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Ein altes Kino in London, das kaum mehr Gewinn abwirft. Nur noch uralte Filme werden dort gezeigt, zu ihrer Zeit Kassenschlager, heutzutage verblassende Klassiker.
Aber der Besitzer des Kinos will seinen ehemals so strahlenden "Lichtspielpalast" nicht aufgeben. Und dafür hat er einen Grund!
Denn dieses Kino ist ein Hort des Bösen, und jede Nacht gibt es dort eine Spätvorstellung für Dämonen.
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Seitenzahl: 137
Veröffentlichungsjahr: 2024
Cover
Spätvorstellung für Dämonen
Briefe aus der Gruft
Vorschau
Impressum
Spätvorstellungfür Dämonen
von Steve Hogan
East India Docks, vor hundert Jahren
Für Ajay Singh war London so einladend wie eine klamme, graue Gruft. Als der Schnelldampfer Exeter nach wochenlanger Reise die Themsemündung erreichte, hatte der indische Gewürzhändler noch Zuversicht und Vorfreude empfunden. Doch sobald die Hauptstadt des britischen Weltreichs in Sicht kam, schienen eisige Dämonenklauen nach seinem Herzen zu greifen.
Singh war ein gläubiger Mann, er verehrte die Götter und fürchtete die Kreaturen der Unterwelt. Er umklammerte instinktiv mit beiden Händen das mit verschiedenen Bannsprüchen bemalte Tongefäß. Zwischen Gut und Böse, Schutz und Vernichtung gab es oft nur einen schmalen Grat. Dies war seine feste Überzeugung.
Singh führte eine höchst verhängnisvolle Macht mit sich. Und dieser Gedanke gab ihm die dringend benötigte Kraft, als das Passagierschiff immer tiefer in die dicken Nebelschwaden hineinglitt.
In London warteten Tod und Vernichtung auf ihn, das spürte er in diesem Moment ganz deutlich, und der Inder war davon überzeugt, dass die Götter dieses Schicksal für ihn vorgesehen hatten. Es gab kein Entkommen.
Singh fühlte sich wie eine Leiche auf Urlaub, nachdem er die Zollkontrolle passiert hatte und auf das glitschige Kopfsteinpflaster trat. Es stank nach verwesenden Tierkadavern, Unrat und Gin, die ungewohnten Geräusche steigerten seine dunklen Vorahnungen nur noch. Schreie waren zu hören, hervorgerufen durch Lust oder Schmerz – wer konnte das schon so genau sagen? Außerdem ratterten Kutschenräder, die Motoren von Automobilen dröhnten, dumpfe metallische Schläge schienen aus einer Schmiede zu kommen.
Doch der undurchdringliche Nebel lag wie eine unzerreißbare Decke über dem Leben der Millionenstadt. Daher schienen die Londoner unsichtbar zu sein. Außer den Uniformierten in der Zollbaracke hatte Singh noch keinen Einheimischen zu sehen bekommen.
Vor dem Dock hatten einige Taxis gewartet und andere Passagiere zu ihren Hotels gefahren. Doch als Singh sich umschaute, gab es für ihn keine Transportmöglichkeit mehr. Ihm würde nichts anderes übrig bleiben, als sich zu Fuß einen Weg in die City zu suchen.
Der Inder kannte sich in London nicht aus, er hatte das heimatliche Kalkutta zum ersten Mal in seinem sechzigjährigen Leben verlassen.
Er hielt das Tongefäß so behutsam und vorsichtig im Arm wie eine Mutter ihren Säugling. In der anderen Hand hatte er seine Reisetasche. Der große Überseekoffer war zu seinem Hotel geschickt worden, das er allerdings erst einmal erreichen musste.
Während er sich seinen Weg durch den trüben Dunst bahnte und die feuchte Kälte in seine Knochen kroch, erblickte Singh eine schemenhafte Gestalt vor sich. Er roch ihre Schnapsfahne, bevor er Einzelheiten erblicken konnte: grelles Make-up, Brüste, die aus dem Mieder quollen, ein grellbunter Stofffetzen als Kleid.
Diese Frau verdient ihr Brot garantiert nicht als Näherin oder Dienstmädchen, dachte der Gewürzhändler.
»Verzeihen Sie, Miss ...«, sprach er sie an.
»Ein Turbanträger! So einen wie dich hatte ich schon lange nicht mehr auf meiner Matratze! Zehn Schilling, und du kannst mit mir machen, was du willst!«
»Ich möchte einfach nur erfahren, wie ich ins Westend komme«, gab Singh höflich zurück.
