Jugendjahre - Reminiszenz an die 1950er - Wolfgang Schmidt - E-Book

Jugendjahre - Reminiszenz an die 1950er E-Book

Wolfgang Schmidt

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Beschreibung

Plötzlich hörte er einen spitzen Schrei. Wie elektrisiert schoss er in die Höhe. »Olli ...?« Vom Freund keine Spur. Wollte der sich für seine Witzelei revanchieren? - Dann war ihm, als höre er es leise wimmern. »Olli?«, rief er noch einmal. »Mach keinen Scheiß! Wo bist du denn?« Vorsichtig ging Veit einige Schritte weiter. Das Wimmern war jetzt deutlich zu hören. Ihm fuhr der Schreck in die Glieder, als er etwa sechs Meter vor sich ein Loch bemerkte, aus dem geborstene Bretter, Äste und Zweige ragten. Was dazwischen klemmte, sah aus wie Olivers Karte ... Mit einem leisen Lächeln erzählt der Autor Alltagsgeschichten aus der jungen DDR, vom Ernteeinsatz in den Ferien, von der letzten Westreise und der ersten große Liebe. Dabei bleibt er heiter und schaut mit viel Wärme, doch nicht ohne Tiefe auf seine Jugend zurück. Eine beschauliche »Liegestuhllektüre«, die ihre Leser sowohl packt als auch berührt. [H. Deschle]

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Seitenzahl: 282

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Auch weitgehend unspektakulär gelebtes Leben ist oft interessant und aufschlussreich genug, es nicht in Staub und Nebel entschwinden zu lassen.

Über den Autor

Wolfgang Schmidt wurde 1941 in Dresden geboren. Nach dem Abschluss der Mittleren Reife erlernte er den Beruf eines Werkzeugmachers. Später studierte er und wurde Dipl.-Lehrer. Er unterrichtete Mathematik und Geografie. Heute genießt er in Dresden seinen Ruhestand.

Wolfgang Schmidt

Jugendjahre

Reminiszenz an die 1950er

2021

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

Copyright (2021) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Titelbild © goldpix [Adobe Stock]

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Eine peinliche Dienstleistung

Rückblick – Mutter und Tochter

Maria und Franzi

Rückblick – Vom Offizier zum Neulehrer

Stefan Kudera

Ernteeinsatz

Nach den Herbstferien

Leises Glück

Zum Abbacken bestellt

Märchenhaft

Achterbahn der Gefühle

Andis Westreise

Freundschaftsdienst

Udo

Obsternte

Am Hauber-See

Eigenwilliger Warenverkehr

In der Lehrwerkstatt

Im letzten Moment

Zu Besuch bei Heumi

Rückblick – Kein leichtes Los

Opa Lohse

Kopfschlepptechnik und Reiterkampf

Zanges sonderbares Mädchen

Kasernenwald

Anne im Ruinenfeld

Das spezielle Geburtstagsgeschenk

Mal was Verrücktes machen

Nach der Theaterprobe

Zielorientiert

Anmerkungen

Vorwort

Über rund vier Jahre hinweg werden Bernd, Andreas und ihre Freunde durch ihre frühen Jugendjahre begleitet, die in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts liegen. Mit Ausnahme der Tatsache, dass ich die Namen handelnder Personen durch fiktive ersetzt und meist auch die Ortsbezeichnungen geändert habe, ist das Geschehen weitestgehend authentisch, in unterschiedlichen Anteilen auch mit autobiografischem Hintergrund geschildert. Allgemein bekannte politische Ereignisse jener Zeit habe ich nicht thematisiert.

Der permanente Kontakt mit Kindern und Jugendlichen während meiner 35-jährigen Lehrertätigkeit war dabei hilfreich.

Ich danke all jenen, die auszugsweise das Manuskript lasen, Hinweise gaben oder Erlebtes zum Inhalt beisteuerten, insbesondere Werner K., Manfred S. und Gunter W. In besonderem Maße danke ich meiner Lektorin Heike Deschle, die dem Ganzen den rechten Schliff gab.

Wolfgang Schmidt

Dresden 2020

1955

Eine peinliche Dienstleistung

„Ohne Späne kein Wannenbad! Also komm, Junge, ab in die Spur!“

„Der Leiterwagen ist noch kaputt!“

„Dann nimmst du den Rolli!“

„Den Rolli?! Mit dem mach ich mich doch zum Heinz!“

„Dann bist du eben heute mal der Heinz! Komm, Junge, mach hin!“

Da offenbar jeder Einwand zwecklos war, fügte sich Bernd widerwillig dem Auftrag der Mutter, holte das Handwägelchen aus dem Schuppen, schnappte sich zwei einigermaßen intakte Kartoffelsäcke und verstaute sie auf dem kleinen Monstrum mit den plärrenden Metallrädern. Dann machte er sich missmutig auf den Weg zur eineinhalb Kilometer entfernten Stellmacherwerkstatt. Schließlich war er bald fünfzehn und sich schon lange zu schade für derlei peinliches Tun. „Bestimmt beobachten mich alle und lachen hämisch über mich“, ging es ihm durch den Kopf, „wenn ich mit dieser scheppernden Karre durch die Gegend rattere.“ Bernds Selbstbewusstsein litt mächtig. Prompt verdächtigte er zwei ihm entgegenkommende Sechstklässler, dass sie ihm garantiert hinterherfeixten, als er an ihnen vorüberfuhr. Mit entsprechender Drohgebärde drehte er sich abrupt um. – Er hatte sich geirrt.

Kurz darauf traf er Hansi, der sich ihm erfreut anschloss. Von dem hatte er nichts zu befürchten, der verehrte ihn sogar ein bisschen. Hans Beier suchte gern die Nähe älterer Jungen, weil er von denen nicht so gehänselt wurde wie von Gleichaltrigen oder Jüngeren. Auch hielten sie ihm manchmal Nervensägen vom Hals. Er war fast drei Jahre jünger als Bernd und ebenfalls Einzelkind.

