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Adolf, Hepner

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Project Gutenberg's Josef Dietzgens philosophische Lehren, by Adolf HepnerThis eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and withalmost no restrictions whatsoever.  You may copy it, give it away orre-use it under the terms of the Project Gutenberg License includedwith this eBook or online at www.gutenberg.org/licenseTitle: Josef Dietzgens philosophische LehrenAuthor: Adolf HepnerRelease Date: November 29, 2015 [EBook #50574]Language: German*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK JOSEF DIETZGENS ***Produced by Alexander Bauer and the Online DistributedProofreading Team at http://www.pgdp.net

Anmerkungen zur Transkription

Das Buch ist original in Fraktur gesetzt.

Im Original gesperrter Text ist so ausgezeichnet.

Im Original in Antiqua gesetzter Text ist so ausgezeichnet.

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Weitere Anmerkungen zur Transkription finden sich am Ende des Buches.

Josef Dietzgens Philosophische Lehren

Von Adolf Hepner

Mit einem Porträt von Josef Dietzgen

Stuttgart Verlag von J. H. W. Dietz Nachf. G. m. b. H. 1916

Alle Rechte vorbehalten.

Druck von J. H. W. Dietz Nachf. G. m. b. H. in Stuttgart.

Inhalts-Verzeichnis.

Seite

I.

Einleitendes

5

II.

Das Wesen der menschlichen Kopfarbeit

9

III.

Dietzgens monistische Erkenntnislehre

23

IV.

Dietzgens Ethik

29

V.

Die Religion der Sozialdemokratie

38

VI.

Sozialdemokratische Philosophie

58

VII.

Drei polemische Abhandlungen

69

VIII.

Briefe über Logik

76

IX.

Erkenntnistheoretische Streifzüge

120

X.

Das Akquisit der Philosophie

139

XI.

Dietzgens pädagogische und Lebensweisheit

158

I. Einleitendes.

Nicht alles ist Gold, was unter dem Namen »Philosophie« bisher geglänzt hat. Und nicht einmal ist alles Gold, was die wirklichen Philosophen aus dem Schachte ihres tiefen Geistes hervorgeholt und vor der wißbegierigen Menschheit ausgebreitet haben. Gar vieles war von vornherein gegenstandslos, anderes ist von der Zeit überholt, als abgetan durch die moderne Wissenschaft zu betrachten, und von manch hochanspruchvollem Satze darf man sagen: »Lasciate ogni speranza! Laßt die Hoffnung draußen, ihn zu verstehen!«

In noch höherem Grade gilt dies von den Darstellern der philosophischen Systeme. An Lehrschriften der Philosophie besitzen wir eine Unzahl – strotzend von Gelehrsamkeit, von mehr oder minder verständlichen Theorien und Begriffsdefinitionen – über das Denkergebiet aller Zeiten sich erstreckend. So unentbehrlich diese Bücher auch für das philosophische Fachstudium sind – den, der nicht von Hause aus besondere Vorliebe für die Wissenschaft der Wissenschaften hegt, vermögen sie in den seltensten Fällen zu verlocken, sich ihr mehr als dilettantisch zu widmen.

So kommt es denn, daß nur wenige Intellektuelle, deren Berufswissenschaft kein eingehendes Studium der Philosophie erfordert, ihr ein mehr als oberflächliches Interesse zuwenden.

Die Philosophen und ihre Erklärer haben zum allergrößten Teil für die Ausprägung ihrer Gedanken eine Redeweise gewählt, deren Aneignung für viele weit schwieriger ist als das Erlernen irgendeiner europäischen Sprache. Hierdurch verleideten sie den Lesern die Lust zum Eindringen in die Wege und Irrwege der Erkenntnisforschung, so daß die Gedankenoperationen der Philosophen eine Terra incognita (ein unbekanntes Land) für diejenigen blieben, die der bescheidenen Ansicht sind, daß klares Denken nicht durch unklare Wiedergabe der Gedanken bezeugt wird.

Zugegeben, daß das Sichten des Urwalds der menschlichen Erkenntnis eine außergewöhnlich schwierige Arbeit war und an die Pioniere dieser Bemühungen nicht Ansprüche gestellt werden dürfen, die der moderne Literaturgeschmack gezeitigt hat. Immerhin sollten die Philosophen unserer Tage wenigstens sich bemühen, in gefälligerem Sprachgewande vor uns zu erscheinen als die meisten ihrer großen Vorgänger.

Daß Anmut des Ausdrucks mit Schärfe und Klarheit desselben wohl vereinbar ist, daß speziell die Würde der Philosophie durch Herabsteigen des Weltweisen vom hohen Kothurn der Schwerverständlichkeit keine Einbuße erleidet – zeigen unter anderem die Schriften Josef Dietzgens.

Eine Charakteristik des Mannes und seines Lebens liest man besser in der von Eugen Dietzgen den nur drei Bände umfassenden »Sämtlichen Schriften«[1] seines Vaters beigegebenen Biographie. Ich will lieber gleich ans Thema gehen und die wissenschaftliche Arbeit unseres Autors, die in seine letzten zwanzig Lebensjahre (1868 bis 1888) fiel, skizzieren.