Die Hure kam ihm noch näher, um ihn trotz des Nebels besser mustern zu können. »An deiner Stelle würde ich um eine Droschke beten, Turbanträger. Dein Mantel ist aus bestem Stoff, und deine Stiefel scheinen Handarbeit zu sein. Für so etwas habe ich einen Blick.« Sie senkte die Stimme. »Heute Nacht gehen die Snake Boys um, die ziehen dich nackt aus und hängen dich an deinen eigenen Gedärmen auf!«
»Wie Sie meinen, Miss. Ich wünsche noch einen angenehmen Abend.«
Mit diesen Worten ließ Singh die Frau stehen und beschleunigte seine Schritte.
Sie rief ihm ein paar Worte hinterher, die ihm die Schamröte ins Gesicht trieben.
London erschien ihm immer mehr wie ein teuflischer Sündenpfuhl, dessen Bewohner einander das Leben zur Hölle machten. Und wer sollten diese Snake Boys sein? Waren sie nur der Fantasie einer elenden Säuferin entsprungen?
Während dem Inder diese Überlegungen durch den Kopf gingen, stolperte er weiter durch die engen Gassen. Einmal wäre er beinahe unter die Hufe von Gespannpferden geraten, weil der Kutsche sie trotz der schlechten Sicht durch die grauen Straßen peitschte. Wenig später geriet Singh ins Straucheln, denn den im Rinnstein liegenden Bettler mit den offenen Geschwüren hätte er beinahe übersehen.
Und plötzlich kam es dem Gewürzhändler so vor, als ob er nicht mehr allein wäre. Er blieb stehen, lauschte. Die Elendsgestalt auf dem Boden hatte er bereits hinter sich gelassen, und der Fuhrmann war gewiss schon über alle Berge.
Singh hatte nun Gesellschaft von Schatten, die nicht bemerkt werden wollten. Sie lauerten im Schutz des Nebels, kreisten ihn ein und würden zuschlagen, wenn es ihnen passte.
Obwohl Singh schon auf dem Schiff eine Todesahnung gehabt hatte, siegte zunächst sein Lebenswille. Er wollte es seinen vorerst unsichtbaren Feinden nicht zu einfach machen. Wenn die Götter ihn zu sich holen wollten, musste er dies hinnehmen. Aber bevor es so weit war, durfte er sich nicht beirren lassen. Immerhin stand er unter einem sehr mächtigen Schutz – so kraftvoll, dass Singh selbst große Angst vor dem Schrecken in dem Tongefäß hatte.
Hinter Singh wurde gepfiffen. Es war ein schriller Misston – hart und scharf wie ein Messerschnitt.
Der Inder drehte sich um, aber natürlich war niemand zu sehen. Doch gerade die Unsichtbarkeit seiner Widersacher verstärkte sein Grauen noch. Wie viele es wohl sein mochten? Drei, vier – oder noch mehr?
Singh gehörte zur Varna-Kaste, aus der traditionell Händler hervorgingen. Er war kein Krieger, obwohl er eine schreckliche Vernichtungsmacht mit sich führte.
Nun näherten sich schnelle Schritte – leise und kaum wahrnehmbar. Vermutlich liefen die Gestalten barfuß, denn Schuhe oder genagelte Stiefel wären auf dem Kopfsteinpflaster weitaus lauter gewesen.
Singh kam sich wie ein Elefant vor, weil seine eigenen Schritte nur allzu deutlich zu hören waren. Es war, als würden sie das Eintreffen eines reichen Kaufmanns mit teuren Büffellederstiefeln allen Strauchdieben ankündigen.
Singh hatte in Indien gelesen, dass es in London eine sehr gute Polizei gäbe. Doch momentan konnte er niemanden erblicken, der auch nur entfernt wie ein Ordnungshüter aussah.
Der Gewürzhändler bog um eine Ecke, als er am Ärmel gepackt wurde ...
»Wohin so eilig, Turbanträger?«
Der Kerl war kleiner als Singh, hatte Zahnlücken und einen betäubenden Mundgeruch. Er schien keine Antwort zu erwarten.
Als Nächstes stach er mit einem langen rostigen Nagel zu.
Singh sah den Metallstift, ausweichen konnte er jedoch nicht mehr. Auf dem Handrücken des Milchgesichts erblickte er das tätowierte Motiv einer Schlange.