Ein bisschen naiv und sehr gutgläubig, wurde er oft Zielscheibe von Ironie und Neckerei, was er allerdings selten durchschaute. Das wiederum ermunterte die Stichler, noch eins draufzusetzen. Alles in allem war Hansi jedoch, wie meist auch seine Spötter fanden, „eine gute Seele“. – Ungefragt sprudelte er auch gleich hervor, dass er auf dem Weg zu Schumacher Petzold sei, bei dem drei Paar Schuhe zur Abholung bereitlägen.

„Wie willst du die denn transportieren?“, erkundigte sich Bernd, denn Hansi trug nichts dergleichen bei sich. Daraufhin ließ der Junge drei Finger in der Hosentasche verschwinden und förderte, theatralisch ausholend, ein überdimensionales Einkaufsnetz zutage, das er seinem Gegenüber triumphierend unter die Nase hielt. Bernd rollte die Augen und nickte ergeben. Hansi grinste zufrieden, legte das Netz penibel zusammen und stopfte es zurück. Er deutete zum Rolli.

„Gehst du wieder Späne holen?“

„Leider.“

„Damit dürften die mir nicht kommen!“

„Die“ waren seine Eltern, die in der Blankwitzer Neuen Siedlung eine weithin bekannte Fleischerei betrieben. Vater und Mutter Beier verwöhnten ihren Spätgeborenen über alle Maßen und bestätigten – jedenfalls in dieser Hinsicht – dass ihr pädagogisches Talent ihrem handwerklichen merklich hinterherhinkte.

Vor dem Grundstück der Familie Böhm stoppte Bernd. Er spähte vorsichtig durch den Zaun. Sein Herz schlug schneller, doch von Franzi war nichts zu sehen. Zwei Hühner pickten gackernd über den Fußweg und ließen sich weder von dem metallischen Scheppern des kleinen Handwagens noch von seinen Begleitern aus der Ruhe bringen. Aber anscheinend bereuten sie ihren Ausflug, denn sie äugten ständig auf die andere Seite des Zaunes, die sie leichtsinnigerweise verlassen hatten.

„Das sind legefaule Rhodeländer“, verkündete Hansi, „davon haben wir auch welche.“

„Warum habt ihr die, wenn sie legefaul sind?“

„Die haben viel Fleisch. Außerdem können sie nicht fliegen.“

Plötzlich kam er auf die Idee, den Stierkämpfer zu geben. Erneut zog er sein Netz mit weit ausholender Bewegung hervor und fuchtelte, es wie eine Muleta verwendend, tänzelnd vor dem Federvieh herum. Doch wie er sich auch mühte, die Hühner ließen sich nicht aus der Reserve locken. Verständnislos verfolgten sie Hansis Hopserei, die er lautmalerisch begleitete. Schließlich schienen sie der Alberei überdrüssig und traten den Rückzug an. Das Kleinere marschierte auf den Zaun zu und schritt gemessen an ihm entlang. Als es den Durchschlupf nicht fand, wurde es nervös. Immer hektischer tippelte es herum, bis es endlich die Öffnung aufspürte und hindurchschoss, als wäre der Habicht im Anflug. Daraufhin entschloss sich auch das Zweite, ihm zu folgen. Kurz bevor es sich durch das Hindernis zwängte, hielt es kurz inne, als zweifle es, ob es folgen oder doch lieber noch ein bisschen picken sollte.

„Komische Viecher“, sinnierte Hansi und stopfte die Muleta wieder zurück. Bernd wagte noch einen längeren Blick durch den Zaun, dann ratterte er weiter.

„Na, Wade, alter Kumpel, wieder mal als Späneholer vom Dienst im Einsatz?“

Andi bremste sein Fahrrad galant vor ihm, sodass das Hinterrad ausbrach und eine dicke Staubwolke aufwirbelte.

Seinen Spitznamen Wade verdankte Bernd einer Bemerkung seiner Klassenlehrerin während einer Schulwanderung. Er hatte vorgegeben, erschöpft zu sein, worauf ihn Fräulein Möller ermunterte: „Du wirst doch wohl nicht schlappmachen wollen! Du mit deinen Fußballerwaden?!“

Auf seine Art war auch Andreas Makovai ein Original. Neben Fußball- und Tischtennisspiel verbrachte er einen Großteil seiner Freizeit mit Lesen, vor allem von Büchern aus der Leihbücherei. Da seine Interessen sehr vielfältig waren, besaß er eine erstaunliche Allgemeinbildung und benutzte oft Vokabeln, die nicht unbedingt dem Wortschatz seiner gleichaltrigen Freunde entsprachen. Auch gefiel es ihm, sich gestelzt auszudrücken oder „wortakrobatischen Nonsens“ von sich zu geben. Andererseits begab er sich auch schon mal lustvoll, wie er sagte, in die „Niederungen provinzieller Ausdrucksweise“.

Die Makovais waren als sogenannte Ungarn-Deutsche 1948 nach Blankwitz gekommen. Felix, Andis Vater, war rumänischer Abstammung und im Herbst 1944 aus der Ungarischen Armee desertiert. Er schloss sich in der südlichen Baranja jugoslawischen Partisanen an und gilt seither als vermisst. So lebte Andreas nun mit seiner Mutter Lydia, Großmutter Adele und den jüngeren Geschwistern Veit und Anne zusammen.

Am Lenker von Andis Rad baumelte ein Paar Schuhe, das seine beste Zeit deutlich erkennbar hinter sich hatte. Auf dem Gepäckträger klemmte, vorbildlich eingefettet, das Juwel: Der über die Zeit gerettete Lederfußball stammte noch aus ungarischer Produktion. Während des Umsiedlungsdurcheinanders hatte der Junge streng darauf geachtet, dass das gute Stück nicht verloren ging.

