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EINS PLUS EINS MACHT … DREI! von KANDY SHEPHERD
Sexy Bartstoppeln, Schatten unter den Augen und ein niedliches Baby auf dem Arm. Ihren Freund Wil als völlig übermüdeten Single-Dad zu erleben, trifft Georgia mitten ins Herz. Fatal, denn plötzlich fühlt sie ein Begehren, das ihre Freundschaft in höchste Gefahr bringt …
EINE BEZAUBERNDE NANNY ZUM VERLIEBEN von ROSANNA BATTIGELLI
Für Selfmade-Millionär Davide Cortese war die selbstbewusste Neve die große Liebe - bis sie ihn damals tief verletzte. Jetzt braucht er dringend eine Nanny für seine kleine, verwaiste Nichte. Und Neve scheint die letzte Rettung. Aber kann er ihr jemals verzeihen?
SIE IST DIE RICHTIGE, DADDY! von AMY RUTTAN
Derek Taylor ist von der schönen Ärztin, die in seiner Praxis spontan aushilft, sofort fasziniert. Auch sein Töchterchen Mo wirkt in Evelyns Nähe glücklich wie nie. Doch damit ihre Träume von einer neuen Mommy nicht enttäuscht werden, geht der Witwer auf Distanz. Ein Fehler?
EIN GESCHENK DES HIMMELS? von ANDREA BOLTER
Einen Maskenball für Prinz Zander organisieren? Eventplanerin Marie fühlt sich wie im Märchen. Schon bald ist sie in ihn so verliebt wie in sein süßes Mündel Abella. Doch Marie weiß, auch wenn ihre Liebe ein Geschenk des Himmels ist, eine Zukunft mit dem Prinzen ist undenkbar …
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Seitenzahl: 695
Veröffentlichungsjahr: 2020
Kandy Shepherd, Rosanna Battigelli, Amy Ruttan, Andrea Bolter
JULIA EXTRA BAND 482
IMPRESSUM
JULIA EXTRA erscheint in der HarperCollins Germany GmbH
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA EXTRABand 482 - 2020 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
© 2019 by Kandy Shepherd Originaltitel: „Second Chance with the Single Dad“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London in der Reihe: ROMANCE Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Beatrice Norden
© 2018 by Rosanna Battigelli Originaltitel: „Captivated by Her Italian Boss“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London in der Reihe: ROMANCE Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Tina Beckmann
© 2018 by Amy Ruttan Originaltitel: „A Mommy for His Daughter“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London in der Reihe: MEDICAL ROMANCE Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Lydia Roeder
© 2019 by Andrea Bolter Originaltitel: „The Prince’s Cinderella“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London in der Reihe: ROMANCE Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Elisabeth Hartmann
Abbildungen: HTeam / Shutterstock, RomoloTavani / Getty Images, alle Rechte vorbehalten
Veröffentlicht im ePub Format in 03/2020 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783733714826
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY
Georgia ist die beste Ersatzmami, die sich Wil für sein Baby vorstellen kann. Ihr Lächeln wärmt Herzen. Wie gut, eine Freundin wie sie zu haben. Aber warum reicht dem smarten Single-Dad das plötzlich nicht mehr?
Als Neve nach Italien reist, um einen Job als Nanny anzutreten, ahnt sie nicht, wer ihr Boss ist! Bis Davide Cortese vor ihr steht und süße Erinnerungen ihr Herz stürmen. Doch warum nur ist Davide so abweisend?
Zärtliche Umarmungen und ein hinreißendes Kinderlächeln! Mit Dr. Taylor und seiner kleinen Tochter Mo erlebt Evelyn süße Geborgenheit. Doch die schöne Ärztin weiß, so ein Familienglück steht ihr nicht zu …
Für Prinz Zander ist Eventplanerin Marie ein Geschenk des Himmels. Erstens geht sie rührend mit seiner verwaisten Nichte um. Zweitens sind ihre Lippen so zart wie Wolken. Doch dann setzt ein Skandal ihrer Liebe ein jähes Ende …
Seit dem ersten Tag ihrer Freundschaft war Georgia Lang klar, was für ein verdammt gut aussehender Mann Wil Hudson war. Aber nie – nicht einen einzigen Moment lang – hatte sie sich auch nur einen Anflug von erotischer Anziehung zwischen ihnen beiden erlaubt.
Viel zu gefährlich.
Vor allem, wenn man eine ganz normale Frau war, nicht unattraktiv, aber chancenlos im Wettbewerb mit all den Schönheiten, die ihn umschwärmten. Das ‚nette Mädchen von nebenan‘ wurde sie manchmal genannt. An trüben Tagen fragte sie sich, ob das gleichbedeutend mit langweilig war. Doch meistens war sie mit der Bezeichnung absolut einverstanden.
Wil zog Frauen an wie ein Magnet, und genauso mühelos stieß er sie wieder von sich. Als seine treue Freundin aus Studienzeiten sah Georgia seine glamourösen Begleiterinnen kommen und gehen. Und ihre fast geschwisterliche Beziehung schien die einzige zu sein, die in Wils Leben über die Jahre Bestand hatte.
Wenn sie ganz ehrlich war: Für Georgia hatte es schon ein paar Momente gegeben, in denen sie sich fragte, ob nicht mehr daraus werden könnte. Aber einen Vorstoß zu wagen hatte sie nie versucht – aus Angst vor Zurückweisung. Da auch er es nicht tat, waren sie immer Freunde geblieben, ob sie gerade Single waren oder liiert.
So war es bis zu Wils Blitzhochzeit gewesen. Danach hatte keiner seiner Freunde mehr viel von ihm zu sehen bekommen. Das hatte sich auch nicht mehr geändert, nachdem seine Frau ihn wieder verlassen hatte.
Für Georgia war er plötzlich wie vom Erdboden verschluckt gewesen. Ohne eine Erklärung hatte er jeglichen Kontakt mit ihr abgebrochen. Kein Anruf, keine Textnachricht, nicht einmal ein „Like“ auf Facebook. Im Fernsehen hatte sie einmal ein Interview mit ihm gesehen – er galt als Vorbild für die aufstrebende Generation erfolgreicher junger Selfmade-Millionäre. Aber was ihr Leben betraf, hätte er genauso gut ein Geist sein können.
Und jetzt stand er plötzlich vor ihr, wenige Tage nach Beginn des neuen Jahres, vor der Tür ihrer Wohnung in North Sydney, die sie sich mit zwei anderen jungen Frauen teilte. Sie war so überrascht, ihn zu sehen, dass sie sich am Türrahmen festhalten musste.
Wil! Ihr Herz begann heftig zu schlagen. Wie sehr sie ihn vermisst hatte!
Bei jedem anderen Besucher hätte sie sich dafür entschuldigt, wie schrecklich sie in Shorts und einem ausgebeulten Pulli aussah, ohne Make-up und mit zerzausten Haaren. Vor Wil aber hatte sie sich nie Gedanken über ihr Äußeres gemacht. Beinahe nie jedenfalls. Seiner Erscheinung war sie sich jedoch immer bewusst gewesen, und auch jetzt war sie von seinem Aussehen beeindruckt: hochgewachsen, breitschultrig, in dunklen Jeans und einem weißen T-Shirt, das seine athletische Gestalt betonte. Einen langen Moment standen sie sich wortlos gegenüber. Was machte er hier? Warum gerade jetzt?
„Georgie“, begann er schließlich mit dieser Stimme, die so tief und wohltönend klang wie immer. Als warte er auf eine Reaktion, betrachtete er sie mit prüfendem Blick. Sprachlos hielt sie seinem Blick stand und musterte ihn ihrerseits aufmerksam.
Beim ersten Hinsehen sah er aus wie immer, aber doch war etwas anders. Sie hatte ihn als stets gut gepflegt in Erinnerung. Nun schien seine letzte Rasur ein paar Tage her zu sein, und sein dunkles Haar, das er länger trug als gewöhnlich, fiel ihm ungekämmt in die Stirn. In seinen Augenwinkeln entdeckte sie kleine Falten, die dort früher nicht gewesen waren. Mit seinen achtundzwanzig Jahren wirkte er eigenartig … müde. Vielleicht ist es anstrengend, dachte sie, so rasch so viel Geld zu verdienen. Vielleicht lässt es einen auch die alten Freunde vergessen.
„Es ist zwei Jahre her“, brachte sie endlich hervor. Sie wollte nicht vorwurfsvoll klingen, doch das misslang. Fröhliches Lachen und spielerisches Necken waren die Kennzeichen ihrer Freundschaft gewesen, doch nach beidem war ihr jetzt nicht zumute.
Die Art, mit der er ihre langjährige Freundschaft abrupt beendet hatte, war zu kränkend gewesen.
Sie hatte oft erlebt, wie Freundschaften schwanden, wenn neue Beziehungen ins Spiel kamen, doch nie waren sie so radikal abgeschnitten worden. All die gemeinsamen Jahre schienen ihm nichts mehr zu bedeuten, als er sich in die andere verliebte. Die gute alte Georgia wurde nicht mehr gebraucht.
Sie konnte nicht so tun, als hätte es ihr nichts ausgemacht.
Wil schien sich dessen durchaus bewusst zu sein. „Es tut mir ehrlich leid, dass ich so lange nichts von mir habe hören lassen, Georgie“, sagte er.
„Du weißt ja, an wem es lag.“ Ihr Versuch, seine Bemerkung mit einem Scherz abzutun, misslang.