Dietzgens erste und Hauptschrift, die er in seiner Petersburger Periode als technischer Fabrikleiter einer Lohgerberei verfaßte und auf eigenes Risiko herausgeben ließ, trägt den schlichten Titel: »Das Wesen der menschlichen Kopfarbeit« und den weiteren Vermerk: »Eine abermalige Kritik der reinen und praktischen Vernunft«. Mit dem letzten Wort im ersten Titel wollte Dietzgen vermutlich andeuten, daß er weder »Materialist« im Sinne der französischen Materialisten des achtzehnten Jahrhunderts, die den »Stoff« zum Fetisch machten, noch der »Ideenlehre« Hegels verfallen ist, der alles aus dem »Gedanken« ableitete. Aus dem Nebentitel erfahren wir deutlich, daß Dietzgens Weise von der des Königsberger Weisen erheblich abweicht.

Was Dietzgen von den früheren Philosophen in sich aufgenommen, brauchte er nicht ausdrücklich aufzuzählen, da das Neue und Originelle, das in seiner Behandlung des Gegenstandes sich mit dem Alten, Bekannten organisch verknüpft, dem sachkundigen Leser sich direkt offenbart. Man vergleiche zum Beispiel, wie Dietzgen vom dogmatischen Monismus Spinozas fortzuschreiten wußte zu einem erkenntniskritisch nachgewiesenen und erfahrungsmäßig kontrollierbaren Monismus, und man vergleiche ferner die Leibnizsche Lehre, daß keine absoluten Gegensätze im Weltall vorhanden sind, mit der Dietzgenschen. Leibniz wußte aus mystischer Befangenheit gegenüber dem persönlichen Gottesdasein keine erfahrungsmäßig nachweisbare Brücke zwischen dem Relativen und Absoluten zu finden und daher auch keine Versöhnung zwischen gedanklicher und sinnlicher Wirklichkeit aufzudecken; hier blieb er in einem absoluten Gegensatz noch stecken. Dietzgen geht mit Kant in der Erkenntnistheorie die schon vor Kant wegbar gemachte »a posteriori«-Strecke, das heißt er hält es mit Kant darin, daß Erkenntnis nur durch Erfahrung möglich; er verläßt Kant aber bei dessen »a priori«-Rückschritten, das heißt bei dessen Lehre, daß es auch Erkenntnisse ohne Erfahrung gibt.[2] Ebenso kritisch-induktiv steht Dietzgen der Philosophie Hegels gegenüber. Während dieser den Seinzusammenhang zum Entwicklungsprodukt der absoluten Erkenntnis macht, weist Dietzgen umgekehrt das Denken als ein relatives Entwicklungsresultat des absoluten Naturzusammenhangs nach. Aus diesem Grunde bleibt Hegels Dialektik[3] eine idealistisch-mystische Entwicklungslehre gegenüber der naturmonistischen Dialektik Dietzgens, welche induktiv nachweisbar fortschreitet bis zum letzten Vermittler aller Widersprüche, dem Universalzusammenhang.

II. Das Wesen der menschlichen Kopfarbeit.(Erkenntnislehre.)

In seinem »Wesen der menschlichen Kopfarbeit« zeigt Josef Dietzgen, »was die Philosophie positiv Wissenschaftliches gefördert hat«, und zwar, wie er sich ausdrückt, »langstielig und größtenteils unbewußt«. Er will »die allgemeine Natur des Denkprozesses enthüllen, weil diese Erkenntnis uns die Mittel an die Hand gibt, alle die allgemeinen Rätsel der Natur und des Lebens wissenschaftlich zu lösen und zu einem fundamentalen Standpunkt, zu einer systematischen Weltanschauung zu gelangen, welche das langerstrebte, aber nie erreichte Ziel der spekulativen Philosophie war«.

Unser Autor behandelt zunächst »die reine Vernunft oder das Denkvermögen im allgemeinen«, die allgemeine Natur des Denkprozesses, in dessen Erkenntnis, wie er in einer späteren Schrift mit Recht sagen darf, »das Fundament aller Wissenschaft liegt«. Dann geht er zum »Wesen der Dinge« über unter begründeter Abweisung von Kants »Ding an sich«, das heißt der Kantschen Theorie, daß hinter dem von uns Wahrgenommenen, hinter seiner Erscheinung, noch ein »Ding an sich« steckt. Dietzgen zeigt, daß eine Erscheinung nur vorhanden ist, sofern sie unserem Denkvermögen, beziehentlich unseren Sinnen sich offenbart; ein »Ding an sich«, das außerhalb der Erscheinungswelt existieren sollte, führt zum Köhlerglauben. Dietzgen weist Kants »Ding an sich« überzeugend auf als nichts Übersinnliches, beziehentlich von der Sinnlichkeit Unabhängiges (wie Kant das »Ding an sich« auffaßte), vielmehr erstens als absolut identisch mit dem Universum, dem einzigen »Ding an sich«, das alle anderen Dinge in sich trägt und nur absolut »an sich« durch dieses »in sich« ist; und zweitens als relativ identisch mit dem allgemeinen Bild der Vorstellung oder dem Begriff, die der Mensch mittels Denkens aus dem sinnlich Besonderen entwickelt. Dietzgen behandelt dann »die Praxis der Vernunft in der physischen Wissenschaft« – Ursache und Wirkung, Geist und Materie, Kraft und Stoff – und im Schlußabschnitt die »praktische Vernunft oder Moral« – das Weise, Vernünftige, das sittlich Rechte, das Heilige.

In folgendem gebe ich, und zwar in Dietzgens Wortlaut, das Wesentlichste seiner Erörterungen und Befunde über den Denkprozeß:

Der Mensch denkt zunächst nicht, weil er will, sondern weil er muß; allgemeiner Zweck des Denkens ist die Erkenntnis … Der Denkakt vollzieht sich in Kontakt mit anderen, mit sinnlichen Erscheinungen und ist dadurch selbst eine sinnliche Erscheinung geworden, die in Kontakt mit einer Hirnfunktion den Begriff des »Denkvermögens« erzeugt.

