Jouline Johnson - Felizitas Montforts - E-Book

Jouline Johnson E-Book

Felizitas Montforts

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Beschreibung

Wenn dein Leben durch einen Fluch bestimmt wird, für wen wärst du bereit, es zu opfern? Nach dem Unfalltod ihrer Mutter gerät das Leben der 24-jährigen Jouline Johnson komplett aus den Fugen. Nicht nur, dass ihre Mutter ein tödliches Geheimnis vor ihr hütete, nun wird sie in ihren Träumen auch noch von einem geheimnisvollen Mann verfolgt. Je heftiger sie versucht, die Fesseln der Vergangenheit zu lösen, desto mehr seltsame und schreckliche Dinge geschehen. Doch Jouline gibt nicht auf, selbst als sich der Geschmack von Blut auf ihre Zunge legt.

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Stapenhorststraße 15

33615 Bielefeld

www.tagtraeumer-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Text: © Felizitas Montforts

Buchsatz: Laura Nickel

Lektorat/ Korrektorat: Veronika Carver

Umschlaggestaltung: Juliane Buser - Grafikdesign

https://jb-grafikdesign.de/

©Shutterstock.com, ©Depositphotos, ©Adobe Stock

Illustrationen: © Paprikaa/ Dreamstime.com

Druck: Printed in Germany

ISBN: 978-3-946843-76-4

Alle Rechte vorbehalten

© Tagträumer Verlag 2020

Felizitas Montforts

Jouline

Johnson

Ein verfluchtes Erbe

Der Fluch

Als Leben den Tod gewählt,

wird er, der nicht zu seinesgleichen gehört,

über die Erde wandern.

Wandern wird er

Um die, die im Blut mit ihm vereint,

zu sich zu holen.

Durch den Bund der Vereinten

wird er zu der Macht gelangen,

die er begehrt.

So wird er auferstehen zu dem,

den Seinesgleichen fürchten,

mehr als das Leben.

Im Blut verbunden

liegt die Hoffnung.

Wenn anstatt Leben gewählt wird der Tod.

So seid ihr, die zu einer Familie gehören,

verbunden im Leben sowie im Tod.

Prolog

Krietsch!

Das schrille Geräusch einer Autobremse durchschnitt die Dunkelheit. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Jouline auf die Straße, auf der eben ihre Katze im Scheinwerferlicht aufgetaucht war.

„Boah, Bastet, du flohverseuchter Vierbeiner. Bist du lebensmüde?“ Ihr Herz pochte wild vor Schreck.

Natürlich erhielt sie von Bastet keine Antwort. Ihr Schatten war längst im prasselnden Regen verschwunden.

Tief atmete Jouline durch und rieb sich erschöpft die Augen. Es dauerte einen Moment, bis sich ihr Herzschlag wieder beruhigt hatte. Zum Glück wurde die Friedhofsallee, die Straße, in der sie wohnte, nur wenig befahren, erst recht zu dieser späten Uhrzeit. Da störte es nicht, dass ihr bereits in die Jahre gekommener Mini die Fahrbahn blockierte.

Langsam ließ Jouline den Blick über die Nachbarschaft gleiten. Licht blitzte durch die Rollläden der fest geschlossenen Fenster. Ihre Nachbarn genossen den Feierabend. Nur sie hatte mal wieder viel länger als nötig gearbeitet. Aber warum war bei ihr alles dunkel? Jouline stutzte. War ihre Mutter etwa schon ins Bett gegangen? Das wäre ungewöhnlich. Normalerweise arbeitete Tamara Johnson an ihren Manuskripten, bis Jouline sie aus ihrer rosaroten Liebesroman-Wattewelt holte.

Besorgt setzte Jouline den Wagen wieder in Bewegung, um ihn nur wenige Meter weiter in der kleinen Auffahrt vor ihrem Haus zu parken. Kaum, dass der Motor erstarb, ging die Innenbeleuchtung des Wagens an und ließ die draußen herrschende Dunkelheit noch undurchdringlicher wirken. Eilig zog Jouline die Kapuze ihrer roten Sweatjacke über den Kopf, stieg aus dem Auto und eilte durch den Regen die wenigen Schritte und Stufen hoch bis zur Haustür. Erst hier verriegelte sie den Mini per Knopfdruck. In dem Augenblick, als der Wagen abgeschlossen war, erlosch das letzte bisschen Licht, das ihr den Weg gewiesen hatte.

„Mist“, fluchte Jouline, als sie nun im Dunkeln versuchte, das Schlüsselloch zu finden. Sie sollte endlich mal eine Lampe mit Bewegungsmelder installieren, ging es ihr durch den Kopf.

Schließlich hatte sie das Loch gefunden und schloss mit klimperndem Schlüsselbund auf.

„Mom, ich bin da!“, rief Jouline, schloss hinter sich die Tür und knipste das Licht im Flur an. Ihr Blick fiel auf die unnatürlich und absolut reglos daliegende Gestalt ihrer Mutter - und in diesem Moment wurde ihr klar, dass es für Tamara Johnson nie wieder eine rosarote Wattewelt geben würde.

1

Jouline, sollte mir irgendetwas zustoßen, findest du in diesem Fach alle wichtigen Unterlagen und meinen letzten Willen. Bitte merk dir das gut, mein Schatz.“ Die lang vergangenen Worte ihrer Mutter tönten Jouline noch in den Ohren und sie erinnerte sich an den Kuss, den sie ihr damals auf die Wange gab.

Vorsichtig fasste sie sich ins Gesicht und glaubte, die zarte Berührung der Lippen noch immer zu spüren. Doch das Einzige, was sie dort ertastete, war ihre tränennasse Haut.

Damals war sie noch ein Kind gewesen. Sie hatte keinen weiteren Gedanken an die Unterlagen verschwendet, bis sie diese vor einer Woche hatte hervorholen müssen.