„Ich weiß. Nur an mir. Es tut mir leid.“
„Und doch bist du jetzt gekommen?“ Sie blieb steif vor ihm stehen. Keine Umarmung, kein Begrüßungsküsschen. Allerdings hatten sie auch in der besten Zeit ihrer Freundschaft nie viel körperlichen Kontakt gehabt. Unausgesprochen hatte es immer eine Art Rühr-mich-nicht-an Barriere gegeben.
Einen Moment lang schwieg Wil. „Ich brauche deine Hilfe“, sagte er schließlich, eine Spur von Verlegenheit in seinen Zügen.
Georgia ahnte, wie schwer ihm diese Worte fielen. Früher einmal hätte sie ohne zu zögern gefragt, was sie für ihn tun könne. Die gute alte Georgia hätte alle anderen Verpflichtungen hintangestellt, um ihm zu helfen. Diesmal blieb sie unbeirrt an der Türschwelle stehen. „Ich höre, deine Frau hat sich von dir scheiden lassen.“
Angie, die zierliche Blondine mit dem elfengleichen Gesicht und dem berechnenden Blick. Im Kreis der Freundinnen war sie nie richtig angenommen worden, und auch die Männer in der Clique hatte sie nicht überzeugen können. Nur Wil schien ihr völlig verfallen.
„Ja“, bestätigte er knapp.
Georgia verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich stehe nicht mehr als Seelentröster bei Liebeskummer zur Verfügung.“
Kein einziges Wort von ihm in zwei Jahren.
Nur das leichte Zusammenpressen seiner Lippen verriet, wie sehr ihn ihre Worte trafen. Er räusperte sich, um seine Stimme zu klären. „Angie“, brachte er mühsam hervor, „Angie ist tot.“
Entsetzt schlug sich Georgia die Hand vor die Brust. „Was?“ Nur dieses ungläubig hervorgepresste Wort. Wils Blick verriet, dass es kein übler Scherz war. „Wann? Wie?“
„Ein Autounfall in den Blue Mountains am Neujahrsabend. Sie starb am nächsten Morgen im Krankenhaus. Das war vor drei Tagen.“
„Oh Wil, das ist ja schrecklich! Es tut mir so leid.“ All die gehässigen Bemerkungen kamen ihr in den Sinn, die sie im Freundeskreis über Wils kindlich naive Frau gemacht hatte. Angie war nur siebenundzwanzig geworden, genauso alt wie sie selbst. Schrecklich jung zum Sterben. „Komm herein, bitte! Wie kann ich dir helfen?“
Sie trat beiseite, um ihn hereinzulassen, wollte sich für die Unordnung in der Wohnung entschuldigen und war gleichzeitig froh, dass keine ihrer Mitbewohnerinnen zu Hause war. Gerade wollte sie den Mund öffnen, um ihm einen Kaffee anzubieten, doch Wil sprach zuerst.
„Ich habe ein Baby. Ein kleines Mädchen namens Nina.“
„Oh!“ Ein neuer Schmerz durchzuckte sie. Er hatte es nicht einmal für nötig gehalten, ihr etwas so Bedeutendes mitzuteilen. „Ich wusste nicht, dass du Vater geworden bist.“
„Ich auch nicht“, erwiderte er knapp.
Georgia war zu schockiert für eine direkte Erwiderung. „Wie meinst du das?“, brachte sie schließlich hervor. „Wie konntest du das nicht wissen?“
„Angie hat es mir nicht gesagt. Mir war nicht klar, dass sie schwanger war, geschweige denn, dass sie ein Kind bekommen hat. Nach unserer kurzen Ehe hatten wir nur noch über unsere Anwälte Kontakt.“
Dennoch schwanger? Georgia mochte nicht fragen. Sie hatte gehört, dass die Ehe kaum sechs Monate gehalten hatte.
„Warum hat sie es dir verschwiegen?“
Wil murmelte etwas Unverständliches. „Ich weiß es nicht“, erklärte er dann. „Vielleicht, um mich zu bestrafen. Immerhin hat sie mich als Vater eintragen lassen.“
Die Angie, an die Georgia sich erinnerte, würde auf keinen Cent Kindesunterhalt verzichtet haben. Als sie den wohlhabenden Wil kennenlernte, hatten Dollarzeichen in ihren Augen aufgeleuchtet. „Aber wieso …?“
„Eine Sozialarbeiterin aus dem Krankenhaus in Katoomba hat mich am Neujahrstag angerufen und mir gesagt, dass meine Ex-Frau verstorben ist. Nach dem Unfall ist sie wohl noch einmal zu Bewusstsein gekommen und hat der Sozialarbeiterin gesagt, dass ich das Sorgerecht für das Kind übernehmen solle. Für mich kam das wie aus heiterem Himmel.“
Georgia begriff nun, warum ihr alter Freund so erschöpft aussah. Seine Welt schien kopfzustehen, und er wirkte völlig hilflos. In dieser Lage war er ausgerechnet zu ihr gekommen!
Wil hatte Georgias Freundschaft vermisst. Doch sie hatte ihn nicht mit ihrem üblichen offenen Lächeln empfangen, sondern war ihm schmallippig und abweisend bei seinem unverhoffte Erscheinen gegenübergetreten. Erst jetzt begriff er, wie sehr er sie mit seinem plötzlichen Verschwinden verletzt haben musste.
Vor zwei Jahren hatte seine ganze Aufmerksamkeit Angie gegolten. Sie war hübsch und sexy gewesen, und fröhlich … jedenfalls zu Beginn. Auch zart und verletzlich hatte sie gewirkt, und das hatte seinen Beschützerinstinkt geweckt. Ziemlich bald jedoch war Angie sehr fordernd geworden. Als sie verlangte, dass er seine beste Freundin nicht mehr treffen sollte, hatte er widerstrebend eingewilligt. Da war er noch sehr verliebt gewesen.
Als der Sternenstaub vor seinen Augen verflogen war, hatte er bemerkt, dass Angie zu einer gesunden Beziehung nicht in der Lage war. Wahrscheinlich war ihre Ehe von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen. Er hatte seinem Helferinstinkt folgen und sie retten wollen. Sie hatte jemanden gesucht, auf den sie alles abladen konnte, was bisher in ihrem Leben schiefgelaufen war.
Doch das war lange vorbei, und mehr als das. Angie war tot. Und er sollte plötzlich Vater sein.
Nun stand seine wunderbare Freundin, die so lange Teil seines Lebens gewesen war, mit geröteten Wangen und zerzaustem Haar vor ihm. Im Blick aus ihren blauen Augen lagen Mitgefühl und Entsetzen.
„Ist das Baby bei dem Unfall verletzt worden?“, fragte sie.
„Glücklicherweise nicht. Es war an dem Abend bei Angies Schwester.“
„Gott sei Dank!“ Georgia schüttelte den Kopf, als müsse sie ihre Gedanken klären. „Es muss ein schrecklicher Schock für dich gewesen sein, als du davon erfahren hast.“
Für einen Moment schloss Wil vor Erleichterung die Augen. Er war so froh, dass Georgia ihn doch nicht abgewiesen hatte. Das Blau ihrer Augen, ihr Duft, der Klang ihrer Stimme: Alles war so vertraut und so tröstend. Georgia.
„Mit so etwas rechnet man nie“, sagte er. Es fiel ihm schwer, das Entsetzen in Worte zu fassen, das er beim Anruf aus dem Krankenhaus empfunden hatte. Auch ohne die Nachricht von seiner unerwarteten Vaterschaft war Angies tragischer Tod schwer genug zu verkraften. Hinzu kam der Zweifel, ob das Kind überhaupt von ihm war.
„Was hast du dann gemacht?“
„Ich bin natürlich sofort nach Katoomba gefahren, um mich … um meine Tochter zu kümmern.“
Meine Tochter! Ein warmes Gefühl durchströmte Wil bei der Erinnerung an das winzige Wesen im Arm der Sozialarbeiterin. Die Kleine hatte ihn mit großen dunklen Augen angesehen und dann mit ihrer winzigen Hand nach seinem großen Finger gegriffen.
Er bemühte sich, seine Rührung nicht zu zeigen. Nicht vor Georgia! Aus Angst, sie könnte sich von ihm abwenden, hatte er seine wahren Gefühle immer sorgsam vor ihr verborgen.
„Wie alt ist deine Tochter?“ Er konnte sehen, wie schwer Georgia die Vorstellung fiel, dass er ein Kind hatte. Er selbst hatte ja erst ein paar Tage Zeit gehabt, sich an den Gedanken zu gewöhnen. Doch er war entschlossen, diesem winzigen Wesen alles zu geben, was das Leben ihm selbst vorenthalten hatte.
„Sieben Monate.“
„Das ist ja winzig … Was wirst du tun?“
„Ich werde sie heute zu mir holen“, erklärte er ohne zu zögern.
„Wie meinst du das?“
„Angies Schwester in Katoomba fängt an, Schwierigkeiten zu machen. Sie glaubt, sie hätte ein Recht auf Nina. Rein rechtlich hat sie natürlich keine Chance, aber je früher ich Nina bei mir habe, desto besser.“
Georgias blaue Augen wurden groß. „Du hast vor, Nina allein großzuziehen?“
„Ich bin für sie verantwortlich. Ich bin auf dem Weg in die Blue Mountains, um sie nach Hause zu holen.“
„Wow.“ Georgia sah ihn kopfschüttelnd an. „Du willst also alleinerziehender Vater sein?“
„Ich bin ihr Vater. Sie ist mein Fleisch und Blut. Ich habe keine andere Wahl.“
„Bist du sicher, dass Nina von dir ist?“
„Du meinst, ob ich einen DNA-Test habe machen lassen? Dafür hatte ich noch keine Zeit, aber sie ist zweifellos von mir. Wenn ich sie ansehe, kommt es mir vor, als blicke ich in einen Spiegel. Die Sozialarbeiterin im Krankenhaus musste sogar lachen, als sie mich sah. ‚Da kommt ja der Daddy unserer Kleinen‘ hat sie gesagt.“
Georgia nickte nachdenklich. „Wenn sie so aussieht wie du, muss sie sehr süß sein. Aber hast du dir das auch wirklich gut überlegt?“
„Sie ist mein Kind, und ich werde meine Pflicht erfüllen.“
Er selbst war mit fünf Jahren Waise geworden. Die Jahre in Pflegeheimen hatten sein Leben geprägt. Er würde nicht zulassen, dass sein Kind so etwas durchmachen musste. Aber das konnte er Georgia nicht sagen.