Andreas war weit und breit der einzige, der einen echten Lederfußball besaß.

„Hast du schon die blöde Bio-Hausaufgabe gemacht?“, fragte er und geriet postwendend in Rage: „Mitschurin1! Mitschurin! Was interessiert mich dieser komische Mitschurin mit seiner Riesengurke!“

„Riesentomate“, berichtigte Banknachbar Bernd gelassen, „er hat übergroße Tomaten im Labor gezüchtet.

Außerdem hat er kälteresistentere Obstsorten erzeugt und so die Anbaugrenze nach Norden verschoben.“

Andreas vergaß einen Moment, den Mund zu schließen.

„Lohse, du kälteresistenter Streber …“

In seinen flinken Augen blitzte es belustigt. Wie meist war sein Vorwurf nicht so ernst gemeint. Immerhin hatte er schon mehrfach vom „Streber“ profitiert. Er würde es auch in diesem Fall tun. Die mathematisch-naturwissenschaftlichen zählten nicht zu seinen Lieblingsfächern. Sein Freund Wade war sich allerdings nicht so sicher, ob Andi das wirklich nicht wusste. Es wäre nicht das erste Mal, dass der sich dumm stellte. Andi setzte sein vielsagendes Grinsen auf und heuchelte: „Bin eben nur ’ne kleine Leuchte mit unterentwickeltem Docht.“

„Wenn du’s sagst …“

Da sich Hansi nicht ausreichend beachtet fand, zog er wieder sein Einkaufsnetz aus der Hosentasche und begann, die beiden Jungs ins Visier nehmend, es über seinem Kopf kreisen zu lassen. Als die gewünschte Anerkennung ausblieb, erhöhte er die Frequenz, bis er nach Luft zu schnappen begann. Vergebens. Andi streichelte weiter nachdenklich seinen Fußball, während Bernd gedankenverloren auf den Fußweg starrte. Hansi wedelte noch ein bisschen herum und stellte seine Aktivitäten schließlich ein.

Bernd bückte sich zu einem glänzenden Metallteilchen, kam ins Stolpern, ruderte kurz mit den Armen und hätte um ein Haar Andi samt Rad ins Straucheln gebracht.

„Wegen deinem blöden Rad wäre ich fast auf die Schnauze geflogen!“

„Deines Rades“, dozierte Andreas, ohne eine Miene zu verziehen, „wegen deines blöden Rades wäre ich fast auf die Schnauze geflogen. Wegen verlangt den Genitiv, zweiter Fall!“

„Ach nee! Wer ist denn hier der Streber, Grammatikeule?“, grinste Bernd in das gönnerhafte Gesicht seines Gegenübers und setzte hinterher: „Aber immerhin! Für einen ehemaligen Puszta-Indianer nicht schlecht!“

Andis Miene wurde eine Spur jovialer.

„Der Späneholer kann ja Puszta nicht mal richtig aussprechen geschweige denn schreiben. Und mit dem Ursprung der Indianer hat er auch seine Probleme. Immerhin weiß er über Tomaten Bescheid. Für einen gärtnerischen Beruf reicht’s vielleicht gerade noch so …“

„Eseltreiber!“

Lächelnd streichelte Andi über seinen Ball.

„Also dann …“ Er schwang sich auf den Sattel und radelte in Richtung Parkwiese.

„Ein Mistpilz, wie er im Buche steht“, feixte Bernd in Richtung Hansi. Doch der hatte nur Bahnhof verstanden, als er mit aufgerissenen Augen von einem zum anderen blickend das Geplänkel verfolgte. Dass sich die beiden dabei auch noch köstlich zu amüsieren schienen, überstieg seinen Horizont vollends. An der Einmündung Roseggergasse schlug er grußlos den Weg zum Schuhmacher ein.

„Is ja doch noch ’n lustiger Nachmittag geworden“, dachte Bernd, als er dem sich hopsend entfernenden Hansi hinterhersah.

Die Tischler- und Stellmacherei lag im hinteren Teil des Großmann’schen Anwesens. Eine breite, mit Katzenköpfen aus grauem Granit gepflasterte Einfahrt führte am Wohnhaus vorbei bis zu den beiden großen Werkstatttüren. Als Bernds Rolli über den Hof ratterte, erschien am geöffneten Küchenfenster rechterhand im ersten Stock der Kopf von Waltraud Großmann. Sie stützte sich mit den Unterarmen auf das bereitliegende Kissen. Dessen grobgewirkter Überzug war zwar unbequem, aber sie kam einfach nicht dazu, ihn gegen einen anderen auszutauschen. Bernd nickte ihr zu.

„Tag, Frau Großmann!“

„Ach du bist’s, Bernd. Heute ohne Leiterwagen?“

In diesem Moment öffnete sich das linke Werkstatttor und das schwappende Geräusch der Transmissionsriemen drang zu ihnen. Werner Lindemann, der Geselle, führte einen reparierten Erntewagen an der Deichsel. Hinten schoben der Meister höchstpersönlich und ein weiterer Gehilfe, den Bernd nicht kannte.

„Tag, Herr Großmann“, sprach er laut gegen den Lärm an, als der Stellmacher nahe an ihm vorüberging. Ohne jede Reaktion. Dass er ihn bereits bemerkt hatte, als die Werkstatttür aufging, war sich Bernd sicher.

Nachdem sie den Wagen auf einer Abstellfläche im Hof gesichert hatten, kam der Tischler wie selbstverständlich mit ausgestreckter Hand auf ihn zu: „Na, Meister Lohse, wie stehen die Aktien?“

Ohne auf die Floskel einzugehen, grüßte Bernd ein zweites Mal: „Guten Tag und viele Grüße von meinen Eltern. Ich komm wegen der Späne.“

„Hab mir’s fast gedacht“, grinste der Meister und deutete mit einer raschen Armbewegung auf den Rolli: „Was hast du denn heute für ’ne Möhre mitgebracht?“

„Unser Leiterwagen ist kaputt“, sagte Bernd kleinlaut, als müsse er sich für das Gefährt entschuldigen.