Tamara Johnson hatte für den Fall ihres Todes alles geregelt. Mit gerade einmal vierundzwanzig Jahren war Jouline nun Hausbesitzerin. Sie hatte Zugriff auf alle Konten, und das Grab, an dem sie nun in Süchteln, einem idyllischen Stadtteil der Kreisstadt Viersen, stand, war samt ausgesuchtem Sarg bereits bezahlt. Jouline hatte nur noch eine Nummer anrufen müssen und alles Weitere wurde automatisch geregelt.

Wer bitte machte so etwas? Diese Frage schrie eine Stimme in ihrem Kopf immer und immer wieder. Wer rechnete so fest mit seinem Tod, dass er alles bis ins kleinste Detail durchorganisierte? Und dann passierte tatsächlich ein Unfall, der ihrer Mutter das Leben kostete.

Schon spürte Jouline den ihr in den letzten Tagen so vertrauten Schmerz in der Brust. Angestrengt sog sie die Luft ein. Es tat weh, zu atmen. Ihre Mutter war tot! Sie würde nie, nie, nie wieder mit ihr sprechen können.

Krampfhaft ballte Jouline ihre Hände zu Fäusten. Der Regen vermischte sich mit kaltem Schweiß, der ihr auf die Stirn trat. Sie musste langsam atmen, sich entspannen. Aber wie, wenn das schwarze Loch, in das man ihre Mutter hinablassen würde, zu wachsen schien, als ob es auch sie verschlingen wollte?

Eine Hand legte sich vorsichtig auf Joulines Arm.

„JJ, Süße, es ist soweit“, hörte sie ihre beste Freundin wie aus weiter Ferne. Was war soweit? Benommen blickte Jouline sich um und wurde sich der wartenden Blicke der anwesenden Trauergäste bewusst. Nun spürte sie auch wieder den stetigen Nieselregen, der ihren schwarzen Trenchcoat bereits durchdrungen hatte. Das Wetter konnte kaum passender sein. Grau und trostlos, genau wie sich ihr Leben gerade anfühlte.

„Jouline?“ Auffordernd hielt Nicole ihr eine weiße Rose entgegen. Im ersten Moment wusste Jouline gar nicht, was sie von ihr wollte, bis ihr klar wurde, dass sie keins der Worte, die der Pfarrer gesprochen hatte, mitbekommen hatte. Jetzt war sie an der Reihe, ans Grab zu treten, und sich von ihrer Mutter zu verabschieden. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Sie wollte einfach nicht wahrhaben, dass der Leichnam ihrer Mutter dort unten in dieser aufgehübschten Holzkiste lag. Sie war nicht bereit, Lebewohl zu sagen. Es war zu früh, sie brauchte ihre Mum. Nein, das musste ein furchtbarer Irrtum sein!

Jouline schüttelte hilflos den Kopf. Es war kein Irrtum. Die Gestecke, die neben dem aufgeweichten Erdloch lagen, waren real. Genauso wie der leblose Körper, den sie am Fuße der Treppe gefunden hatte.

Mit zittrigen Händen nahm sie die Blume, von der man vorsorglich alle Dornen entfernt hatte, entgegen.

„Du schaffst das!“, sprach ihr Daniel, Joulines Fels in der Brandung und bester Freund, leise Mut zu. Seine hellbraunen Haare klebten nass am Kopf und wirkten viel dunkler als sonst. Dunkel waren auch die Schatten unter seinen Augen. Er war ihr, genau wie Nicole, seit dem tragischen Unfall nicht von der Seite gewichen. Beide waren für sie da gewesen, wenn sie schweißgebadet und schreiend aus Albträumen erwachte. Es war jedes Mal derselbe Traum, der mit den leblosen, offen stehenden Augen ihrer Mutter endete, die sie vorwurfsvoll anblickten. Nacht für Nacht versuchte Jouline, den Unfall zu verhindern. Sie verließ früher die Arbeit, sie rief Zuhause an, sie meldete sich krank und doch war der tödliche Sturz nicht aufzuhalten. Dann erwachte sie mit der Gewissheit, dass alles nur ein Traum gewesen war und die Wirklichkeit noch viel grausamer sein konnte als jeder Albtraum.

Ihre Freunde waren da gewesen, um sie zu halten und zu trösten, wenn die Tränen nicht aufhören wollten, zu fließen. Wenn der Schmerz über den Verlust sie so gefangen hielt, dass ihr das tägliche Leben, einfach den Tag zu überstehen, schon als unmögliche Aufgabe erschien. Die letzte Woche hatte alle drei an ihre Grenzen gebracht und Jouline immer wieder gezeigt, wie dankbar sie sein musste, solche Freunde zu haben.

Vorsichtig trat sie an den Rand des Grabes. Den schlichten Eichensarg hatte man bereits hinabgelassen und sie konnte die Blicke der ungeduldigen Friedhofsangestellten regelrecht spüren, die endlich mit ihrer Arbeit fortfahren wollten.

Rasch warf sie die Rose hinab und trat zurück. Nicole und Daniel folgten ihrem Beispiel und stellten sich dann rechts und links von ihr auf. Insgeheim fragte sich Jouline, ob ihre Freunde sie nur bei dem, was nun kam, unterstützen, oder sie daran hindern wollten, davonzulaufen.

Schon näherte sich eine schlicht, aber stilvoll gekleidete Frau mittleren Alters. Angestrengt versuchte Jouline, sich zu erinnern, ob sie dieser bereits einmal begegnet war. Bevor ihr Gedächtnis aber die Arbeit aufnehmen konnte, streckte ihr diese unbekannte Person die Hand entgegen, die Jouline ganz automatisch ergriff.

„Im Namen des gesamten AP Bernsen Verlages möchte ich Ihnen unser aufrichtiges Beileid zu Ihrem Verlust aussprechen. Ihre Mutter hinterlässt eine große Lücke und wir werden sie sehr vermissen“.

Ah, eine Verlagsvertreterin, schoss es Jouline durch den Kopf. Schnell bedankte sie sich und atmete erleichtert auf, als ihr ein bekanntes Gesicht entgegentrat.