Mit der reinen Denkkraft, ohne die Hilfe der Objekte (oder der Erfahrung darum), die allgemeinen Rätsel der Natur und des Lebens zu erforschen, dieser vergeblichen Mühe widmete sich die spekulative Philosophie. Wissenschaftliches Denken heißt nur das Denken, welches das Wirkliche, Sinnliche, Natürliche zum bewußten Gegenstand hat. Sowenig es ein Denken, eine Erkenntnis gibt ohne Inhalt, sowenig existiert ein Denken ohne Gegenstand oder ohne Objekt, ohne ein anderes, das gedacht oder erkannt wird. Objektloses Denken ist eine Unart der »spekulativen« Philosophie, welche Erkenntnisse ohne Begattung mit einem sinnlichen Gegenstand erzeugen will.

Denken ist eine Arbeit und bedarf wie jede andere Arbeit ein Objekt, an dem es sich äußert. Das Denken erstreckt sich allgemein auf alle Objekte.

Das Denkvermögen erforscht aller Dinge Wesen, wie das Auge alle Sichtbarkeit. Wie nun das Sichtbare im allgemeinen in der Theorie des Gesichts, so ist das Wesen der Dinge im allgemeinen in der Theorie des Denkvermögens zu finden.

Das Denkvermögen trennt Ursache und Wirkung.

Wir erkennen wohl alle Objekte, aber kein Objekt läßt sich ganz erkennen, wissen oder begreifen.

Denken ist eine Tätigkeit des Gehirns, wie Gehen eine Tätigkeit der Beine. Wir nehmen das Denken, den Geist ebenso sinnlich wahr wie den Gang, wie wir die Schmerzen, wie wir unsere Gefühle sinnlich wahrnehmen. Das Denken ist uns fühlbar als ein subjektiver Vorgang, als innerlicher Prozeß … Aus einem immateriellen, unfaßbaren Wesen wird nunmehr der Geist zu einer körperlichen Tätigkeit. Seinem Inhalt nach ist der Denkprozeß verschieden in jedem Augenblick und bei jeder Persönlichkeit, seiner Form nach bleibt er überall derselbe. Beim Denkprozeß unterscheiden wir, wie bei allen Prozessen, zwischen dem Besonderen oder Konkreten und dem Allgemeinen oder Abstrakten.

Hierauf erläutert Dietzgen den Begriff des Denkvermögens. Wie die Analyse des Begriffs überhaupt in der Erkenntnis des Gemeinschaftlichen, dem Allgemeinen der besonderen Teile seines Gegenstandes besteht, so ergibt die Analyse des Denkvermögens »das letztere als Fähigkeit, aus dem Besonderen das Allgemeine zu erfassen«.

Ist die Entwicklung des Allgemeinen aus dem Besonderen die generelle Methode, die Art und Weise überhaupt, mit welcher die Vernunft Erkenntnisse fördert, so ist die Vernunft vollständig damit erkannt als die Fähigkeit, dem Besonderen das Allgemeine zu entnehmen.

Die Vernunft besteht »rein« in der Entwicklung des Allgemeinen aus dem Besonderen. Erkenntnisse können nicht wahr an sich, sondern nur relativ, nur mit Bezug auf einen Gegenstand, nur auf Grund äußerlicher Tatsachen wahr sein; ihre Aufgabe besteht in der Entwicklung des Allgemeinen aus dem Besonderen. Das Besondere ist das Maß (Bedingung, Voraussetzung) des Allgemeinen.

Gedanken, Begriffe, Theorien, Wesen, Wahrheiten stimmen darin überein, daß sie einem Objekt angehören. Objekte sind Quanta der mannigfaltigen Sinnlichkeit. Ist das Quantum des Seins, das Objekt, das erkannt, begriffen oder verstanden werden soll, durch den Sprachgebrauch eines Begriffs vorher bestimmt oder begrenzt, so besteht die Wahrheit in der Entdeckung des Allgemeinen dieser also gegebenen sinnlichen Quantität.

Entwicklung des Allgemeinen ist die Aufgabe der Vernunft. Der Unterschied zwischen dem scheinbar und wahrhaft Vernünftigen reduziert sich auf den Unterschied zwischen dem Besonderen und Allgemeinen.

Das Allgemeine ist die Wahrheit. Das Allgemeine ist das, was allgemein ist, das heißt Dasein, Sinnlichkeit. Sein ist das allgemeine Kennzeichen der Wahrheit, weil das Allgemeine die Wahrheit kennzeichnet. Nun ist aber das Sein nicht da im allgemeinen, das heißt das Allgemeine existiert in der Wirklichkeit oder Sinnlichkeit nur auf besondere Art und Weise. Die Sinnlichkeit hat ihr wahres sinnliches Dasein in den flüchtigen, vielgestaltigen Erscheinungen der Natur und des Lebens. Demnach erweisen sich alle Erscheinungen als relative Wahrheiten, alle Wahrheiten als besondere zeitliche Erscheinungen.

Gegenüber dem Denkvermögen werden alle Eigenschaften zu wesenhaften Dingen, alle Dinge zu relativen Eigenschaften.

Der Unterschied zwischen Mittel und Zweck reduziert sich auf den Unterschied zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen. Und alle abstrakten Unterschiede reduzieren sich auf diesen einen Unterschied, weil die Abstraktions- oder die Unterscheidungskraft selbst sich reduziert auf das Vermögen, zwischen dem Besonderen und Allgemeinen zu unterscheiden.