Die Hure hatte recht!
Dieser Gedanke schoss dem Inder durch den Kopf, während der Nagel seinen linken Mantelärmel, die Jacke, das Hemd und die Haut am Oberarm durchdrang. Der Schmerz traf ihn wie ein Peitschenhieb.
Singh schmeckte Blut, weil er sich vor Schreck auf die Zunge gebissen hatte. Sein Herz fühlte sich wie ein Eisklumpen an. Der verletzte Arm konnte die Reisetasche nicht mehr halten, sie fiel zu Boden.
Weitere Verfolger schienen hinter ihm aus dem Nichts zu kommen. Der Inder hörte, wie sie sich um sein Gepäck stritten.
Die Panik trieb ihn vorwärts. Einige Augenblicke lang schaffte er es sogar, den Nagelbengel abzuhängen. Nun umklammerte der Gewürzhändler mit beiden Händen das Tongefäß mit dem unaussprechlichen Inhalt.
»Wo willst du hin, Inder?«
Das Milchgesicht hatte ihn eingeholt und stieß erneut mit dem Metallstift zu.
Diesmal traf er Singh in den rechten Oberschenkel. Er taumelte, wäre beinahe gestürzt. Doch stattdessen fiel er gegen eine Mauer. Noch ging er nicht zu Boden.
Sie waren nun zu dritt oder viert. So genau konnte Singh es nicht erkennen, denn dieser verfluchte Nebel verbarg die blutige Farce, in der er die Hauptrolle spielte.
Der Kaufmann hatte den Tod vor Augen. Singh starrte in Pickelgesichter mit leeren Blicken und von grausamem Grinsen verzerrte Münder. Ihm lief ein kalter Schauer über den Rücken. Er ahnte, dass seine letzten Minuten auf dieser Welt nicht leicht werden würden.
»Was hast du da? Ist das die Asche deiner Ahnen?«
Der Nagelbengel zeigte mit seinem blutigen Werkzeug auf das Tongefäß. Die anderen lachten über seinen dämlichen Spruch.
Singh presste den Behälter fester an sich. Leider hatte er im linken Arm keine Kraft mehr.
Der Angreifer hatte die unfehlbaren Instinkte eines Raubtiers. Er spürte, wie wichtig dem Inder der Behälter mit den rätselhaften Symbolen war.
»Gib her!«, forderte der Straßenräuber.
Er wollte Singh seinen Besitz entreißen. Doch der Inder ließ nicht los.
Sein Widersacher trieb ihm mit einem einzigen starken Stoß den Nagel ins Herz. Singh wurde förmlich gepfählt.
Durch blutige Schleier sah er das Gefäß zu Boden fallen und zerschellen. Noch im Sterben beglückwünschte der Gewürzhändler sich selbst dazu, dass er die Grausamkeit der entfesselten Macht nicht mehr erleben musste.
Die Snake Gang wurde an dem Abend komplett ausgelöscht. Keiner dieser Halunken hatte einen schnellen Tod ...
Gegenwart
Ich hatte Asmodis, dem Fürsten der Hölle, persönlich gegenübergestanden!
Das war in Cornwell gewesen, in der Ortschaft Egloskerry. Auch meiner Ahnin Geraldine Sinclair war ich dort begegnet – und Nadine Berger, der toten Schauspielerin, mit der mich einst eine leidenschaftliche Beziehung verband. Sie existierte nun auf der mysteriösen Insel Avalon – und ebenso Laura Patterson, die ein so tragisches Ende fand, nachdem Asmodis in Egloskerry eine Hexenjagd auf sie inszeniert hatte!
Es hatte zwar so etwas wie ein Happy End gegeben – doch meine Erlebnisse in Egloskerry waren mal wieder sehr dramatisch, emotional und aufreibend gewesen, und seit meiner Rückkehr nach London hatte ich gerade mal einen Happen im Schnellimbiss gegessen, geduscht, sechs Stunden geschlafen und mich rasiert.
Dementsprechend erledigt fühlte ich mich immer noch, als ich am Morgen mein Büro bei Scotland Yard betrat.
Suko, mein Freund und Kollege, war mit mir in Egloskerry gewesen. Er hatte dort um sein Leben gekämpft und anschließend bestimmt nicht mehr Schlaf abbekommen als ich. Trotzdem war er schon im Büro und kam putzmunter auf mich zu.