Herzlich nahm sie Sonja Maier in die Arme. Sie war die wohl einzige Freundin ihrer Mutter und gleichzeitig deren langjährige Lektorin gewesen.

„Es tut mir so furchtbar leid. Du weißt, du kannst dich immer an mich wenden, wenn irgendetwas ist, oder du einfach nur reden möchtest. Versprich mir, dass du mich anrufst!“

„Danke Sonja, das werde ich bestimmt machen.“ Schnell wischte sich Jouline die Wangen trocken. Sie hatte gar nicht bemerkt, wann sie wieder angefangen hatte zu weinen. Ihre Augen sahen bestimmt rot und geschwollen aus.

„Hey Kleines!“, begrüßte Maximilian Black sie auf seine übliche Weise. Ein schwaches Lächeln stahl sich auf Joulines Gesicht, als Max - wie sie ihn nannte - auf sie zukam. Seine Umarmung war fest, warm und absolut ehrlich, und sie war froh, dass er gekommen war.

Maximilian Black, groß, schwarzhaarig und einfach zum Anbeißen. Fast zu gut aussehend für einen Mann, wenn da nicht diese kleine Narbe an der linken Augenbraue wäre, die Joulines Blick immer wie magisch anzog. Seit Jahren war er ihr heimlicher Schwarm, leider aber nie mehr.

Oft war er ihrer Mutter bei der Arbeit eine große Hilfe gewesen. Auch wenn sich Jouline fragte, warum ihre Mutter für das Schreiben von historischen Liebesromanen die Hilfe eines jungen Anwaltes brauchte. Tamara Johnson hatte mit ihrer Tochter kaum über die Arbeit gesprochen und Tamaras Verhältnis zu Max war immer rein beruflich gewesen. Leider traf dieses professionelle Verhalten auch auf sie und Max zu.

„Danke, dass du gekommen bist!“ Im schwarzen Maßanzug und dem langen Mantel war Max eine beeindruckende Erscheinung und Jouline genoss das Gefühl seiner muskulösen Arme. Kurz erlaubte sie sich, den Kopf an seiner Schulter abzulegen und seinen vertrauten Duft nach Seife und Wald einzuatmen. Wie konnte ein Anwalt, der den ganzen Tag im Büro saß, nach Wald riechen? Er sollte dieses Geheimnis zu Geld machen. Oder nein, besser nicht, es machte ihn zu etwas Besonderem.

„Ich hatte deine Mutter sehr gern und werde unsere gemeinsame Arbeit vermissen“, holte Max Jouline wieder in die Gegenwart zurück. Nur langsam löste er die Umarmung und schaute sie lange und eindringlich aus seinen grünen Augen an. Jouline hatte das Gefühl, dass er noch etwas sagen wollte, es sich dann jedoch anders überlegte. Mit einem Nicken begrüßte er Nicole und Daniel. „Danke, dass ihr für JJ da seid. Freunde wie ihr es seid sind unbezahlbar.“

„Das ist doch selbstverständlich“, erwiderte Nicole und legte Jouline, die einen Schritt von Max zurückgetreten war, einen Arm um die Schultern. „Wir sollten jetzt aber besser gehen. Der Regen nimmt zu.“

„Da hast du recht.“ Max strich Jouline kurz über eine ihrer langen braunen, nassen Haarsträhnen. „Jouline, du kannst dich jederzeit bei mir melden, wenn irgendwas ist. Unter dieser Nummer erreichst du mich immer und brauchst nicht in der Kanzlei anrufen. Okay?“ Max reichte ihr eine Visitenkarte, die sie teilnahmslos einsteckte.

„Danke, Max.“

Jouline wurde mit einem Mal bewusst, dass sie und ihre Freunde, mit Ausnahme der Friedhofsmitarbeiter, tatsächlich die Einzigen waren, die noch am Grab standen. Dabei spürte sie deutlich, wie die Nässe begann, durch ihre Kleidung zu dringen. Ein letztes Mal ließ sie ihren Blick über das Grab, den von Nässe glänzenden Sarg mit den vereinzelten, wirr darauf liegenden Rosen, und die wenigen Gestecke gleiten. Es war nicht viel, was die letzte Ruhestätte ihrer Mutter schmücken würde.

Irgendwie machte es Jouline traurig, dass sich nur so wenige von ihrer Mutter hatten verabschieden wollen. Tamara Johnson war eine liebevolle Mutter und ein guter Mensch gewesen. Mit ihren Büchern hatte sie vielen Lesern Freude bereitet. Sie hatte es verdient, betrauert zu werden. Aber wenn Jouline ehrlich zu sich war, war es genau das, was ihre Mutter nie gewollt hatte. Fast schon krankhaft hatte sie darauf geachtet, ihren Beruf nicht öffentlich zu machen. Weder zu Lesungen noch zum Besuch von Buchmessen hatte sie sich überreden lassen. Niemand wusste, dass Tamara Johnson eine erfolgreiche Schriftstellerin gewesen war. Allen Lesern würde sie bloß als T. J. Freston in Erinnerung bleiben.

Sanft fasste Daniel Jouline am Arm und zog sie mit sich in Richtung Parkplatz. Auf den mit Schotter bestreuten Wegen hatten sich mittlerweile große Pfützen gebildet. Sie wich ihnen nicht aus. Sie spürte weder Nässe noch Kälte. Sie spürte überhaupt nichts. Nur Leere. Vielleicht konnte der Regen einfach alles wegspülen? Die Erde, die Trauer, den Schmerz.

Kurz hob Jouline ihren Blick zu den grauen Wolken, bevor sie in Daniels Auto stieg. Zumindest der Himmel weint um dich - dachte Jouline, als sie die Autotür schloss.

2

Konnte sie wirklich so dumm sein? So nachlässig? So hilfreich!

