Peter Moors Fahrt nach Südwest - Gustav Frenssen - E-Book

Peter Moors Fahrt nach Südwest E-Book

Gustav Frenssen

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Beschreibung

Gustav Frenssens Werk 'Peter Moors Fahrt nach Südwest' ist ein epischer Roman, der die Reise des Protagonisten Peter Moor in den Westen Nordamerikas beschreibt. Frenssens literarischer Stil zeichnet sich durch eine detaillierte Landschaftsbeschreibung und eine realistische Darstellung der Charaktere aus. Das Buch, das im frühen 20. Jahrhundert veröffentlicht wurde, reflektiert auch die politischen und sozialen Spannungen dieser Zeit. Frenssen verwendet die Reise von Moor als Metapher für die Suche nach Identität und Sinn im Leben.

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Seitenzahl: 208

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Gustav Frenssen

Peter Moors Fahrt nach Südwest

Books

- Innovative digitale Lösungen & Optimale Formatierung -
2017 OK Publishing
ISBN 978-80-272-2465-4
Inhaltsverzeichnis
KAPITEL I
KAPITEL II
KAPITEL III
KAPITEL IV
KAPITTEL V
KAPITEL VI
KAPITEL VII
KAPITEL VIII
KAPITEL IX
KAPITEL X
KAPITEL XI
KAPITEL XII
KAPITEL XIII
KAPITEL XIV
KAPITEL XV
KAPITEL XVI
KAPITEL XVII

Kapitel I

Inhaltsverzeichnis

Als ich ein kleiner Junge war, wollte ich Kutscher oder Briefträger werden; das gefiel meiner Mutter sehr. Als ich ein großer Junge war, wollte ich nach Amerika; da schalt sie mich. So um die Zeit, als die Schuljahre zu Ende gingen, sagte ich eines Tages, ich möchte am liebsten Seemann werden; da fing sie an zu weinen. Meine drei kleinen Schwestern weinten auch.

Aber am Tage nach meiner Schulentlassung stand ich, ehe ich recht bedachte, was mit mir geschah, in meines Vaters Werkstatt am Amboß, und unser Geselle, der aus Sachsen zugewandert war und schon lange Zeit bei Vater arbeitete, sagte: »Siehst Du – da stehst Du! Und da bleibst Du stehn, bis Du grau wirst,« und lachte. Da wir gerade eine gute Arbeit hatten, nämlich vor einem schönen Neubau an der Breiten Straße Tor und Gitter machten, gab ich mich zufrieden und blieb also die drei Jahre in der Werkstatt meines Vaters und arbeitete mit ihm und dem Gesellen und ging abends in die Gewerbeschule. Ich bekam zweimal einen ersten Preis.

Im zweiten Jahr meiner Lehrzeit, in meinem siebzehnten Lebensjahr, traf ich auf der Straße Heinrich Gehlsen, den Sohn vom Lehrer Gehlsen, der früher bei uns angestellt war und jetzt Hauptlehrer in Hamburg ist, mit dem ich als Junge zuweilen gespielt hatte. Er war einige Jahre älter als ich und war nun Student in Kiel. Während wir zusammen die Breitenburger Straße hinunter gingen, erzählte er mir, daß er im Herbst 1903 als Einjähriger beim Seebataillon eintreten wolle. Ich fragte: »Warum willst Du gerade da eintreten?« Er sagte: »Es ist eine feine Truppe. Und dann ist es möglich, daß man einmal auf Reichskosten übersee kommt. Denn wenn in irgendeiner unserer Kolonien ein Aufstand ausbricht, oder sonst in der weiten Welt was los ist, kommt zu allererst das Seebataillon unterwegs.« Ich sagte nichts weiter dazu; aber ich dachte in meinem Sinn, daß ich später auch zum Seebataillon gehen könnte. Ich war schon einige Male in Kiel gewesen; und ich mochte auch die Uniform wohl leiden. Auch gefiel mir, was er von Übersee gesagt hatte. Ich wußte aber damals noch nicht, wie ich das Ding anfassen sollte.

