Jörn Uhl - Gustav Frenssen - E-Book

Jörn Uhl E-Book

Gustav Frenssen

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Beschreibung

Dieses eBook: "Jörn Uhl" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Aus dem Buch: "Wir wollen in diesem Buche von Mühe und Arbeit reden. Nicht von der Mühe, die der Bierbrauer Jan Tortsen sich machte, der versprochen hatte, seinen Gästen einen besonders guten Eiderfisch vorzusetzen, und sein Wort nicht halten konnte und darüber tiefsinnig wurde und nach Schleswig mußte. Wir wollen auch nicht von der Mühe reden, welche jener reiche Bauernjunge sich machte, dem es trotz seiner Dummheit gelang, seines Vaters Geld in vier Wochen durchzubringen, indem er tagelang die Thalerstücke über den Fischteich schunkte. Sondern wir wollen von der Mühe reden, auf welche Mutter Weißhaar zielte, wenn sie auf ihre acht Kinder zu sprechen kam, von denen drei auf dem Kirchhof lagen, einer in der tiefen Nordsee, und die übrigen vier in Amerika wohnten, von welchen zwei seit Jahren nicht an sie geschrieben hatten. Und von jener Arbeit, über welche Geert Doose klagte, als er am dritten Tage nach der Schlacht bei Gravelotte noch nicht sterben konnte, obgleich er die furchtbare Wunde im Rücken hatte." Gustav Frenssen (1863-1945) war ein deutscher Schriftsteller. 1896 veröffentlichte er sein erstes größeres Werk, Die Sandgräfin, und 1901 den Entwicklungsroman Jörn Uhl, der beim Publikum und bei der Kritik großen Erfolg hatte, auch bei "Frenssen-Fan" Rainer Maria Rilke. Dieser Erfolg erlaubte es Frenssen, seine Pastorenstelle 1902 aufzugeben und als freier Schriftsteller zu leben.

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Seitenzahl: 714

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Gustav Frenssen

Jörn Uhl

e-artnow, 2017 Kontakt [email protected]
ISBN 978-80-268-7440-9
Inhaltsverzeichnis
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Vierundzwanzigstes Kapitel
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Siebenundzwanzigstes Kapitel
Achtundzwanzigstes Kapitel

Erstes Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Wir wollen in diesem Buche von Mühe und Arbeit reden. Nicht von der Mühe, die der Bierbrauer Jan Tortsen sich machte, der versprochen hatte, seinen Gästen einen besonders guten Eiderfisch vorzusetzen, und sein Wort nicht halten konnte und darüber tiefsinnig wurde und nach Schleswig mußte. Wir wollen auch nicht von der Mühe reden, welche jener reiche Bauernjunge sich machte, dem es trotz seiner Dummheit gelang, seines Vaters Geld in vier Wochen durchzubringen, indem er tagelang die Thalerstücke über den Fischteich schunkte.

Sondern wir wollen von der Mühe reden, auf welche Mutter Weißhaar zielte, wenn sie auf ihre acht Kinder zu sprechen kam, von denen drei auf dem Kirchhof lagen, einer in der tiefen Nordsee, und die übrigen vier in Amerika wohnten, von welchen zwei seit Jahren nicht an sie geschrieben hatten. Und von jener Arbeit, über welche Geert Doose klagte, als er am dritten Tage nach der Schlacht bei Gravelotte noch nicht sterben konnte, obgleich er die furchtbare Wunde im Rücken hatte.

Aber obgleich wir die Absicht haben, in diesem Buche von so traurigen und öden Dingen – wie viele sagen – zu erzählen, gehen wir doch fröhlich, wenn auch mit zusammengebissener Lippe und ernstem Gesicht, an die Schreibung dieses Buches; denn wir hoffen, an allen Ecken und Enden zu zeigen, daß die Mühe, die unsere Leute sich machen, der Mühe wert gewesen ist.

***

Wieten Penn, das Großmädchen auf der Uhl, hatte gesagt, daß in diesem Winter noch eine große Gesellschaft zusammenkommen würde. »Aber das Merkwürdige ist,« sagte sie, »daß die Leute ankommen werden wie zu einem großen Fest und fortgehen werden wie von einem großen Begräbnis.« So sagte Wieten Penn. Sie hatte ein tiefdenkerisches Wesen und wurde darum Wieten Klook genannt.

Klaus Uhl, der große Marschbauer, stand mit glänzendem, wohlwollendem Gesichte, in weißen Hemdsärmeln, vor der Hausthüre und sah in die Marsch hinein und wartete auf die Gäste und lächelte behaglich, indem er an die kommenden Freuden dachte, an das flotte Kartenspiel, an den guten Trunk und an manch starkes Scherzwort.

Die kleine, blasse Frau hatte sich in den Stuhl gesetzt, der am weißen Kachelofen stand, und übersah die festlich geschmückten stattlichen Stuben. Sie erwartete die Geburt ihres fünften Kindes und war müde vom vielen Gehen.

Die drei ältesten Knaben, große Jungen, nicht weit von der Konfirmation, standen mit langen, ungelenken Gliedern an einem der Spieltische, schmale, hellhaarige, herrische Köpfe. Sie hatten ein Kartenspiel, das da lag, in die Hände genommen und stritten sich mit lauten, oft groben Worten über die Art des Spieles und rissen Hans, dem Jüngsten, das Kartenspiel aus den Händen und nannten ihn einen dummen Jungen.

Die Thür ging auf, und der kleine dreijährige Jürgen lief auf die Mutter zu: »Mutter, sie kommen. Ich kann die Wagen sehen.«

»Mutter,« sagte Hans, der sich an irgend jemand für die erlittene Unbill rächen wollte, »der Jörn sieht ganz anders aus als wir. Er sieht gerade so aus wie du, mit so langem Gesicht und mit eingesunkenen Augen.«

Sie strich dem Kleinen über das starre, helle Haar und sagte: »Mir ist er hübsch genug.«

Der Kleine legte die Hände auf ihren Schoß und sagte: »Du, Mutter, Hinnerk sagt, ich bekomme nun bald einen ganz kleinen Bruder oder eine Schwester. Ich will eine Schwester haben. Wann kommt sie? Wenn sie kommt, mußt du es gleich sagen.«

Die beiden Großen spielten weiter, stießen sich an und lachten.

»Du, Mutter,« sagte Hans, »der Knecht sagt: heute Nacht sind die Pferde furchtbar unruhig gewesen. Er hat es nicht mehr anhören können und ist aufgestanden. Als er dann in den Stall gekommen ist, haben sie alle mit gehobenen Köpfen gestanden, und am Ende des Stalles hat es geklirrt, als wenn jemand eine Kette nachschleppt. Nun hat die dumme Wieten Klook natürlich gesagt: ›Das bedeutet was.‹ Was soll das wohl bedeuten?«

»Es bedeutet sicher was!« sagte Hinnerk und lachte. »Du sollst sehen, daß es was bedeutet. Es kommt gewiß ein Pferd mehr in den Stall, und dann wird der Hafer dünner. Siehst du? das bedeutet es.«

Sie warfen einen raschen Blick auf ihre Mutter und gingen hinaus, stießen sich an und versuchten ihr Lachen zurückzuhalten.

Nun war sie allein mit dem kleinen Jürgen, der sich still neben sie gesetzt hatte.

»Es ist nicht gut,« sagte sie leise, »so spät noch. Wenn die andern schon so groß sind und so klug. Sie sind hart wie der Vater und reden auch so hart. Sie gönnen dem kleinen Wesen das Leben nicht, ehe es da ist.«

Sie sah über die Tische hin und auf die Berge von Tellern und blanken Gläsern, und durch die Zimmer mit dem prächtigen, halb bäuerischem, halb städtischem Staat. Und da sie das Gefühl hatte, wieder einmal, daß sie zu diesem Gepränge und zu diesem großen, lauten Hause nicht passe, flog ihre Seele auf und davon und flog über kurzen, dürren Heidewald und kam auf den alten Hof im Moor. Ja, da gehörte sie hin.

Vier Menschen waren sie unter dem langen Strohdache gewesen, das zwischen Moor und Wald stand: Vater, Mutter, der Bruder Thieß und sie. Und Vater und Mutter waren so merkwürdige drollige Menschen gewesen; sie hatten Schelmerei miteinander getrieben bis an ihr Ende. Wenn der Vater vom Freitagsmarkt mit den mageren Pferden aus der Stadt heimkam, dann hatte er schon von ferne mit der Peitsche gedroht und war im Wagen aufgestanden und hatte gerufen: »Heute sollst du aber vernünftig sein!« Oder er schrie: »Drinnen! Nicht draußen!« Aber die Mutter war nicht vernünftig gewesen, obgleich sie damals doch schon vierzig Jahre alt war. Sobald er die Füße auf den Erdboden gesetzt hatte, draußen, so daß ein Mann, der im Heeser Moor arbeitete, es sehen konnte, sprang sie an ihm in die Höhe und herzte und küßte ihn. Dann hatte der kleine, hagere Mann mit dem kleinen, feinen Webergesicht gelacht. Sie hatten nie ein böses Wort zu einander gesagt; immer waren sie traut und froh miteinander gewesen wie ein Schwalbenpaar im Frühling. Sie waren beide tot. Und Bruder Thieß saß hinterm Heesewald allein, ein Junggeselle, und hatte das kleine Gesicht des Vaters und sein freundliches, drolliges Wesen. Sie aber war als ganz junges Ding in die fette Marsch hinuntergestiegen und war die Frau von Klaus Uhl geworden.