Ein eisiges Lächeln stahl sich auf sein Gesicht, als er mit der Hand sanft über die vor ihm liegende Sterbeanzeige strich.

Ja, sie konnte!

Lange drückte Nicole auf den runden Klingelknopf und lauschte dem penetranten Läuten im Haus. Keine Reaktion.

„Daniel, was meinst du? So fest kann nun wirklich niemand schlafen, oder? Das muss sie doch hören.“ Erneut malträtierte sie die Klingel.

„Vielleicht will sie es ja nicht hören. Hast du schon mal daran gedacht, dass JJ noch etwas Zeit für sich braucht? Ihre Mutter ist gestorben! Wie würde es dir da gehen?“, antwortete Daniel leicht genervt.

Nicole stieß geräuschvoll die Luft durch die Nase aus und nahm den Finger vom Knopf. Den Mund frustriert zusammengepresst, wandte sie sich zu ihrem Freund um. Sich in Pose bringend, wie es für sie typisch war, schmiss sie die langen blonden Haare, die zurzeit von rosa Strähnchen durchzogen waren, über die Schulter und stemmte dann die Hände in die Hüfte. Diese nun leicht angewinkelt, perfektionierte sie ihre trotzige Nicole-Haltung und legte los.

„Klar will sie ihre Ruhe haben, sonst würde sie ja ans Telefon oder an die Tür gehen. Aber es gibt einen Unterschied zwischen ‚seine Ruhe haben wollen‘, und ‚die Welt komplett aussperren‘. Ich will doch nur wissen, ob es ihr gut geht. Sie hat ihren Termin bei der Psychologin platzen lassen, den ich ihr besorgt habe. Weißt du wie peinlich das für mich ist? Die Ärztin ist eine gute Kundin bei mir im Laden. Nach Joulines Aktion kann ich mir mein Trinkgeld in Zukunft abschminken.“

„Geht es jetzt um Jouline oder um dein Trinkgeld?“ Daniel wusste, dass Nici oftmals etwas oberflächlich war, dafür kannte er sie nun wirklich lange genug. Aber in einer solchen Situation an Geld zu denken, fand er absolut daneben.

„Tut mir leid.“ Nicole ließ die Arme sinken und blickte beschämt zu Boden. „Natürlich geht es um Jouline. Ich mach‘ mir Sorgen, weil sie nicht zu dem Termin gegangen ist. Sie muss den Verlust verarbeiten, statt sich vor der Welt zu verstecken. Wenn sie nicht mit uns darüber reden möchte, dann sollte sie es zumindest mit einem Profi.“

„Dass sie mit jemandem reden sollte, da gebe ich dir recht. Aber wann sie dafür bereit ist, das entscheidet ganz allein Jouline. Bitte dränge sie nicht. Lass uns einfach für sie da sein. Der Rest wird sich schon finden.“

So vernünftig Daniel auch versuchte zu argumentieren, konnten ihn seine Worte selbst nicht beruhigen. Die ständigen Sorgen um Jouline raubten ihm den Schlaf. Er wollte es sein, dem sie sich anvertraute. Er wollte sie halten, wenn sie in der Nacht erwachte oder weinte, doch seit der Beerdigung hatte sie sich komplett von ihm und der restlichen Welt zurückgezogen.

„Daniel? Hast du mir überhaupt zugehört?“, riss Nicole ihn aus seinen Gedanken.

„Sorry, hast du etwas gesagt?“

„Du hast doch einen Schlüssel zum Garten, oder?“

Er schaute sie erstaunt an. „Ja, und?“

„Gib ihn mir!“

Daniel liebte Nicole wie eine Schwester, aber sie konnte wirklich herrisch, ja regelrecht unausstehlich werden, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Nur zögerlich suchte er in seiner Jacke.

„Geht das auch etwas schneller?“

„Du weißt, dass das unerlaubtes Betreten ist, oder?“

„Red keinen Quatsch. Wie kann das unerlaubt sein, wenn wir einen Schlüssel haben?“

„Der nur für den Notfall ist!“, erinnerte er sie.

„Also ich bin mir ziemlich sicher, dass im Haus jemand um Hilfe gerufen hat. Hast du das etwa nicht gehört?“ Frech grinsend schnappte sie sich den Schlüsselbund aus Daniels Hand. „Verdammt, wofür brauchst du die alle? Welcher ist der Richtige?“ Ungeduldig drehte sie sich zu Daniel um.

„Komm, lass mich mal machen.“ Etwas Rütteln und Rappeln, die Klinke anheben und schon ging die graue Metalltür zum Garten hin schwerfällig auf.

„Ach du meine Güte! Das ist ja der reinste Urwald!“, entfuhr es Nicole.

Nur mit aller Kraft war es Daniel gelungen, die Tür aufzudrücken. Hohes, wildgewachsenes Gras, Schachtelhalm und Efeu machten das Durchkommen fast unmöglich.

„Ich habe ihr bestimmt schon tausendmal gesagt, dass sie endlich einen Gärtner einstellen soll“, meinte Daniel, aber Nicole hörte ihm schon gar nicht mehr zu. Sie hatte sich bereits einen Weg zur Terrasse gebahnt, nahm die wenigen Stufen hinauf mit zwei großen Schritten und klopfte dann energisch an die gläserne Hintertür.

Daniel war nach wie vor der Meinung, dass sie Jouline einfach noch ein paar Tage Ruhe gönnen sollten. Sie würde sich schon wieder fangen und sich bei ihnen melden, wenn sie dazu bereit war. Okay, es waren bereits anderthalb Wochen vergangen, in denen es von Jouline kein Lebenszeichen gegeben hatte. Auch ans Telefon ging sie nicht, aber was waren schon anderthalb Wochen nach einem solch großen Verlust? Gar nichts!