Aber im nächsten Jahr erfuhr ich eines Tages von einem älteren Schulkameraden, der in Kiel bei den Fünfundachtzigern diente, daß das Seebataillon Dreijährig-Freiwillige annähme. Da fragte ich am selben Abend meinen Vater, als ich beim Aufräumen war und er mit seiner halblangen Pfeife durch die Werkstatt ging, um ein wenig die Straße entlang zu sehen, wie er abends zu tun pflegte: ob ich mich melden solle. Ihm gefiel das wohl; denn er hatte es bei den Einunddreißigern in Altona bis zum Unteroffizier gebracht. Er sagte also nichts weiter als: »Deine Mutter wird vor dem Wort ›See‹ bange werden.« »Ja,« sagte ich, »aber sie hat doch die drei Mädchen.« »Geh hin,« sagte er, »und stelle es ihr vor; sie ist in der Küche.« Indem kam sie schon aus der Küche in die Werkstatt und sagte mißtrauisch: »Was steckt ihr noch die Köpfe zusammen?« Sie meinte: weil es schon Feierabend war und die Arbeit getan. Mein Vater sagte: »Der Junge will sich freiwillig beim Seebataillon in Kiel melden; Du mußt nicht bange werden: das Bataillon heißt nur darum so, weil es die Seefestung verteidigen muß. Und außerdem: wenn er sich nicht freiwillig meldet, kommt er vielleicht an die russische Grenze; und das ist weit weg.« Da ging sie still in die Küche und sagte nichts weiter dazu, und gab mir im Herbst die Wäsche mit, alles heil und rein, wie es sich gehört; das meiste war neu. Und sie war ganz zufrieden, weil Kiel so nah' bei Itzehoe liegt. Auch hatte ihr unser Kaufmann, der in Kiel Verwandte hat, erzählt, das viele gute Handwerkersöhne im Seebataillon dienen.

Kapitel II

Inhaltsverzeichnis

Ich war gerne Soldat, besonders nachdem wir die Ausbildung hinter uns hatten. Wir hatten lauter ordentliche Leute auf der Stube, und der Unteroffizier, der ein Schleswiger war, war nur dann ungemütlich, wenn einer faul oder dreckig war. Den Leutnant taxierten wir damals nicht richtig. Wir meinten, er wäre für einen Offizier zu zart. Aber nachher haben wir erkannt, daß er ein Held war.

Am Anfang meines zweiten Dienstjahres, in den Weihnachtstagen 1903, war ich auf Urlaub bei meinen Eltern in Itzehoe und tanzte am zweiten Weihnachtstage auf dem Ball mit Maria Genthien. Ich kannte sie ein wenig von meiner Kindheit her; aber ich hatte sie nachher niemals wieder getroffen; ich wußte auch nicht, daß sie seit zwei Jahren in Kiel in der Holtenauer Straße diente. Als wir zum drittenmal miteinander tanzten, lachten wir uns an und sagten beide zu gleicher Zeit: »Das geht schön!« Wir dachten aber mit keinem Gedanken daran, daß es eine ernste Sache werden könnte. Am Tage nach Neujahr ging ich wieder nach Kiel in den Dienst.

Vierzehn Tage später, am Abend des 14. Januar, ging ich mit Behrens und einem andern Kameraden durch die Dänische Straße; da kam Gehlsen uns entgegen, der nun wirklich als Einjähriger diente und bei meiner Kompagnie stand, und sagte zu mir: »Hast Du schon gelesen?« Ich sagte: »Was denn?« Er sagte: »In Südwestafrika haben die Schwarzen feige und hinterrücks alle Farmer ermordet, samt Frauen und Kindern.« Ich weiß ganz gut in der Erdkunde Bescheid; aber ich war erst doch ganz verwirrt und sagte: »Sind diese Ermordeten deutsche Menschen?« »Natürlich,« sagte er: »Schlesier und Bayern und aus allen andern deutschen Stämmen, und auch drei oder vier Holsteiner, und nun, was meinst Du, wir vom Seebataillon ...« Da erkannte ich plötzlich in seinen Augen, was er sagen wollte. »Wir müssen hin!« sagte ich. Er hob die Schultern: »Wer sonst?« sagte er. Da schwieg ich eine kurze Weile; es ging mir sehr viel durch den Kopf. Dann war ich damit fertig und sagte: »Na, denn man zu!« Und ich freute mich, und ich sah im Weitergehn die Leute an, die des Weges kamen, ob sie vielleicht schon wüßten und uns anmerkten, daß wir nach Südwest gingen, um an einem wilden Heidenvolk vergossenes deutsches Blut zu rächen.