In all den Jahren ihrer Freundschaft hatte er weder ihr noch sonst jemandem erzählt, was damals passiert war, vor seinem neuen Leben in Sydney. Die Wahrheit über seine Kindheit in Melbourne. Er hatte nie verschwiegen, dass er adoptiert worden war, doch er hatte seine Freunde in dem Glauben gelassen, dass er schon mit fünf von seinen wundervollen Eltern aufgenommen worden war. Nicht erst mit vierzehn und nicht erst, als er bis zum Hals in Schwierigkeiten steckte, weil er stets das getan hatte, was er für das Richtige hielt.
„Sehr lobenswert“, sagte Georgia. „Aber es wird nicht leicht werden.“
„Überhaupt nicht“, stimmte er zu. „Deshalb bin ich hier. Ich brauche deine Hilfe.“ Er winkte ab, als sie den Mund zum Protest öffnen wollte. „Ich weiß, ich habe mir deine Freundschaft durch mein langes Schweigen verscherzt. Aber ich brauche dich als moralische Unterstützung. Komm mit mir nach Katoomba! Noch heute!“
Sie sah ihn erschrocken an. „Warum ausgerechnet ich?“
„Du kennst dich mit Kindern aus. Du arbeitest schließlich in einer Grundschule und hast viele Nichten und Neffen.“
„Als Grundschullehrerin bin ich nicht gerade eine Expertin für Babys“, wandte sie ein.
„Auf jeden Fall mehr als ich“, erwiderte er. „Ich hatte noch nie ein Baby im Arm. Bis vor zwei Tagen.“ Trotz der aufmunternden Worte der jungen Frau hatte er panische Angst gehabt, mit dem Kind etwas falsch zu machen.
„Das immerhin habe ich dir voraus“, gestand Georgia ihm mit trockenem Lachen zu. Ihre älteren Schwestern hatten inzwischen eigene Kinder, und sie war oft als Babysitter eingesprungen.
„Ich habe gedacht …“, begann er.
„Hast du denn keine Freundin?“, unterbrach sie ihn.
„Nein.“ Die Ehe mit Angie war so schmerzlich gewesen, dass ihm nicht der Sinn nach einer neuen Beziehung gestanden hatte.
„Aber es muss doch jemand anders …“
„Niemand anderem würde ich trauen.“
Seufzend trat sie einen Schritt zurück und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. „Das ist nicht fair, Wil. Nach all der Zeit kannst du nicht einfach hier hereinschneien und …“
„Ich war ein schlechter Freund“, gestand er und erwartete nicht, dass sie ihm widersprach.
„Ich … wir alle dachten, dass du zu erfolgreich und zu reich geworden wärest und deshalb nichts mehr mit uns zu tun haben wolltest.“ In ihrem Blick war deutlich zu lesen, wie sehr er seine Freunde verletzt hatte.
„Das war nicht der Grund“, versuchte er zu erklären. „Ich wollte es Angie recht machen. Sie glaubte, meine Freunde mochten sie nicht. Und auf dich war sie eifersüchtig.“ Zu spät hatte er bemerkt, dass Angie ihn absichtlich von seinen besten Freunden entfremdet hatte.
Georgia wandte verlegen den Blick ab. Tatsächlich hatte niemand Angie wirklich gemocht. Hätte will doch nur auf seine Freunde gehört …
„Angie konnte es nicht ertragen, uns beide zusammen zu sehen. Eine platonische Freundschaft zwischen einem Mann und einer Frau hielt sie für unmöglich. Ich konnte noch so oft beteuern, dass es keinen Grund für ihre Eifersucht gab.“
„Den gab es wirklich nicht“, bestätigte Georgia. „Wir sind zusammen ausgeritten, haben tolle Sachen erlebt und Musik gehört, die außer uns niemand hören wollte. Aber es war nie etwas Romantisches zwischen uns.“
„Angie hat mir das nicht geglaubt“, beteuerte er. Stattdessen hatte sie ihn mit unbegründeten Vorwürfen überzogen.
„Aber nach dem Ende eurer Ehe? Da hast du immer noch nichts von dir hören lassen.“
Er schüttelte reumütig den Kopf. „Ich wollte nicht zugeben, welchen Fehler ich mit dieser Ehe gemacht hatte.“
Georgia würde nie erfahren, wie oft er ihre Nummer bis zur letzten Ziffer gewählt hatte, um dann mutlos wieder aufzulegen. Wie oft er langsam am Haus seiner einst besten Freundin vorbeigefahren war ohne anzuhalten, um nicht zugeben zu müssen, wie idiotisch er sich verhalten hatte.
„Also wirklich!“, murmelte sie, doch das Eis in ihrer Stimme schien langsam zu schmelzen.
„Es tut mir leid, Georgie. Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich vieles anders machen.“
Wie immer, wenn sie über etwas Wichtiges nachdachte, blinzelte sie heftig. „Ich will nicht nachtragend sein“, sagte sie schließlich. „Ich kann verstehen, dass es eine schwierige Zeit für dich gewesen sein muss. Und jetzt …“
„Jetzt kommst du mit mir, um Nina abzuholen? Oder hast du inzwischen einen Partner, der das nicht gern sehen würde?“
„Nein, da gibt es niemanden.“
„Was ist mit Toby? Ich war fest überzeugt, dass er dir inzwischen einen Antrag gemacht hätte.“
„Wir haben uns vor einem Jahr getrennt“, erklärte sie knapp.
„Das tut mir leid“, erklärte er, um wenigstens höflich zu sein. Er war davon ausgegangen, dass sie Toby eines Tages heiraten würde.
Sie machte eine weitläufige Geste um sich herum. „Wie du siehst, bin ich gerade am Packen. Der Vermieter will das Haus verkaufen, und ich ziehe jetzt erst einmal zu meinen Eltern, bis ich eine neue Bleibe gefunden habe. Ich muss noch weiter packen, aufräumen, putzen …“
„Ich bezahle ein Umzugsunternehmen und eine Putzkolonne! Bitte, Georgie!“
Einen Moment zögerte Georgia noch, dann seufzte sie. „Um der alten Zeiten willen“, lenkte sie ein. „Nein, um des Babys willen! Als wir uns das letzte Mal sahen, wusstest du nicht, wo bei einem sieben Monate alten Baby vorne und hinten ist.“ Ein Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. Dieses Lächeln hatte ihm einmal sehr viel bedeutet. Jetzt wurde ihm klar, wie sehr er es vermisst hatte.
Erleichtert stieß er den Atem aus, den er unbewusst angehalten hatte. „Ich danke dir“, sagte er.
Georgia war wieder zurück in seinem Leben. So leicht wollte er sie nicht wieder verlieren. Koste es was es wolle.
Georgia war schon oft mit Wil gemeinsam der Stadt entflohen, um in den Blue Mountains zu wandern oder auszureiten – noch nie allerdings mit einem Kindersitz im Wagen und vier großen Packungen Windeln. „Bestimmt werden wir die auf dem Rückweg brauchen“, erklärte Wil. Georgia lachte. „Vier Pakete voll? Wenn die Kleine nicht eine besonders auffällige Verdauung hat, bezweifle ich das.“
Die Miene, zu der er das Gesicht verzog, kannte sie sehr gut. „Ich habe dir doch gesagt, ich verstehe nichts von Babys.“
Sie lächelte ihn zuversichtlich an und sagte: „Du wirst bestimmt alles schnell lernen.“ Gern hätte sie ihre Hand aufmunternd auf seinen Arm gelegt, aber das war zwischen ihnen nie üblich gewesen. Berührungen waren in ihrer Freundschaft nicht vorgesehen.
„Das werde ich wohl müssen“, seufzte er.
In Georgias Kopf wirbelten tausend Fragen. Ihr bester Freund war überraschend in ihr Leben zurückgekehrt. Sie brannte vor Neugier, wie es ihm in den zwei Jahren seit ihrer letzten Begegnung ergangen war, aber jetzt war nicht der richtige Augenblick.
Was sein Privatleben betraf, war Wil immer sehr zurückhaltend gewesen. Er brauchte Zeit, ehe er sich anderen anvertraute. Wie schlecht musste sich seine Beziehung zu Angie entwickelt haben, wenn er nicht einmal etwas von ihrer Schwangerschaft erfahren hatte. Wie er zu seinen unerwarteten Vaterpflichten stand, war bewundernswert. Nicht jeder Achtundzwanzigjährige würde sich so ehrenwert verhalten. Aber Georgia hatte immer gewusst, dass er zu den Guten gehörte.