Und nun hatten im Stall die Ketten geklirrt.

»Die drei Großen werden sich selbst helfen. Sie haben sich schon von mir gelöst, wie die Füllen sich von der Mutter lösen und sie nicht mehr kennen.« Aber der kleine Jürgen und das, dessen Kommen sie erwartete . . . »Wieten muß bei den Kleinen bleiben.«

Die Wagen kamen: drei, vier hintereinander. Die starken Dänen hoben und senkten die Köpfe, und jedesmal, wenn sie sie hoben, stieg der Dampf auf, und jedesmal, wenn sie sie niederwarfen, glitzerte das Silbergeschirr in der klaren Luft. Das war die Sippschaft der Uhlen, die jährlich um diese Zeit zum Stammhof heraufzogen, um die Zusammenkunft der Uhlen, das Uhlfest, zu feiern.

Sie kamen schon nahe, und Klaus Uhl wollte gerade mit lachendem Gesicht von der Hausthür herab auf den niedrig gelegenen Hof hinuntergehen, da kam ein altmodischer, klappriger Wagen vom Dorfe her auf die Hofstelle.

»Ach je,« sagte Uhl, »da kommst du, Schwager?«

Thieß Thiessen hielt an und lachte: »Mein Spannwerk paßt schlecht zu den andern, die da kommen!« sagte er, »ich selbst passe auch nicht zu ihnen; ich fahre aber bald wieder davon. Ich habe im Dorfe ein paar Kälber gekauft und will nur bloß 'mal nach meiner Schwester und nach dem kleinen Jörn sehen.«

Der kleine Mann sprang mit einem mächtigen Satze von dem hohen Wagen herunter, führte das Gespann bedächtig in die Scheune und kam zu seiner Schwester. Sie saß mit dem kleinen Jürgen in der Hinterstube und freute sich. »Komm,« sagte sie, »setze dich ein wenig! Hier sind wir ganz sicher. Ach ja! Sicher vor den großen Uhlen!« Sie lachte. »Komm, setze dich hier an den Tisch. Was machen die Kühe? Hast du den großen Schwarzen vorgespannt? Nun sage doch was! Als wenn du die ganze Heese mitgebracht hast!« sagte sie.

Er stand ihr Rede und Antwort. Es war eine heimliche, gemütliche Unterhaltung, während von den Vorderzimmern her Geschirrklirren, Laufen und Reden klang.

»Nun will ich 'mal sehen,« sagte er, »was sie in der Küche machen und im Stall. Wieten soll mir ein wenig Essen auf den Küchentisch stellen, und der Knecht soll mir die Kälber und Fohlen zeigen. Den Jörn nehme ich mit. Du bleibst hier.«

Er nahm den Kleinen an der Hand und ging hinaus. Am Eingange der Küche lief ihm ein kleiner, breiter Junge gegen die Knie.

»Ein Krey ist es,« sagte Thieß, »man sieht es am rötlichen Dickkopf.«

»Das ist Fiete Krey,« sagte Jürgen, »der spielt immer mit mir.«

»Dann soll er auch mit uns essen,« sagte Thieß, und er setzte sich auf den Küchentisch. Sie gaben ihm einen Teller voll Fleisch, den nahm Thieß Thiessen zwischen die Kniee. Die beiden Kinder saßen bei ihm.

»Ist dies dein Junge, Trina Krey?« sagte er.

Die Arbeitsfrau wandte ihr heißes Gesicht vom Herd zu ihm hin: »Ja,« sagte sie, »er ist der fünfte. Sechs habe ich.«

»Genug an der Raufe, Trina, für einen Arbeitsmann, der im Winter Heidebesen und Bürsten macht.«

»Na,« sagte die Frau, »ich bekomme hier allerlei vom Hofe.«

»Gehst nicht leer übern Weg, Trina?«

»Nein.«

»Wer sorgt dafür, Trina?«

»Deine Schwester, Thieß Thiessen.«

»Wollt' ich hören, Deern! Wollt' ich hören!«

»Hast du eben gesehen, Jörn?« schrie Fiete Krey laut, »wie meine Mutter in den Fetttopf gelangt hat? So'n Stück, als mein Kopf!«

»Trina! der Junge trachtet nach hohen Dingen. Er ist ein echter Krey und wird seine Tage nicht unter dem Strohdach verbringen, darunter er jetzt wohnt.«

»Er wird in Dienst müssen,« sagte die Mutter, »und wird ein Knecht werden wie sein Vater und im Winter Bürstenbinder.«

»Wer weiß?« sagte Wieten.

»Oha, nun kommt Wieten!« sagte Thieß Thiessen. »Vergreife dich nicht, Wieten! Prophezeie ihm Gutes, Deern! Er hat helle Augen in seinem Rundkopf und starke Phantasie.«

Wieten Penn war sonst zurückhaltend und schweigsam; aber mit dem Heesebauer, der für alles eine ernste und große Neugier hatte, sprach sie gern ein Wort. »Es kann einem Menschen merkwürdig ergehen,« sagte sie gedankenvoll. »Da ging 'mal einer von den Wentorfer Kreihen aus seines Vaters Haus, war eines Arbeiters Kind, und kam zu den Unterirdischen, die unter den Heesetannen wohnen. Die luden ihn voll Gold und führten ihn wieder hinaus, und er kam wieder in Wentorf an. Er meinte, es wäre gestern gewesen, daß er davon ging. Sie sagten ihm aber, er wäre vierzig Jahre fort gewesen. Und er mußte es wohl glauben; denn als er in den Spiegel sah, war sein Haar grau geworden. Auch ist er bald danach gestorben. Theodor Storm, der alles besser wissen wollte als ich, sagte damals zu mir: ›Diese Erzählung wolle sagen, daß einer in die Fremde und in die Sorgen und in das Gelderwerben hineingegangen und erst wieder zur Ruhe und zur Besinnung gekommen wäre, als das Leben dahin war.‹ Aber das glaube ich nicht. Es ist einfach eine Geschichte, die geschehen ist.«

»Jörn!« schrie Fiete Krey. »Wieder so'n Stück Fett! Jörn, der König . . . der König ißt den ganzen Tag schier Talg.«

»Jung,« sagte Thieß Thiessen, »nun sei still! Sag' du was, Jörn.«

»Ich kann bloß:

Adebar ester, Bring mien sütt Swester, Adebar oder Bring mien lütt Broder.«

»Das wollen wir zusammen singen,« sagte Thieß, und sie sangen und schlugen mit den Hacken gegen den Küchentisch. Darüber bemerkten sie nicht, daß Wieten aufhorchte und herausging und daß das Kleinmädchen fortgeschickt wurde. Erst als Wieten Penn zu Trina Krey trat, die fleißig am Herd gearbeitet hatte, und diese nach Frauenweise die geballten Hände vor die Brust zusammenschlug, schrak Thieß Thiessen auf.

»Was habt ihr?« sagte er. »Wieten, was ist los?«

»Der Adebar steht schon auf dem Schornstein.«

»Waas?« rief Thieß . . . Mit aufgerissenen Augen starrte er Wieten Penn an. »Der Adebar ist da?« Mit einem Satze war er vom Küchentisch herunter, riß die Thür auf, die auf den Hof führte, und lief in den Stall.

Nach zwei Minuten kam er wieder, in seinem alten dünnen, graubraunen Wagenrock und die Fuchsmütze mit den großen Ohrenklappen tief in die Stirn gezogen. »Steht ihr beiden meiner Schwester gut bei!« sagte er hastig. »Hört ihr? Steht ihr gut bei! Es soll mir auf einen Thaler wahrhaftig nicht ankommen, obgleich der Torf und die Kälber billig sind.«

»Willst du nicht warten, Thieß, wie es abläuft?«

»Nein, nein . . . grüße sie! Ich habe schon angespannt, ich . . . ich kann das nicht ansehen. Alles Glück! Alles Glück!«

Er schüttelte den Kopf über sich oder über seine Schwester oder über die ganze Welt und ging eilig davon. Sie hörten ihn mit seinen großen, schwerfälligen Stiefeln über die dunkle Diele trampen und stolpern.

***

Sie hatten gegessen und getrunken und saßen an den Spieltischen. Lauter große und schmucke, einige stolze und schöne Gesichter. Die drei großen Jungen standen hinter den Spielenden, sahen in die Karten, wurden zuweilen wohlwollend um Rat gefragt, nickten verständig, stimmten in das Lachen ein und schenkten den Punsch ein.

Sie fingen an, laut zu werden, während des Spieles Geschichten zu erzählen und leichtsinnig zu spielen. Stattliche Haufen Silbergeld wurden lachend und scheltend hin und her über den Tisch geschoben.