Wir werden später sehen, wie Dietzgen mit der »Entwicklung des Allgemeinen aus dem Besonderen« manche der bisher strittigsten Fragen, manches der schwierigsten Probleme löst.

Verweilen wir noch einen Augenblick beim »Denken«. Dietzgen sagt: Das Denkvermögen ist der Vermittler aller Gegensätze, weiß in aller Verschiedenheit Einheit zu finden.

Das Bewußtsein generalisiert den Widerspruch; es erkennt, daß alle Naturstücke in Widerspruch leben, daß alles, was da ist, das, was es ist, nur durch Mitwirkung eines andern, eines Gegensatzes ist. Die Wissenschaft des Denkvermögens löst, durch Generalisation des Widerspruchs, alle besonderen Widersprüche auf. Gegensätze bedingen sich wechselseitig; Wahrheit und Irrtum sind wie Sein und Schein, wie Tod und Leben, wie alle Dinge der Welt, nur komparativ, nur dem Maße, dem Volumen oder Grade nach verschieden.

Die letzten drei Sätze enthalten in Kürze die grundlegende, monistische Lehre von der physischen und psychischen Relativität aller Dinge im Universum, ihrer Abhängigkeit vom Universum und voneinander; die Lehre vom Universalzusammenhang des Kosmosinhalts – eine Lehre, die sich wie ein roter Faden in zahlreichen Variationen durch alle Schriften unseres Autors zieht. Diese Wiederholungen der an praktischen Beispielen demonstrierten Lehre erweisen sich nicht nur als sehr nützlich, sondern erscheinen mir durchaus notwendig zur Verbreitung und Festigung der monistischen Weltanschauung, die sich gegen die traditionelle dualistische doch nur sehr mühselig durchringt.

Der aufmerksame Leser wird hier schon bei der flüchtigen Erwähnung des »Universalzusammenhangs alles Kosmosinhalts« diesen Gedanken auf das soziale Gebiet zu übertragen und die hohe Bedeutung der Dietzgenschen Lehre für die sozialistische Propaganda zu würdigen wissen, insbesondere wenn er aus der Naturwissenschaft mit dem kosmischen Universalzusammenhang vertraut ist.[4] Die Relativität der Erkenntnis, des Wissens, der Werte, speziell der Wahrheit, des Rechts und der Sittlichkeit ist zwar Weisen aller Zeiten bekannt gewesen. Schwerlich aber hat vor Dietzgen ein Denker – und es sind bald dritthalbtausend Jahre, seit Heraklit die erste Anregung hierzu gegeben – das Ineinanderfließen der Dinge so klar und überzeugend gelehrt und auf alles Dasein ohne Ausnahme angewandt; schwerlich hat ein Denker vor Dietzgen den im Universalzusammenhang liegenden Grundgedanken des Monismus auf das ökonomisch-soziale Gebiet übertragen.

Aber der stärkste Gehalt des Dietzgenschen Naturmonismus (in des Autors Darlegungen der Einheitlichkeit alles Seins) liegt meines Erachtens in seiner Erläuterung des Zusammenhangs des Geistes mit dem Weltall:

Die Frage nach dem Wesen des Geistes ist ein populäres Objekt, das nicht nur von Philosophen vom Fach, das von der Wissenschaft überhaupt kultiviert ist, sagt Dietzgen, und er fährt also fort:

Wir unterscheiden zwischen Sein und Denken. Wir unterscheiden den sinnlichen Gegenstand von seinem geistigen Begriff. Gleichwohl ist doch auch die unsinnliche Vorstellung sinnlich, materiell, das heißt wirklich. Ich nehme meinen Schreibtischgedanken ebenso materiell wahr, das heißt als ein wirkliches Gefühl, wenn auch ein innerliches, wie ich den Schreibtisch selbst äußerlich fühle. Allerdings wenn man nur das Greifbare materiell nennt, dann ist der Gedanke immateriell. Dann ist aber auch der Duft der Rose und die Wärme des Ofens immateriell. Wir nennen besser vielleicht den Gedanken sinnlich, oder noch besser wirklich. Der Geist ist wirklich, ebenso wirklich wie der greifbare Tisch, wie das sichtbare Licht, wie der hörbare Ton. Der Geist ist nicht weiter vom Tisch, vom Licht, vom Ton verschieden, wie diese Dinge untereinander verschieden sind.

Wir leugnen nicht die Differenz, wir behaupten nur die gemeinschaftliche Natur dieser Dinge. Wenigstens wird mich der Leser nun nicht mißverstehen, wenn ich das Denkvermögen ein materielles Vermögen, eine sinnliche Erscheinung nenne.

Jede Funktion des Geistes setzt einen Gegenstand voraus, von dem sie erzeugt ist, der den geistigen Inhalt abgibt.

Der Geist ist eine körperliche Tätigkeit, Denken eine Funktion des Gehirns.

Durch Entlarvung des »reinen Geistes« enthüllen wir den letzten Urheber alles Spuks.

Die Materie, das heißt das fühlbare Sein überhaupt, ist die Schranke des Geistes; er kann nicht über sie hinaus. Sie gibt ihm den Hintergrund zu seiner Beleuchtung, aber sie geht nicht auf in der Beleuchtung.

Man hat sich gewöhnt, materielle und geistige Interessen als absolute Gegensätze zu unterscheiden, obwohl die materiellen Interessen nur der abstrakte Ausdruck für unser Dasein sind … Das Höhere, Geistige, Ideale ist nur eine besondere Art der menschlichen Interessen; geistige und materielle Interessen unterscheiden sich, wie zum Beispiel Kreis und Viereck; letztere sind Gegensätze und doch nur verschiedene Klassen der allgemeineren Form … Der christliche Gegensatz von Geist und Fleisch ist im Zeitalter der Naturwissenschaft praktisch überwunden. Es fehlt die theoretische Lösung, die Vermittlung, der Nachweis, daß das Geistige sinnlich und das Sinnliche geistig ist, um die materiellen Interessen vom bösen Leumund zu befreien.