Sie hatte ihn an ihrem ersten Tag an der Universität in Sydney kennengelernt. Begeistert von all den neuen Eindrücken hatte sie sich für alle möglichen Aktivitäten eingetragen. Auf der Suche nach dem Reitclub wäre sie fast mit einem großen, dunkelhaarigen Mann zusammengestoßen, der das gleiche Ziel zu haben schien. Auf den ersten Blick hatte sie erkannt, dass er vom Land kam. Jeans, kariertes Hemd und Reitstiefel verrieten ihn sofort. Es hatte nur der Akubra gefehlt, der typische australische Hut mit dem breiten Rand.
„Sie haben den Reitclub mangels Interesses geschlossen“, hatte er betrübt verkündet.
„Aber ich bin interessiert!“, hatte sie protestiert.
„Ich auch.“
„Dann sind wir schon zu zweit.“ Lachend hatten sie einander angesehen.
Wil war ohne Frage der heißeste Typ auf dem ganzen Campus, doch von Beginn an war ihre Beziehung rein freundschaftlich. Er hatte gerade eine neue Freundin, und sie selbst war noch immer mit ihrem Freund aus der Schulzeit zusammen. Dennoch – oder vielleicht gerade deswegen – hatten sie und Wil sofort Vertrauen zueinander gefasst. Der notleidende Reitclub der Universität war rasch vergessen, und schon am nächsten Wochenende waren sie gemeinsam in die Blue Mountains gefahren, um im Megalong Valley auszureiten.
Heute führte ihre Fahrt in die Berge sie nach Katoomba. Wil erklärte, dass Angie nach der endgültigen Trennung hierhergezogen war. Die Straßen waren steil und kurvenreich, und die kleinen alleinstehenden Häuser waren nicht weit vom Buschland entfernt. Einmal mussten sie sogar eine kleine Schafherde auseinandertreiben, die am Straßenrand graste.
Vor einem alten, aber gut gepflegten Haus inmitten eines hübschen Gartens hielt Wil schließlich an. „Hier wohnt ihre Schwester“, erklärte er. „Seit dem Unfall ist Nina bei ihr.“ Er machte keine Anstalten, den Wagen zu verlassen.
„Nina ist ein wirklich schöner Name“, stellte Georgia fest.
„Ja, mir gefällt er auch.“ Er blieb schweigend sitzen, den Blick starr auf die blaue Haustür gerichtet.
„Also“, forderte Georgia ihn auf. „Was machen wir jetzt?“
„Mary, die Sozialarbeiterin, erwartet uns im Haus für die Übergabe.“
„Und dann bist du ein Daddy“, sprach Georgia ihren Gedanken aus. Die Situation kam ihr so unwirklich vor. Ihr Freund Wil würde das Haus mit einem Baby im Arm verlassen!
Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. „Das erschreckt mich ja so! Ich will alles richtig machen, aber wie soll ich wissen, was richtig ist? Es geht nicht nur um die Windeln oder darum, was sie essen soll. Das werde ich schon schaffen. Aber was macht einen guten Vater aus?“
Die Verzweiflung in seiner Miene verriet ihr, dass noch mehr hinter seinen Worten steckte. Schon oft hatte sie das Gefühl gehabt, dass Wil etwas von sich vor ihr verbarg. Sie wusste, dass er als kleines Kind Waise geworden war, aber sie hatte nie nachgefragt. Auch jetzt war kein geeigneter Augenblick dafür. Im Moment brauchte er vor allem moralische Unterstützung.
„Dass du dich für dein Kind verantwortlich fühlst, ist doch ein guter Anfang.“
„Gewöhnlich bekommen Männer etwas Zeit, um sich an den Gedanken der Vaterschaft zu gewöhnen.“ Er trommelte nervös mit den Fingern auf dem Lenkrad herum. „Ich bin einfach ins kalte Wasser geworfen worden.“
„Das stimmt. Für dich gilt Learning by Doing. Ich bin sicher, dass du es schaffen wirst.“
„Jetzt ist sie noch ein Baby, aber dann wird sie ein kleines Mädchen sein und schließlich ein Teenager. Ich werde eines Tages Vater eines Teenagers sein, Georgie. Wie soll ich das denn machen?“
„Im Moment fällt es schwer, sich das vorzustellen“, stimmte sie zu. „Aber du wirst mit ihr zusammen wachsen, und ehe du dich versiehst, wirst du sie für einen jungen Mann zum Altar führen.“
„Brautvater? Das geht jetzt zu weit!“ Zum ersten Mal sah sie ein leises Zucken um seinen Mundwinkel.
Dieser Anflug von Lächeln, das in seinen dunklen Augen aufleuchtete, hatte ihr immer das Gefühl gegeben, als Freundin etwas Besonderes für Wil zu sein. Sie konnte nur ahnen, wie es hätte sein können, wenn Sinnlichkeit hinzugekommen wäre.
„Was du jetzt vorhast, wird dein ganzes Leben verändern“, sagte sie jetzt und erwiderte sein Lächeln. „Aber mach mit dem Baby einen kleinen Schritt nach dem anderen!“
Er seufzte ein wenig erleichtert. „Du weißt immer das Richtige zu sagen.“
„Keineswegs immer“, wehrte sie ab. „Aber jetzt sage ich: Geh hinein und hol dein Baby! Ich werde dir zeigen, wie man Windeln wechselt, wenn es an der Zeit ist.“
Er verzog das Gesicht. „Ich weiß, dass Windeln wechseln dazugehört, aber ich kann nicht sagen, dass ich mich darauf freue.“
„Du mistest auch Ställe aus. Du wirst dich daran gewöhnen.“
Sie selbst hatte sich allerdings nie daran gewöhnen können, sosehr sie ihre Nichten und Neffen auch liebte. Vielleicht fiel es einem leichter, wenn es um das eigene Kind ging. Außerdem konnte sich Wil jederzeit ein Kindermädchen leisten, das ihm bei den praktischen Dingen des Vaterseins half.
„Du hast recht. Ich gehe jetzt“, verkündete er. Entschlossen löste er seinen Sicherheitsgurt.
„Möchtest du überhaupt, dass ich mit hineinkomme?“
Er wandte sich zu ihr. „Ja, bitte. Ich weiß nicht, wie ich es ohne deine Unterstützung schaffen soll.“
„Natürlich könntest du das!“ Auch sie löste nun ihren Gurt. „Aber ich komme gern als Verstärkung mit.“
Hier in den Bergen war die Luft trockener als unten im feuchten Sydney. Ein zarter Duft von Eukalyptus wehte von den Hügeln des umliegenden Nationalparks herüber, und das Gezirpe der Zikaden war fast ohrenbetäubend. Georgia stand mit Wil vor dem Haus von Angies Schwester und strich den Rock ihres weinroten Leinenkleides glatt. Zusammen mit den flachen Schuhen wirkte sie wie eine Lehrerin, gerade die richtige Person zur moralischen Unterstützung für ihren Freund.
„Ich will dieses Kind!“, stieß er entschlossen hervor. „Und ich werde darum kämpfen!“
„Es wird schon gutgehen.“ Wie nervös sie selber war, sollte er besser nicht wissen. Vor ein paar Stunden hatte sie für ihren Umzug gepackt, und nun stand sie hier mit Wil, den sie jahrelang nicht gesehen hatte, um sein Baby abzuholen. Die Situation war völlig verrückt.
Er sah sie mit ernstem Blick an. „Ich danke dir“, sagte er langsam. „Ich werde danach in deiner Schuld stehen.“
„Du schuldest mir gar nichts“, wehrte sie ab. „Ich helfe gern.“ Wer wusste schon, wann sie ihn das nächste Mal zu Gesicht bekommen würde? Heute brauchte er ihre Hilfe. Und morgen? Bestimmt hatte sich ihr bester Freund in den Jahren verändert. Jetzt war er alleinerziehender Vater nach einer hässlichen Scheidung und dem unerwarteten Tod seiner Ex. Sein Leben würde ab sofort vollständig auf ein sieben Monate altes Baby fokussiert sein. Für Konzertbesuche oder Partys mit Freunden würde nicht viel Zeit bleiben. Sie dürfte nicht überrascht sein, wenn es weitere zwei Jahre bis zu ihrem nächsten Wiedersehen dauerte.
Langsam folgte sie Wil die Einfahrt zum Haus hinauf. Die Frau, die die Tür öffnete, war unverkennbar Angies Schwester. Sie starrte erst Wil und dann Georgia finster an. Die Frau hinter hier musste die Sozialarbeiterin sein.
„Mein herzliches Beileid“, murmelte Georgia in Sharyns Richtung. „Ich habe Angie gekannt.“ Der plötzliche Tod einer jungen Frau und Mutter war immer ein schrecklicher Schock, ganz gleich, ob man sie leiden mochte oder nicht.
„Der nächste Verlust steht mir ja bevor“, brummte Sharyn und sah dabei Wil feindselig an. Dann aber bedeutete sie Wil und Georgia hereinzukommen. Neben der Tür standen kleine Schuhe aufgereiht, kleine Regenmäntel hingen an einer niedrigen Garderobe und ein Kinderwagen stand im Flur. Georgia kannte die Zeichen aus den Haushalten ihrer Schwestern. In diesem Haus lebten viele Kinder.
Sharyn führte sie und Wil in den Wohnraum. Bis auf verstreute Spielsachen wirkte das Zimmer sauber und ordentlich. In der Mitte war ein hölzernes Laufgitter aufgestellt. „Nina ist gerade aufgewacht und spielt mit ihren Cousins“, sagte sie und deutete auf das Laufgitter.
Die Kleine saß vor einem ungefähr sechsjährigen Jungen, der mit einem flauschigen Stoffkaninchen vor ihr wedelte. Ein anderer Junge stand außerhalb des Gitters und ermunterte die Kleine lautstark, nach dem Spielzeug zu greifen. Nina lachte vergnügt und zeigte dabei vier winzige Zähne, zwei oben und zwei unten. Begeistert streckte sie die Arme nach dem Spielzeug aus.