Joulines Chefin, die Besitzerin einer Massagepraxis in der Viersener City, wurde mittlerweile ungehalten. Aus lauter Verzweiflung, weil sie Jouline nicht ans Telefon bekam, hatte sie sich an ihn gewandt. Der Anruf war jedoch nicht sehr erbaulich gewesen. Sollte sich Jouline nicht bald bei ihr melden, würde sie sich trotz aller Freundschaft nach einer anderen Masseurin umschauen müssen. Daniel wusste, wie sehr Jouline ihren Job liebte. Sie würde bestimmt nicht riskieren wollen, gefeuert zu werden. Diese Einsicht brachte ihn in Fahrt und im nächsten Moment stand er neben Nici auf der Veranda und klopfte seinerseits an die Tür.

„Jouline, mach bitte auf! Wir wollen nur wissen, ob es dir gut geht und ob du irgendetwas brauchst“, rief Nici nun bestimmt schon zum dritten Mal.

Daniels Blick fiel auf die benutzten Futternäpfe, die auf der Terrasse standen. Das sollten sie unbedingt wegräumen, sonst würden die Reste bald Ratten anlocken.

„Alles okay bei euch?“, fragte da eine Stimme vom Nachbargrundstück herüber.

„Hey Alex, wir sind es nur, Daniel und Nicole. Hast du in letzter Zeit was von Jouline gehört?“, erkundigte sich Daniel und ging gemeinsam mit Nicole zur Hecke. Es war schon komisch mit jemandem zu reden, den man nicht sehen konnte, aber die riesigen, seit ewigen Zeiten nicht mehr geschnittenen Thujapflanzen verhinderten jegliche Sicht auf den angrenzenden Garten und den netten Nachbarn.

„Nein, Junge, tut mir leid. Es ist auch einfach furchtbar, was ihrer Mutter passiert ist. Kann ich euch irgendwie helfen?“

„Nein, Alex, danke. Die beiden wollen gleich schon wieder gehen.“

Erschrocken drehten sich Daniel und Nicole um. Sie hatten gar nicht mitbekommen, wie Jouline hinter ihnen auf die Terrasse getreten war. Nur notdürftig in einen Bademantel gewickelt, barfuß, struppig und ungeschminkt, sah sie aus wie eine Figur aus ihrer Lieblingsserie The Walking Dead. Ihre sowieso ungewöhnlich großen Augen wurden durch die dunklen Ringe darunter noch mehr betont und taten ihr Übriges zu dieser gruseligen Erscheinung. In der Hand hielt sie einen mit Trockenfutter gefüllten Fressnapf, der wohl für ihre Katze Bastet bestimmt war.

„Okay, Liebes, wenn du was brauchst, du weißt ja, wo du mich findest“, kam es von hinter der Hecke.

„Danke, Alex. Das ist sehr nett von dir.“ Jouline stellte den Napf ab und wollte mit schleppendem Gang zurück ins Haus gehen, als Nicole sie am Arm packte und zurückhielt.

„Mein Gott, Jouline, du siehst ja fürchterlich aus.“

„Danke, ich hab dich auch lieb“, antwortete sie emotionslos. „Was steht ihr noch hier herum? Wenn ihr mich schon aufweckt, könnt ihr auch wenigstens hereinkommen.“

„Bitte sei nicht sauer. Wir haben uns doch nur Sorgen gemacht“, entschuldigte sich Nicole und ließ ihre Freundin los.

„Das braucht ihr nicht. Mir geht es gut“, beteuerte Jouline.

Schnell sammelte Daniel die schmutzigen Futternäpfe ein und folgte den beiden Freundinnen ins Haus. Joulines Anblick hatte ihn erschüttert. Sie war noch nie ein Modepüppchen gewesen, hatte aber immer auf ihr Äußeres geachtet. Jetzt bot Jouline ein Bild des Jammers. Fettige, ungekämmte Haare, viel zu blass, und geduscht hatte sie, dem Geruch nach, wohl auch schon länger nicht mehr. So konnte es nicht weitergehen. Kurz wechselte er einen Blick mit Nicole. Auch ohne Worte waren sie sich einig. Jouline brauchte die Hilfe ihrer Freunde, sonst würde das Elend hier im Haus so bald kein Ende finden.

Als sie das Wohnzimmer betraten und Jouline einfach mitten im Raum stehen blieb, hätte Daniel sie am liebsten sofort in die Arme genommen und ihr einen Kuss auf die Stirn gedrückt. Sie wirkte in diesem Moment so jung und verloren, dass sich sein Herz schmerzvoll zusammenzog. Doch anstatt sie zu trösten und ihr zu versichern, dass alles wieder gut werden würde, und er immer für sie da wäre, unterdrückte er diesen Impuls. Nein, jetzt war noch nicht der richtige Zeitpunkt, ermahnte er sich. Besorgt schaute er zu Nicole. Sie kannten sich bereits so lange und doch hatte er keine Ahnung, wie sie reagieren würde, wenn sie von seinen Gefühlen für Jouline erfuhr.

Kurz schweiften Daniels Gedanken zurück zu der Zeit, als sie sich kennengelernt hatten. Sie waren alle drei auf ihre Art Außenseiter gewesen. Jouline, die von ihrer ängstlichen Mutter kaum vor die Tür gelassen wurde, Nicole, die damals aussah, als hätte sich ein Streuselkuchen auf ihr Gesicht verirrt und er, der begeisterte Rollenspieler, der eine Wette gegen seine Mitspieler verloren hatte.

Drei vollkommen unterschiedliche Persönlichkeiten, die bei einem Tanzkurs in Viersen aufeinandertrafen. Jouline und Nicole freiwillig, er gezwungenermaßen. Er war damals 17 Jahre alt gewesen, die Mädchen ein Jahr jünger. Abwechselnd hatte er mit ihnen getanzt und schnell gemerkt, wie besonders sie waren. Dort begann ihre Freundschaft und vertiefte sich schnell, als sie entdeckten, dass sie alle drei das Albertus Magnus Gymnasium in Dülken besuchten. Sie hatten viel geredet, auch nach dem Kurs noch. Jede Woche waren sie geblieben, bis abgeschlossen wurde. Es war ihr Treffpunkt gewesen, bei dem sie über ihre Lehrer lästern konnten und sich über nervende Klassenkameraden ausließen.

