Julia und der Hai - Kiran Millwood Hargrave - E-Book

Julia und der Hai E-Book

Kiran Millwood Hargrave

0,0
14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

"Ich heiße Julia. Dies ist die Geschichte jenes Sommers, in dem ich beinahe meine Mum verlor und einen Hai fand, der älter als die Bäume war. Keine Sorge, das Ende verrate ich noch nicht …" Eine Geschichte, so tief wie die See, so aufwühlend wie tosende Wellen und so tröstlich wie der Lichtstrahl eines Leuchtturms in dunkler Nacht. Eine bewegende Geschichte für Kinder und Erwachsene Dieses außergewöhnliche Kinderbuch mit All-Age-Charakter der preisgekrönten Autorin Kiran Millwood Hargrave erzählt einfühlsam von der  psychischen Erkrankung einer Mutter aus der Sicht des Kindes. Verknüpft mit den Themen Tiere, Umwelt, Familie, Natur und Freundschaft wird der Mental-Health-Aspekt kindgerecht und warmherzig für Leser*innen ab 11 Jahren erzählt. Die atemberaubenden Illustrationen mit gelber Schmuckfarbe von Tom de Freston machen das Buch zu einem Highlight mit Klassikerpotenzial und zeigen, wie viele Geheimnisse der unendliche Himmel und die Tiefe des Ozeans bergen. Ein wahres Kunstwerk! Für Fans von Wunder und Rico, Oskar und die Tieferschatten. Dieser Titel ist bei Antolin gelistet.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 191

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für Rosemarry & Lavender,
die alles möglich gemacht haben,
was danach kommt.
1
Eins
Das Meer birgt mehr Geheimnisse als der Himmel. Wenn das
Wasser ganz still ist und die Sterne die Oberfl äche durchbohren,
fallen einige Geheimnisse des Himmels ins Meer, erzählte mir
Mum. Und schon gibt es dort noch mehr Geheimnisse. Als wir im
Leuchtturm wohnten, habe ich das Krabbennetz mit dem langen
Stiel über das Geländer gehalten und versucht, die Geheimnisse
zu fangen, aber ich habe kein einziges erwischt.
In anderen Nächten rissen Stürme die Welt aus den Fugen,
schleuderten Wasser und Himmel gegeneinander, sodass die Gischt
der Wellen bis zum Leuchtfeuer hochpeitschte. Die Gischt drang
durch das Gitter vor den hohen Fenstern und ergoss sich auf den
Boden von Dads Büro. Morgens lauschte ich den Pfützen, aber sie
erzählten mir nichts. Keine Botschaften waren aus den Wolken
gefallen. Vielleicht ertranken die Geheimnisse nachts, wie ein
Fisch auf dem Trockenen.
2
Ich heiße Julia. Dies ist die Geschichte jenes Sommers, in dem
ich meine Mum verlor und einen Hai fand, der älter als die Bäume
war. Keine Sorge, das Ende der Geschichte verrate ich noch nicht.
Ich bin nach meiner Großmutter benannt, die ich nie kennen-
gelernt habe, und auch nach einem Computerprogramm, das
meinem Vater gefällt. Ich bin zehn Jahre und zweihundertdrei
Tage alt. Ich musste meinen Dad bitten, das für mich auszurech-
nen, weil ich mit Zahlen nicht viel anfangen kann. Mit Worten
schon. Man kann aus Zahlen Worte machen, aber aus Worten
keine Zahlen. Deswegen haben Worte viel mehr Macht, finde ich.
Dad ist nicht meiner Meinung. Er arbeitet ständig mit Zahlen.
Und genau deshalb sind wir in diesem alten Leuchtturm auf den
Shetlandinseln gelandet. Dad sollte ein Computerprogramm
schreiben, damit das Leuchtfeuer automatisch an- und ausgeht.
Früher hat ein Leuchtturmwärter hier gelebt und das Feuer be-
stand aus Gas und Funken, nicht aus einer Wolfram-Glühbirne
mit tausend Watt. Gas und Funken, genau wie Sterne.