Ähnlich beschwert sich Dietzgen an anderer Stelle unseres Buches über das Nichtverständnis des Denkprozesses in den Kreisen der Naturwissenschafter:

Die Praxis der Vernunft, den Gedanken aus der Materie, die Erkenntnis aus der Sinnlichkeit, das Allgemeine aus dem Besonderen zu erzeugen, ist in der physischen Forschung auch allgemein, jedoch nur praktisch anerkannt. Man verfährt induktiv und ist sich dieses Verfahrens bewußt, aber man verkennt, daß das Wesen der Naturwissenschaft das Wesen des Wissens, der Vernunft überhaupt ist. Man mißversteht den Denkprozeß. Man ermangelt der Theorie und gerät daher nur zu oft aus dem praktischen Takte. Das Denkvermögen ist der Naturwissenschaft immer noch ein unbekanntes, geheimnisvolles, mystisches Wesen. Entweder sie verwechselt materialistisch die Funktion mit dem Organ, den Geist mit dem Gehirn, oder denkt idealistisch das Denkvermögen als ein unsinnliches Objekt außerhalb ihres Gebiets gelegen.

Um die Dinge ganz zu nehmen, müssen wir sie praktisch und theoretisch, mit Sinn und Kopf, mit Leib und Geist ergreifen. Mit dem Leibe können wir nur das Leibliche, mit dem Geiste nur das Geistige ergreifen. Auch die Dinge haben Geist. Der Geist ist dinglich, und die Dinge sind geistig. Geist und Dinge sind nur in Relationen (in ihren Beziehungen zum Gesamtzusammenhang, auch Natur und Universum genannt) wirklich.

So schrieb Dietzgen 1868, Jahrzehnte vor der monistischen Rebellion von Ernst Mach und seiner Physikerschule, gegen den Dualismus.[5]

Allerdings unterstützen die modernen Physiker die Lehre, daß wir die geistigen Vorgänge objektiv sinnlich wahrnehmen, durch naturwissenschaftliche und physiologische Beweise, die zu Dietzgens Zeit nicht vorhanden waren. Siehe zum BeispielVerworn, Die Mechanik des Geisteslebens, 1910, der ebenfalls von Dietzgen keine Kenntnis hatte. So erhält denn unseres Autors philosophische Genialität durch die spätere, von ihm unabhängige, naturwissenschaftliche Forschung eine glänzende Anerkennung, wenn auch die Philosophen vom Fach sich noch lange besinnen werden, einem Manne, der »nur Lohgerber« gewesen, ein Wort der Würdigung, sei es auch oppositioneller, in ihrem Hörsaale zu widmen.[6]

Für sehr bedeutend halte ich Dietzgens Behandlung der »Kraft- und Stoff«-Frage mittels der Lehre von der Entwicklung des Allgemeinen aus dem Besonderen. Ich lasse daher das Wesentlichste in des Autors Wortlaut hier folgen:

Der Idealismus sieht nur die Verschiedenheit, der Materialismus nur die Einheit von Körper und Geist, Erscheinung und Wesen, Inhalt und Form, Stoff und Kraft, Sinnlichem und Sittlichem – alles Unterschiede, die in dem einen Unterschied des Besonderen und Allgemeinen ihre gemeinschaftliche Gattung finden …

Wie verhält sich das Abstrakte zum Konkreten? So stellt sich das gemeinschaftliche Problem derjenigen, welche in spiritueller Kraft, und derjenigen, welche im materiellen Stoff den Impuls der Welt, das Wesen der Dinge, das Nonplusultra der Wissenschaft finden zu können glauben … Wir haben da zwei Parteien, welche mit differenten Worten sich in einer unbestrittenen Sache herumzanken. Um so lächerlicher ist der Streit, je ernsthafter er genommen wird. Wenn jener die Kraft vom Stoffe unterscheidet, so will er damit nicht leugnen, daß die wirkliche Erscheinung der Kraft unzertrennlich an Stoff gebunden ist. Wenn der Materialist behauptet, daß kein Stoff ohne Kraft, keine Kraft ohne Stoff ist, so will er damit nicht leugnen, was der Gegner behauptet, daß Kraft und Stoff different sind. Der Streit hat seinen guten Grund, seinen Gegenstand, aber der Gegenstand kommt im Streite nicht zum Vorschein. Er wird von den Parteien instinktiv verhüllt, um sich nicht die gegenseitige Unwissenheit gestehen zu müssen. Jeder will dem andern beweisen, daß dessen Erklärungen nicht ausreichen – ein Beweis, der von beiden hinreichend dargetan wurde. Büchner gesteht in den Schlußbetrachtungen zu »Kraft und Stoff«, daß das empirische Material nicht ausreiche, bestimmte Antworten auf transzendente Fragen zu geben, um diese Fragen positiv beantworten zu können; dagegen, sagt er ferner, »reicht es vollkommen aus, um sie negativ zu beantworten und die Hypothese zu verbannen«. Mit anderen Worten heißt das: die Wissenschaft der Materialisten reicht zu dem Beweise aus, daß der Gegner nichts weiß.