Einige wenige blieben ruhig und nüchtern. Das waren die rechten Spieler, die ein Stück Geld mit nach Hause nehmen wollten. Sie saßen getrennt voneinander an verschiedenen Tischen; denn sie konnten einer vom andern nichts gewinnen. Zwei von ihnen waren von Natur kluge, ruhige Spieler; sie sitzen auch heute noch auf ihren schönen, lindenbeschatteten Höfen in der Marner Marsch. Zwei aber waren schlau und schlecht; sie sahen den Leichtsinnigen in die Karten und betrogen sie. Der eine ist später samt seinem Hof und seinen Kindern Hamburger Agenten verfallen, die noch schlauer und schlechter waren als er; der andere spielt jetzt, ein Achtziger und halbblind, mit dem Knechte seines Sohnes im Kuhstall Sechsundsechzig um halbe Groschen und wird weidlich betrogen.

Die Leichtsinnigen wußten, daß sie mit Betrügern spielten, aber sie waren zu großartig, gutmütig und leichtsinnig. Es sagte wohl einer, da er hart verloren hatte: »Höre du, du machst lange Augen.« Aber dann lachten sie wieder und spielten weiter.

Reden war nicht ihre Sache. Sie überließen das Reden dem Pastor und dem Lehrer. Nur Klaus Uhl, der in seiner Jugend in die Lateinschule hineingesehen hatte, pflegte dann und wann ein Wort zu sagen. Er stand auf und sprach in der wohlwollenden Laune, die man an ihm kannte, einige Worte. Er fing damit an, seine Frau zu entschuldigen, daß sie sich nicht gezeigt hätte und nun zu Bette gegangen wäre. Sie sollten sich darum nicht kümmern, sondern zusehen, daß jeder ein Häufchen Thaler mit nach Hause nähme.

Man lachte: »Geht nicht an!«

»Besonders mir selbst, dem Gastgeber, ist ein guter Gewinn zu gönnen: Ihr verzehrt meinen Braten und trinkt meinen Wein und habt, heute wie immer, guten Schluck und guten Trunk. Ihr wißt, ich erwarte das fünfte Kind.«

Da warfen sie die stattlichen, schweren Oberkörper gegen die Stuhllehnen und schrieen durcheinander und lachten überlaut: »Du hast ja Land genug! Und Thaler im Schrank! Und der Weizen steigt . . . Laß die Jungs studieren. Ja, den Jörn . . . Laß den Jörn Landvogt werden.«

Klaus Uhl lachte und stieß mit seinen Gästen an. August, der Älteste, dem der Punsch den Kopf verwirrt hatte, lächelte dumm vor sich hin.

Da ging Hinnerk, der zweite, in trunkenem Sinne hinaus, und kam wieder hinein und hatte den kleinen Jürgen aus dem Bette genommen und hielt ihn hoch und sagte: »Das ist der Landvogt.« Er wollte den Gästen eine Freude machen und sich über den Spätgeborenen belustigen.

Aber sie standen alle mit Lärmen auf, lachten und riefen: »Ein klein feiner Kerl ist das.«

Das aus dem Schlafe gerissene Kind fuhr mit der Hand in dem kleinen Gesicht umher und sah verwundert um sich. Das kurzgeschorene steile Haar, hellblond, stieg rund um die Stirn in so starker Hebung auf, daß man bis zum Hinterkopf sehen konnte.

»Der soll einmal unser Landvogt werden!« schrieen sie. »Der Landvogt lebe!«

Hans, der dritte, kam mit verschlafenem, mopsigem Gesicht vom Flure her, trat von hinten an seinen Vater und sagte: »Ob du 'mal zu Mutter kommen willst.«

Uhl achtete nicht darauf, und der Junge ging gleichgültig träge wieder hinaus.

»Meine Gäste haben recht,« sagte Klaus Uhl und sah mit klugen, lachenden Augen über die Tische: »Ich kann ja freilich allen meinen Jungen Höfe kaufen, wenn sie soweit sind. Aber ich habe so viel in die Bildung hineingesehen und so viel vom Latein gerochen, daß ich wohl weiß: Wissen geht über alles. Darum danke ich für euren Glückwunsch. Was an mir liegt, so soll der kleine Jürgen der erste Bauernsohn im Lande sein, der ins Landschaftliche Haus einzieht. Wir als Bauern können wohl erwarten und verlangen, daß einer der Unsern über uns regiert; und wenn wir das verlangen können, so wüßte ich nicht, aus welchem anderen Geschlechte man den Landrat nehmen sollte, wenn nicht aus dem der Uhlen.«

Die Thür öffnete sich wieder. Hans stand wieder da. Er blieb an der Thür stehen und sagte laut in das Lärmen hinein: »Vater! Mutter sagt: du mußt zu ihr kommen.«

»Junge, laß mich in Ruh! . . . Nachher! . . . Er wird eine weiche Jugend haben, er wird immer Geld genug haben, er wird klug fein und schmuck, sonst wäre er nicht mein Sohn. Er wird das Leben leicht nehmen wie ich. Sorgen wird er nicht kennen. Kommt, wir stoßen auf den Landvogt an! Jörn Uhl soll leben!«

»Der Landvogt soll leben!«

»Vater! Die Frau, die bei Mutter ist, sagt, wir sollen einen Wagen bereit halten.«

Das drang durch.

»Pferde? . . . Nanu? . . .«

»Steht es nicht gut?«

»Dann legen wir die Karten hin. Es ist auch schon nach elf.«

»Kommt, ich gehe.«

»Ich auch.«

»Bleibt doch,« sagte Klaus Uhl, »es ist Frauenängstlichkeit.«

»Nein, doch nicht . . .«

»Nein . . . wir wollen gehen.«

Sie gingen hinaus. Einige sprachen noch vom Spiel und bedauerten, daß es so rasch abgebrochen war.

»Ich kehre noch ein wenig im Wirtshaus ein.«

»Ich auch. Wißt ihr was! Wir gehen zu Fuß nach dem Krug und lassen unsere Wagen nachkommen.«

»Es thut mir leid,« sagte Klaus Uhl, »daß ich nicht mit euch gehen kann.«

»Wenn du mitgehst, kommen wir sicher nicht vor morgen früh nach Hause.«

»Komm mit! Du hast ja Leute genug im Haus.«

Einer trat an ihn heran, gab ihm die Hand und sagte:

»Nein, geh nicht mit uns, bleibe lieber bei deiner Frau.«

Er ging zu seiner Frau hinein und fand sie leidlich wohl und hörte, daß man hoffte, den Arzt entbehren zu können, und kam wieder nach der Vordiele und horchte durch die noch offene Thür. Man hörte noch in der Ferne in der stillen Nacht lauten Zuruf und lachende Antwort. Noch einmal ging er langsam in die Tiefe der großen Diele zurück und kehrte wieder um. Dann nahm er die Mütze mit sich vom Haken. Es war, als wenn ein starker Mann ihn an die Schulter faßte und hinauszog. Er trat aus der Thür und ging den andern nach. Einen Überrock trug er beim Gehen nie; er hatte so viel Lebenskraft und Hitze in sich, daß er ihn nicht brauchte.

Gleich darauf gingen August und Hinrich mit einer vollen Punschbowle in die Leutestube. Sie spielten sich sonst als Herren auf und lebten mit den Leuten auf dem Hofe in beständigem Streit. Aber an einem Tage wie diesem waren sie von großmütiger Vertraulichkeit.

Der Großknecht, ein ergrauter Mann, hatte das letzte Gespann besorgt und kam herein. Er setzte sich schwerfällig hin und trank das Glas aus, das sie ihm hinstellten. Der Kleinknecht schnitt mit dem Messer in die Tischplatte und versuchte, dem kleinen Fiete Krey das Geldstück wegzunehmen, das er von den Gästen bekommen hatte. Er war, den Kopf auf den Tisch gelegt, eingeschlafen und hielt das Geldstück fest und sagte nur zuweilen im Schlaf: »Laß das, Jörn.« Und zog die Hand zurück.

Das zweite Mädchen kam herein, sonst ein lustiges junges Ding. Aber sie war nun verstört, und in ihren Augen stand große, helle Frauenangst. »Ist es wahr, Dietrich, daß die Pferde den Lärm gemacht haben, gestern nacht?«

Der Großknecht nickte. »Ich kann es nicht ändern, Jule,« sagte er. »Ich habe es gehört. Was es bedeutet, weiß ich nicht.«

»Mit Wieten ist es nicht auszuhalten,« sagte sie. »Sie ist blaß wie eine Leiche und behauptet, es giebt heute nacht noch ein Unglück. Ich will hier nicht mehr bleiben. Ich bleibe keine Stunde länger auf dem Hofe, wenn es schief geht.« Sie griff nach dem Tischrand und setzte sich schwerfällig hin, so schwach waren ihr die Kniee.