An einem Vormittag war es wirklich so weit. Der Major hielt auf dem Hof der Kaserne eine kurze Rede: das und das wäre draußen geschehen; es sollte ein Bataillon Freiwilliger geschickt werden; wer mit wolle. Da traten wir fast alle vor. Die Ärzte untersuchten uns, ob wir für den Dienst in den Tropen fähig wären. Sie fanden mich brauchbar. Am selben Nachmittag schon bekamen wir in den niedrigen Stuben der Kammer die gelben Langschäftigen ausgeliefert, dazu die kurze blaue Jacke oder Litewka. So ausgerüstet gingen wir sogleich in die Stadt.

Was war das für ein Zunicken und ein Anreden! Während sonst Soldaten, die sich nicht kennen, stumm und ohne Gruß aneinander vorüber gehen, wurden wir jetzt von allen angeredet. Die Fünfundachtziger waren sehr zurückhaltend, weil sie zu Hause bleiben mußten; die Matrosen sprachen mit Würde, als wenn jeder von ihnen dreimal um die Welt gefahren wäre. Auch viele Bürger redeten uns an, sagten, es würde eine sehr interessante Fahrt werden und es würde eine angenehme und schöne Erinnerung fürs ganze Leben bleiben, und wünschten uns gute Heimkehr.

Am andern Tage, als wir in der folgenden Nacht mit der Bahn nach Wilhelmshaven abreisen sollten, kamen Vater und Mutter auf zwei Stunden von Itzehoe herüber. Ich holte sie vom Bahnhof ab und ging ein wenig mit ihnen die Holstenstraße entlang bis nach dem Schloßplatz. Mein Vater fragte dies und das, ob da wilde Tiere wären, ob die Feinde schon alle Gewehre hätten, oder ob sie noch mit Pfeil und Bogen schössen, ob es dort sehr heiß und fiebrig wäre und dergleichen. Ich konnte nicht viel drauf antworten; denn ich wußte alles dies nicht. Ich nahm aber an, daß es so wäre, wie er sagte, und gab ihm in allem recht. Wir saßen eine Stunde in einer Wirtsstube in der Nähe des Bahnhofs, sahen aus dem Fenster nach den Leuten, die vorbei gingen, und sagten nicht viel. Meine Mutter schwieg fast ganz. Sie starrte mit großen, steifen Augen auf den Fußboden und wenn sie aufsah und mich mit ihren Augen streifte, sah sie mich an, als ob sie mich das letztemal sähe. Als es Zeit wurde, brachte ich sie wieder nach dem Bahnhof.

Als der Hamburger Zug kam und sie einsteigen mußten, bat mich mein Vater, ich möchte ihm irgendeine Kleinigkeit mitbringen, ein Horn, oder einen Schmuck der Feinde, oder so was. Ich glaube: das hatte er sich aufgespart, damit er im letzten Augenblick etwas zu sagen hätte. Meine Mutter aber umarmte mich plötzlich mit Weinen. Da sie mich seit meiner frühesten Kindheit niemals mehr umarmt hatte, erschrak ich und sagte: »Was tust Du, Mutter?« Sie sagte: »Ich weiß nicht, mein Sohn, ob ich Dich wiedersehe.« Ich lachte und schüttelte ihre Hände und sagte: »Es ist ja gar keine Gefahr! Ich will schon wiederkommen!« Die Eltern von Behrens waren auch auf dem Bahnhof.

Als ich im Dunkeln nach der Kaserne zurück kam, war da ein großes Leben. Eltern, Geschwister, Verwandte, Bräute und Bekannte waren gekommen; sie tanzten und tranken und redeten. Da war einer, der hatte das eiserne Kreuz von 70 her, ein älterer Mann und Vorarbeiter auf der Werft; dessen Jüngster ging mit hinaus. Der stand auf und sprach einige Worte von Fahneneid und Tapferkeit, so, als wenn es gegen einen ernsthaften Feind ginge; aber wir hörten ihm doch gerne zu. Ja, wir wurden von seinen Worten Feuer und Flamme und vergaßen gern, daß wir wußten, es ginge gegen Flitzbogen und Holzkeule. Wir wollten ehrlich streiten, und wenn es sein mußte, auch sterben für die Ehre Deutschlands.