Von hier aus ist der Weg nach Norwegen kürzer als der nach
England, sogar kürzer als der nach Edinburgh. Um die Shetland-
inseln auf der Karte zu finden, muss man von Hayle aus – das ist
in Cornwall, wo wir leben – mit dem Finger schräg nach rechts
oben fahren, bis man auf Inseln trifft, die sich wie Tintenflecken
auf dem Meer verteilen. Das sind die Orkneyinseln. Fährt man
weiter, kommt man wieder zu Tintenflecken. Shetland. Es ist ein
Archipel, also eine Gruppe von Inseln. Und wir fuhren zu der mit
dem Namen Unst.
Unst, Shetland, Schottland.
Die Leute hier nehmen sich sehr viel Zeit, um »Schottland«
5
auszusprechen, als hätte das Wort viel mehr Buchstaben. Das ist
noch so eine Sache, die ich an Wörtern mag: In ihnen ist so viel
Platz. Sie verändern sich, je nachdem, aus wessen Mund sie kom-
men. In meinem verändern sie sich manchmal so sehr, dass sie zu
etwas völlig anderem werden, etwas, das Dad »Lügen« nennt.
In Zahlen ist kein Platz für so was. Selbst die »Sprache« der
Zahlen, mit der mein Dad arbeitet, heißt »Binärcode«. Wenn
man »binär« im Lexikon nachschlägt, steht da:
Adj. »zweiteilig, in zwei Teile zerfallend«.
Zwei Teile. Richtig und falsch. Wahrheit und Lüge. Etwas an-
deres gibt es darin nicht.
Mum arbeitet auch mit Zahlen, aber Wörter sind ihre Lieb-
linge. Sie ist Wissenschaftlerin und da braucht man beides. Zah-
len helfen einem, die Dinge nicht aus den Augen zu verlieren,
aber nur mit Worten kann man sie erklären.
In Cornwall hat sie eine bestimmte Algenart erforscht, mit der
man giftige Chemikalien aus dem Wasser filtern und eines Tages
vielleicht sogar Kunststoff zersetzen kann. Hast du schon mal
Bilder von Meeresschildkröten gesehen, die sich über und über in
Plastikmüll verheddert haben? Ich schon und ich kriege sie nicht
mehr aus dem Kopf. Ich wünschte, ich könnte sie vergessen, aber
vielleicht ist es ganz gut, dass es mir nicht gelingt. Es ist ja nicht
so, dass solche Dinge verschwinden, bloß weil man die Augen
davor verschließt.
Als man Dad den Job auf den Shetlandinseln anbot, schlug
Mum vor, dass wir alle gemeinsam den Sommer dort verbringen.
6
Denn obwohl die Algenarbeit wichtig und gut für die Schild-
kröten ist, würde sie auf Unst den Lebewesen nahekommen, die
sie wirklich erforschen wollte: den größten Tieren, die in den
kältesten Meeresregionen leben.
An der Universität hatte sie Walforschung betrieben und einen
sehr langen Aufsatz über einen Wal verfasst, der ganz allein
durch die Weltmeere schwimmt, weil er auf einer anderen Fre-
quenz singt als seine Artgenossen. Er kann sie hören, sie ihn aber
nicht. Nachdem Mum krank wurde, fühlte ich mich manchmal
so einsam und allein, wie sich dieser Wal gefühlt haben musste,
so als würde ich innerlich schreien. Die ganze Zeit. Aber Mums
Lieblingstier war kein Wal, sondern ein Hai. Ein Grönlandhai.
Und weil es ihr Lieblingstier war, wurde es in diesem Sommer
auch meins.
Mir gefällt an Worten, dass sie sanfter sind als Zahlen. Wenn
mir an der Wahrheit nichts liegen würde, könnte ich dir jetzt
weismachen, dass alles so ist, wie es früher war. Wenn ich dir in
Zahlen erzählen würde, was mit meiner Mum passiert ist, würde
ich behaupten, die wichtigste Zahl an ihr sei jetzt die 93875400,
denn diese Zahl steht auf ihrem Krankenblatt unten an ihrem
Bett. Aber 93875400 sagt gar nichts über meine Mum aus. Das
können nur Worte. Und selbst die schaffen es nicht immer.
Ich verliere den Faden. Das ist das Problem mit Worten und das
ist zugleich das Gute an ihnen. Sie haben so viele Bedeutungen
und jedes Wort hat so viele Zweige, so viele Wurzeln, und wenn
man den Weg nicht genau kennt, kann man sich verirren wie
7
Rotkäppchen im Wald. Deshalb hole ich ein bisschen weiter aus.