»Hallo,« sagte Hinrich, »nun laß dein Reden! Laßt uns essen und trinken und fröhlich sein; denn morgen sind wir tot.« Er schob ihr ein volles Glas hin, stieß es mit unsicheren Händen um und füllte ein neues. »Komm näher heran, Jule.«

»Ich danke,« sagte das Mädchen, »sonst kennt Ihr mich nicht. Ich will nichts mit Euch zu thun haben und Euern Punsch nicht trinken.«

August hob den schweren Kopf. »Ihr sollt nicht lachen, ich bin der Herr im Hause!«

»Du bist gar nichts,« sagte Jule Geerts. »Du bist nicht mehr als ein dummer Bengel.«

»Dummer Bengel? . . . Das sollst du büßen.«

»Was hat Wieten dir gesagt, Dietrich? Sie hat Lichter gesehen? Ist das wahr?« Sie sah mit bangen, weiten Augen auf den Knecht.

Der machte ein verdrießliches Gesicht. Er hatte ein Verhältnis mit Wieten und wohl Neigung, sie zu heiraten, aber es kränkte ihn, daß man von ihr sagte, sie könnte sehen, wenn kommendes Unglück vorwarne.

»Was hat sie gesehen?« fragte das Mädchen zum zweitenmal. Ihr graute schon jetzt. Sie wußte, daß ihre Angst noch größer werden würde; aber sie konnte es doch nicht lassen, es zu hören.

»Als sie vor acht Tagen abends um neun vom Dorfe her gekommen ist, hat sie in der Staatsstube Licht gesehen. Die Lichter haben aber nicht so gestanden wie sonst, wenn sie Karten spielen, sondern höher, so wie sie um einen Sarg gestellt werden, und haben rötlichen Schein gehabt. Sie hat nicht gewagt, hinein zu sehen, hat sich aber ihr Teil gedacht. Nun weißt du es.«

»Dummes Zeug, all dummes Zeug!« sagte Hinrich und wankte mit dem Kopfe.

Die Thüre wurde rasch aufgemacht, Jule Geerts fuhr auf und schrie laut. Sie ist immer eine ängstliche Natur geblieben, auch als sie schon Mutter war. Und als ihre Kinder groß waren und sich Beschwerden des Alters bei ihr einstellten, Schmerzen im Rücken, hat sie immer behauptet, den Grund zu diesen Schmerzen hätte jene Nacht gelegt und der Schreck, den sie bekommen hätte, als Trina Kreys Gesicht in der Thüröffnung der Leutestube erschien. »Wie ein Geist sah sie aus,« sagte sie.

»Dietrich, spann an! Rasch! Hole den Doktor.«

»Scher dich vom Hof!« schrie Hinrich. »Du und dein Junge, weg vom Hof!« Er stieß den Kleinen, daß er erwachte.

»Die ärmste Frau im Lande ist nicht so verlassen wie eure Mutter.«

Der Großknecht war schon hinaus. Jule Geerts ging zitternd hinter ihm her.

Ein eilig Laufen durchs ganze Haus. In der Küche wurde Feuer neu angefacht. In der großen Diele flog der Schein der Laterne wie ein großer roter Vogel hin und her, als suchte er in wilder Angst einen Ausweg. Bald flog er gegen die Holzwand der Ställe, bald gegen die Pferde, daß sie unruhig wurden, bald gegen die starken Balken; bald jagte er an den hohen Strohbergen hinauf. In den Ställen klirrten die Ketten der unruhigen Tiere. Das große Thor wurde aufgerissen, und der Wagen jagte in die Schneenacht hinaus.

Die Kranke legte den Kopf unruhig von einer Seite zur andern, horchte und fragte nach ihrem Mann.

»Fremde Leute müssen mir helfen, wenn ich in Not bin. Schlafen die Kinder? . . . Sie haben den kleinen Jürgen in die Stube getragen? . . . Landvogt soll er werden? . . . Rechtschaffen soll er werden und nüchtern. Einerlei, ob Landvogt oder Arbeitsmann.«

Sie hatte die ersten drei Knaben von ihrem Manne empfangen, willenlos, als seine Gaben: da waren es Knaben geworden von seiner Art. Dann waren zehn Jahre vergangen, in denen sie sich mehr von ihm abgewandt und sich auf eigene Füße gestellt hatte. Sie hatte allmählich aufgehört, mit den Augen ihres großen und lauten Mannes Leben und Welt zu betrachten. Unsicher, langsam, aber immer klarer war die Erkenntnis gekommen, daß ihre eigene Welt und Weltanschauung viel schöner, klarer und reiner wäre als die ihres Mannes. Die vier Menschen, die einst hinter der Heese auf dem stillen Moorhof gewohnt hatten: die waren glücklich, rein und klug gewesen; aber die hier auf der Uhl wohnten, die gingen alle in die Irre.

Sie konnte das nicht mehr hindern. Sie hatte den Mann neben sich zu stark werden lassen. Sie konnte nicht einmal ihre eigenen drei Kinder mehr ändern: Die waren ihr über den Kopf gewachsen. Aber sie kam doch noch zu ihrem Recht. Sie gebar noch einmal, einen kleinen feinen Jungen, und konnte leise und stolz und glücklich lachen, als ihr Mann, da er das Kind sah, sagen mußte: »Der ist anders als die ersten drei, der ist von deiner Art; er ist ein Thiessen.«

Und das, was heute nacht zur Welt kommen sollte, das wußte sie; das war auch ein Thiessen.

Und es ist schwer, als ein Thiessen durch die Welt zu kommen. Es ist ein wunderlich nachdenklich Volk.

»Die drei Großen brauchen die Ellenbogen; die finden ihren Weg durch die Welt; aber um die beiden Kleinen thut es mir leid, wenn ich sterben muß.« Sie versuchte die Hände zu falten und betete in heißer, bitterer Angst um ihr Leben, daß ihr der Schweiß in hellen Tropfen auf die Stirn trat.

»Wieten soll kommen,« sagte sie.

Das Mädchen trat dicht ans Bett.

»Wieten, ich werde wohl lange krank sein, und vielleicht werde ich nicht wieder gesund. Wenn du auf dem Hof bleiben wolltest . . . ich glaube, es ist auch besser für dich, wenn du nicht heiratest. Kümmere dich nicht um die Großen, die kannst du doch nicht regieren. Aber sorge mir für die Kleinen. Sage meinem Manne, daß ich dich darum gebeten habe, und daß er dir mit den beiden Kleinen deinen Willen läßt.«

Wieten Penn, die sie Wieten Klook nannten, hatte vieles kommen sehen, Glück und Notstunde, diese Frage aber nicht. Kein Mensch kann sagen – sie selbst auch nicht –, mit welcher raschen Kraft sie ihre Zukunft herumwarf. »Ich werde auf die Kinder passen,« sagte sie, »so wahr ich hier stehe. Darauf kann Sie sich verlassen, Frau Uhl.«

Sie trat zurück und ging in die Küche und stand stumm und unbeweglich am Herd.

Da kam Dietrich herein und sagte in seiner biedern, trocknen Weise: »Du brauchst doch nicht die ganze Nacht am Feuer zu stehen. Die Jungen sitzen alle in der Vorderstube; komm ein wenig nach unserer Kammer.«

Sie schüttelte den Kopf: »Es kann doch nichts aus uns beiden werden, Dietrich,« sagte sie; »laß mich lieber meine Wege allein gehn.«

Da ging er wieder auf den Fußspitzen aus der Küche, und schüttelte noch eine Weile den Kopf. Er tröstete sich aber bald und ist ein Junggeselle geblieben.

Dann fuhr es donnernd die Auffahrt hinauf, der Arzt ging über die Diele, untersuchte und richtete sich ein. Er kam noch einmal nach der Küche und fragte nach dem Mann.

»Im Wirtshaus!« sagte Trina Krey, »und spielt Karten. Wir haben schon zweimal nach ihm geschickt; aber er kommt nicht.«

Der Arzt warf einen großen Blick auf sie und nannte einige Tiernamen. So hatte noch niemand den großen, stolzen und immer fröhlichen Mann genannt. Dann schrieb er drei Worte auf und sandte das Kleinmädchen in den Krug: »Laufen Sie!«

Im unsicheren Licht der Diele, als sie ein Schultertuch vom Haken nahm, las Jule Geerts das Wort, »Operation«. Da stob sie davon, zitternd und weinend, und sah immer rückwärts, als liefen böse Geister hinter ihr her.

***

Gegen Morgen war alles vorüber.

Die Knechte arbeiteten bleich und still an den schweißbedeckten Pferden. Wieten Penn stand, die eine Hand über den Kopf gelegt, am Herd und sah in die Glut und sah nichts als lauter Feuer; denn ihre Augen waren voll von Thränen. Jule Geerts saß auf der Wasserbank und wich und wankte nicht und fürchtete sich vor Wieten und vor jeder dunklen Ecke im Hause und fürchtete sich am meisten vor der kleinen, toten, stillen Frau.

Der Arzt hatte zu Uhl gesagt: »Wäre ich eine Stunde früher geholt worden, so hätte ich vielleicht helfen können. Warum bin ich nicht früher geholt?«

Da hatte Klaus Uhl mit den Zähnen geknirscht und hatte wie ein Tier geschrieen. Nun lag er jammernd vor ihrem Bett und schrie: »Mutter! Mutter!«

Als Weib hatte sie wenig mehr für ihn bedeutet. Er nannte sie mit dem Namen: »Mutter!« Die Not der Kinder schrie aus ihm, in dem einen Wort.