„Zwei Säcke kriegst du mit dem Ding aber nie und nimmer transportiert! Höchstens einen!“

Bernd hatte es schon vermutet, hoffte aber, der Meister würde eventuell die leichten Spänesäcke übereinanderlegen und mit einem Gurt festzurren. Doch das hatte Großmann offenbar nicht vor. Er schnappte sich einen der säuberlich zusammengelegten Säcke und steuerte ohne Kommentar die Werkstatt an. Bernd trottete hinterher. Er kannte seine Aufgabe: Sack aufhalten …

Rückblick – Mutter und Tochter

Alle gut gemeinten Ratschläge von Verwandten und Freunden, dass das Leben doch weitergehen müsse und ihre kleine Tochter in diesen schwierigen Zeiten eine starke Mutter an ihrer Seite benötige, halfen Maria nicht, sich mit dem frühen Tod ihres Mannes abzufinden. Wenn sie allein war, wurde sie immer wieder unvermittelt von Weinkrämpfen übermannt. Ein Dreivierteljahr war es jetzt her, die kleine Franzi war gerade ein halbes Jahr alt geworden, als Maria die Nachricht erreichte, von der sie immer noch die Wortfetzen im Kopf trug:

„Stabsbootsmann Horst Böhm … im heldenhaften Kampf … für Führer und Vaterland … Heldentod …“

Im Frühjahr 1941, Horst war noch keine achtundzwanzig Jahre alt, wurde im Verlauf einer der Geleitzugschlachten sein U-Boot im Nordatlantik geortet. Die Besatzung konnte zunächst entkommen, geriet aber kurz darauf erneut ins Fadenkreuz. Alle Zähigkeit und Wendigkeit, die den Typ7-Booten nachgesagt wurden, nützten letztlich nichts, sie gerieten in einen Wasserbombenhagel, den alle an Bord mit dem Leben bezahlten. – Diesen Hergang schilderte ein befreundeter Bootsmann, der mit seinen Kameraden ebenfalls in den Angriff verwickelt war, der fassungslosen Witwe. Maria war in eine Art Trance, in einen Schockzustand gefallen, sie hatte nur stumm dagesessen und der Erzählung dumpf gelauscht. Sie hatte dem Gast nicht einmal etwas angeboten. Erst viel später drangen seine Worte in ihr Bewusstsein und lösten eine maßlose Trauer aus, die sie seitdem gefangen hielt. Maria war am liebsten allein, um ihren Gedanken nachzuhängen und sich dem Schmerz hinzugeben. Dann konnte allein Franziska, die ihrem Vater immer ähnlicher wurde, sie über die Zeit trösten und davon abhalten, weit Schlimmeres zu erwägen. Ihre Eltern verstanden es nicht und waren verstimmt, als sie ihnen kurz vor Heiligabend mitteilte, sie wolle gern mit „seinem Kind“ alleine sein. Auch Schwiegermutter Gertrud, die mit ihr im Haus wohnte, reagierte mit Kopfschütteln. – Schon damals schien es Maria unbegreiflich, wie sie ihren seelischen Schmerz verbarg. War es allein deren pragmatische Lebenseinstellung, um die sie sie manchmal beneidete?

„Es müssen so viele mit ihrem Los fertig werden, Maria! Das Leben muss doch weitergehen!“, haderte sie.

„Lasst mir Zeit, ich bin noch nicht so weit.“ Die junge Mutter fühlte sich von ihren Eltern und der Schwiegermutter missverstanden, was zur Folge hatte, dass sie sich noch mehr in sich zurückzog.

Aus dem Radio erklang sakrale Weihnachtsmusik.

Die kleine Franzi spielte hingebungsvoll mit ihrer neuen Puppe.

„Schade, dass dein Papa dich nicht sehen kann“, dachte Maria und lächelte traurig, „so hübsch, so adrett im azurblauen Kleidchen.“ Sie hatte es gerade noch rechtzeitig geschafft, Stehbündchen und Ärmel zu umnähen. Wenn sie allein daran dachte, wie schwer es gewesen war, die weiße Spitze zu erstehen … Maria war vor Stolz errötet, als die Schwiegermutter gestern Abend ihr Werk bestaunt und begeistert in die Hände geklatscht hatte.

Neben Franzis Puppensachen lagen verschiedene Bilderalben auf dem Tisch. Horst war ein leidenschaftlicher Fotoamateur gewesen, und Maria hatte ihn immer dafür bewundert, wie liebevoll und akribisch er die Bände gestaltete. Obwohl sie alle Bilder längst kannte, konnte sie sich doch immer wieder in deren Anblick vertiefen. Horsts Feldpostbriefe lagen ebenfalls ordentlich sortiert dabei. Auch sie las Maria wieder und wieder und versank in wehmütiger Erinnerung. Als sie das Porträtfoto in die Hand nahm, das er für sie im Studio hatte anfertigen lassen, spürte sie, wie sie die Trauer übermannen wollte.

„Du musst dich vor dem Kind zusammenreißen“, sagte sie sich und schluckte entschlossen die Tränen hinunter. Sie sah auf ihre Tochter, wie sie sich abmühte, ihre Puppe zu füttern, bis sie schließlich aufgab und die Mutter fragend anblickte. Rasch wischte sich Maria über die Augen, hob die Kleine aus dem Kinderstuhl, nahm sie auf den Schoß und drückte sie fest an sich. Versonnen blickte sie in das Kerzenlicht, worauf das sonst so lebhafte Kind innehielt, als sagte ihm eine innere Stimme, dass es ganz stillhalten müsse. Maria griff einen Keks aus der Schale, drückte ihn der Tochter in die Hand und gemeinsam fütterten sie das Puppenkind. Kaum hörbar stimmte Maria ein Kinderlied an. Ein leises Lächeln stahl sich auf ihre Lippen, als Franzi begann, laut und falsch und fröhlich mitzusingen.