Ich darf nicht vergessen, wo ich hinwill.
Nämlich zu Mum.
Die Reise zu den Shetlands dauerte vier Tage. Das ist länger, als
man braucht, um nach Australien auf der anderen Seite der Welt
und wieder zurück zu fl iegen. Und zwar zweimal. Ich hätte nicht
gedacht, dass es heutzutage so lange dauert, um irgendwo hinzu-
kommen. Schließlich haben wir Flugzeuge und Hochgeschwin-
digkeitszüge. Aber wir mussten mit dem Auto fahren, weil die
Bücher zu schwer für den Transport mit dem Flugzeug waren.
Und weil Nudel, unsere Katze, so viel Lärm macht, konnten wir
auch nicht den Zug nehmen.
Sie heißt Nudel, weil sie früher so klein war, dass sie in die leeren
Fünf-Minuten-Terrinen passte, die Dad immer zu Mittag isst.
Mum wäscht sie aus und zieht darin kleine Tomatenpfl anzen,
weil sie es hasst, Plastik wegzuwerfen. Du hast vielleicht schon
gehört, dass Piraten früher Schiffskatzen hatten, und Nudel ist
so eine Schiffskatze. Wenn Mum sie in Cornwall zu den Algen-
farmen mitnahm, saß sie immer vorn im Boot und fauchte das
Meer an.
Nudel zu Hause zurückzulassen, kam überhaupt nicht infrage.
Also kauften wir eine spezielle Transportbox, die eigentlich für
Hunde gedacht war und fast den gesamten Rücksitz einnahm, so-
dass ich kaum Platz hatte und gegen die Autotür gequetscht wur-
de, mit kleinen Tomaten-Topfpfl anzen zwischen den Füßen. Dad
hatte verschiedene Etagen in die Kiste eingebaut, damit Nudel
8
herumklettern konnte, und eine kleine Hütte mit ihrem Katzen-
klo darin, sodass sie in Ruhe ihr Geschäft erledigen konnte.
»Ich hoffe, sie kackt nicht ins Klo«, sagte Mum. »Es stinkt,
wenn sie kackt.«
»Es stinkt immer, wenn jemand kackt«, warf Dad ein.
Tut mir leid, dass es in dem ersten Gespräch meiner Eltern, das
du zu hören bekommst, um Kacke geht.
Nudel war viel zu sehr damit beschäftigt, aus voller Kehle zu
miauen, als das Katzenklo aufzusuchen. Katzen haben diese ganz
besondere Superkraft, ihr Pipi echt lange einhalten zu können. In
dieser Beziehung sind sie ganz anders als Menschen (und nicht
nur in dieser). Wir haben unheimlich oft angehalten, um Pinkel-
pausen zu machen und damit Mum und Dad sich beim Fahren
abwechseln konnten. Sie haben ein Hörbuch eingelegt, Mein
Freund, der Wasserdrache von Dick King-Smith. Es war sehr trau-
rig und irgendwann haben wir alle geweint.
Ich habe unsere Reise in dem Straßenatlas verfolgt, den meine
Eltern nicht mehr benutzen, seit wir ein Navi haben. Karten sind
aber viel interessanter als Displays, finde ich. Sie zeigen dir das
ganze Bild und Straßen sehen darauf aus wie Adern oder Flüsse.
Die erste Nacht verbrachten wir in einer Pension in den West
Midlands, bei einem pingeligen Ehepaar, das zwar Hunde in
seinem Haus erlaubte, aber keine Katzen. Als wir ankamen, war
es zu spät, um eine andere Unterkunft zu suchen, und so blieb
Dad bei Nudel im Auto, während ich mit Mum in dem großen
Bett schlief. Es war ein Wasserbett, was offenbar früher sehr
modern gewesen war.
»Als würde man im Bauch eines Wals schlafen«, sagte Mum
9
und drehte sich auf die Seite. »Dieses ganze Murmeln und Gur-
geln.«
»Glaubst du?«
»Ich weiß es. Ich habe schon gehört, wie es im Inneren eines
Wals zugeht. Einer hat mal unseren Transmitter verschluckt, mit
dem wir den Walgesang aufnehmen wollten. Da drin war es lauter
als die Meeresbrandung.« Ihre Atmung wurde ganz ruhig, wie
immer, wenn sie über das Meer sprach.