Im Nebenzimmer stand Wieten und hatte das Neugeborene im Arm.

»Ein kleines, aber kräftiges Mädchen,« sagte Trina Krey. »Man kann schon sehen, es hat ganz das Gesicht der Mutter. Es hat sogar ihr dunkles Haar.«

»Es weint nicht,« sagte Wieten. »Es ist doch nicht tot?«

»Gieb 'mal her.« Und Trina Krey nahm die Kleine, drehte sie in der Hand um und gab ihr zwei, drei Schläge mit der flachen Hand.

Da schrie das Kind auf.

»Wollen wir es in mein Bett legen?« sagte Wieten. »Ich habe meine Kammer warm gemacht. Jörn liegt schon da.«

Sie gingen hinüber und fanden den kleinen Jörn ruhig im Bett. Er lag da wie ein Igel, zusammengedrückt, den Kopf auf der Brust. Man sah nur wenig von dem kleinen Gesicht, aber man sah den Kopf mit dem steilen, hellen Haar. Und neben ihm lag Fiete Krey, angezogen. Er hatte die Decke ein wenig beiseite geschoben und sich so recht gemütlich hineingewühlt.

»Der Schleef!« sagte Trina Krey, »ist er doch hier geblieben!«

»Laß ihn liegen,« sagte Wieten, »ich lege die kleine Deern ans andere Ende.«

So schliefen die Kinder diese Nacht in einem Bett, zwei oben und das kleine Mädchen zu ihren Füßen.

Zweites Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Jürgen hieß der kleine borstige Junge, und das kleine Mädchen hieß Elsabe. So trug der Pastor ins Taufbuch ein. Das Taufbuch redet hochdeutsch. Aber die Menschen um die Kinder her reden alle die plattdeutsche Sprache. Sie nennen ihn Jörn, und das Mädchen in der Wiege nennen sie Elsbe. Und das sind ihre Namen, mit denen sie noch heute genannt werden, Jörn und Elsbe Uhl.

Das Haus ist für Jörn Uhls Augen weit und groß. Wenn er in der großen Diele steht oder durch die Scheune stolpert, so sieht er überall ins Schwarze. Er glaubt auch nicht, daß es da irgendwo ein Ende giebt. Die Diele ist so groß wie die ganze Welt.

Die großen Menschen, die bald aus dieser Thür kommen, bald aus jener, die bald diese, bald jene sonderbare Hantierung vorhaben, und das alles mit ernstem Gesicht thun, ohne zu schreien oder zu traben oder zu weinen: das ist erstaunlich. Alle sind anders als er, bloß der weiße Spitz, der neben ihm durch den ungeheuren Raum geht, der ist wie er. Sie essen zusammen; und sie schlafen dicht nebeneinander. Und von Zeit zu Zeit, das ist am Sonnabend, werden sie zusammen von Wieten in die große Waschbalje gesteckt, bis an die Ohren ins Wasser.

Sie sind alle anders. Man denke an die Pferde, an die Menschen, an die Kühe. Bloß er und Spitz sind ganz gleich.

Einmal hofften sie, sie bekämen einen richtigen Gesinnungsgenossen. Ein Fohlen graste neben der Mutter auf der Hofstelle. Daß das Mutterpferd zu den sonderbaren ernsten Wesen gehörte, das erkannten sie beide sofort. Aber in dem Fohlen spürten sie verwandte Weltanschauung. Aber als der Spitz dem Fohlen zu nahe kam, schlug es aus. Hei, wie schlug es aus! Heulend stoben die beiden ins Scheunenthor. Dort standen sie, sahen ängstlich auf das Fohlen und bellten. So sagte er nämlich. Er sagte nicht: Wieten hat gescholten, sondern: Wieten hat gebellt. So sehr war der Spitz sein Kamerad und Gleichgenoß.

Es war kein Mensch da, der Jörn Uhl an die Hand nahm und ihm die Erscheinungen deutete. Wieten hatte nicht Zeit, und die anderen hatten keine Lust. Daß es so war, war wohl gut. Denn nun hieß es nach Robinsons Weise: Auf, entdecke dir selbst Land, Wasser, Geräte und Nahrung!

Er und Spitz jagten eines sonnigen Tages mit lautem Hallo in den Burggraben, um eine Wasserratte zu fangen, die da schwamm. Sie wurden beide herausgezogen, bekamen beide von Wieten ihre Schläge, wurden beide nebeneinander ins Bett gesteckt und bellten sich einander an. Das war so eine Entdeckungsfahrt.

Sie wußten beide nicht, was ein Keller war. Sie meinten, es wäre eine Tiefe ohne Boden, mit großen Eidechsen als Balken und Ständern. Eines Tages, als sie eine Wette gemacht hatten, wer am ersten ans andere Ende der Diele käme, und losstürmten, kam plötzlich vor ihnen eine drohende Stimme aus der Erde. Große Runkelrüben flogen rechts und links herauf. In gewohnter Eintracht flogen sie beide dem Knechte auf den Kopf. Nachher saßen sie, heulend und bellend, an der Leiter, die am Pferdestalle stand, und erzählten sich die schrecklichen Dinge, die sie gesehen hatte.

So entdeckten sie zusammen alles, was sie umgab, und bekamen eine bedeutende Erfahrung.

Aber eines Tages wurde das Verhältnis zu Spitz ein anderes.

Sie waren bisher beide, so drei- oder viermal am Tage, in die Hinterstube gelaufen und hatten das kleine Mädchen, das in der Wiege lag oder im Stuhle saß, gestreichelt und umwedelt, und waren dann wieder hinausgelaufen und hatten sich weiter um das Kind nicht gekümmert. Aber eines Tages, als er mit Spitz im schönsten Sonnenscheine von der Weide kam, stand das kleine Mädchen draußen vor der Küchenthüre und sah mit großen, ängstlichen Augen in die Umgebung. Niemals haben zwei sich so gewundert, als Jörn Uhl und Spitz. Daß so etwas möglich war! Sie nahmen das kleine Ding gleich in die Mitte und gingen mit ihm auf den Weg, wo in den Wagenspuren schönes, lehmiges Wasser war, und fingen an, Gräben zu ziehen und Deiche zu bauen.

Von der Zeit an verlor Spitz an Bedeutung. Jörn spielte nun den ganzen Tag mit dem kleinen Mädchen. Der Hund war immer weniger Kamerad; er wurde immer mehr nur Spielzeug.

Das kleine Mädchen lernte die Umgebung rascher kennen als derzeit der Junge. Der Junge hatte Spitz zum Führer gehabt, einen unsicheren, unzuverlässigen Führer; aber das kleine Mädchen hatte den Bruder zum Führer. Der wußte und konnte alles. Der führte sie durch das ganze Haus und nach dem Backhaus und nach der Scheune und über den Steg nach der Weide, wo die Kälber liefen. Und eines Tages sagte er: »Komm, wir wollen nach Ringelshörn hinauf.«

Er nahm sie an die Hand; Spitz lief bellend voraus. So gingen sie den Fahrweg hinauf, bis das alte Land vor ihnen aufstieg.

»So, nun man zu!«

Mühsam steigen sie hinauf. Es geht schwer und steil aufwärts durch die Heide. Sie müssen unterwegs Rast machen. Da kommt Jörn auf den Einfall, dem Spitz, der doch immer voranläuft, das Segelgarn ans Halsband zu binden, das er in der Tasche trug. Der soll sie hinaufziehen. So geht es höher, immer höher. Nun ein Sandloch, nun wieder Heide, nun hoher Ginster, an dem sie sich halten können. Da ruhen sie ein wenig. Endlich sind sie oben und wollen die Hände heben und Juhu rufen. Da packt sie der Ostwind, von dem sie unten nichts gemerkt haben. Hier oben auf der Heide hat er frei Feld. Er fährt dem kleinen Mädchen in die Haare und in den Rock, und stößt sie an und wirft sie um. Jörn springt zu, um sie wieder auf die Füße zu stellen, aber Spitz versteht das alles ganz falsch. Er ist zu dumm. Er meint, sie wollen wieder hinunterklettern, und springt den Abhang hinunter. Da verwickelt Jörn sich in das Tau, und die drei kollern, spatteln und purzeln den Abhang hinunter, bis sie im nächsten Sandloch bei einander liegen. Und oben steht mit seinen dicken Backen der Ostwind und beugt sich über den Rand und lacht.

»So!« sagt Jörn, nachdem sie eine Weile geheult haben. »Das ist gut abgelaufen.«

Sie steigen wieder hinaus. Aber der Hund will nicht mit. Er wird gelockt; er wird mit schweren Worten an seiner Ehre angefaßt; es wird ihm eine Zeit des Hungers drohend vor die Seele gestellt; er wird mit Sand und Erdbulten beworfen. Er versteht das alles, denn er wedelt und zittert und bellt jämmerlich um Entschuldigung. Aber er hat nicht den Mut. »Laß ihn, Elsbe, er ist 'n Bangbüx.«

Sie setzen sich oben in den kalten Wind in die Heide, und sehen eine Weile still in die weite, ebene Marsch hinab und auf die Gebäude der Uhl zu ihren Füßen.