Nachdem die Beiden zu Abend gegessen hatten, brachte Maria die Kleine ins Bett. Wie jeden Abend sang sie ihr das Lied vom Mond vor. Die neue Puppe fest an sich gedrückt, schlief die Kleine bereits nach der ersten Strophe ein. Maria zog sich einen Hocker an das Bettchen und lauschte den Atemzügen des Kindes.

„Mein Gott, wie sie dem Vater gleicht!“, murmelte sie und hauchte einen Kuss auf das rosa Gesichtchen. Sie befreite die Puppe aus der Umklammerung, legte sie beiseite und verließ das Zimmer. Als sie das Wohnzimmer betrat, hörte sie Gertrud nebenan hantieren und ihr fiel ein, dass sie vor dem morgigen Mittagessen das gute Damasttischtuch würde noch einmal aufbügeln müssen, die Schwiegermutter legte viel Wert darauf.

Maria machte es sich auf dem Sofa bequem, zog die Kristallschale mit den selbstgebackenen Keksen in Reichweite und nahm Segen der Erde zur Hand. Ein Buch, das ihr empfohlen worden war, der Norweger Knut Hamsun hatte dafür den Literaturnobelpreis erhalten.

Zehn Minuten vor eins blickte sie zur Wanduhr und erschrak. Rasch nahm sie die Weihnachtskarte von Tante Martha und legte sie in die Seite des Buches.

Dann huschte sie ins Bad. Entgegen ihrer Befürchtung schlief sie in dieser Nacht endlich mal wieder tief und traumlos.

Maria und Franzi

Fast vierzehn Jahre waren vergangen. Maria und ihre Tochter hatten die Kriegs- und Hungerzeit weitgehend unbeschadet überstanden. Auch Dank des stadtnahen Landwirtschaftsbetriebes, den Opa Böhm seinerzeit mehr als Steckenpferd für seine Frau, statt zum Haupterwerb gegründet hatte. In den letzten beiden Kriegsjahren war Maria zeitweise zum Lazarettdienst verpflichtet worden und dabei nicht selten an ihre physischen und psychischen Grenzen gegangen. Ihre Überzeugungen, ihre Wertmaßstäbe, ihre Sicht auf die Lebensumstände hatten sich im Zuge der Zeit zum Teil fundamental geändert. Die Trauer über den frühen Verlust ihres Mannes war allmählich der Überzeugung gewichen, ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten. So betrachtete sie die fünf Jahre, die sie mit ihm verlebt hatte, als Geschenk. Nach wie vor hielt sie die Gegenstände in Ehren und an ihnen fest, die sie auf irgendeine Weise an ihren Horst erinnerten, wie etwa der reparaturbedürftige Füllfederhalter oder die perlmuttverzierte Zigarettenspitze. Die funktionstüchtige Contax war nicht nur zum wichtigsten Erinnerungsstück, sondern auch zu ihrem Hobby geworden. Maria dankte ein ums andere Mal ihrem Schicksal, dass sie nicht unmittelbar nach dem Krieg in die Versuchung gekommen war, den Fotoapparat gegen Lebensmittel einzutauschen.

Auf leise Andeutungen ihrer Mutter, ob sie sich nicht für eine neue Partnerschaft erwärmen könne, schließlich sei sie ja noch keine alte Frau, reagierte sie brüsk:

„Auf keinen Fall! Horst kann ohnehin keiner das Wasser reichen!“

Wenn auch Verwandte, Freunde und Nachbarn meinten, dass auf dem Böhm’schen Anwesen ein kräftiger und geschickter Mann dringend gebraucht würde, so sträubte sich Maria schon, überhaupt darüber nachzudenken.

Neben der kleinbäuerlichen Wirtschaft, die sie mit Tochter und Schwiegermutter am Laufen hielt, stand Maria als Heimarbeiterin bei der Metallwarenfirma Keppler unter Vertrag. Alle paar Tage befestigte sie eine andere Vorrichtung am Küchentisch, mit deren Hilfe sie Kleinteile fertigte. In der Küche roch es immer ein bisschen nach Werkstatt, nach Metallspänen und Mechanikeröl. Momentan drehte sie Spiralfedern. Dazu führte sie Federdraht in das Werkzeug ein und drehte exakt viereinhalb Mal an der Aufsteckkurbel. Dann trennte sie die Feder mithilfe der eingebauten Schervorrichtung von der Drahtrolle und legte sie zu den anderen in die Kiste. „Wie stumpfsinnig“, dachte sie ein ums andere Mal, „aber der schmale Lohn hilft, das Haushaltsloch zu stopfen.“

Zweimal in der Woche besuchte Maria einen Weiterbildungskurs in ihrem erlernten Beruf. Seit 1938 war sie nicht mehr als Kinderkrankenschwester tätig gewesen.

Franziska hatte sich mit ihren fast fünfzehn Jahren gemäß ihrer Erbanlagen, wie Oma Gertrud fand, zu einem auffallend hübschen Mädchen gemausert. Sie besucht eine der beiden neu gegründeten neunten Klassen der Parkschule, die vor Kurzem Mittelschule geworden war.

Auch wenn Maria ihr alle nur denkbare Liebe schenkte, war Franziska kein verwöhntes Einzelkind. Frühzeitig übertrug ihr die Mutter Verantwortung und achtete darauf, dass sie selbständig wurde. Sie besprach mit ihr auch Probleme, die viele Heranwachsende ihres Alters überfordert hätten. Maria klärte sie über das Leben im Allgemeinen und die Menschen im Besonderen auf. So eignete sich Franzi Prinzipien und Überzeugungen an, die sie hinsichtlich ihrer geistigen Reife oft älter erscheinen ließen.