»Freust du dich auf die Wale auf den Shetlandinseln?«
»Ja.« Ich hörte das Lächeln in ihrer Stimme. »Dort gibt es
so viele Arten. Balaenoptera musculus. Physeter macrocephalus,
Monodon monoceros, Delphinapterus leucas.«
»Blauwale, Pottwale, Narwale und Belugas«, ratterte ich he-
runter und übersetzte die lateinischen Begriffe in Worte, die ich
aussprechen konnte. »Klingt wie für dich gemacht.«
»Ja. Und für dich. Das wird der allerbeste Sommer.«
»Kriegen wir auch Otter zu sehen?«
»Unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich.« Mum beantwor-
tete Fragen niemals einfach nur mit »Ja« oder »Nein«. Sie war
Wissenschaftlerin und das bedeutete, dass sie immer einen ge-
wissen Spielraum für das Unmögliche ließ. »Ich werde übrigens
weiter nach Norden fahren, in das Nordmeer vor Norwegen. Ich
habe gehört, dass dort ein Grönlandhai gesichtet wurde.«
Ich hoffte auf eine Geschichte, eine Geschichte über den Grön-
landhai. Seit ich klein war, erzählt sie mir von Meereslebewesen
und ich sammle ihre Erzählungen in dem kleinen gelben Notiz-
buch mit dem Gänseblümchen auf dem Einband, habe sie zu-
sammengefügt wie Perlen an einer Halskette – jeder Bericht und
10
jede Information glänzend und kostbar. Aber sie gähnte wieder,
und da sie keine komplizierten Wörter mehr benutzte, wusste
ich, dass Mum gleich einschlafen würde.
Ich rollte mich auf die Seite. Alles, was ich sehen konnte,
waren ihre Zähne, die im Dunkeln schimmerten, als ob der Rest
ihres Gesichts nicht mehr da wäre. Ich streckte die Hand aus
und berührte es, um ganz sicherzugehen. Ich erinnere mich noch
immer an ihr Gesicht in jener Nacht, daran, wie es sich unter
meinen Fingerspitzen anfühlte. Wörter können nämlich auch
durch die Zeit reisen.
Weil uns die Pension zu muffelig war, blieben wir nicht zum Früh-
stück. Dad war mies gelaunt, denn Nudel hatte doch gekackt
und jetzt roch sein Schlafanzug nach Kacke. Mum hängte seinen
Schlafanzug aus dem Autofenster und kurbelte es dann nach
oben, damit er nicht wegflog. Aber er entwischte auf der M5,
kurz vor Birmingham, und geriet unter die Räder eines Lasters.
Mum und Dad stritten sich. Wir fuhren bis zur M6 Richtung
Manchester, dann über die M62 an Manchester vorbei und
wieder zurück auf die M6.
M5, M6, M62 – die Straßennamen waren ziemlich langweilig.
Es wäre viel schöner, wenn sie Namen hätten wie in Büchern:
»Elbenpfad«, »Winkelgasse« oder »Gelbe Pfl astersteinstraße«.
Das hätte diesen Teil der Autofahrt viel interessanter gemacht,
sowohl für dich als auch für mich.
11
Zwei
»Die da?«
Wir saßen in unserem Auto am Kai von Gutcher, einem Dorf
auf der Insel Yell, und betrachteten die winzige Fähre, die uns
nach Unst bringen sollte.
Wir waren ungefähr Tausend Meilen gefahren und es hatte
über zwölf Stunden gedauert, bis uns die Fähre von Aberdeen
nach Lerwick gebracht hatte, einer Stadt auf Mainland, der
Hauptinsel der Shetlands. Wenn du auf der Karte nachschaust,
siehst du vermutlich nur einen kleinen Fleck, aber es ist der
größte Fleck der Shetlandinseln, weshalb die Fähren vom Fest-
land hier anlegen.
Was ich bislang von den Shetlandinseln gesehen hatte, war sehr
grün und sehr nass. Die Wolken hingen so tief, dass ich glaubte,
sie berühren zu können. Dad war steif aus dem Wagen gestiegen,
als wir angehalten hatten, und jetzt machte er diese Frosch-
sprünge, mit denen er sich auch zu Hause vor dem Computer
12
alle zwanzig Minuten Bewegung verschafft. Ich rutschte auf mei-
nem Sitz ganz nach unten, aber glücklicherweise war niemand in
meinem Alter in der Nähe.