Von da an waren sie Freunde, Vertraute und Verbündete geworden. Die Schulzeit wurde zu dritt um so vieles leichter. In den Pausen und in ihrer Freizeit nun unzertrennlich, war es hingegen gar nicht so leicht gewesen, außerhalb der Schule und des Tanzkurses Gemeinsamkeiten zu entdecken. Weder Nicole noch Jouline konnten sich für Rollenspiele, Schwertkampf oder seine Sammelleidenschaft für berühmte Waffen aus Film und Fernsehen begeistern. Er wiederum war eine Niete, was Mode betraf, so sehr Nicole auch versuchte, ihn dafür zu begeistern. Dafür war er gerne das Opfer für Joulines Back- und Kochleidenschaft.

Eine Liebe, die sie jedoch alle drei verband, war die zu gemütlichen Filmabenden und leckerem Essen. Kaum eröffnete ein neues Restaurant in ihrer Umgebung, wurde es von ihnen einer kritischen Prüfung unterzogen. So trafen sie sich mindestens zwei Mal im Monat zum Essen oder Filmabend und tauschten sich über das aus, was sie zwischenzeitlich erlebt hatten. Anfangs noch ein Spagat zwischen Ausbildung, Job und Studium, hatten sich diese Treffen schlussendlich zu einer Routine entwickelt, die sie alle genossen und liebten und die ein fester Bestandteil ihres Lebens war.

Bei Nicole waren die Pickel irgendwann verschwunden und dafür die verschiedensten männlichen Bekanntschaften aufgetaucht. Die meisten davon lernten er und Jouline gar nicht kennen und wenn doch, lohnte es sich nicht, sich den Namen zu merken.

Jouline setzte sich gegen ihre Mutter durch, und lebte ihre neu gewonnene Freiheit als begeisterte Joggerin aus. Nach der Schule erlernte sie einen Beruf, der sie unter Menschen brachte und aus der schüchternen grauen Maus eine selbstbewusste junge Frau machte, die keine Ahnung davon hatte, was ihre Ausstrahlung und ihr lebhaftes Wesen mit ihm anstellten.

Er selbst hatte irgendwann seine zotteligen langen braunen Haare abgeschnitten und den schwarzen Ledermantel, den er in der Schule jeden Tag wie einen Panzer getragen hatte, im Schrank gelassen. Durch Nicoles Einfluss konnte sich dessen Inhalt inzwischen sehen lassen und er fühlte sich trotzdem noch wie er selbst.

Was bei den vielen Veränderungen aber immer gleich geblieben war, war ihre Freundschaft. Und wegen dieser Freundschaft traute er sich nicht, Jouline zu sagen, was er wirklich fühlte. Dass sie für ihn schon lange viel mehr war, als nur eine Freundin.

Nici würde sich ausgeschlossen vorkommen, wenn er mit Jouline allein sein wollte. Da war ein Streit zwischen ihnen vorprogrammiert. Und nun, nachdem Joulines Mutter gestorben war, war ein Streit das Letzte, was JJ brauchen konnte. Nein, es würde einen besseren Moment geben, machte sich Daniel Mut, und ging in die Küche, um für sie alle Teewasser aufzusetzen und die schmutzigen Fressnäpfe in die Spülmaschine zu räumen.

*

Als Jouline das Klopfen und die Stimmen ihrer Freunde an der Terrassentür hörte, hatte sie sich die zerwühlte und von Essensresten befleckte Bettdecke einfach über den Kopf gezogen. Langsam atmete sie gegen den Stoff und roch ihren eigenen Mundgeruch. Schnell war es unangenehm heiß und stickig unter der Decke geworden und sie fragte sich, was geschehen würde, wenn sie in ihrem notdürftigen Versteck blieb. Würde ihr irgendwann der Sauerstoff ausgehen? Würde sie einfach langsam einschlafen, bei ihrer Mutter erwachen und glauben, alles wäre nur ein böser Traum gewesen? Wer brauchte sie? Könnte sie nicht einfach aus der Welt verschwinden und dem ständigen, krampfartigen Schmerz in ihrer Brust ein Ende setzen? Doch bei dem penetranten Klopfen und Rufen konnte man einfach nicht einschlafen. Ihre Freunde ließen nicht zu, dass sie still und heimlich verschwand.

Dass es da wirklich Menschen gab, denen etwas an ihr lag, die sie liebten und durch die sie nicht so allein und verlassen war, wie sie sich fühlte, brachte Jouline dazu, sich die Decke vom Gesicht zu ziehen. Mit starrem Blick beobachtete sie die über sich tanzenden Staubkörner.

„Mom, ich vermisse dich so sehr!“

Der Gang zur Tür kostete Jouline all ihre Kraft. Erschöpft ließ sie sich danach auf das Sofa fallen. Sie wusste, dass es mit ihr so nicht weitergehen konnte. Seit der Beerdigung fühlte sie sich nicht in der Lage, die nötigsten Dinge des täglichen Bedarfs einzukaufen, oder überhaupt ihr Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen. Mit Mühe und Not sorgte sie für Bastet, die sich seit dem Unfall nicht mehr ins Haus traute. Wie gerne würde sie es ihr gleichtun. Seit dem tödlichen Unfall hatte sie das obere Stockwerk nur ein einziges Mal betreten und das nur, um ihr Bettzeug zu holen und damit auf die Couch zu ziehen. Zähneputzen, Duschen oder Haare kämmen, waren Nebensächlichkeiten, für die sie keine Kraft aufbrachte.

Schon seit einigen Tagen ernährte sie sich nur noch von Tiefkühlgerichten und Dosensuppen. Das Haus war unaufgeräumt und ihr war bewusst, dass sie schrecklich aussah und noch viel schlimmer roch. Ihr langes kastanienbraunes Haar war zerzaust wie ein Vogelnest und nur mit Schlafanzug und einem Bademantel am Leib, gab sie sicherlich ein erbärmliches Bild ab. Was war bloß aus ihr geworden?