Um Mitternacht nahmen wir auf dem Hofe Aufstellung und gingen dann mit vollen Kapellen durch die Stadt.

Wenn ich hundert Jahre alt werde, so vergesse ich doch niemals diese nächtliche Stunde, als Tausende von Menschen mit uns zogen und in unsere Sektionen drangen, uns anriefen, grüßten und winkten, und Blumen auf uns warfen und unsere Gewehre trugen und uns zum Bahnhof brachten. Der Platz vor dem Bahnhof war schwarz von Menschen.

Auf der Bahnfahrt nach Wilhelmshaven schlief und döste ich so vor mich hin. Auch die andern waren müde. Als wir ankamen, ging ich mit einigen andern in eine kleine Wirtschaft nicht weit vom Hafen und bekam für viel Geld ein wenig schlechtes Essen. Um vier Uhr nachmittags traten wir wieder an und gingen unter dem Zuschauen vieler Menschen, die aus der ganzen Umgegend zusammengelaufen waren, zu zweien, mit voller Bepackung, die lange, schmale Holztreppe hinauf, die vom Kai auf das hohe Schiffsdeck führte. Es war ein heller, bitterkalter Wintertag.

Kapitel III

Inhaltsverzeichnis

Wir stiegen zwei kurze Treppen hinunter und kamen in einen ziemlich großen, niedrigen Raum, der so ganz und gar und so dicht mit Bettstellen belegt war, daß wir uns wunderten. In zwei Stockwerken standen sie über- und unter- und hart beieinander. Sehr schmale Gänge liefen zwischen ihnen hin und an den Wänden entlang. Ich bekam ein unteres Bett.

Da stellten und legten wir nun an und über unser Bett alles hin, was wir hatten: Gewehr, Tornister und Kleidersack. Und packten und hantierten und standen inzwischen an den Bullaugen und sahen aufs Wasser, und waren sehr lebhaft und guter Dinge, wie immer in einem neuen Quartier; und wurden nur fortwährend durch das Zittern, das vom Gang der Maschine her durch das ganze Schiff ging, erinnert, daß dies unser Quartier uns in die weite Ferne trug. Wir aßen im selben Raum, an der Seite, an langen Tischen, und bekamen an diesem Abend Erbssuppe und Kaffee.

Nachher ging ich noch einige Zeit hinauf und stand im Windschutz der ersten Kajüte an der Reeling und sah nach der Küste hinüber. Ich sah aber im Dunkeln nichts weiter als von den Lichtern des Schiffes einen gelblichen, wirren Schein in schwarzen, schwer rauschenden Wellen, und in der Ferne einige stillstehende Lichter, wohl von Leuchttürmen oder Feuerschiffen; und am Himmel die Sterne. Da wurde ich von dem Gedanken bedrückt, daß ich fortgebracht würde und mich nicht dagegen wehren könnte und in der Fremde vielleicht Furchtbares erleben müßte. Ich fand aber Hilfe, als ich vor Gott gelobte, daß ich gut und fröhlich und mutig sein wolle, was mir auch geschähe.

Am andern Morgen sahen wir nichts als weites, dunkelgraues Meer, soweit das Auge sah. Am Horizont standen einige Rauchwolken und einige kleine Segel. Wir gingen zum Appell an Deck und bekamen jeder auf unsern linken Arm einen Anzug aus leichtem braunen Leinen, das Khaki heißt, und große, topfartige, hellbraune Helme aus Kork, sogenannte Tropenhelme. Wir wunderten uns und lachten; und gingen in unsern Schlafraum und probierten die Helme und machten viel Unsinn. Nachher befestigten wir Knöpfe an die Anzüge. Wir standen aber viel an den Bullaugen und sahen hinaus. So waren wir den ganzen Tag sehr tätig. Einige schrieben schon die ersten Ansichtspostkarten.

Am Spätnachmittag stand ich noch längere Zeit mit Heinrich Gehlsen vorn an der Back und redete mit ihm über die Kinderzeit. Nachher kamen noch einige andere Einjährige, davon der eine ein Arzt war – wie ich nachher erfuhr –; und fingen an mit ihm zu reden. Da sie aber begannen von gelehrten Dingen zu sprechen, ging ich fort. Ich bin nachher häufig mit Gehlsen zusammengekommen. Er war nur klein von Figur und von Gesicht zart; aber es stak ein ganzer Mann in ihm. Er war auch nachher im Busch umsichtig, anschlägig und tapfer.