»Du,« sagt die Kleine, »warum haben wir keine Mutter? Alle haben Mütter, bloß wir nicht . . . Du, Jörn, was thut die Mutter?«

»Was meinst du?«

»Ja . . . ich meine mit den Kindern?«

»Sie thut so, so . . . immer so hin und her, auf den Armen, und dann sagt sie: ›Mien lüttje Witte! Mien lüttje Popp,‹ und so was. Ich habe es gestern noch gesehen, als ich Hinnerks Stiefel vom Schuster holte.«

»Eine Mutter muß überhaupt nicht tot bleiben,« sagte Elsbe.

»Thut sie auch nicht. Bloß, wenn sie nicht aufpassen.«

»Wer hat denn nicht aufgepaßt?«

»Vater nicht! Und die anderen auch nicht! Es sind ganz viele Leute im Hause gewesen, und haben gegessen und bloß ans Essen gedacht.«

»Vater auch?«

»Ja.«

»Weißt du das gewiß, Jörn?«

»Ja, Fiete Krey hat es mir gesagt.«

Elsbe stößt mit dem Fuß auf die Erde und ist so eifrig, daß sie nicht über die erste Silbe hinwegkommen kann: »W . . . weißt du das so gewiß? So furchtbar gewiß als ich hier stehe?«

»Ja.«

»Warum hat er denn nicht aufgepaßt?«

Jörn springt ein wenig hinunter in die Heide und sagt ganz laut mit abgewandtem Gesicht: »Weil er besoffen gewesen ist.«

Sie wissen beide noch nicht ganz, was das Wort im Munde führt. Aber sie haben oft im Hause von den Brüdern Worte gehört, wie: »Der besoffene Lümmel,« oder: »Du warst gestern auch besoffen.« Sie fühlen, daß es etwas Schreckliches ist, und reden nicht weiter, und Jörn sagt: »Du . . . weißt du was? Wenn Wieten heute abend zu uns in die Stube kommt, dann wollen wir beide mit einem Mal sagen: Mutter Klook.«

»Ja! . . . Und wenn Fiete Krey kommt, sagen wir: Vater Krey.«

Nun steigen sie lachend den Abhang hinunter, von Bult zu Bult, am Heidekraut sich haltend.

***

Als sie älter werden, beginnt abends ein neues Leben für sie: Sie dürfen nach dem Abendbrot noch zwei Stunden aufbleiben. Dann sitzen sie in Wietens Stube, um den viereckigen Tisch. Und alle vier Seiten des Tisches sind besetzt: an der einen sitzt Wieten, an der anderen sitzt Jörn, an der dritten sitzt Elsbe. Und an der vierten Seite, zwischen Jörn und Elsbe, sitzt Fiete Krey.

Tagsüber kann Fiete Krey nicht kommen. Dann muß er mit dem Hundefuhrwerk unterwegs weithin in die Marschdörfer, und muß Bürsten und Heidebesen, Striegel und Leuwagen verkaufen. Und zuweilen geht er in die Schule. Aber abends kommt er.

Er kommt an jedem Abend. Er ist im Winter ein wenig verfroren und im Sommer ein wenig müde; aber er ist immer guter Dinge. Besonders im Winter ist es gemütlich.

Es fängt immer in derselben Weise an. Wieten legt einen ganzen Haufen Strümpfe und Knäuel und Flickwerk auf den Tisch, setzt die Lampe in die Mitte und schiebt das Flickwerk zur Seite. Und dann liegt ein großes Stück Brot, mit derbem Speck belegt, vor Fiete Krey. Er greift danach. Niemals hat Jörn Uhl diesen raschen, starken Griff vergessen und die magere, verfrorene Knabenhand, die nicht immer ganz sauber war.

Einer der Brüder kommt herein, Hans oder gar August: »Fiete, du sollst mit uns Karten spielen. Uns fehlt der vierte Mann.«

Aber Jörn und Elsbe schreien: »Nein, nein!« und halten ihn fest.

Dann tritt Hans wohl an den Tisch und sagt drohend: »Wenn du nicht mitkommst, sage ich zu Vater, daß du hier jeden Abend satt gefüttert wirst. Du gehörst überhaupt in die Leutestube.«

Aber da sieht Wieten den langen, dummen, unfertigen Jungen über die Brille weg scharf an und deutet nach der Thüre: »Scher dich! Hier ist mein Reich. Und wenn du noch einmal wiederkommst, sage ich deinem Vater, daß du junger Lapp in der vorigen Nacht unterwegs gewesen bist, du Nichtsnutz. Du wirst noch der Schlimmste von allen dreien.« Und zuweilen hebt sie noch drohend die Hand und sagt: »Ich weiß es, du und deine Brüder: ihr müßt euch noch 'mal euer Brot auf den Stoppeln suchen.«

Dann lacht er und schilt und geht davon. Und nun haben sie Frieden.

»Und nun soll Fiete erzählen, was er erlebt hat,« sagte Jörn.

»Nein,« sagt die Kleine wichtig, »erst soll Wieten erzählen, und dann will ich erzählen, und dann soll Fiete erzählen.«

»Na, denn man los!«

Wieten wühlt in dem Flickhaufen, greift nach diesem und jenem Knäuel und zieht die Fäden über das Loch, das im Strumpfe klafft, und erzählt morgen jene Geschichte und heute diese:

»Als ich in Schenefeld war, da erzählte die Frau: Da wär 'mal ein Bauer gewesen, der hat mit dem Teufel zusammen einen Krug Land geheuert auf zwei Jahre. Da sagte der Teufel zu dem Bauern: ›Du sollst das Land bestellen. Wir wollen aber darum würfeln, wer das haben soll, was über der Erde wächst, und wer das haben soll, was unter der Erde wächst.‹ Na, das ging denn ja los. Und der Teufel hatte natürlich die meisten Augen und sollte nun alles haben, was oben wuchs. Da ging der Bauer hin und bestellte das Feld mit lauter Runkelrüben. Und als der Herbst da war, bekam der Teufel die Blätter.

Na, . . . im nächsten Jahre würfeln sie denn ja wieder. Und der Teufel wirft nun ja natürlich die wenigsten Augen, und soll ja denn nun alles haben, was unter der Erde ist. Da ging der Bauer hin und bestellte das Feld mit lauter Weizen. Und als der Herbst da war, bekam der Teufel die Wurzeln.

Nun schimpfte er denn ja natürlich dem Bauern die Haut voll. Und zuletzt sagte er: ›Morgen komme ich wieder. Dann sollst du dich mit mir kratzen.‹ Da wurde der Bauer denn ja bange.

Aber seine Frau merkte, daß er immer mit der Hand hinterm Ohr saß und traurig war. Da fragte sie ihn: ›Was ist dir in den Nacken geflogen?‹ Da sagte er ihr: ›So und so. Und morgen soll ich mich mit dem Teufel kratzen.‹ Da sagte die Frau: ›Sei man ganz ruhig. Ich will schon mit ihm fertig werden.‹

Also, was zu thun? . . . Sie setzt sich hin und wartet und thut, als wenn sie giftig ist.

Richtig kommt der Teufel und sagt: ›Was fehlt Ihr denn, kleine Frau?‹ ›Ach,‹ sagte sie, ›sieh doch bloß 'mal diesen großen Riß in meinem schönen Eichentisch! Mein Mann sagt: Er soll sich mit einem andern Mann kratzen. Da hat er zur Probe mit dem Nagel von seinem kleinen Finger diesen großen Riß gerissen.‹

Der Teufel sah nach der Thür und sagte: ›Wo ist er denn jetzt hin?‹

›Wo soll er sein? ‹ sagte die Frau. ›Er ist nach dem Schmied gegangen und läßt sich die Nägel schärfen.‹

Da ging der Teufel sachte nach der Thür und machte, daß er fortkam.«

Fiete Krey und die kleine Elsbe saßen still, unbewegliche Augen auf Wieten gerichtet; Jörn hörte nicht mehr. Er versuchte, zwei Wollknäuel aufeinander zu stellen, und versuchte es immer wieder, und atmete hoch auf, als es ihm gelungen war.

»Wenn er gekommen wäre,« sagte Elsbe, »hätte der Bauer ihn tüchtig gekratzt. So!« Und sie fuhr mit gekrümmtem Finger über den Tisch und machte ein grimmiges Gesicht dazu.

»Mit dem Teufel ist das nichts,« sagte Fiete Krey, »aber die Unterirdischen, das sind gute und freundliche Leute. Die haben schon manchen Menschen reich gemacht; aber merkwürdig ist, daß ich noch niemals einen von ihnen gesehen habe. Nicht einen einzigen. Ich bin doch manchmal mit meinen Hunden ganz allein durch die Heese gekommen und am Wodansberg vorbei. Und manchmal habe ich den Wagen auf dem Wege stehen lassen und bin in den Wald geschlichen; aber ich habe nichts gesehen.«

»Im Wodansberg wohnen sie,« sagte Elsbe.