»Bevor du dich auf deinem Schreibtischstuhl niederlässt, kannst du gleich wieder ins Auto steigen, John«, verkündete er. »Wir sollen bei einem Leichenfund im East End unseren Senf dazugeben.«
»Ein Fall mit magischem Hintergrund?«, hakte ich nach.
»Frag mich was Leichteres. Ich weiß nur, dass wir angefordert wurden. Na ja, eine Adresse habe ich immerhin auch bekommen. Elswick Street.«
»Das ist im tiefsten East End. Dann müssen wir gut auf unseren Wagen aufpassen – andernfalls können wir nach dem Einsatz mit der Subway heimfahren.«
»Holzauge, sei wachsam«, meinte Suko grinsend.
Als wir in unserem Dienstwagen saßen, fragte ich: »Hat uns Freund Tanner angefordert? Um einen normalen Mord kann es sich ja nicht drehen, der fällt doch gar nicht in unsere Zuständigkeit.«
»Der Chiefinspektor liegt immer noch daheim und kuriert seine Grippe aus, John. Der leitende Beamte vor Ort ist ein gewisser Inspektor Ed Graves.«
»Der Graves?«
»Ganz genau. Kennst du noch einen anderen?«
Ich seufzte tief. Graves war ein Typ, mit dem wir uns ganz und gar nicht verstanden. Und er wiederum schien sich mit der ganzen Welt nicht zu verstehen ...
Einige Teile des East Ends sind seit einigen Jahren schick und ansehnlich geworden. Teure Läden und angesagte Nachtclubs haben dort Einzug gehalten. Doch größtenteils ist die Gegend immer noch so trist und hoffnungslos, wie sie es zu den Zeiten gewesen sein mag, als sich Jack the Ripper dort seine Opfer suchte.
Als wir in die Elswick Street einbogen, ließ ich meinen Blick über braune Ziegelwände schweifen, die mit Graffiti übersät waren. Eingeschlagene und mit Sperrholz notdürftig verrammelte Fenster vervollständigten den Eindruck von Zerfall und Niedergang.
Einige Streifenwagen sowie eine Ambulanz standen quer auf dem Gehweg. Der Tatort war mit Trassierband abgesperrt. Es gab nur wenige Gaffer. Wer sich in diesen Straßenzügen herumtreibt, hat kein Interesse daran, die Aufmerksamkeit der Polizei auf sich zu ziehen.
Ein junger uniformierter Kollege hob für uns das Absperrband. Und dann wurden wir auch schon von Graves entdeckt.
»Ah, die Geisterjäger sind zur Stelle!«, spottete der Inspektor. »Ich kann ja verstehen, dass Sir James Powell sich wichtigmachen will – aber er hätte seine Bluthunde wirklich nicht von der Leine lassen müssen.«
»Quatschen Sie keine Opern, Graves! Zeigen Sie uns lieber das Opfer!«, gab ich zurück. »Es hat doch ein Opfer gegeben, oder? Das ist bei Mordfällen normalerweise der Fall.«
Ich hatte nicht vor, mich von diesem Miesling unterbuttern zu lassen. Suko ging es gewiss genauso. Falls die Sache wirklich nichts für uns war, würden wir dies noch früh genug herausfinden.
Graves zuckte mit den Schultern. »Meinetwegen, wo Sie schon mal hier sind ... Folgen Sie mir unauffällig.«
Graves stapfte durch eine Toreinfahrt in einen Hof, wo es penetrant nach Müll stank. Die Abfalleimer hier quollen über. Die angrenzenden Häuser machten keinen allzu bewohnten Eindruck. Und falls doch jemand dort hauste, hatte er gewiss keinen Mietvertrag.
Einige Spezialisten von der Spurensicherung waren in ihren weißen Schutzanzügen dabei, Beweisstücke zu sichern.
Graves hob eine auf dem Boden liegende Kunststoffplane hoch. Darunter befand sich eine breiige Masse sowie einige Knochenreste, die von einem Menschen stammen mochten.
»Ihre Anwesenheit ist komplett überflüssig«, grummelte Graves. »Das hier ist mein Fall, und ich werde ihn aufklären. Dafür benötige ich Ihren Hokuspokus nicht.«
Ich war anderer Meinung, denn mein Kreuz erwärmte sich in der Nähe dieser Überreste. Hier war zweifellos dunkelste Magie im Spiel gewesen.