Der Spiritualist und Idealist glaubt an ein geistiges, das heißt gespenstiges, unerklärbares Wesen der Kraft. Die materialistischen Forscher sind ungläubig. Eine wissenschaftliche Begründung des Glaubens oder Unglaubens ist nirgends vorhanden. Was der Materialismus voraus hat, besteht darin, daß er das Transzendentale, das Wesen, die Ursache, die Kraft nicht hinter der Erscheinung, nicht außerhalb des Stoffes sucht. Darin jedoch, daß er einen Unterschied zwischen Kraft und Stoff verkennt, das Problem leugnet, bleibt er hinter dem Idealismus zurück. Der Materialist pocht auf die tatsächliche Untrennbarkeit von Kraft und Stoff und will für die Trennung nur einen »äußerlichen, aus den systematischen Bedürfnissen unseres Geistes hervorgegangenen Grund« (Büchner) gelten lassen. Die Trennung der Kräfte von den Stoffen ist aber keine »äußerliche«, sondern eine innerliche, das heißt wesentliche Notwendigkeit, welche allein uns befähigt, die Erscheinungen der Natur zu erhellen und zu verstehen.

Die erste Vermittlung des Gegensatzes zwischen Idealismus und Materialismus vollbrachte die Phantasie durch den Glauben an Geister, welche sie allen natürlichen Erscheinungen als deren geheimes ursächliches Wesen substituierte.

Wenn es uns gelungen ist, den Dämon des reinen Geistes zu erklären, wird es uns nicht schwer, den besonderen Geist der Kraft überhaupt durch die generelle Erkenntnis ihres Wesens auszutreiben und somit auch diesen Gegensatz zwischen Spiritualismus und Materialismus wissenschaftlich zu vermitteln.

Am Gegenstand der Wissenschaft, am Objekt des Geistes ist Kraft und Stoff ungetrennt. In der leibhaften Sinnlichkeit ist Kraft Stoff, ist Stoff Kraft. »Die Kraft läßt sich nicht sehen.« Ei doch! Das Sehen selbst ist pure Kraft. Das Sehen ist so viel Wirkung des Gegenstandes als Wirkung des Auges, eine Doppelwirkung, und Wirkungen sind Kräfte. Wir sehen nicht die Dinge selbst, sondern ihre Wirkungen auf unsere Augen: wir sehen ihre Kräfte. Und nicht nur sehen läßt sich die Kraft, sie läßt sich hören, riechen, schmecken, fühlen. Wer wird leugnen, daß er die Kraft der Wärme, der Kälte, der Schwere zu fühlen vermag? …

Ebenso wahr, wie sich sagen läßt, ich fühle den Stoff und nicht die Kraft, läßt sich umgekehrt sagen, ich fühle die Kraft und nicht den Stoff. In der Tat, am Objekt, wie gesagt, ist beides ungetrennt. Vermöge der Denkkraft aber trennen wir an den neben- und nacheinanderfolgenden Erscheinungen das Allgemeine vom Besonderen. Aus den verschiedenen Erscheinungen unseres Gesichtes zum Beispiel abstrahieren wir den allgemeinen Begriff des Sehens überhaupt und unterscheiden ihn als Sehkraft von den besonderen Gegenständen oder Stoffen des Gesichtes. Aus sinnlicher Vielfältigkeit entwickeln wir mittels der Vernunft das Allgemeine. Das Allgemeine mannigfaltiger Wassererscheinungen, das ist die vom Stoffe des Wassers unterschiedene Wasserkraft. Wenn stofflich verschiedene Hebel gleicher Länge dieselbe Kraft besitzen, ist es wohl augenscheinlich, daß hier die Kraft nur so weit vom Stoffe verschieden ist, als sie das Gemeinschaftliche verschiedener Stoffe darstellt. Das Pferd zieht nicht ohne Kraft, und die Kraft zieht nicht ohne Pferd. In der Tat, in der Praxis ist das Pferd die Kraft, ist die Kraft das Pferd. Aber dennoch mögen wir die Zugkraft von anderen Eigenschaften des Pferdes als etwas Apartes unterscheiden, oder mögen das Gemeinschaftliche verschiedener Pferdeleistungen als allgemeine Pferdekraft abtrennen, ohne uns deshalb einer anderen Hypothese schuldig zu machen, als wenn wir die Sonne von der Erde unterscheiden; obgleich in der Tat die Sonne nicht ohne Erde, die Erde nicht ohne Sonne ist.

Die Sinnlichkeit ist uns nur durch das Bewußtsein gegeben, aber das Bewußtsein setzt dennoch die Sinnlichkeit voraus. Die Natur, je nachdem wir sie, vom Standpunkt des Bewußtseins, als bedingungslose Einheit oder, vom Standpunkt der Sinnlichkeit, als unbedingte Mannigfaltigkeit gelten lassen, ist grenzenlos vereint und grenzenlos getrennt. Wahr ist beides: Einheit und Vielheit, doch jedes nur unter gewissen Voraussetzungen, relativ. Es kommt darauf an, ob wir vom Standpunkt des Allgemeinen oder des Besonderen, ob wir mit geistigen oder mit körperlichen Augen umschauen. Mit geistigen Augen gesehen, ist der Stoff Kraft. Mit körperlichen Augen gesehen, ist die Kraft Stoff. Der abstrakte Stoff ist Kraft, die konkrete Kraft ist Stoff. Stoffe sind Gegenstände der Hand, der Praxis. Kräfte sind Gegenstände der Erkenntnis, der Wissenschaft.