Durch ihre unkomplizierte, offene Art ermuntert, stellten ihr einige Halbwüchsige nach, was sich an einem der letzten Tage im Juli derart zuspitzte, dass sie, wie sie ihrer sprachlosen Mutter eröffnete, „dem Müller eine geklebt“ hatte.

Am Nachmittag jenes 24. Juli, einem Sonntag, war Franzi mit dem Rad zur Hainbuche gefahren, hatte sich auf die Bank gesetzt und den ersten Band der Südstaatentrilogie Vom Winde verweht zur Hand genommen, als wie selbstverständlich Peter Müller neben ihr Platz nahm. Der ansehnliche junge Mann war über die Maßen von sich überzeugt und galt als Aufschneider. Viele bezeichneten ihn als Großkotz. Peter wohnte am Ortsrand, fast in Sichtweite der beliebten Hainbuchenbank. Er hatte sich augenblicklich auf den Weg gemacht, als er zufällig die über ein Jahr jüngere Franziska erblickte. Mit einem saloppen: „Na, Franzi, Langeweile?“, ließ er sich neben ihr nieder. Er hatte schon mehrmals versucht, das hübsche Mädchen zu erobern, um es als neueste Errungenschaft präsentieren zu können. Dass ihr lindgrünes Sommerkleid etwas mehr als ein wenig nach oben gerutscht war, bemerkte Franziska nicht. Peter umso mehr. Der samtene Glanz ihrer braunen Oberschenkel ließ sein Blut pulsieren, seine Fantasie begann Purzelbäume zu schlagen.

„Was liest du da Schönes?“, heuchelte er Interesse und beugte sich wichtigtuerisch über das aufgeschlagene Buch.

„Verrenk dir nicht die Wirbelsäule!“

Peter ließ nicht nach und versuchte immer wieder, seinen Arm um ihre Schultern zu legen.

„Ich hab noch nie Eine so geliebt wie dich“, nuschelte er schließlich und löste prompt einen Lachanfall aus.

„Wo hast du denn das her? Aus dem Kino?“

Peter guckte etwas verdattert aus der Wäsche, nahm aber an – weil er es bei anderen Mädchen immer wieder erlebt hatte – Franziska ziere sich nur. So kam er auf die Idee, seinen Sehnsüchten mehr Nachdruck zu verleihen, legte seine Hand auf ihren Oberschenkel und ließ sie flott bis zur Leistenbeuge wandern.

„Spinnst du?!“ Franziska schoss in die Höhe und im selben Moment klatschte ihre Hand in sein Gesicht. Erschrocken über ihre eigene heftige Reaktion setzte sie sich zitternd und wutschnaubend wieder hin und nahm mit bösem Blick ihr Buch zur Hand. Schlimme Worte lagen ihr auf der Zunge, doch machte sie die Empörung stumm. Peters selbstgefälliges Lächeln bekam zwar eine säuerliche Note, aber das Weite zu suchen, kam ihm nicht in den Sinn. Schließlich schnappte sich Franziska ihr Rad und rauschte davon, im letzten Moment einer erzürnt schnatternden Entenfamilie ausweichend. Eher verständnislos als gekränkt sah ihr Peter hinterher und nahm sich vor, künftig etwas vorsichtiger zu sein. –

Schon mehrfach hatte Maria überlegt, ob es sich eventuell lohnen würde, dem unterm Schauer stehenden Wanderer2, einem Erbstück vom Schwiegervater, ohne allzu großen Aufwand wieder Leben einzuhauchen. Einen Führerschein besaß sie ja, sie hatte ihn vor Jahren wegen ihres Lazarettdienstes erworben. Aber selbst wenn das Auto repariert werden konnte, würde sie es denn überhaupt unterhalten können? Sie beschloss, darüber mit einem Fachmann zu sprechen, und wusste auch schon, mit wem.

Sie hatte kürzlich erfahren, dass der Mann von Edith May, einer Konsum3-Bekanntschaft, als Autoschlosser tätig war. Ihr Sohn Robert, runde zwei Jahre jünger als Franziska, besuchte ebenfalls die Parkschule.

„Sag mal, ist dir Robert May ein Begriff? Aus der Parkschule?“, erkundigte sich Maria nachmittags bei ihr.

„Robert May? Schon gehört, kenne ihn aber nicht. Was ist mit dem?“

„Ich dachte, du wüsstest, wo er wohnt. Ich brauch mal seinen Vater … Nun guck nicht so komisch! Er ist Autoschlosser. Wegen Opas Auto unterm Schauer.“

„Und was willst du damit? Denkst du, es fährt noch?“

„Werden wir sehen. Jedenfalls muss es da nicht ewig nutzlos rumstehen.“

Franziska konnte sich nicht erinnern, das mit einer Militärplane abgedeckte Fahrzeug jemals vollständig zu Gesicht bekommen zu haben. Allerdings hatte sie sich bisher auch nicht sonderlich dafür interessiert.

Wenige Tage später, an einem kühlen Septembersonntag, stand Siegfried May in Schlosserkombi mit Werkzeugkoffer und transportabler Hebevorrichtung staunend vor Marias Erbstück:

„Mann, das ist ja ein W24! Der ist seinerzeit als sächsische Konkurrenz zum Mercedes 170V gebaut worden! Kardanwelle auf Hinterachsdifferenzial! Das zählte damals zu den modernsten Antrieben“, schwelgte der begeisterte Autoliebhaber. „Da haben sich die Sachsen was Vernünftiges einfallen lassen! Wie lange ist der nicht bewegt worden?“

„Seit der Schwiegervater tot ist. Ungefähr sechs Jahre.“

May ging langsam um das Gefährt herum, er öffnete die Beifahrertür und inspizierte den Innenraum. Gefühlvoll schloss er die Tür wieder und wandte sich Maria zu.