Das war also Wils Tochter … und Angies. Die kleine Nina trug das Beste von beiden in sich. Wils dunkle Augen und Angies kleine Nase. Georgias Herz verkrampfte sich. Es war schrecklich, dass das arme kleine Ding seine Mutter verloren hatte, aber wenigstens hatte sie einen guten Mann zum Vater.
„Sie ist zauberhaft“, flüsterte sie Wil zu, der neben sie getreten war. Zuerst wusste sie nicht, ob er sie überhaupt gehört hatte. Er blickte wie gebannt auf seine Tochter nieder. In seinem Blick lag etwas, das sie nie zuvor an ihm gesehen hatte.
„Ja, das ist sie wirklich“, erwiderte er leise, ohne den Blick von der Kleinen zu lassen.
Als Sharyn zu ihnen trat, zerbrach der Zauber, als habe jemand einen Stein in einen spiegelnden Teich geworfen. „Okay, Kieran, das reicht. Gib Nina das Spielzeug und geh mit deinem Bruder hinaus zum Spielen!“
Die Jungen gehorchten ohne Widerspruch. Mit dem geschulten Auge einer Lehrerin nahm Georgia wahr, dass die beiden wohlerzogen und gut gepflegt wirkten. Auch mit dem Baby waren sie sehr liebevoll umgegangen. Der Ältere gab seiner kleinen Cousine einen Kuss, kletterte über das Gitter, nahm seinen kleinen Bruder an die Hand und verschwand mit ihm durch die Schiebetür hinaus in den Garten.
Nina hatte sich umgedreht, als sie die Stimme ihrer Tante hörte. Nun streckte sie die Arme nach ihr aus und wollte hochgehoben werden. Sharyn nahm sie behutsam auf den Arm. „Du willst sie immer noch mitnehmen?“, sagte sie feindselig zu Wil.
„Sie ist meine Tochter, Sharyn“, antwortete er. „Wir haben das doch alles schon besprochen.“ Georgia konnte sehen, wie angespannt er war.
„Du wusstest nicht einmal, dass du eine Tochter hast“, erwiderte Sharyn scharf. „Angie hat dich gehasst. Sie wollte dich damit bestrafen, dass sie dir Nina vorenthielt.“
Die Sozialarbeiterin trat zwischen die beiden. „Das ist alles besprochen und geklärt. Der Wunsch Ihrer Schwester auf dem Sterbebett war eindeutig. Sie wollte, dass Nina zu ihrem Vater kommt. Ich kann verstehen, wie sehr es Sie betrübt, dass Nina Sie verlässt.“
„Dabei hat Angie bestimmt nur an Wils Geld gedacht und daran, dass es Nina eines Tages zustehen würde“, widersprach Sharyn. „Ich habe versucht, ihr das auszureden, aber Angie wollte sich rächen. Sie wollte Ninas Existenz geheim halten, bis sie ihn eines Tages erpressen könnte.“
Georgia erschauerte, als sie Sharyn so kalt über ihre tote Schwester reden hörte. Wils Miene ließ nicht erkennen, was er bei diesen Worten empfand.
Sharyn zog das Baby enger an sich. „Nina ist glücklich hier bei uns. Ich habe schon immer auf sie aufgepasst, wenn Angie zur Arbeit fuhr. Wie willst du denn als viel beschäftigter Mann allein für ein Baby sorgen?“ Georgia spürte, dass die scharfen Worte nur den darunter liegenden Schmerz verbergen sollten.
„Sie ist meine Tochter und gehört zu mir“, wiederholte Wil. „Ich kann sehr gut für sie sorgen.“
„Das ist nicht fair!“ Sharyn presste das Baby eng an sich. „Wenn sie dir wirklich wichtig wäre, würdest du sie bei mir lassen. Ein kleines Mädchen braucht eine Mutter … eine Frau in ihrem Leben.“
„Sie wird eine Frau in ihrem Leben haben“, erklärte Wil. Ein kurzes Schweigen entstand. Dann trat er an Georgia heran und legte ihr den Arm um die Schulter.
Das war der erste Schock. Der zweite folge sofort. „Georgia ist meine Verlobte.“
Wie bitte?
Georgia wollte lauthals protestieren, doch Wils Griff an ihrer Schulter wurde fester. Sie wusste, was er meinte. Spiel mit!
„Äh … ja.“ Sie zwang sich zu einem Lächeln.
„Herzlichen Glückwunsch“, sagte die Sozialarbeiterin sichtlich erfreut.
„Vielen Dank“, brachte Georgia mühsam hervor. Sie konnte der Frau dabei nicht in die Augen sehen.
„Georgia ist Grundschullehrerin und kennt sich mit kleinen Kindern aus“, fügte Wil hinzu. Wieder drückte er ihre Schulter als unmissverständliche Aufforderung.
„Oh … ja“, bestätigte sie widerstrebend. „Und mit Babys … Ich habe fünf Nichten und Neffen.“
Sharyn sah sie an, als sähe sie etwas Verabscheuungswürdiges. „Angie hat mir alles von Ihnen erzählt. Angeblich nur die beste Freundin. Wie es scheint, hatte sie recht damit, Ihnen zu misstrauen.“
Georgia wollte entrüstet widersprechen, aber schluckte dann ihre Erwiderung hinunter. Sie war ja wirklich nur die beste Freundin und hatte sich nichts vorzuwerfen.
„Das stimmt nicht, Sharyn“, mischte sich jedoch Wil ein. „Zwischen Georgia und mir war damals wirklich nichts.“ Er zog sie noch enger an sich. Angesichts der unerwarteten Nähe fiel es Georgia schwer, entspannt zu bleiben. Er war so stark und männlich! Sie hatte vor sich selbst immer geleugnet, wie attraktiv sie ihn fand. Jetzt seine Braut spielen zu müssen, machte es ihr nicht leichter.
„Aber das macht sie noch lange nicht zu einer Mutter“, fuhr Sharyn jetzt wütend fort. „Schon gar nicht für ein kleines Mädchen, das die eigene verloren hat.“
Georgia versuchte, ihre Rolle als Braut so gut wie möglich zu spielen. „Ich werde jedenfalls mein Bestes geben“, versicherte sie. „Auch wenn Nina bei Wil … und mir lebt, muss das nicht heißen, dass sie für immer Abschied von ihrer Tante und ihren Cousins nehmen muss. Sicher möchte Wil, dass ihr Teil ihres Lebens bleibt.“
Sie spürte wie Wil neben ihr erstarrte. Hatte sie eine Linie überschritten?
„Wirklich?“, rief Sharyn erleichtert aus. „Wir werden sie auch weiterhin sehen können?“
Es fiel Georgia schwer, sich in dieser verzwickten Situation gleichmütig zu geben. „Natürlich. Die Familie ist wichtig.“ Sie blickte zu Wil auf. „Nicht wahr, Wil?“
„Ja, unbedingt“, bestätigte er erstaunlich gefasst.
„Ich muss den Jungs also nicht sagen, dass sie ihre kleine Cousine nie wiedersehen werden?“, hakte Sharyn nach.
Georgia sah Wil auffordernd an. Jetzt war es an ihm, die Situation zu retten.
„Aber nein!“, versicherte er. „Ich werde dafür sorgen, dass Nina mit diesem Teil ihrer Familie in Kontakt bleibt.“
Zögernd überreichte ihm daraufhin seine frühere Schwägerin das Baby. „Dann will ich mich darauf verlassen“, beschloss sie.
Georgia sah gebannt zu wie er das kleine Wesen in den Arm nahm. Es war ein atemberaubender Anblick: Er so groß und kräftig, Nina so klein und verletzlich. In seinem zärtlichen Blick lag das Versprechen, sie sein Leben lang behüten zu wollen. Doch was Georgia wirklich ergriff, war das Lächeln, mit dem die Kleine seinen Blick erwiderte. Unverkennbar gab es eine enge Verbindung zwischen den beiden. Nun glaubte sie es wirklich. Wil war Vater geworden.
Ein eigenartiges Verlangen durchfuhr sie. Sie sehnte sich danach, eines Tages selbst ein Baby zu haben. Mit bald achtundzwanzig hatte ihre biologische Uhr zu ticken begonnen, doch ihre Auswahl infrage kommender Partner war beklagenswert klein.
Drei Anträge hatte sie bereits abgelehnt, den ersten noch an der Uni. Sie hatte sich nach einer festen Beziehung gesehnt, aber die Burschen waren letztlich nicht die Richtigen gewesen. Der letzte Fall war Toby gewesen. Sie hatte die Beziehung viel zu lange dauern lassen und damit seine und ihre Zeit verschwendet.
Wil wandte sich lächelnd zu ihr. „Möchtest du sie auch einmal halten?“, fragte er, als biete er ihr ein Kleinod von unschätzbarem Wert an.
Sie war sich nicht sicher, was Wil von ihr erwartete. Sollte sie so tun, als könne sie es kaum erwarten, der Kleinen die Mutter zu ersetzen? Das würde diese verrückte Scharade zu weit treiben. Ihr blieb nur, sich so normal wie jede Frau zu verhalten, der man anbot, mit einem süßen Baby zu schmusen.