Die Wissenschaft ist nicht beschränkt auf die sogenannte wissenschaftliche Welt. Sie reicht über alle besonderen Klassen hinaus, gehört dem Leben in seiner ganzen Breite und Tiefe. Die Wissenschaft gehört dem denkenden Menschen überhaupt. So auch die Trennung zwischen Kraft und Stoff. Nur die stumpfsinnigste Leidenschaft kann sie praktisch verkennen. Der Geizhals, der Geld anhäuft, ohne seinen Lebensprozeß zu bereichern, vergißt, daß die vom Stoffe verschiedene Kraft des Geldes das wertvolle Element ist; er vergißt, daß nicht der Reichtum als solcher, nicht die schlechte goldene Materie, sondern ihr geistiger Gehalt, die ihr inwohnende Fähigkeit, Lebensmittel zu kaufen; es ist, was das Streben nach ihrem Besitz vernünftig macht. Jede wissenschaftliche Praxis, das heißt jedes Tun, welches mit vorausbestimmtem Erfolge, mit durchschauten Stoffen agiert, bezeugt, daß die Trennung von Stoff und Kraft, wenn auch mit dem Gedanken vollzogen, also ein Gedankending, doch deshalb keine leere Phantasie, keine Hypothese, sondern eine sehr wesentliche Idee ist. Wenn der Landmann sein Feld düngt, geht er insofern mit reiner Düngkraft um, als es gleichgültig ist, in welchem Stoffe, ob in Kuhmist, Knochenmehl oder Guano sie sich verkörpert. Beim Abwägen eines Warenballens wird nicht der Stoff der Gewichtsstücke, nicht das Eisen, Kupfer oder der Stein, sondern die Schwerkraft pfundweise gehandhabt.

Allerdings, keine Kraft ohne Stoff, kein Stoff ohne Kraft. Kraftlose Stoffe und stofflose Kräfte sind Undinge. Wenn idealistische Naturforscher an ein immaterielles Dasein von Kräften glauben, welche gleichsam im Stoffe ihren Spuk treiben, die wir nicht sehen, nicht sinnlich wahrnehmen und dennoch glauben sollen, so sind es in diesem Punkte eben keine Naturforscher, sondern Spekulanten, das heißt Geisterseher. Doch ebenso kopflos ist andererseits das Wort des Materialisten, das die intellektuelle Scheidung zwischen Kraft und Stoff eine Hypothese nennt.

Damit diese Scheidung nach Verdienst gewürdigt sei, damit unser Bewußtsein die Kraft weder spiritualistisch verflüchtigt, noch materialistisch verleugnet, sondern wissenschaftlich begreift, dürfen wir nur das Unterscheidungsvermögen überhaupt oder an sich begreifen, das heißt seine abstrakte Form erkennen. Der Intellekt kann nicht ohne sinnliches Material operieren. Um zwischen Kraft und Stoff zu unterscheiden, müssen diese Dinge sinnlich gegeben, müssen sie erfahren sein. Auf Grund der Erfahrung nennen wir den Stoff kräftig, die Kraft stofflich. Das zu begreifende sinnliche Objekt ist also ein Kraftstoff, und da nun alle Objekte in ihrer leiblichen Wirklichkeit Kraftstoffe sind, besteht die Unterscheidung, welche das Unterscheidungsvermögen daran vollbringt, in der allgemeinen Art und Weise der Kopfarbeit, in der Entwicklung des Allgemeinen aus dem Besonderen. Der Unterschied zwischen Stoff und Kraft summiert sich unter den allgemeinen Unterschied des Konkreten und Abstrakten. Den Wert dieser Unterscheidung absprechen, heißt also den Wert der Unterscheidung, des Intellekts überhaupt verkennen.

Benennen wir die sinnlichen Erscheinungen Kräfte des allgemeinen Stoffes, so ist dieser einheitliche Stoff nichts weiter als die abstrakte Allgemeinheit. Verstehen wir unter der Sinnlichkeit die verschiedenen Stoffe, so ist das Allgemeine, welches die Verschiedenheit inbegreift, beherrscht oder durchzieht, die das Besondere erwirkende Kraft. Ob Kraft, ob Stoff genannt, das Unsinnliche, das, was die Wissenschaft nicht mit den Händen, sondern mit dem Kopfe sucht, das Wesenhafte, Ursächliche, Ideale, höhere Geistige ist die Allgemeinheit, welche das Besondere umfaßt.

III. Dietzgens monistische Erkenntnislehre.

Zeige man mir, wer vor oder nach Dietzgen (1868) das »Stoff- und Kraft«-Problem besser oder auch nur ebenso mustergültig behandelt hat – in rein philosophischer und sprachmeisterlicher Beziehung. Dietzgens allgemein verständliche Lösung eines der allerschwierigsten Menschheitsprobleme gehört zu den erstklassigen Kunstwerken der »Kopfarbeit«.

Zur Wertung von Dietzgens Arbeit dürfte das Nachstehende wohl am Platze sein:

Daß sinnliche Erfahrung der Erkenntnis zugrunde liegt, haben schon viele Philosophen des Altertums angenommen und außerdem vermutlich ungezählte Millionen nachdenklicher Menschen, die vor Lockes und David Humes Untersuchungen über den menschlichen Verstand (1690 respektive 1748) an Tieren und kleinen Kindern das allmähliche Wachsen des Intellekts der jungen Lebewesen mit Interesse beobachtet haben, wie die meisten von uns heute. Gleichwohl wurde uns keine Theorie der Bewußtseinsbewegung, keine Theorie der menschlichen Erkenntnis aus jener Zeit hinterlassen.