»Ich glaube es nicht,« sagte Jörn.

»Du glaubst gar nichts!« sagte Wieten.

»Einmal,« sagte Fiete Krey, »war es so heiß. Da ließ ich die Hunde mit dem Wagen im Schatten stehen, nicht weit vom Wodansberg, wo der Weg nach dem Tunkmoor umbiegt. Ich ging ein bißchen in den Wald hinein und legte mich auf das trockene Laub, nicht weit von einem großen Haselbusch, und bin ja wohl eingeschlafen. Ich wurde davon wach, daß es in dem Laube raschelte. Und als ich die Augen so eben aufmachte, schien mir, daß drei oder vier kleine Leute, bißchen größer als Eichhörnchen, in den Haselbusch hineinliefen. Gleich danach rief es aus dem Busche, als wenn sie sagten: ›Schlafmütz‹. Ich sah mich um, und wühlte das ganze Laub auf; aber da lag weder Gold noch Geld.«

Wieten sah den Erzähler bedenklich an. Die Erzählungen Fiete Kreys sind ihr immer ein Gegenstand der Sorge. Er ist immer gleich so praktisch wie alle Kreyn. Er begnügt sich nicht damit, daß der und der Teufel überteufelt oder daß der und der, früher 'mal, von den verborgenen Schätzen bekam, sondern er, Fiete Krey, wartet darauf, daß er auf diesem Wege Geld bekommt. Er liegt hinter jedem Busch, und lauert hinter jedem Stamme, und wartet auf das Erscheinen des blanken Goldes.

Jörn sieht von seinem Spiele zweifelnd auf und sagt bedenklich: »Es sind gewiß Eichhörnchen gewesen; und was du gehört hast, das sind Mäuse gewesen: die haben gepiept.«

Fiete Krey schüttelt verächtlich den Kopf. »Wenn man bloß wüßte,« sagte er, »wie man an sie herankommen könnte.«

»Die Frau in Schenefeld,« sagte Wieten, »bei der ich diente, als ich jung war, die sagte, daß sie alle miteinander ausgewandert sind, mit Pack und Sack, mit Frau und Kindern.«

»So?« sagte Fiete. »Wohin denn?«

»Ja, genau kann ich das nicht sagen. Ich glaube, sie sind ins Vaalermoor und in die Gegend der Wilstermarsch gezogen; vielleicht gar über die Elbe. Aber Theodor Storm: der behauptete immer, sie wären nach Dithmarschen gekommen.«

»Theodor Storm: sagst du immer? Wer war denn das?«

»Wer es war? Er sagte, er wäre ein Student. Er kam damals öfter in die Gegend von Schenefeld. Er und ein gewisser Müllenhoff. Sie stahlen dem lieben Gott die Zeit, lagen in den Dörfern umher und hörten am liebsten solche alte Geschichten. Und besonders auf mich hatten sie es abgesehen, weil sie wußten, daß meine Frau viele Geschichten kannte. Die aber wollte ihnen nichts erzählen. Da kamen sie zu mir. Jeden Abend, wenn ich nach der Rethkoppel ging und die Kühe molk, standen sie schon da und wollten Geschichten hören. Dabei tranken sie mir einen halben Eimer Milch aus.«

»Was sagten die denn?«

»Ich habe es dir ja schon gesagt. Sie meinten, sie wußten alles besser. Jeden Spruch kannte der Storm anders; und jede Geschichte erzählte er anders. Er sagte, er wollte von diesen Geschichten ein Buch schreiben. Ich habe ihn mehr als einmal einen dummen Jungen genannt und da stehen lassen, wo er stand, und bin mit meinen Milcheimern davongegangen.«

Fiete Krey sah sie mit zusammengekniffenen Augen an: »Was meinte der denn, wo die Unterirdischen geblieben sind?«

»Was der meinte? Was geht mich das an? Ich gebe gar nichts darauf. Meine Frau in Schenefeld erzählte so:

›Der Fuhrmann an der Hohner Fähre wird eines Nachts herausgerufen, und als er hinausgeht, sieht er keinen einzigen Menschen und meint, er hat geträumt, und geht wieder zu Bette. Da aber wird Erde oder Sand gegen das Fenster geworfen, und er steht wieder auf und geht hinaus. Da grimmelt und wimmelt es vor seinem Hause, bis an das Wasser hin, von lauter kleinen, grauen Leuten. Und einer mit einem langen Bart, der sagt zum Fährmann, er solle sie über die Eider setzen, sie könnten den Kirchengesang und das Glockengeläute nicht länger ertragen; sie wollten nach der Marsch auswandern: da waren damals noch keine Kirchen. Der Fährmann machte die Fähre los, und nun kamen sie alle in den Prahm hinein, Männer und Frauen und Kinder, mit Betten und Kochgeschirren, und mit Silber- und Goldgerät, alles dicht aneinander gedrängt, daß der Prahm ganz voll ist. Und so geht es die ganze Nacht hindurch, hin und her, Prahm nach Prahm, und immer war die Fähre gleich voll. Als sie dann endlich alle hinüber sind, und er wieder zurückgefahren ist, da ist auf der anderen Seite das ganze Feld voll von vielen Lichtern. Sie hatten alle kleine Laternen angesteckt, und so zogen sie weiter nach Westen zu. Als aber der Fährmann am Morgen nach der Fähre hinuntergeht, liegen auf dem Steinrand viele tausend kleine Goldpfennige. Da hat jeder von den Unterirdischen seinen Fährlohn hingelegt.‹

Storm sagte damals, sie hätten ans Fenster geklopft; ich aber sagte, sie haben Sand dagegen geworfen. Darüber haben wir uns gestritten. Ich ließ ihn schließlich stehen, wo er stand, und kümmerte mich nicht um sein Nachrufen.«

»Was rief er denn, Wieten?« fragte Elsbe.

»Er wollte mich ärgern und rief immer: ›Dreh dich nicht so! Dreh dich nicht so!‹ Aber wenn man eine Milchtracht hat von zwei großen, vollen Eimern, und Tracht und Eimer mit Messing beschlagen, dann soll man wohl einen schweren Schritt bekommen.«

»Wo ist dieser Storm jetzt?« fragte Fiete.

»Wo mag der sein? Ich glaube, er sagte, er wolle Landvogt werden. Der und Landvogt! Aus dem ist nie was geworden.«

»Hat er das Buch auch nicht geschrieben?«

»Der? Der war so faul, daß er einmal einen ganzen Nachmittag lang auf der Wiese lag, so lang er war, von einer Milchzeit bis zur anderen. Er sagte, er thät's um den Wald, der sähe so fein aus im ersten Laube. Der hat sicher kein Buch geschrieben und ist auch nicht Landvogt geworden.«

»Jörn hört gar nicht zu!« sagte klein Elsbe, und stieß ihn an. »Hör doch zu, Jörn!«

»Sieh 'mal!« sagte Jörn. Er hatte aus drei Scheren und aus Wietens Brillenfutteral eine Brücke vom Nähkorbe hinab zum Tische gebaut und drückte mit der Hand darauf und zeigte, wie stark sie war, und sah mit Stolz auf die andern.

»Du, Wieten, was sagte Storm von unserem Goldsoot? Sagte er ebenso wie du, oder sagte er anders?«

»Ich merke schon,« sagte sie, und sah Fiete Krey scharf an: »Du glaubst dem Storm mehr als mir. Du mußt immer was Neues haben . . . Von dem Goldsoot . . . von dem wußte ich damals noch gar nichts. Von dem habe ich erst gehört, als ich hierher kam und ihn hier gesehen habe.«

Fiete Krey stützte den Kopf in die Hand und sah gerade auf Wieten. Seine runden Knabenaugen, die sonst so keck und frech in die Welt blickten, sahen schwer grübelnd darein. Der Goldsoot lag nicht weit vom Dorfe in einer Mulde am Rand der Geest. Es war seine große, geheime Hoffnung. »Du, Wieten, erzähle es noch einmal!«

»Willst du mir glauben oder dem langen Husumer?«

»Dir!« sagte Fiete Krey und schlug mit der Faust auf den Tisch.