Sie streckte die Arme nach der Kleinen aus. „Hallo Nina“, flüsterte sie. „Ich bin Georgia.“ Das Baby antwortete mit einem süßen Lächeln und ein paar gurgelnden Lauten, die vielleicht bedeuten konnten: „Nett, dich kennenzulernen.“
Nina war wirklich ein Schatz. Aber wie konnte Wil es nur wagen, sie in eine solche Situation zu bringen? Damit hatte er ihrer gerade erst wiederbelebten Freundschaft zu viel zugemutet.
Auf der Rückfahrt nach Sydney riskierte Wil einen Seitenblick auf Georgia. Sie hatte die Augen geschlossen, aber er wusste, dass sie nicht schlief.
In den vergangenen zwei Jahren hatte sie sich nicht sehr verändert. Ihr rötlich im Sonnenlicht glänzendes Haar war ein wenig kürzer als damals. Ihr Gesicht wirkte ein wenig erwachsener und fraulicher. Anders als damals trug sie jetzt Ohrringe. Früher hatte sie Angst gehabt, die könnten sich in ihrem Reiterhelm verfangen. Doch sie schien immer noch zu reiten, wenn er ihre sonnengebräunten Arme im ärmellosen Kleid richtig deutete.
Wieder einmal war er beeindruckt, wie schön sie war. Es war nicht die Aufmerksamkeit heischende Schönheit eines Covermodels, sondern eine stillere, die erst beim zweiten Blick richtig zur Geltung kam. Und eigentlich waren es nicht Äußerlichkeiten, die sie so attraktiv machten, sondern ihre Ausstrahlung: ihr warmes Herz, ihr fröhliches Lachen und vor allem ihr Lächeln. Georgia lächelte nicht nur mit den Lippen, sondern mit den Augen. Ihr ganzes Gesicht leuchtete dann auf und erwärmte alle, die das Glück hatten, damit bedacht zu werden.
Es hatte Jahre in Wils Leben gegeben, in denen selten jemand ein Lächeln für ihn übrig hatte. Als er Georgia in den ersten Tagen an der Universität begegnete, war ihm ihr Lächeln wie ein Geschenk vorgekommen. Glücklicherweise hatten sie in der Reiterei schnell ein gemeinsames Hobby entdeckt, und er hatte jede Gelegenheit genutzt, um Georgia wiederzusehen.
Sie war nicht gleich in die Nur-Freunde-Schublade geraten. Anfangs hätte er gern mehr daraus gemacht, aber da sie zu der Zeit beide in anderen Beziehungen steckten und ihre jeweiligen Partner nicht hintergehen wollten, war der Zeitpunkt ungenutzt verstrichen. Bald war sie ihm als Freundin so wichtig, dass er Angst davor hatte, sie zu verlieren, wenn er die unsichtbare Grenze überschritt. Außerdem hatte er schnell begriffen, dass Georgia einen Mann fürs Leben suchte, während er noch nicht bereit war, sich zu binden. So waren Affären gekommen und gegangen. Aber Georgia war geblieben. Bis er den großen Fehler gemacht und Angie geheiratet hatte.
Nun war Georgia sauer auf ihn. Die zusammengekniffenen Lippen und ihr ungleichmäßiger Atem verrieten ihm, dass sie innerlich kochte, während sie zu schlafen vorgab. Er wusste auch, warum.
Er hätte sie fragen müssen, bevor er sie als seine Verlobte vorstellte. Aber es war ein spontaner Gedanke gewesen aus Sorge, man würde ihm die Fähigkeit absprechen, für ein Baby zu sorgen. Obwohl er offiziell das Sorgerecht für Nina hatte, hätten die Sozialarbeiterin und Angies Schwester ihn daran hindern können, das Kind mit nach Hause zu nehmen.
Georgia war erschrocken, als er diese ungeheuerliche Behauptung aufgestellt hatte, doch außer einem kurzen Zusammenzucken hatte sie sich nichts anmerken lassen. Sie hatte brav mitgespielt, und ohne ihre Unterstützung wäre die Angelegenheit sicher nicht so glatt verlaufen. Er konnte ihr gar nicht dankbar genug sein.
Vom Rücksitz, wo Nina in ihrem neuen Kindersitz geschnallt saß, erklang plötzlich lautes Gemurmel. Georgia schlug die Augen auf und drehte sich um. „Sie schläft noch. Vielleicht hat sie geträumt.“
„Wovon wohl ein sieben Monate altes Baby träumt?“, fragte Wil.
„Wer weiß?“, antwortete Georgia. „Vom nächsten Fläschchen? Oder von einem früheren Leben, falls man an so etwas glaubt.“
„Wovon sie auch geträumt haben mag, sie klang glücklich“, stellte er erleichtert fest.
„Sie scheint überhaupt ein zufriedenes Baby zu sein. Sie ist gesund und in einem sehr guten Zustand. Angie muss eine gute Mutter gewesen sein.“
Wil wusste, wie wenig seine Freundin von seiner Ex-Frau hielt. Berechtigterweise, wie sich herausgestellt hatte. Angie hatte das Manipulieren von Menschen zu einer Kunstform entwickelt. Als ihm das endlich klar geworden war, hatte er sich von ihr getrennt und sie seit ihrem Umzug nach Katoomba nicht mehr gesehen. Verheiratet und geschieden innerhalb von sechs Monaten. Er war nicht stolz darauf und hatte nicht vor, diesen Fehler noch einmal zu machen.
„Das hat auch Sharyn gesagt“, bestätigte er. „Als Angie ihre Schwangerschaft bemerkte, hat sie ihren Lebensstil geändert und sehr auf ihre Gesundheit geachtet.“
Georgia seufzte. „Was für eine Tragödie! Gut, dass Nina wenigstens dich hat!“
„Ich werde für sie sorgen, mit allem, was ich kann und habe“, versprach er heftig.
Als Wil an einer Ampel anhalten musste, wandte Georgia sich zu ihm. Ihr Gesicht war gerötet und ihr Blick eindringlich. Die Worte, die jetzt kamen, hatten sich offenbar schon länger in ihr aufgestaut: „Warum? Warum die falsche Geschichte von der Verlobung? Wieso hast du mich in diese Lage gebracht?“
Wil wünschte, er könnte ihr den wahren Grund nennen und sich ein wenig von der Last seiner Jugend von der Seele reden. Wie sehr er Sozialarbeitern misstraute, und wie sehr er es verabscheute, ein Kind bei einer Tante abzuladen. Als sein Vater starb, hatte ihn dessen Schwester aus Pflichtgefühl, aber ohne Liebe aufgenommen. Mehr als einmal war er davongelaufen, und beim letzten Mal hatte man ihn dem Jugendamt übergeben. Von da an waren Sozialarbeiter in seinem Leben ein- und ausgegangen, alle überarbeitet und keiner gewillt, mehr Zeit als nötig mit diesem schwierigen Jungen zu verbringen. In diesen Jahren hatte er zu seinem eigenen Schutz eine Maske aufgesetzt, die er sich auch vor Georgia nie abzulegen getraut hatte.
„Du hast doch gehört, was Angies Schwester davon hielt, mir das Baby zu überlassen. Einem Mann! Als sei ich dazu nicht in der Lage!“ Gegen Sharyns Misstrauen hatte er seine beste Verteidigung eingesetzt … Georgia.
„Es tut mir leid, dass ich dich in diese Situation gebracht habe“, entschuldigte er sich und war dankbar, dass die Ampel auf Grün schaltete, sodass er sie nicht dabei ansehen musste. „Ich wollte mich nicht mit Sharyn streiten oder mit der Sozialarbeiterin. Die würde ein Kind beim geringsten Zweifel an den Fähigkeiten der Eltern der öffentlichen Fürsorge übergeben.“
Georgia neigte den Kopf und sah stirnrunzelnd zu ihm hinüber. „Wie kommst du darauf? Du scheinst nicht viel von den Behörden zu halten.“
Die unausgesprochene Frage nach seiner Kindheit hing in der Luft. Er hatte ihr nur erzählt, dass er adoptiert war und mit seinen Adoptiveltern und deren leiblichen Sohn auf einer Farm im südwestlichen Victoria aufgewachsen war. Er war in Melbourne zur Schule gegangen und hatte in Sydney studiert. Ein scheinbar idyllisches, privilegiertes Leben. Die Jahre zwischen fünf und dreizehn waren sein dunkles Geheimnis – und sollten es bleiben.
„Aber hast du nicht gesehen, wie erleichtert die Frau war, als ich dich als meine Verlobte vorstellte?“, versuchte er abzulenken.
Ohne sie anzusehen, wusste er, wie Georgia mit den Augen rollte. „Die hat dir deine Geschichte vielleicht geglaubt, aber Sharyn hat gespürt, dass etwas daran nicht stimmt. Ihr ist aufgefallen, dass ich keinen Verlobungsring trage. Ich hoffe, diese Lüge holt dich nicht eines Tages wieder ein.“
„Aber wie denn? Die Geschichte gilt ja nur für heute. Sollte ich Sharyn wiedersehen, werde ich einfach sagen, dass es mit uns nicht geklappt hat.“
„So einfach ist das also“, sagte Georgia, aber ihr Lachen klang dabei nicht echt.