Aber ich verkniff es mir, Graves darüber aufklären zu wollen. Er hatte ein Brett vor dem Kopf. Eine Diskussion mit ihm betrachtete ich als Zeitverschwendung.
Stattdessen sagte ich: »Wissen Sie schon, wie die Person ums Leben gekommen ist?«
»Und um wen es sich handelt?«, ergänzte Suko.
Graves nickte mürrisch. »Der Kerl hieß Ricky Lensing. Er war einer der gefährlichsten Drogendealer im East End.«
»Besonders viel ist von ihm ja nicht übrig geblieben«, stellte mein Kollege trocken fest. »Woher wissen Sie, dass wir Lensings Überreste vor uns haben?«
»Es gibt eine Zeugin, die bei seinem Tod anwesend war. Allerdings ist das Luder ziemlich durchgeknallt, der dürfen Sie kein Wort glauben.«
»Trotzdem will ich mit ihr reden«, erklärte ich.
Graves zuckte mit den Schultern. »Meinetwegen. Es ist Ihre Zeit, die Sie verplempern, Sinclair. Die Kleine ist dort hinten beim Rettungswagen, sie wird gerade durchgecheckt.«
Mit diesen Worten wandte er sich von uns ab. Das Gespräch war für ihn beendet.
Auch ich hatte kein Interesse daran, länger als nötig diesem Griesgram Informationen aus der Nase zu ziehen.
Während wir zu der Ambulance gingen, warf Suko über die Schulter hinweg einen Blick auf Graves.
»Diesen Gesichtsausdruck von dir kenne ich, John«, sagte er leise. »Ich wette, dass dein Kreuz auf die Leichenreste reagiert hat. Auch wenn dieser Schlaumeier nichts von einem übersinnlichen Verbrechen wissen will.«
»Ja, richtig. Wer – oder was – immer diesen Lensing getötet hat, ist nicht von dieser Welt. Wir müssen der Sache auf den Grund gehen, bevor es noch mehr Todesopfer gibt.«
So wie es aussah, hatte eine uns bisher unbekannte schwarze Magie mitten in London ein Opfer gefordert.
Eine junge Frau von Anfang zwanzig hockte auf dem Einstiegstreppchen des Rettungswagens, in eine Wolldecke gehüllt. Von ihrer Kleidung konnte man nicht viel sehen. Sie trug Kampfstiefel und eine zerrissene Netzstrumpfhose, ihr blau gefärbtes Haar stand wirr vom Kopf ab.
Ich wunderte mich nicht darüber, dass ein konservativer Knochen wie Graves sie nicht für eine zuverlässige Zeugin hielt. Ich wollte mir lieber selbst ein Urteil bilden.
Ihre Miene sprach Bände. Blauhaar war kreidebleich im Gesicht, die Augen hatte sie weit aufgerissen, die Wangen waren feucht von Tränen. Die Unterlippe zitterte unablässig.
Ich wandte mich zunächst an den Sanitäter, der sie gerade behandelt hatte.
»Wie geht es ihr?«, fragte ich, indem ich meinen Dienstausweis zeigte.
»Sie hat einen Schock erlitten, ihr Kreislauf spielt verrückt«, lautete die Antwort. »Außerdem habe ich eine Blutprobe entnommen. Der Drogen-Wischtest an den Händen war negativ.«
»Ja, weil ich mir nichts eingepfiffen hab!«, rief sie. »Warum glaubt mir hier denn niemand?«
»Wie heißen Sie, Miss?«, wollte ich wissen, nachdem ich Sukos und meinen Namen genannt hatte.
»Ich heiße Heather Leeds. Sie sind auch Bullen? Ihr Kollege hält mich für eine Spinnerin im Vollrausch.« Sie zeigte auf Graves.
»Wir möchten gern hören, was Sie zu sagen haben«, beteuerte ich.
Sie seufzte und begann stockend mit ihrem Bericht. »Also gut, ich lebe nicht gerade wie eine Nonne. Und ich wollte Ricky – also Lensing – treffen ...«
»Wozu?«, fragte Suko.
»Einfach so. Wir kannten einander schon länger und hingen öfter zusammen ab.«
Ich vermutete eher, dass Heather Stoff bei Lensing hatte kaufen wollen. Es handelte sich schließlich um einen bekannten Dealer. Allerdings würde sie wohl nicht so dumm sein, dies gegenüber der Polizei zuzugeben. Doch für meinen Freund und mich war viel wichtiger, ob sie eine Augenzeugin des Mordes geworden war.