»Na, denn hör zu! Das ist so gewesen . . . Es soll hier in der Gegend ein schwerreicher Mann gelebt haben, der ist ohne Kinder gestorben. Vorher aber ist er in einer dunklen Nacht nach der Mulde am Geestabhang gegangen und hat all sein Geld in den Quellbrunnen geworfen. Nun sagen sie: Wenn man mit einem Stocke hineinstößt, klingt es hohl, und einige sagen: Wenn man in den Grund der Quelle hinabsieht, kann man zuweilen einen kleinen, grauen Mann da sitzen sehen, der hat einen dreieckigen Hut auf. So ist es . . . Und einmal, da haben sich drei Männer in der Nacht aufgemacht, haben stillschweigend die Quelle aufgegraben und sind auf einen großen Braukessel gestoßen. Da legten sie einen Windelbaum quer über das Loch, und legten Stränge um die Ohren des Kessels und wollten ihn gerade hinaufziehen. Da kam ein ungeheures Fuder Heu, mit sechs grauen Mäusen bespannt, von der Marsch herauf, sauste an ihnen vorbei und raste nach Ringelshörn hinauf. Sie bissen die Zähne aber zusammen und schwiegen still. Sie zogen an und hatten den Kessel schon bis fast an den Rand hinaufgezogen: da kam ein grauer Mann auf einem alten Schimmel von der Marsch herauf, an ihnen vorüber und bot ihnen einen guten Abend. Na . . . sie behielten die Besinnung und antworteten keinen Ton. Da hielt der Mann mit dem Schimmel an und fragte, ob er wohl dem Fuder Heu noch nachkommen könnte? Da wurde der eine von den dreien giftig und sagte: ›Den Deubel! Du Schrackel?‹ Im selben Augenblick brach der Windelbaum; der Kessel stürzte wieder in die Tiefe, und der graue Mann war verschwunden.«

»Aber neulich,« sagte Elsbe, »hat Fiete von der Hexe Gold bekommen. Weiß du wohl, von der Hexe, die in den Hooper Tannen wohnt!« Sie nestelte an ihrem Kleide und brachte eine blanke Münze hervor und legte sie vor sich auf den Tisch.

Fiete Krey sah mit starrem Blick auf die Münze; dann sah er, wie gezwungen, wie ein Verbrecher, der an der Schulter herangeschleppt wird, in Wietens Augen.

Die hob die Hand und sagte: »Wenn du Dummheiten machst, haue ich dir die Strümpfe um die Ohren; und mit dem Butterbrot ist es ein für allemal aus und vorbei.«

Er sah vor sich auf den Tisch und war einen Augenblick bedrückt und still. Dann fing er an, Elsbe den Inhalt seiner Tasche zu zeigen. Und dann mußte er seine Kunststücke machen.

Jörn schob sein ganzes Spielzeug, Bindfaden, Scheren und Holzstücke weg und sagte: »Man zu, Fiete!«

»Kunststück!« sagte Fiete Krey. Und während seine flinken Hände unterm Tische arbeiteten, flogen zwei bunte Kiesel, die er unterwegs in der Sandkuhle gefunden hatte, über die Ecke des Tisches hin und her.

»Noch eins.«

»Kunststück!« sagte Fiete Krey. Er zeigte seine leeren Hände und steckte sie wieder unter den Tisch, und gleich darauf glitt ein graues Tierlein mit langem Schwanz, husch, husch über die Tischecke auf Elsbe zu, daß das kleine Ding sich mit erschrockenem Gesicht zurückbog. Als es aber zum zweitenmal vorüberhuschte, griff Jörn danach und hielt es lachend hoch und sagte: »Das ist ja Elsbes altes Taschentuch!«

»So,« sagte Wieten, »nun haben wir für diesen Abend Kunststücke genug gesehen. Nun müßt ihr zu Bett.«

Da gingen die drei ohne Widerrede in die Ecke, wo das Bett stand, und die beiden fingen an, sich zu entkleiden, und Fiete mußte der Kleinen die Bänder des Rumpfes aufmachen und die Strümpfe ausziehen. Dabei mußte er erzählen, was er an diesem Tage auf seinen Fahrten erlebt hatte: ob der große Hund auf der Hofstelle gewesen wäre, ob er auf irgend einem Hofe Mittagessen bekommen hätte, ob die Jungen in den Marschdörfern seine Hunde gereizt und ihn selbst mit Steinen geworfen hätten.

Er erzählte mit verhaltener Stimme, daß die Jungen da unten in der Marsch ihn wieder nicht in Ruhe gelassen hätten.

»Konntest du dich wehren?« sagte Elsbe.

»Nein . . . Sie kamen gerade aus der Schule und standen mit einem Male rund um meinen Wagen.«

»Waren es Uhlen?« fragte Jörn.

»Natürlich, lauter Uhlen. Von Dickhusen, von Neudeich und da herum.«

»Konntest nicht auskneifen?« fragte Elsbe.

»Die Leine hatte sich vertütert. Darum konnten die Hunde nicht laufen.«

»Was thatest du? Haben sie dich geschlagen?«

»Sie wagten sich nicht recht an mich heran, weil meine Hunde auf dem Sprunge standen. Ich sage euch, die hätten zugebissen, wenn sie mich angerührt hätten. Aber es war doch eine schlimme Sache für mich: die Steine flogen mir man so um den Kopf.«

»Junge! Junge!« sagte Elsbe. »Was thatst du nun.«

»Ich besann mich rasch und sagte: ›Jungens,‹ sagte ich, ›kennt ihr die Geschichte von den Uhlen und Kreihen?‹

›Nee‹, sagten sie.

Da sagte ich: ›Ja, seht. Da waren 'mal vier Kreihen, die saßen auf einer Esche bei einem alten Bauernhause. Das dauerte nicht lange, da sah die Eule, die da wohnte, aus ihrer Thüre im Giebel und sagte: ›Guten Tag!‹

›Guten Tag,‹ sagten die Kreihen.

›Habt ihr Zeit,‹ sagte die Uhl. ›Denn könnt ihr euch einen Groschen verdienen.‹

›Gern,‹ sagten die vier; denn es lag ein alter, dicker Schnee über dem ganzen Lande, und da war wenig zu verdienen.

›Was mein Compagnon ist,‹ sagte die Uhl, ›der alte Tohms Geehl: der ist gestorben. Nun dachte ich, ihr solltet ihn zu Grabe tragen. Als mein alter Freund noch lebte, hat er manchmal zu mir gesagt: ›Jan Uhl,‹ sagte er, ›laß mich anständig begraben! Anständig gelebt, anständig zur Erde,‹ sagte er, denn er war ein gebildeter Mann. ›Nun seht: ihr vier habt gute, schwarze Röcke an und seid ehrbare Leute.‹

›Denn man zu! ‹ sagten die Kreihen und krochen hinter ihm her ins Uhlenloch.

Nun war es halb dunkel auf dem Boden. Und das Strohdach war niedrig. Sie konnten aber den alten Tohms Geehl doch bald liegen sehen: er lag im Heu und streckte alle Vier von sich und rippte und rührte sich nicht. Die Uhl stellte sich zu seinen Häupten, und die Kreihen hüpften heran, schräg, als hüpften sie vorm Winde im jungen Weizen.

›Manche Maus haben wir hier auf diesem Boden zusammen gefangen, Tohms Geehl, das weißt du,‹ sagte die Uhl. ›Immer sind wir gute Freunde gewesen, und manchen Jux haben wir miteinander gehabt. Nun ist das alles aus und vorbei. Junge! Junge! Tohms Geehl! Was würdest du dich freuen, und was würdest du in die Höhe springen, wenn du noch lebtest, und ich zu dir sagte: ›Tohms, vier dumme, schwarze Kreihen stehen rund um dich . . .‹

Da sprang der Kater auf, und es gab eine tolle Kreihenjagd.

De eerst kunn nich mehr sehn, De tweet verlor en Been, De drütt de harr een tweien Rock, De verte flog uut Uhlenlock.

›Und das bin ich!‹ sagte ich. Ich hatte das Tau in Ordnung gebracht, sprang auf den Wagen, und weg war ich.«

»So,« sagte Wieten, »nun geh nach Hause, Fiete.«

Da schlich sich Fiete Krey aus der Küchenthüre über den Weg unter seines Vaters niedriges Strohdach.

Dann geht auch Wieten Penn schlafen.

Gegen Mitternacht oder drüber hinaus kommen der Vater und die großen Brüder aus wüsten Gesellschaften nach Hause. Dann schlafen die Kinder schon lange in Frieden.

Drittes Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Wenn Lehrer Peters über die hundert Kinder von Sankt Mariendonn hinsah, die seiner Pflege anvertraut waren, und in zwei Bankreihen, die Knaben zur Rechten, die Mädchen zur Linken, zu seinen Füßen saßen, wenn es dann im Winter so um drei Uhr ein wenig schummerig wurde: dann konnte Lehrer Peters deutlich sehen, daß auf dem Donn zwei Sorten Menschen wohnhaft waren. Das Strohdach hing als müde, schwere Augenwimper über die Fenster herab; das Tageslicht fiel sehr schräge und sehr gering herein: in diesem stillschrägen Dämmerschein sah man unter den Kindern verstreut viele runde, rote Köpfe, so brandrot das Haar, mit so starken roten Sommersprossen, daß sie Licht ausstrahlten. Und heller noch wirkt das Leuchten, und bunter noch wird der Schein, wenn sie die klugen und flinken Augen, unstet oft und verschlagen, hin und her spielen lassen, wie junge Katzen in der Sonne springen. Das sind die Kreien und ihre Anverwandten.

Man sah aber zweitens zwischen den Rot- und Rundköpfen verstreut, nicht so zahlreich wie sie, unter Knaben und Mädchen schmale, hellblonde Gesichter, das Haar so blond wie Roggen kurz vor der Ernte, Gesichter von starken, oft edlen Formen mit ruhigen, stolzen, klaren Augen. Wenn einer von diesen Hellen aus der Bank tritt, zeigt sich eine schmale, sehnige Kindergestalt. Das sind die Uhlen und ihre Sippe.