Er verfluchte sich innerlich für seine Gedankenlosigkeit. „Ich meinte nicht unsere Freundschaft, ich meinte …“
„Ich weiß, was du gemeint hast“, erwiderte sie trocken. „Aber ich verstehe immer noch nicht, warum du so weit gegangen bist. Es hätte doch genügt, mich als gute Freundin vorzustellen!“
„Eine Verlobte klingt zuverlässiger. Diesen Behördenleuten traue ich nicht.“
„Wovor hast du Angst? Du bist der Vater. Dein Name ist auf der Geburtsurkunde. Angie hat sich auf dem Sterbebett gewünscht, dass du das Sorgerecht bekommst. Sharyn hat keinerlei Rechte.“
Als ehemaliges Opfer des Systems misstraute Wil ihm zutiefst. Vielleicht hatte es sich seit seiner Jugend geändert, vielleicht auch nicht. Seine Erlebnisse mit dem Wohlfahrtssystem würden für immer schmerzhafte Erinnerungen sein. „Ich wollte nur ganz sichergehen, dass nichts dazwischenkommt. Mit dir an meiner Seite konnte Sharyn nicht mehr viel ausrichten.“
„Eigentlich fand ich Sharyn überhaupt nicht schlimm. Ganz offensichtlich ist sie auf ihre Weise um Nina besorgt.“ Es war typisch für Georgia, allen Menschen fair zu begegnen. „Es wäre gut, wenn Nina Kontakt zu ihren Cousins behält. Ich habe meine immer geliebt, auch wenn sie mir manchmal wie von einem anderen Planeten vorkamen.“
„Deshalb habe ich auch zugestimmt. Sharyn ist mir egal. Mir geht es vor allem darum, was für meine Tochter gut ist. Wenn ihr eine größere Familie hilft, dann soll es so sein.“
Als sie die Berge hinter sich gelassen hatten und sich in den Verkehr auf dem Highway nach Sydney einfädelten, fragte sich Georgia nicht zum ersten Mal, ob Wil sich alles richtig überlegt hatte. „Weißt du überhaupt, wie man eine Windel wechselt?“, fragte sie.
„Welcher Single in meinem Alter kennt sich schon mit Windeln aus? Aber ich habe die Beschreibung auf der Packung gesehen. So schwer wird es schon nicht sein.“
Georgia versuchte vergeblich, ein Lachen zu unterdrücken.
„Du findest das also lustig?“, fragte er grimmig mit gerunzelter Stirn.
Georgia hob abwehrend die Hände. „Ich habe gar nichts gesagt“, erwiderte sie, aber ihre Miene verriet sie.
„Nein, aber du lachst immer noch“, entrüstete er sich. „Außerdem habe ich mir Videos angesehen. Man kann auch online lernen, wie man Babys wickelt oder badet.“
Georgia fand die Vorstellung, wie Wil sich auf YouTube über Babypflege informierte, sehr erheiternd. Sie musste sich auf die Zunge beißen, um das Lachen zu unterdrücken. Glücklicherweise war das alles nicht ihr Problem. Wil konnte sich ein Kindermädchen leisten. Sie musste nicht die gute alte Georgia spielen, die immer für alle da war.
Noch bis vor Kurzem war sie jederzeit bereit gewesen, als Babysitter, Hundeausführer und Blumengießer bei Freunden und Verwandten auszuhelfen, selbst wenn es ihre eigenen Pläne durcheinanderbrachte. Auch in ihrer Beziehung mit Toby hatte sie sich so verhalten. So manches Wochenende hatte sie ihn auf dem Rugbyplatz angefeuert, obwohl sie selbst lieber Reiten gegangen wäre.
Nach der Trennung von Toby hatte sie sich fest vorgenommen, besser auf sich selbst zu achten und nicht immer ihre eigenen Interessen hintanzustellen. Bisher hatte das sehr gut funktioniert. Nun war Wil wieder in ihrem Leben aufgetaucht, und sie war fest entschlossen, nicht wieder in ihre alte Rolle zurückzufallen.
„Wo wohnst du eigentlich jetzt? Immer noch in Pyrmont?“, fragte sie nach kurzer Pause. Sie erschauerte bei dem Gedanken, dass ein Baby in seinem Penthouse am Hafen mit dem umlaufenden Balkon und den harten glänzenden Fußböden laufen lernen sollte.
„Ich habe das Appartement als Investment behalten und mir nach der Scheidung etwas anderes in Ingleside gekauft.“
„Oh! Ich bin neidisch.“ Ingleside war der Vorort im Norden von Sydney, zwischen Buschland und Meer gelegen. Ehemaliges Farmland war dort in riesige Grundstücke mit prächtigen Villen umgewandelt worden. Für Menschen mit gewöhnlichem Einkommen war die Gegend unerschwinglich. „Hast du auch Platz für Pferde?“
„Na klar! Ich habe dort zwei im Stall stehen. Einen Araberwallach und eine Vollblutstute.“
„Du Glücklicher!“ Am liebsten hätte Georgia gefragt, ob sie einmal vorbeikommen und mit ihm ausreiten könne, aber sie war sich nicht sicher, wie sich ihre Freundschaft mit dem neuen Wil, dem alleinerziehenden Vater, entwickeln würde.
„Es ist ein großes Haus mit einem großen Garten“, erklärte er. „Als ich es kaufte, hatte ich keine Ahnung, dass es Nina geben würde. Aber es ist ein guter Platz, ein Kind aufwachsen zu lassen.“
„Die Kleine hat Glück, dass sie dich zum Vater hat. Und nicht nur, weil sie bestimmt ihr eigenes Pony haben wird.“
„Sobald sie groß genug ist, eines zu besteigen“, sagte er.
„Aber bis dahin wird noch einige Zeit vergehen. Wie hast du dir denn die nächste Zukunft mit ihr vorgestellt? Babys brauchen eine ganze Menge.“ Sie teilte sein Vertrauen in Onlineforen zur Kinderbetreuung nicht ganz, wollte aber seine Zuversicht nicht untergraben.
„Alles vorbereitet“, sagte er. „Nach meinem ersten Besuch in Katoomba bin ich in einen der großen Märkte für Kinderausstattung gegangen. Eine sehr hilfreiche junge Verkäuferin hat mich gut beraten, und schon am nächsten Tag ist alles geliefert worden.“
Zweifellos würden viele junge Frauen hilfreich die Hand nach diesem gut aussehenden, wohlhabenden Mann mit seinem süßen Baby ausstrecken, wenn die Neuigkeit erst einmal die Runde machte. Dass er sich um sein Kind kümmerte, machte ihn nur noch attraktiver.
Trotz ihres Ärgers über die erlogene Verlobung war sie froh, heute bei ihm zu sein. Es war ein Privileg, die ersten Augenblicke miterleben zu dürfen, in denen er seine Tochter im Arm hielt. Sie wünschte, sie könne … Nein! Sie durfte sich nicht weiter verstricken lassen. Wir sind nur Freunde, erinnerte sie sich zum tausendsten Mal seit ihrer ersten Begegnung.
„Hast du in der kurzen Zeit schon ein Kindermädchen finden können?“, fragte sie, um ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken.
„Es wird kein Kindermädchen geben. Ich sagte schon, dass ich mich selbst um Nina kümmern werde. Ich werde sie nicht Fremden überlassen.“
„Aber was ist mit deiner Arbeit? Wie bringst du die mit der Kindererziehung unter einen Hut?“ Ihre Schwestern schienen verzweifelt mit dieser Doppelbelastung zu jonglieren.
„Ich werde meine Firmenzentrale in mein Haus verlegen und von dort aus arbeiten. Glücklicherweise habe ich sehr zuverlässige, selbstständig arbeitende Mitarbeiter.“
„Du scheinst alles sehr gut geplant zu haben“, sagte sie.
„Ich werde die Dinge nehmen, wie sie kommen. Ich will nur das Beste für meine Tochter.“
„Du wirst mich auf dem Laufenden halten, nicht wahr?“ Natürlich war sie neugierig, wie es mit Wil und Nina weiterging.
„Wir werden schon zurechtkommen“, erklärte er mit der für ihn typischen Zuversicht.
„Das gesamte Internet steht zu deiner Hilfe bereit“, erklärte sie. Nicht zu erwähnen all die anderen Ressourcen, die einem Millionär zur Verfügung standen. Sie selbst wollte nicht dazu gehören. Die stets verfügbare, gute alte Georgia befand sich im Streik. Auch ihren Schwestern hatte sie angekündigt, dass sie in diesem Sommer nicht mit ihren Babysitterdiensten rechnen konnten. Sie hatte ihr eigenes Leben, und mit siebenundzwanzig wurde es höchste Zeit, dass sie etwas daraus machte.
„Wenn ich dich nachher bei deiner Wohnung absetze, gib mir alle Details, die ich brauche, um den Umzug für dich zu organisieren“, sagte Wil nach kurzem Schweigen.
„Das ist nicht nötig. Ich …“
„Keine Widerrede!“, befahl er. „Das ist das Mindeste, was ich nach deiner heutigen Hilfe für dich tun kann.“
„Also gut, ich werde nicht darüber streiten“, lenkte sie ein. Tatsächlich war ihr sein Angebot sehr willkommen, denn ihr hatte vor dem Umzug gegraut.
„Wie lange wirst du bei deinen Eltern wohnen?“
„Lange genug, bis ich herausgefunden habe, wo ich wirklich leben möchte. Vielleicht lasse ich mich in einen ländlichen Bezirk versetzen. In der Stadt werde ich mir vermutlich nie ein eigenes Haus leisten können.“
„Du hast wirklich vor, Sydney zu verlassen?“ Wil klang schockiert.
„Es ist jedenfalls eine Möglichkeit. Das ist einer der Vorzüge des Lehrerberufs. Es gibt auch auf dem Land Stellen. Das andere Gute sind natürlich die Ferien.“
„Hast du denn den Rest dieser Sommerferien frei?“
„Den ganzen Januar.“
„Wirst du verreisen?“ Er schien immer noch irritiert davon, dass sie in Betracht zog, Sydney zu verlassen.