Am zweiten Tag standen wir lange an der Steuerbordreeling und sahen nach der Küste von England hinüber, welche, gar nicht fern, mächtig schroff und stark aus dem Wasser aufstieg, und nach den Fischerboten, welche mit ihren grauen oder schwarzen Segeln in großer Zahl auf dem weiten, bewegten Meer lagen. Als ich dies große, weite Bild sah, dachte ich daran, daß wohl so klein und noch kleiner jene Fahrzeuge gewesen waren, mit denen einst vor tausend und mehr Jahren unsere Vorfahren dicht über den Wogen, ja fast zwischen ihnen, diesen rauhen Weg übers Meer gefahren waren, den wir jetzt fuhren; und ich malte mir die wilden Kämpfe aus, die sie bestanden hatten, ehe sie oben auf diesen hohen, starken Ufern Hütten gebaut und Heimat gefunden hatten. An dies alles dachte ich und freute mich, daß ich einen so guten Lehrer gehabt hatte und daß ich wohl als der erste von allen, die mit mir die Itzehoer Volksschule besucht hatten, diese Gegend mit meinen Augen sah.

Als ich noch so stand, ging der Stabsarzt an mir vorüber; neben ihm ging ein Oberleutnant zur See. Sie wollten wohl einen Matrosen besuchen, der krank war. Wir hatten nämlich auch ein Kommando Matrosen an Bord, welches zum Ersatz für den Habicht hinausfuhr. Sie blieben eine Weile nicht weit von mir an der Reeling stehen und ich hörte, wie der Oberleutnant zu dem andern sagte: »Wir Seeleute denken anders über die Engländer, als die Menschen drinnen im Lande: Wir treffen sie in allen Häfen der Erde und wissen, daß sie von allen die respektabelsten Leute sind. Da hinter den hohen Kreidefelsen wohnt doch das erste Volk der Erde, vornehm, weltklug, tapfer, einig und reich. Wir aber? Eine einzige ihrer Eigenschaften haben wir von alters her: die Tapferkeit. Eine andere gewinnen wir langsam: den Reichtum. Ob wir den Rest jemals bekommen: das ist unsre Lebensfrage.« Ich wunderte mich über das Wort. Aber nachher sprachen auch die alten Afrikaner, die ich kennen lernte, mit großer Hochachtung von den Engländern. Das Wetter war kalt, hell und windig. Wir sahen kleinere Schiffe auf den Wogen auf- und niedergehen; aber unser großes Schiff rührte sich nicht viel, und es waren nur Einige ein wenig seekrank. Ich konnte es nicht ertragen, das lange, lange Deck entlang zu sehn, wie es sich langsam ein wenig hob und dann wieder hinunterging. Es erschien mir so unvernünftig und unglaublich, und es legte sich ein Druck auf den Vorderkopf und auf den Leib. Auch andern ging es so. Aber wenn ich mich dann zusammennahm und mich aufrichtete und hin und her ging und weit übers Meer sah, verging es wieder. Aber als wir aus dem Englischen Kanal heraus und in das Gebiet der Biscaya kamen, da wurde es plötzlich schlimm.

Ich stand gerade in Gedanken vor meinem Bett, Behrens neben mir; wir besahen gemeinsam ein Bild seiner Eltern, das sie ihm mitgegeben hatten. In dem Augenblick hob und schob sich ganz plötzlich der Boden schräg unter unsern Füßen, während im gleichen Augenblick ein mächtiges Krachen, Klirren, Fallen und Schreien von überall her kam und wir beide übereinander und über das Bett fielen, und mit Armen und Beinen nach allen Richtungen Hilfe und Stützen suchten. Mühsam kamen wir wieder hoch und griffen nach den eisernen Stangen, welche die Bettstellen trugen, und torkelten, indem nun die andere Seite des Schiffes gewaltig hoch fuhr, gegen die andere Bettreihe; und strebten aus den Bettreihen heraus, als wenn da Rettung wäre. Ich hatte aber erst wenige Schritte gemacht, da war mir zumute wie damals, als ich zwölfjährig die erste Zigarre geraucht hatte. Ein Druck lag mir schwer auf dem Kopf, und mein Magen stieg und stieg zum Hals hinauf. Mein ganzer Mut und all meine Lebenslust war weg, und Angstschweiß tropfte mir von der Stirn. Da ging ich taumelnd und kläglich den Gang wieder zurück und warf mich auf mein Bett. Es war nur gut, daß ich nicht in ein oberes Bett hinauf mußte.