Schuld daran war in erster Linie die aus den frühesten Perioden überkommene Vorstellung vom Doppelwesen des Menschen, seiner Zusammensetzung aus Leib und Seele. Für »Seele« hielt man des Menschen Empfindungs- und Denkvermögen, einschließlich Ausdrucks unserer Empfindungen und Gedanken durch Sprache oder Gebärde oder einen Willensakt. Die »Seele« hieß auch der »Geist«, ein Ausfluß göttlichen Geistes, und deshalb mußte die Seele nach des Menschen Tode fortleben, unsterblich sein; daher gab es ein »Jenseits«.

Zum Unterschied von der Menschenseele erhielt das Empfindungs- und Denkvermögen der (ebenfalls »von einem Gott erschaffenen«) Tierwelt die Bezeichnung »Instinkt«.

Die »Unsterblichkeit der Seele« erstreckte sich über die gesamte Menschheit; das eine Stunde nach seiner Geburt verstorbene Kind hat ebenso Anteil daran wie die Seele der Kannibalen, obwohl das Menschenkind in seinen ersten Daseinstagen viel weniger »Seele«, das heißt Intellekt verrät als manches sich rasch entwickelnde Tier, und obwohl die Menschen im Urzustand der Wildheit und Wildnis mit dem Tier mehr Ähnlichkeit haben als einer »im Ebenbild Gottes« gedachten Kreatur.

Aus der Anatomie und Physiologie von Mensch und Tier kannte man zwar schon lange das mehr oder minder Gemeinsame beider; aber die kardinalen Verschiedenheiten von Mensch und Tier gestatteten immerhin die Voraussetzung einer göttlichen Menschenseele – als Ursache des Denkvermögens – in der »Krone der Schöpfung«.

Die erste naturwissenschaftliche Begründung der Deszendenz- oder Abstammungslehre durch Lamarck ist nur wenig über hundert Jahre alt. Bis dahin mußte die Tradition des Seelenglaubens, also die Annahme, daß der Mensch nur infolge des ihm eingeflößten göttlichen Geistes zu denken vermag, den Wert der Locke-Humeschen Erkenntnislehre als sekundär, wenn nicht gar unwesentlich erscheinen lassen.

Was liegt daran, wie der Denkprozeß sich vollzieht, wenn er ganz und gar eine göttliche Gnadenerscheinung ist?

Zudem lag vor hundert Jahren die Anatomie und Physiologie des Gehirns noch sehr im argen. Zwar ist das Gehirn als Sitz des Denkvermögens seit mehr als 2200 Jahren anerkannt, wenn auch Aristoteles den Sitz der Seele in das Herz verlegte und der hebräische Pentateuch ins Blut. Aber der Stand der Gehirnanatomie und -physiologie zu Lamarcks Zeit gestattete noch keine genaue Vorstellung von der Mechanik des Geisteslebens: wie die Dinge der Außenwelt, die durch unsere Sinnesorgane mit uns in Beziehung treten, bestimmte Vorgänge in unserem Nervensystem veranlassen. Gegen Mitte des siebzehnten Jahrhunderts kannte man erst sieben, am Ende des achtzehnten Jahrhunderts neun, zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts zwölf Paare von Gehirnnerven. Die Ganglienzellen und Nervenfasern, elementare mikroskopische Bestandteile der Nervenzellen, kennt man erst seit etwa siebenundsiebzig Jahren.

»Die Nervenfasern«, sagt Professor Verworn in seinem oben genannten Buche: Die Mechanik des Geisteslebens, »haben die Funktion, gewisse Vorgänge, die sich in den Zellen der Sinnesorgane und in den Nerv- oder Ganglienzellen abspielen, zu übertragen nach anderen Ganglienzellen und peripherischen Organen, wie den Muskeln, den Drüsen usw. Man kennt jetzt seit vierzig Jahren die Lokalisation in der motorischen Sphäre des Gehirns so genau und kann die Reizung so fein lokalisieren, daß man mit Sicherheit eine Bewegung im Daumen oder im Augenmuskel oder im Fußgelenk vorhersagen kann. Im Anschluß daran sind noch weitere Zonen auf der Großhirnrinde bekannt geworden, die mit unseren Sinnesempfindungen im engsten Zusammenhang stehen.

Klinische Erfahrungen der Psychiater ergaben, daß Krankheitsprozesse, die bestimmte Teile der Gehirnoberfläche zerstört hatten, von Ausfallssymptomen im Bewußtsein der betreffenden Menschen begleitet waren, und durch Experimente an Tieren – Exstirpationen gewisser Zonen der Gehirnrinde – lokalisierte man die Seh-, Hör-, Fühl-, Geruchs- und Geschmackssphäre.

Vorstellungen sind Bewußtseinsbewegungen, die ihren Ursprung im engsten Anschluß an Sinnesempfindungen haben. Ohne Sinnesempfindungen keine Vorstellung. Wir können direkt die Vorstellungen als Erinnerungsbilder von Empfindungen bezeichnen.«

Dietzgens »Wesen der menschlichen Kopfarbeit« ist somit, obwohl bald fünfzig Jahre alt, ein hochmodernes Buch.

Dietzgen behandelt den Geist, das Denkvermögen als »Organ des Allgemeinen«, das heißt der Natur, und weil der Geist ein Stück Natur, ist er, wie unser Autor sich in einer späteren Schrift ausdrückt, kein größeres Naturwunder als der Magnetismus, die Elektrizität usw.

Nach dem heutigen Stande der Naturwissenschaften und in Verbindung mit unserer Erkenntnis, daß Kraft Stoff und Stoff Kraft ist, darf man Dietzgens Satz, daß das »Denken eine Eigenschaft der Generalnatur« ist, ohne Vorbehalt unterschreiben.