Ohne irgendeine Regung ließ sie die Bemutterungen ihrer Freunde über sich ergehen. Daniel machte ihnen Tee und bestellte Essen beim Italiener. Selbst ihm war es nicht möglich gewesen, aus den spärlichen Resten des Vorratsschrankes noch etwas Essbares zu zaubern.

Währenddessen sammelte Nici die verstreut herumliegenden Essensreste und den Müll ein, zog das müffelnde Bettzeug ab und lüftete das Haus durch. Erst als sie Anstalten machte, ihre Freundin regelrecht füttern zu wollen, wachte Jouline endlich aus ihrer Starre auf.

„Ihr braucht mich nicht zu verhätscheln, als wäre ich krank. Mir geht’s gut. Ich bin nur ... müde.“

Nicoles skeptischen Blick konnte sie nicht ignorieren. Aber was sollte sie ihren Freunden sagen? Dass sie mindestens einmal am Tag, nein eher jede Stunde, daran dachte, wie es wäre, ebenfalls zu sterben? Dass sie sich innerlich bereits tot fühlte? Das wollten die beiden ganz bestimmt nicht hören.

„Wir lassen dich ja gleich wieder allein, damit du schlafen kannst. Aber erst musst du etwas Richtiges essen. Schau dich doch mal im Spiegel an. Du bestehst ja nur noch aus Haut und Knochen.“

Na ja, da übertrieb Nici deutlich, aber Jouline hatte wirklich etwas an Gewicht verloren. Sie war immer schon schlank gewesen, aber mit gesunden Rundungen und einer nicht zu verachtenden Oberweite, die sie gar nicht mochte, um die Nici sie aber beneidete. Wie sollte es auch anders sein, die Oberweite war geblieben, die Rundungen nicht.

„Tja, jetzt kann ich mir bei dir endlich Klamotten ausleihen.“ Der Kommentar hörte sich viel gehässiger an, als Jouline es beabsichtigt hatte. Doch Nici verzog keine Miene. Auch wenn sie Freundinnen waren, würden sie nie auf die Idee kommen, sich gegenseitig Kleidungsstücke auszuleihen. Ihre Geschmäcker waren viel zu unterschiedlich, und bei den Farben, die Nicole als Blondine tragen konnte, würde Jouline aussehen, als hätte sie eine Leberkrankheit. Man konnte als Beispiel die hellblauen Skinny-Jeans, das zartrosa Top und die hellgraue Bikerlederjacke nehmen, die Nicole heute trug. Ihr stand das super, aber Jouline bevorzugte eher bequemere Klamotten in kräftigen Farben, und Sneaker anstatt Stiefel.

„Tut mir leid“, entschuldigte sich Jouline und konzentrierte sich dann auf ihr Essen. Schweigend leisteten Nicole und Daniel ihr Gesellschaft und achteten sorgfältig darauf, dass sie alle Nudeln mit Tomatensoße, samt einer Tüte Pizzabrötchen, aufaß.

Jouline liebte italienisches Essen, aber heute kostete jeder Bissen sie große Überwindung. Doch Nici war unerbittlich.

„Wir kommen morgen wieder“, kündigte sie an. „Dann bringe ich dir dein Lieblingsessen mit. Leckere Lasagne, so wie du sie magst, mit viel Käse und Knoblauch. Du musst doch wieder zu Kräften kommen. Wie willst du in deinem Zustand jemanden massieren? Das wäre ja, als würdest du deine Patienten mit einer Feder streicheln“, neckte Nicole ihre Freundin und zog Daniel, der ausgesprochen schweigsam war, hinter sich her zur Haustür.

„Tut, was ihr nicht lassen könnt“, antwortete Jouline ihnen wortkarg, folgte ihnen aber zur Tür. Urplötzlich von mächtigen Gefühlen überwältigt zog sie ihre beiden Freunde in eine feste Umarmung. Sie wollte ihnen so viel mehr sagen, nämlich wie dankbar sie ihnen war, dass sie ihr Halt gaben. Sie waren der einzige Grund, doch irgendwie weiter zu machen. Aber sie konnte es nicht. Ihre Kehle war zugeschnürt von unsichtbaren Bändern und in ihren Augen sammelten sich abermals Tränen. Wie viele Tränen konnte man weinen? Ob sie an den Punkt kommen würde, an dem sie keine mehr übrig hatte? Vielleicht, irgendwann, aber nicht heute.

Schnell, bevor ihre Freunde bemerkten, dass bei Jouline alle Dämme zu brechen begannen, schloss sie die Tür hinter ihnen. Im Flur ließ sie sich auf die Knie sinken und weinte hemmungslos. Sie versuchte, leise zu sein, das Schluchzen hinter ihren Händen zu verbergen. Aber es gelang ihr nicht, aufzuhören. Mit nassem Gesicht und feuchten Händen krabbelte sie zurück ins Wohnzimmer, legte sich auf die Couch und zog die Decke, ihren Panzer, über sich und schloss so Licht, Luft und Geräusche aus. Vielleicht war es ihr jetzt vergönnt, zu schlafen und für den Moment den Schmerz, den Verlust und die große Leere in ihrem Herzen zu vergessen.

3

Er hatte sie viel zu leicht gefunden.

Prüfend schaute er die verlassene Straße entlang. Ihr Haus lag im Dunkeln, als sei es unbewohnt, doch er spürte den kräftigen Herzschlag, den es beherbergte. Wenn er sie so schnell ausfindig machen konnte, dann würden sie das auch können! Er musste verhindern, dass sie ihrer habhaft wurden, bevor er sein Ziel erreicht hatte!

