Gesichtshaut verhakten ... bis der Schwung des Schlages die Dornen wieder herausriss. Winzige Hautfetzen blieben daran hängen. Und das Blut, das die kleinen Wunden sofort füllte und aus ihnen quoll, schien kochend heiß zu sein, so heftig brannte Martin Roglers Gesicht.

Aber das war nur der Anfang ...

Irgendwie schaffte er es, das gut mannshohe Gittertor in der Friedhofsmauer nicht nur zu erreichen, sondern auch, es aufzureißen, hindurch zu schlüpfen und es hinter sich zuzuschmettern.

Vielleicht ließ sein Verfolger das aber auch nur zu, obwohl er ihn leicht vorher hätte erwischen können. Die Verfolgung Martin Roglers gab der andere jedenfalls nicht auf.

Diese Möglichkeit, dass der Kinderschreck also nur Katz und Maus mit ihm spielte, war Martin Rogler sehr wohl bewusst. Doch er verdrängte sie und konzentrierte sein ganzes Denken nur darauf, zu fliehen, seinem Verfolger zu entkommen, um nicht erfahren zu müssen, was dieser noch mit ihm vorhatte.

Sein Gesicht schien immer noch in Flammen zu stehen. Tränen mischten sich jetzt mit dem Blut. Er wischte sich über die Augen, deren Blick sich getrübt hatte, und erreichte damit nur, dass er einen Moment lang gar nichts mehr sah und stürzte.

Auf Händen und Knien krabbelte er die fünf Stufen hinter dem Friedhofstor hinauf, bis er den Kies des Weges, der schnurstracks zur Kirche in der Friedhofsmitte führte, unter sich spürte. Erst dann rappelte er sich auf und wagte es auch, einen Blick hinter sich zu werfen – wo der andere, der Unheimliche, dieser Kerl, der ihm weismachen wollte, ein dämonisches Ding, ein Wesen aus heidnischer Zeit zu sein, soeben das Gittertor öffnete, eintrat und hinter sich schloss. Er tat es ohne Eile, schien den Flüchtenden mit dieser Langsamkeit verhöhnen und quälen zu wollen.

Martin Rogler schüttelte sowohl diesen Gedanken als auch jegliche Benommenheit ab, drehte sich herum und lief los. Unter seinen Sohlen knirschte der helle Kies des Weges immer schneller, weil er zu rennen begann.

Wie lange schon war er nicht mehr gerannt? Zuletzt als Kind, oder? Er erinnerte sich nicht. Es war auch egal. Wichtig war, dass er zur Kirche kam, dass die Tür nicht verschlossen war und er hinein konnte. Dort, so hoffte und glaubte er, würde er in Sicherheit sein. Der andere würde es nicht wagen, ihm im Gotteshaus etwas anzutun. So weit würde der Bursche den »Spaß«, den er sich mit ihm erlaubte, gewiss nicht treiben. Wenn das herauskäme und im Dorf die Runde machte, wäre der Bursche, wer er auch sein mochte, unten durch ...

Wie vor eine Wand gelaufen blieb Martin Rogler plötzlich stehen. Schwer atmend, schwitzend, schwindelnd. Die Gräberreihen links und rechts von ihm schienen zu schwanken wie das Deck eines Schiffes bei hohem Seegang. Ebenso der Weg unter seinen Füßen.

Er fürchtete, abermals hinzufallen, ruderte mit den Armen, um die Balance zu halten. In seiner Brust setzte ein Stechen ein, wie so oft, wenn er sich anstrengte. Nur heftiger diesmal, schmerzhafter und beängstigender. Bedrohlicher.

Sein Kopf jedoch schien erstarrt zu sein wie die Köpfe der Heiligen- und Engelsfiguren, die beiderseits des Weges das eine oder andere Grab schmückten, die Grabsteinreihen überragten und im diffusen Licht von Mond und Sternen ihre Schatten warfen. So wie der hohe Turm der St.-Nikolaus-Kirche. In der Form eines gewaltigen Pfeils wies er himmelwärts. Die Glocke schlug einmal, es war halb irgendwas, das Zifferblatt dort oben ließ sich von dieser Stelle aus nicht erkennen.

Aber da sah er ohnedies nicht hin, denn sein Blick war wie festgeheftet auf den Fuß des Turms gerichtet, auf die Tür, die ins Kircheninnere führte – und auf die Gestalt, die genau dort stand, völlig reglos und dunkel, als wäre sie selbst nur ein Schatten.

Sein Verfolger?

»Wie ...«, hörte Martin Rogler sich staunend sagen.

Das konnte doch nicht sein!