Georgia schüttelte den Kopf. „Ich muss arbeiten. Na ja, ich weiß nicht, ob ich es wirklich Arbeit nennen darf, wenn es eigentlich ein wahrgewordener Traum ist.“
„Hat es mit deinen künstlerischen Ambitionen zu tun?“
„Ein Kinderbuch. Ich habe es geschrieben und illustriert, und ein Verlag hat es angenommen.“ Die freudige Erregung war ihr anzuhören. Sie konnte es selbst kaum glauben.
„Herzlichen Glückwunsch!“, rief er aus und klang ehrlich erfreut. „Ich habe immer gewusst, dass du Talent hast.“
„Mein erstes Buch soll im März herauskommen, und schon im Februar habe ich den Abgabetermin für das nächste. Ich werde also während der Ferien sehr beschäftigt sein.“
„Meine Freundin, die Schriftstellerin“, sagte er langsam. „Das klingt gut.“
Georgia lachte. „Noch viel besser in meinen eigenen Ohren.“
„Du wirst also viel zu tun haben, aber wenn du zwischendurch einmal Zeit fändest, Nina und mich zu besuchen, würde mich das freuen.“
„Mich auch, Wil“, erwiderte sie ehrlich.
Der Gedanke ließ ihr Herz höher schlagen. Wil war in ihr Leben zurückgekehrt. Noch durfte sie sich allerdings nicht zu sehr darauf einlassen. Es war nicht unwahrscheinlich, dass noch einmal passieren würde, was schon einmal geschehen war: Dass er von einem Moment auf den nächsten verschwand.
Was zum Himmel machte sie hier eigentlich?
Wieder und wieder schüttelte Georgia den Kopf, als sie in ihrem alten Kinderzimmer die Tür hinter sich geschlossen hatte. Mit bald achtundzwanzig Jahren zog sie also wieder ein. Obwohl von ihrer alten Einrichtung nichts mehr zu sehen war, beschlich sie ein eigenartiges Gefühl von Déjà-vu. Sie könnte schwören, dass an der Wand noch die Schatten ihrer Pferdeposter auszumachen waren.
Beim Bau des Hauses war der Raum als Arbeitszimmer für ihre Mutter vorgesehen gewesen. Er wurde zu Georgias Kinderzimmer, als sie acht Jahre nach der jüngsten ihrer beiden Schwestern geboren wurde. Nach zwei Mädchen hatten die Eltern auf einen Sohn gehofft und schon den Namen ihres Urgroßvaters ausgesucht. Statt eines George bekamen sie eine Georgia. Und diese hatte sich später manches Mal gefragt, ob aus ihr wohl aus diesem Grund ein Wildfang geworden war, der sich in Jeans und Reitstiefeln wohler fühlte als in den Mädchenkleidern ihrer Schwestern.
Die Kündigung ihres Vermieters hatte sie zuerst schockiert. Doch jetzt begriff sie die unwillkommene Veränderung als Weckruf. Seit ihrer Trennung von Toby schien ihr Leben zum Stillstand gekommen. Dabei gab es noch so viel, was sie sehen und erleben wollte. Nun, da sie auf die dreißig zuging, wollte sie ihrem Leben eine neue Richtung geben. Vorerst war sie nun in ihrem alten Zuhause gelandet, doch das würde sich schon wieder ändern.
Als Wils Nummer im Display ihres Handys erschien, zögerte sie einen Moment. Sie war sich noch immer nicht ganz sicher, was sie von seiner plötzlichen Rückkehr halten sollte. Schließlich nahm sie das Gespräch mit gemischten Gefühlen an. „Ich wollte dich gerade anrufen und dir für das Umzugsunternehmen danken, das du mir beschafft hast“, sagte sie. „Es hat alles reibungslos geklappt.“
„Schön, das zu hören“, entgegnete er. „Das war das Mindeste, was ich für dich tun konnte.“
Ein wenig war sie ihm immer noch böse wegen der erfundenen Verlobung. Er hatte sie damit total überrumpelt. „Wie geht es Nina? Und dir natürlich. Wie ist es, Vater zu sein?“
„Alles in Ordnung“, antwortete er leichthin, aber das war es unüberhörbar nicht. Auch ohne ihn zu sehen, spürte Georgia, wie angespannt er war.
„Wirklich?“
Sie hörte ihn tief Luft holen. „Ich könnte ein bisschen Hilfe gebrauchen.“
Wieso war sie nicht überrascht? Fraglos meinte er Hilfe von ihr, der guten alten Georgia. „Ist das Nina, die ich im Hintergrund schreien höre?“, fragte sie.
„Ich kann sie einfach nicht beruhigen.“ Sie konnte deutlich die Verzweiflung in Wils sonst so selbstsicherer Stimme hören. „Seit mehr als einer Stunde schreit sie jetzt schon so.“
„Hast du sie gefüttert?“
„Ja.“
„Mit demselben, was Sharon ihr auch gegeben hat?“
„Ich habe die Anweisungen genau befolgt.“
„Die Windel gewechselt?“
„Ja. Das klappt inzwischen ganz gut. Das System mit den Klebestreifen ließe sich allerdings ein bisschen verbessern.“
Georgia musste schmunzeln. Typisch Wil. Er fand immer etwas, das sich verbessern ließe.
„Hast du mit ihr gekuschelt?“
„Ich wusste selbst nicht, dass ich ‚Schlaf Kindchen, Schlaf‘ noch singen kann.“
Die Vorstellung von Wil, der seiner Tochter ein Schlaflied sang, ließ ihr das Herz aufgehen. Das war definitiv ein neuer Wil. Aber dann erinnerte sie sich, wie einfühlsam er mit seinen Pferden umgegangen war. Vielleicht hatte er es wirklich in sich, ein liebevoller Vater zu sein.
„Aber nichts hat bisher funktioniert?“, fragte sie.
„Gestern war alles in Ordnung. Ich weiß nicht, was heute mit ihr los ist.“
Georgia brachte es nicht übers Herz, ihm zu sagen, dass Nina vielleicht ihre Mutter vermisste oder ihre Tante oder überhaupt alles Vertraute in ihrem jungen Leben.
Sie überlegte, welche Strategien ihre Schwestern anwenden würden, um ein schreiendes Baby zu beruhigen. „Hast du schon mal versucht, Nina ins Auto zu setzen und mit ihr um den Block zu fahren? Manchmal hilft das.“
„Auf den Gedanken bin ich noch nicht gekommen. Aber ich bin bereit, alles zu probieren.“ Er machte eine kleine Pause. „Georgie, könntest du …?“
„Zu dir kommen?“ So viel zum Thema Streik. Aber es ging um ein weinendes Baby und einen verzweifelten Vater. Es wäre herzlos, jetzt auf ihren neuen Prinzipien zu beharren. „Jetzt?“ Das Geschrei im Hintergrund schwoll erneut an.
„Bitte.“
„Soll ich unterwegs etwas zum Essen für uns besorgen?“
„Nein, es gibt genügend hier. Beeil dich nur!“
„Ich bin bei meinen Eltern in Lindfield. Gib mir dreißig Minuten!“
„Beeil dich! Ich brauche dich.“
Bis die nächste Angie des Weges kommt? Georgia seufzte.
Vierzig Minuten später erreichte sie eine schmale Straße, die durch Buschland am Rand von Ingleside führte. Selbst mit GPS war sie nicht leicht zu finden gewesen. Als sie endlich ihr Ziel erreicht hatte, blieb sie einen Moment lang staunend im Auto sitzen.
Rechts und links eines breiten schmiedeeisernen Tores erstreckte sich eine hohe Sandsteinmauer. Durch das Gitter des Tores hindurch konnte sie am Ende einer langen, kiesbedeckten Auffahrt ein beeindruckendes Gebäude im Kolonialstil erblicken. Es war umgeben von einem üppig blühenden Garten mit einem Springbrunnen in der Mitte, dessen Wasser in der Mittagssonne glitzerte.
Im ersten Moment fühlte sie sich eingeschüchtert, als gehöre ihr kleiner weißer Gebrauchtwagen nicht in eine so luxuriöse Umgebung. Ihre Eltern waren gut situiert, und sie selbst lebte komfortabel von ihrem Gehalt als Lehrerin, doch dieser Ort strahlte Reichtum weit außerhalb ihrer Liga aus. Wil war nur ein Jahr älter als sie, aber ihre Karrieren hatten offenbar sehr unterschiedliche Richtungen eingeschlagen. Hätte sie sich, statt Shorts und Sandalen zu tragen, sorgfältiger kleiden sollen? Sei nicht albern, schalt sie sich selbst. Es war immer noch Wil, der hier wohnte. Entschlossen drückte sie auf den in die Sandsteinmauer eingelassenen Klingelknopf. Langsam schwang das Tor auf.
Wil kam ihr auf der Auffahrt entgegen.
„Da bist du ja!“, rief er aus. Seine Erleichterung war unübersehbar. In Shorts und schwarzem T-Shirt sah er verdammt gut aus, aber auch erschöpft mit dunklen Ringen unter den Augen.
„Ich bin so schnell wie möglich gekommen. Was macht Nina?“
„Halleluja! Der Trick mit dem Auto hat funktioniert“, sagte er und hob triumphierend die geballte Faust. „Sie schläft endlich.“
Georgia schwang sich aus dem Wagen. „Du meinst, ich bin umsonst den ganzen Weg hierhergekommen?“ Sie sah in gespielter Entrüstung zu ihm auf.
Er schüttelte den Kopf. „Keineswegs. Glaub mir, ich brauche dich.“ Einen Moment dachte sie, er würde sie umarmen.