„Rein äußerlich macht er erst mal einen passablen Eindruck. Mich wundert, dass der nicht konfisziert wurde. Die Nazis konnten zuletzt doch alles gebrauchen. Und die Russen haben ihn auch stehenlassen?“

„Russen waren hier gar nicht auf dem Hof. Aber Ihre Vermutung stimmt, im Herbst ’44 stand das Auto schon auf der Liste. Der Schwiegervater sollte es zur Sammelstelle fahren, brauchte es dann aber doch nicht tun. Warum, weshalb, wieso … keine Ahnung.“

„War wohl ein höheres Tier, der Herr Schwiegervater?“

„Nur Pg.4, wie die meisten.“

Nach einem erneuten anerkennenden Blick begann May, sein Werkzeug auszubreiten. Er öffnete vorsichtig die Motorhaube, beugte sich über den Innenraum und werkelte, leise vor sich hin summend, an dem alten Gefährt.

Eine Dreiviertelstunde später zog er dem Wanderer die Plane übers Dach und packte seine Utensilien zusammen.

„Hallo? Ist jemand zu Hause?“, rief er durch die offen stehende Tür und betrat vorsichtig den Hausflur.

Maria flog ihm förmlich entgegen und strahlte ihn an.

„Kaum Rost, Frau Böhm! Die Maschine scheint in Ordnung. Die Kosten für eine Reparatur sind überschaubar. Wenn Sie wollen, machen wir das bei uns in der Werkstatt. Ich könnte das arrangieren.“

Maria bedankte sich für seine Mühe.

„Ich überleg’s mir. – Jetzt möchte ich Sie gern zum Mittagessen einladen, Herr May.“

„Mit meinen Dreckklamotten?“

„Menschen mit dreckigen Hosen werden bei uns sowieso in der Küche bewirtet“, lachte sie, „das heißt, falls Sie unser Untermieter nicht stört.“

„Wieso? Beißt der?“ Der Autoschlosser staunte nicht schlecht, als Maria ihm das Zicklein im Wäschekorb zeigte.

„Sie ist erst ein paar Tage alt, ihre Mutter hat sie verstoßen. Wir päppeln sie mit der Babyflasche auf“, erklärte sie und komplimentierte den Gast zum Sofa.

Der Mechaniker setzte sich gegenüber Franzi an den gedeckten Tisch und gemeinsam verspeisten sie, was Maria zur Feier des Tages auftafelte. Gegen vierzehn Uhr machte sich Siegfried May auf den Heimweg und vergaß nicht, neben einer erneuten Lobeshymne auf den W24 eine weitere auf Marias Kochkunst folgen zu lassen.

„Das war ja was ganz Oberedles, Frau Böhm! Kaninchenbraten hat bei uns schon ewig nicht mehr auf dem Speiseplan gestanden! Ganz vorzüglich!“

Kaum war er verschwunden, ereiferte sich Maria.

„Der hatte ja seine Augen mehr bei dir als auf seinem Teller! Fandest du das nicht ziemlich taktlos?“

Franzi, die vor dem Korb mit dem Ziegenkind kauerte, spürte die bohrenden Blicke der Mutter im Rücken.

Sie schwieg. Plötzlich wich Marias besorgte Miene einem seligen Lächeln. Sie erhob sich und breitete die Arme aus.

„Komm mal her, meine Kleine! Meine Grazie!“

Franziska tat ihr den Gefallen und sie umarmten sich.

„Na, Frau Böhm?“, witzelte sie. „Wer ist hier die Kleine? – Wieso ist er eigentlich taktlos, wenn er mal zu mir guckt?“

Sie lösten sich voneinander. Maria stellte die Abwaschschüssel bereit.

„Der hat nicht nur mal so geguckt!“

„Wie hat er denn geguckt?“

„- - -“

„Dass er mich vernaschen will?“

Maria platschte der Teller ins Abwaschwasser.

„Lass gut sein, Mutti, ich pass schon auf mich auf. Ich fand ihn jedenfalls nett.“

„Peter Müller ist auch nett“, ereiferte sich die Mutter, „und zwanzig Jahre jünger! Trotzdem hast du ihm eine Ohrfeige gegeben!“

„Peter Müller und nett? Das kannst du vergessen! Außerdem warst du doch gar nicht dabei!“

„Wieso? Aber der Peter ist doch …“

Franziska spürte, dass sie anfing, sich in Rage zu reden.

„Eben mal so die Hand unter den Schlüpfer schieben, so was findet der anscheinend normal!“

„Waas?“ Maria schaute ihre Tochter irritiert an, sie brauchte eine Weile, um zu reagieren. Dann zog sie das Mädchen an sich und wollte es erneut umarmen. Doch Franzi entzog sich der überschwänglichen Gefühlsregung. Mit klopfendem Herzen setzte sie sich an den Tisch, legte das Kinn auf die ineinander verschränkten Arme und warf leere Blicke ins Nichts. Die Mutter war eine Weile sprachlos. Schließlich rückte sie sich einen Stuhl zurecht, setzte sich neben ihre Tochter, fasste behutsam nach deren Hand, zog die Augenbrauen hoch und fragte leise: „Und warum hast du ihm nur eine gescheuert?“

Franziska lächelte versonnen und stellte wieder mal fest, dass man jederzeit mit Überraschungen rechnen muss.

Eine halbe Stunde später schloss Franzi das Fenster im Kinderzimmer und ließ sich auf die Liege fallen.

Postwendend erhob sie sich wieder und griff sich Vom Winde verweht aus dem Regal. Sie wollte sich nach längerer Pause wieder mal in das Schicksal Scarlett O’Haras vertiefen, die zu Beginn der Romanhandlung etwa so alt war, wie sie jetzt. Das Lesezeichen fiel ihr entgegen, ein alter Trainingsplan aus der sechsten Klasse. Franzi schmunzelte. Sie dachte gern an die Zeit in der Mädchen-Sprint-Gruppe zurück, die von ihrem Mathe- und Sportlehrer Stefan Kudera – in Schülerkreisen Kuddl genannt – geleitet wurde.