Eben noch war der andere hinter ihm gewesen und gemächlich die Treppe hochgestiegen, und er selbst war doch gerannt! Wie also war der Kerl so schnell an ihm vorbeigekommen? Noch dazu, ohne dass er es bemerkt hatte?

Rogler kam ein Gedanke. Ja, nur so konnte es sein: Sie foppten ihn, hielten ihn zum Narren!

Ja, sie. Denn es mussten hier mehr als nur der eine Bursche, der ihm zu Beginn gegenüber getreten war, zugange sein. Sie trugen lediglich die gleiche Kostümierung. Um ihn zu täuschen. Um ihm noch mehr Angst zu machen, als einer allein es schon geschafft hatte.

Fast hätte er gelacht, weil er auf des Rätsels Lösung gekommen war. Doch es blieb ihm im Halse stecken, als er sich umdrehte, stockte, sich umblickte ... und niemanden sonst sah. Keinen weiteren Vermummten mit einer Kiepe auf dem Rücken, der sich zwischen den Schatten der Grabfiguren oder hinter einem Grabstein verbarg. Nirgends rührte sich etwas, kein Windhauch regte sich, es war nichts zu hören, nichts und niemand.

Totenstille.

»Nein ...«, flüsterte er in diese Stille hinein. Es waren nicht mehrere im gleichen Gewand, es war immer derselbe.

Und jetzt?, fragte sich Martin Rogler.

Der Weg in die Kirche war ihm verwehrt. Der andere stand wie ein Wächter vor der Tür.

Vor dieser Tür.

Aber es gab ja nicht nur diese eine ...

Martin Rogler setzte sich zur rechten Seite hin ab. Er lief an einer Gräberreihe entlang, schaute nach unten, um nicht über eine Grabeinfassung zu stolpern, wünschte sich, mehr Platz zu haben, weil er mit der rechten Hüfte ein ums andere Mal an den Rückseiten von Grabsteinen entlangschrammte und deshalb schon bald zu humpeln anfing.

Er würde rechts um die Kirche herumlaufen, zur Seitenpforte, und diesmal würde der andere nicht schneller sein als er, weil ...

Der Gedanke war hinfällig.

Martin Rogler kam gar nicht bis zur Seitenpforte.

Der andere stand ihm plötzlich mitten im Weg, der lange Schatten, den er im Mondlicht warf, berührte fast Roglers Schuhspitzen, als er abermals mitten im Lauf stoppte.

Der Vermummte schlug mit seiner Rute nach ihm. Eher erschrocken und reflexartig als bewusst wich Rogler um eine Winzigkeit zurück, und der Hieb ging fehl. Nur den Luftzug der Rute spürte er. Und darin nahm er den strengen Gestank eines Ziegenbocks wahr, nein, eines ganzen Stalls voller Ziegenböcke – und noch etwas anderes, etwas wie ... faule Eier?

Was zum Teufel ...?

Nein!

Martin Rogler hielt sich nicht auf mit weiteren Fragen danach, wie das alles angehen konnte, was das alles zu bedeuten hatte.

Er konnte förmlich fühlen, wie in ihm etwas geschah, sich etwas veränderte. Wie etwas anderes als sein bewusstes Denken die Herrschaft und Kontrolle über seinen Körper regelrecht an sich riss. Und nun funktionierte er nur noch.

Er steppte zur Seite, freilich alles andere als elegant, und schlüpfte unbeholfen zwischen zwei Gräbern hindurch. Er schlug einen Haken und brachte noch mehr Entfernung zwischen sich und den anderen, der sich ebenfalls in Bewegung gesetzt hatte und keine Rücksicht auf die Gräber nahm. Er ging weder zwischen ihnen hindurch noch stieg er darüber hinweg, er stampfte und stapfte kurzerhand darüber, und Martin Rogler musste es ihm gleichtun, wenn er seinen minimalen Vorsprung nicht einfach aufgeben wollte.

Herrje, was würde der Pfarrer schimpfen!

Und was für ein unnützer, alberner Gedanke das war, jetzt, wo es doch um etwas ganz anderes ging!

Worum eigentlich? Um sein Leben? Ging es wirklich darum? Ums nackte Überleben?

Was Martin Rogler verspürte, war gewiss Todesangst! Jedenfalls konnte und wollte er sich nicht vorstellen, dass es eine noch schlimmere, größere Angst gab als jene, die ihn jetzt vorantrieb. Ergo konnte dies nur Todesangst sein, richtig?

Seine Gedanken schienen ihn ablenken zu wollen vom Ausmaß seiner Not – und in der Tat lenkten sie ihn ab.