Jouline wusste nicht wie oder warum, aber sie fühlte sich anders, als sie am nächsten Morgen erwachte. Keine Mattigkeit oder Lustlosigkeit, die von ihr Besitz ergriff, kaum, dass sie die Augen öffnete. Nein, sie fühlte sich ... okay!

So, wie das italienische Essen ihrem Körper neue Kraft gegeben hatte, hatten Daniel und Nicole es geschafft, einen kleinen Funken ihres alten Lebensgeistes neu zu entzünden. Joulines Augen wurden feucht, dieses Mal jedoch nicht aus Trauer, sondern aus Freude und Dankbarkeit.

„Ihr seid die Besten!“

Zu wissen, dass sie nicht allein war, auch wenn sie sich so fühlte, heilte ein kleines Stück der großen Wunde in ihrem Herzen. Sie musste zugeben, dass sie in den letzten Tagen ein Wrack gewesen war, ein Schatten ihres eigentlichen Selbst. Feige hatte sie sich in Selbstmitleid gesuhlt und versucht, die letzten lieben Menschen, die ihr geblieben waren, von sich zu stoßen. Trotzdem standen Nicole und Daniel plötzlich vor ihrer Tür und nahmen sie an, wie sie war. Ein verwahrlostes undankbares Miststück, das solche Freunde gar nicht verdient hatte.

Sie hatte viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Ihre Mutter hätte niemals gewollt, dass sie sich so gehen ließ. Sie würde ihr auf keinen Fall die Schuld an ihrem Tod gegeben haben, weil sie nicht früher Zuhause gewesen war. Dass sie ihr Leben wegschmiss, weil sie nicht fähig war, es in die eigene Hand zu nehmen - dazu hatte Tamara Johnson sie nicht erzogen. Sie sollte selbständig und stark sein, wie ihre Mutter gewesen war, die sie für immer vermissen und lieben würde.

Langsam stand Jouline vom Sofa auf und ging zum Fernseher. An der Wand dahinter hingen mehrere ältere Fotos. Sie mit ihrer Mutter zu Weihnachten, vor dem geschmückten Tannenbaum. Sie beide bei verschiedenen Geburtstagsfeiern. Auf einigen waren sogar Daniel und Nicole mit abgebildet.

Mit einem Lächeln strich sie bei einem kleinen Bild liebevoll über das lachende Gesicht ihrer Mutter und wischte dabei den Staub vom Glas. Dieser Tag mit ihrer Mum war eine ihrer schönsten Erinnerungen. Dabei hatten sie nur einen kleinen Stadtbummel durch Viersen gemacht und waren danach noch Kuchen essen gegangen. Im Café hatten sie dann einfach die Kellnerin gebeten, von ihnen ein Foto zu machen.

Ein warmes Gefühl stieg in Jouline auf. Dankbarkeit dafür, dass sie solch eine Mutter haben durfte. Diese Fotos waren nun ihr kostbarster Schatz. Sie wollte niemals ihr Gesicht vergessen und die besonderen Momente, die sie geteilt hatten.

„Ich liebe dich, Mum.“

Erst jetzt wurde Jouline so richtig bewusst, was für eine starke Frau ihre Mutter gewesen war. Alleinerziehend und berufstätig, hatte sie ihnen ein schönes Leben ermöglicht. Wie wohl ihr Vater reagieren würde, wenn er von dem tragischen Unfall erfuhr? Keine Ahnung, es war auch nicht wichtig. Er war nie ein Teil ihres Lebens gewesen. Außerdem wusste sie keinen Weg, ihn zu verständigen.

Eine ungeahnte Kraft durchflutete sie. Sie war die Tochter ihrer Mutter und sie würde ihrer Mum zeigen, dass sie dazu in der Lage war, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Der erste Schritt dahin war eine ausgiebige Dusche und danach musste sie sich dringend bei ihren Freunden für ihr Verhalten entschuldigen.

Endlich spürte Jouline wieder etwas von der Energie in sich, von der sie sonst erfüllt war. Ihre Trauer war nicht verschwunden. Nein, sie spürte sie wie eine gerade vernarbende Wunde in ihrem Herzen, noch ganz empfindlich, aber mit dem Versprechen, zu heilen. Daniel und Nicole hatten sie aufgerüttelt, den Rest musste sie jetzt allein schaffen. Die Hände zu Fäusten geballt, stand sie nun am Fuß der Treppe. Kurz blitzte ein Bild des Unfallabends vor ihrem inneren Auge auf.

„Nein!“ Sie durfte keine Angst vor ihrem eigenen Haus haben. Sie hatte so viele schöne Erinnerungen, an denen sie sich festhalten würde. „Ich schaffe das!“ Entschlossen nahm sie die erste Stufe in Angriff.

*

„Oh, tut das gut“, stöhnte Jouline genüsslich, als das warme Wasser über ihren Körper lief. Dick schäumte sie sich von oben bis unten ein und genoss das seidigweiche Gefühl auf ihrer Haut. In ihre vernachlässigten Haare massierte sie ausgiebig eine Pflegespülung ein und entwirrte geduldig die einzelnen Knoten. Wie hatte sie sich bloß so gehen lassen können? Lange ließ sie das warme Wasser über ihr Gesicht laufen und überlegte, was nun als erstes getan werden musste. Der Anruf bei ihrer Chefin stand ganz oben auf ihrer Gedankenliste. Das war der erste Schritt zurück zur Normalität.

„Los, Jouline, du bist kein Feigling, du bekommst das hin“, spornte sie sich an, stellte das Wasser ab und stieg aus der Dusche. In ein flauschiges Handtuch gewickelt verließ sie zielstrebig das Bad und trat auf den Flur.

Schon überkam Jouline ein eisiger Schauer. Prüfend schaute sie sich um. Der Flur war klein und schmal. Vom Bad aus führte er zu zwei Zimmern und zur Treppe nach unten. Zögerlich ging Jouline ein paar Schritte vorwärts und blickte dann hinab. Hier auf dem Flurstück oder auf einer der obersten Stufen musste ihre Mutter gestolpert sein.