Als ihr einfiel, wie er ihr diese „untypische Lehrerfrage“ gestellt hatte, musste sie lächeln, und wie von selbst kamen ihr Einzelheiten ins Gedächtnis.

Es war Mitte der achten Klasse. Während des Mathematikunterrichts fiel dem Lehrer auf, dass Franzi sich kaum konzentrieren konnte und wohl Schmerzen litt. Darum bat er sie nach Stundenende zu sich und sprach sie darauf an. Unverblümt fragte er, ob sie ihre Regel habe oder sie etwas anderes plage. Er sähe ihr an, dass es ihr nicht gut gehe. Überrumpelt von seiner Direktheit hatte sie seine Vermutung sofort bestätigt. Ob’s sehr schlimm sei und sie lieber nach Hause gehen wolle, hatte er gefragt. Sie versicherte, dass es nicht so schlimm sei und lehnte sein Angebot ab. Auf dem Nachhauseweg war sie sich wieder mal bewusst geworden, dass Kuddl seine Schüler nicht leiden sehen konnte. Seine Mädchen schon gar nicht.

Kurz darauf hatte er sich allerdings ziemlich gewagt verhalten. Franzi erinnerte sich an den „Blinddarm-Fall“, bei dem sie zwar nicht unmittelbar betroffen, aber zugegen war. Der Lehrer hätte die Fahrt in die Jugendherberge eigentlich absagen müssen, weil mehrtägige Reisen mit älteren Mädchen ohne erwachsene weibliche Begleitperson nicht gestattet waren. Die eingeplante Mutter hatte kurzfristig abgesagt und eine andere war nicht so schnell aufzutreiben gewesen. Die Fahrt platzen zu lassen, kam aber weder für Kuddl noch für seine Schüler infrage, die sich seit Wochen darauf freuten. Also holte er sich bei seinen Mädchen und deren Müttern grünes Licht und machte dem Schulleiter klar, dass es dort ja notfalls noch eine Herbergsmutter gab. Als das geklärt war, brachen sie auf.

Nach einer stimmungsvollen Fahrt am Ziel angekommen, verteilten sich die jugendlichen Gäste auf die für sie reservierten Zimmer. Alles war eitel Sonnenschein. Bis der „Notfall“ eintrat. Franzi hatte noch genau vor Augen, wie Kuddl kurz nach Mitternacht mit ernster Miene das Drei-Bett-Mädchen-Zimmer betrat, in das er gerufen worden war. Steffi Meinhardt klagte über schlimme Bauchschmerzen. Elke Peters und Franzi saßen mit einem leichten Nachthemdchen bekleidet auf der Bettkante ihrer jammernden Freundin und litten mit. Der Lehrer rückte sich einen Stuhl ans Bett und ließ sich nieder.

„Es kommt also ganz sicher nicht von der Menstruation?“, fragte er sicherheitshalber noch mal nach, fand im gleichen Moment aber die Art der Fragestellung nicht besonders glücklich. Als Steffi erneut verneinte, schüttelte er skeptisch den Kopf und murmelte:

„Dann kann es eigentlich nur eine Blinddarmreizung sein.“ Er deutete auf Steffis Bauch: „Darf ich da mal anfassen?“ Flugs streifte sie das Oberteil in die Höhe. Er drückte und tastete ihren Bauch ab und forderte sie auf, das rechte Bein anzuziehen und wieder zu strecken. Ohne erkennbare Reaktion. Schließlich kam er zur Überzeugung, dass sie dramatisierte. Kudera brummte ein paar tröstende Worte und gab ihr eine halbe Spalttablette. Er versprach einen Arztbesuch, falls es am nächsten Tag nicht besser sei, dann mahnte er zur Ruhe und ließ die Mädels allein. Als er wieder in seinem Zimmer war, kam ihm die Idee, dass es sich auch um eine Verstopfung handeln könnte. –

Er verwarf den Gedanken.

Tastuntersuchung mit Medikamentengabe?! –

Franzi schmunzelte. Das hätte für ihn ganz schön ins Auge gehen können.

Sie legte das Lesezeichen beiseite, rückte sich auf der Liege zurecht und bald verdrängte Scarlett Kuddls Hände auf Steffis Bauch.

Rückblick – Vom Offizier zum Neulehrer

Als ehemals glühender Hitlerjunge, ambitioniertes Mitglied der Flieger-HJ5, dekorierter Fallschirmjäger und Jagdflieger schien Stefan Kuderas militärische Laufbahn vorbestimmt. Sie wurde abrupt beendet, als er im Mai 1942 südlich des Ladogasees zu einer Notlandung gezwungen war und in sowjetische Kriegsgefangenschaft geriet. Zunächst in einem noch im Bau befindlichen Gefangenenlager nahe der Waldai-Höhen interniert, fand sich der 25-jährige Oberleutnant ein Jahr später im Lager 377 nahe Swerdlowsk wieder, wo er über zweieinhalb Jahre untertage im Asbestabbau schuften musste. Dass er diese Strapaze relativ unbeschadet überstand, verdankte er, neben seiner physischen Konstitution und mentalen Stärke, der erneuten Verlegung. Eine kleine Gruppe deutscher Kriegsgefangener, die meisten im mittleren Offiziersrang, wurde ins südliche Uralvorland umquartiert. Die Gruppe schien nicht willkürlich zusammengesetzt und er rätselte noch später oft, warum gerade er mit ausgewählt worden war. Anfangs nahe Orenburg in einem Sammellager untergebracht, wurden die Männer binnen weniger Tage dezentral verteilt.