Es war eine schlimme Nacht. Wenn ich jetzt, nach zwei Jahren, daran denke, wird mir noch wieder schlimm zumute und ich muß schlucken. Was war das für ein Gespuck und ein Gewürge! Viele jammerten, als ob ihr letzter Tag gekommen wäre. Bloß einer, der ja wohl von der Kinderflasche an Seewasser getrunken hatte, oder auf irgendeine andere Art einen ausgepichten Magen hatte, lachte zuweilen auf, und zwar so heimlich und von Herzen, als wenn unter lauter heulend Verdammten ein Engel lacht, aus seiner schönen und sichern Seligkeit heraus.

Als ich gegen Morgen aus schwerem, dumpfem Schlaf erwachte, war es etwas ruhiger. Doch stöhnten noch viele. Der Ausgepichte aber pfiff leise und gemütlich. Da wurde ich zornig und überredete mich und nahm all meinen Willen zusammen und achtete auf das Hin- und Herfallen des Schiffes und dachte: »Sieh! Hier geht es hin, da geht es hin. Es kann nicht anders. Es muß so. Und alles, was dran und drin ist, muß mit. Es kann nicht anders sein und es ist nichts dagegen zu machen, und daß man sich dagegen auflehnt, ist ein Unsinn. Geh hier hin! So! Kannst du nicht weiter? Dann geh dahin! So! Kannst du nicht weiter? Dann geh wieder nach der andern Seite! So redete ich und wurde munter; und hörte dem Ausgepichten zu und merkte, daß er gut im Takt pfiff, in dem das Schiff hin- und herging.

Da merkte ich, daß es besser mit mir wurde, und gleichzeitig, daß eine schreckliche Luft im Raum war. Ich setzte mich bedächtig aufrecht im Bett, dann nahm ich vorsichtig die Füße herunter. Dreimal stellte ich mich auf die Füße, und dreimal setzte ich mich wieder hin. Dann ging ich stolpernd und ganz langsam und vorsichtig, als hätte ich einen Magen von dünnem Glas, und kam glücklich hinaus. Ich tappte mit beiden ausgestreckten Armen nach der Reeling und fiel gegen sie und atmete die frische Luft und starrte dumm und dumpf in den nachtgrauen Morgen.

Und da, als ich so stand und auf das Zittern des Schiffes und auf sein schweres Wiegen achtete und auf die großen, schwer aufrauschenden und schäumenden Wogen starrte, hatte ich noch wieder ein besonderes Glück. Ich sah, nicht weit von unserm Schiff, einen mächtigen Segler dahingleiten. Alle seine ungeheuren Segel hoch, lag er schräg vorm Wind, daß ich im grauenden Morgenschein das ganze Deck sehen konnte und den Steuermann im dicken Mantel so recht gemütlich auf dem Skylight sitzen sah, die kurze Pfeife im Mund. Es hob und senkte sich, von der Back bis zum Heck, schwer und machtvoll; aus zwei Fenstern kam heller Lichtschein. So zog es, eine mächtige Erscheinung, wie voll von einer ruhigen, großen Seele, lautlos, schön und mühelos im dunkelgrauen Morgen die dunkle, wilde Meerbahn. Ich habe niemals etwas Schöneres gesehen, von Menschen gemacht, und ich wurde gesund davon.

Es wurde nun Tag für Tag wärmer. Nicht weil der Frühling kam, sondern weil wir immer weiter nach Süden fuhren und die Sonne also immer senkrechter auf uns fiel. Die Sonne strahlte, das Meer war wieder ruhig. Wir waren vormittags sehr fleißig. Es war überm Heck ein Balken aufgestellt, der an seinem oberen Ende eine Scheibe trug; danach schossen wir mit unseren neuen Gewehren. Die Offiziere schossen auch, jeder mit seinem Revolver; und jeder prahlte mit seiner Waffe. Nachmittags saßen wir auf dem Deck umher, reinigten die Gewehre, oder flickten, oder wuschen; und unterhielten uns und sangen dazu. Abends saßen wir im Kreise und erzählten uns Kasernengeschichten aus Kiel, oder es erzählte jeder aus seiner Heimat. Einige Schelme konnten Stücke vortragen, die sie gelernt hatten, oder aus der Luft griffen. Es ging alles auf Hochdeutsch. Sie neckten uns Holsteiner aber, weil wir das »s« so zwischen die Lippen nahmen, als wäre es eine Nadel. Ich freute mich, daß wir Schleswig-Holsteiner an Bord zufällig lauter ordentliche Leute waren. Es gibt ja auch in unserer Provinz kümmerliche Menschen.

Wir sprachen natürlich auch viel über die nächste Zukunft und ärgerten uns sehr, wenn wir daran dachten, daß der Aufstand vielleicht niedergeschlagen sein könnte, wenn wir einträfen, und wir also vielleicht gar nicht von Bord kämen. Wir wollten doch wenigstens das Land betreten haben und nachher zu Hause von den afrikanischen Urwäldern, Affenherden und Antilopenrudeln erzählen können und von Strohhütten unter hohen Palmenschatten.

Einige spielten immer Skat. Ihr Eifer wurde immer größer; ihre Karten immer schmutziger. Es war ihnen ganz einerlei, was um sie vorging. Ob wir zu ihnen sagten: »Ihr da, da sind fliegende Fische zu sehen! Sie schwenken ein wie Schwadronen!« Oder: »Ein großer englischer Dampfer kommt vorüber!« Oder: »Ihr da, seht mal auf, wie schön die Sonne untergeht: das ganze Meer bis zu ihr hin ist goldgrün, und jede Welle hat einen blauschwarzen Kamm.« Oder: »Wir sehen den Rücken von einem Walfisch!« Oder: »Habt Ihr schon Meerleuchten gesehn? Geht doch mal nach dem Heck und seht, wie die aufbrodelnden Wellen ganz voll von warmem, rotem Feuer sind.« Aber sie sahen nicht auf. Sie schüttelten ärgerlich den Kopf; oder sagten: »Guck Dir das man genau an!« und spielten weiter. Sie spielten um nichts.

Es waren ziemlich viele Kleine und ganz Junge unter uns, zwanzig Jahre alt und noch darunter. Ich glaube, von ihnen hatte mancher schweres Heimweh. Und einige von ihnen erschraken, so schien es mir, über alles Neue, das sie sahen. Es war ihnen verwunderlich und fast unheimlich, und sie wurden immer stiller. Ich dachte darüber nach: wie wohl diese so Jungen, so Stillen sich machen würden, wenn wir jetzt in einen wirklichen, harten Krieg hineingingen. Wir gingen in einen wirklichen, harten Krieg hinein. Sie haben sich alle gut gemacht.

Andere saßen in einer Ecke und übten stundenlang, eine Kapelle zustande zu bringen. Der eine hatte einen Kamm quer vorm Mund, der andere klapperte mit Holzstücken, der dritte pfiff durch die Finger; unsere Spielleute lieferten Flöte und Trommel. Ein kleiner Schlesier war der Hauptmakker. Er war es auch, der an jedem Abend die Lieder anstimmte, die wir zusammen sangen. Und besonders war es ein Lied, das wir sangen, daß es weit und traurig übers Meer klang: ›Nach der Heimat möcht' ich wieder.‹ Wenn ich jetzt im Geist die einzelnen Gesichter sehe, die es damals sangen, wird mir das Herz still, und ich muß die Lippen zusammenpressen.

Es wurde immer wärmer und sonniger. Wir kamen in die Höhe der Straße von Gibraltar. Wir zogen die blauen Anzüge aus und zogen die leinenen braunen Khakisachen an. Immer, Tag und Nacht, zitterte das Schiff vom Gang der Maschine, wie der menschliche Körper vom Schlag des Herzens. Gott mag wissen, wie viel mal sie sich gedreht hat. Das Meer war immer gleicherweise sonnig, scheinend weithin. So jagten wir nach dem Süden, immer weiter, Tag und Nacht. Ich wunderte mich, wie groß die Welt war. Eines Tages sah ich auf der großen Karte, welche an der Treppe hing und auf welcher die tägliche Stellung unsres Schiffes bezeichnet war – wir standen oft in Haufen vor dieser Karte –, daß nun bald die Insel Madeira kommen mußte.