»Sausage Roll?« Mum drehte sich auf ihrem Sitz um und hielt
mir ein Würstchen im Teigmantel hin. Sie hatte eine Dose so groß
wie ein Farbeimer auf dem Schoß. Sie meinte, es sei besser,
Großpackungen zu kaufen, wenn es schon unbedingt Plastik
sein müsse. Sie mag diese billigen Würstchen mit dem trockenen
Teig, die innen entweder ganz rosa oder ganz grau sind und bei
denen man hin und wieder auf einen kleinen, festen Klumpen
beißt, den man am besten ausspuckt. Dad behauptet, dass sie
aus dem ganzen Fleischabfall gemacht werden, den die Metzger
nicht mehr verkaufen können. Er rührt sie nicht an.
Ich nahm eins, während Mum sich auf ihrem Sitz ausstreckte.
Ihr Nacken knackte. Normalerweise war sie ständig in Bewe-
gung, draußen im Freien. Sie hatte einen schweren gelben Re-
genmantel wie ihn auch Arbeiter auf Ölplattformen tragen, und
damit ging sie bei jedem Wetter raus. Auch wenn sie am Laptop
arbeitete, tat sie das meist im Stehen.
»Der Grönlandhai«, sagte ich.
»Hmm?«, gab Mum mit vollem Mund zurück.
»Du hast mir vom Grönlandhai erzählt. Meinst du, du findest
einen?«
Mum kaute nachdenklich und schaute dann auf ihre Armband-
uhr. »Wollen wir uns ein bisschen die Beine vertreten?«
»Wenn wir uns dabei möglichst weit von Dad fernhalten.«
Jetzt schwang er seine Arme von einer Seite zur anderen,
sodass er mit den Händen auf seine Beine und seinen Hintern
13
klatschte. Ich hörte sogar durch den böigen Wind, wie er diese
kleinen, schnaufenden Geräusche von sich gab. Mum grunzte
vor Lachen. »Einverstanden.«
Wir stiegen aus und Mum holte unsere Jacken aus dem Kof-
ferraum. Meine ist rot und zusammen mit ihrer gelben und der
grünen von Dad sehen wir aus wie eine Ampel.
Der Wind trieb uns in Richtung einer kleinen, klatschnassen
Bank auf dem steinernen Anleger. Mum ließ sich auf die Sitzflä-
che plumpsen. Ihr macht es nichts aus, nass zu werden, schließ-
lich ist sie Meeresbiologin.
»Wie geht’s dir so, meine Juli?«
»Prima.«
»Es war eine lange Reise«, sagte sie.
»Ich weiß«, erwiderte ich. »Ich war dabei.«
Sie schaute zu mir und tat so, als würde sie überrascht zusam-
menzucken. »Tatsächlich!«
Ich kicherte. »Der Grönlandhai, Mum.«
»Somniosus microcephalus.«
»Ich habe auf Dads Smartphone etwas über ihn gelesen.«
»Du hattest hier oben Netz?«
»Da stand, dass einer sogar fünfhundertsiebzehn Jahre alt
wurde.«
Mum schüttelte den Kopf.
»Stimmt das nicht?«
»Es ist nicht bewiesen. Es könnte stimmen, aber man hat nie
einen gefunden, der so alt war. Ich glaube, der älteste war unge-
fähr vierhundert.«
Ich starrte sie an. »Vierhundert Jahre?«
14
»Ja.« Mum machte das oft: Sie erzählte einem die erstaun-
lichsten Tatsachen ganz gelassen, als würde sie eine Einkaufsliste
vorlesen. Sie ging mit ihrem Wissen so selbstverständlich durch
die Welt wie mit ihrem gelben Regenmantel. »Wirklich bewiesen
ist das nicht«, erklärte Mum. »Normalerweise kann man das
Alter von Haien ganz einfach bestimmen. Ihre Knochen haben
Wachstumsringe, wie Bäume. Aber die Knochen von Grönland-
haien sind zu weich dafür. Deshalb hat man das Alter anhand der
Kristalle in den Augen geschätzt.«
Mein Gehirn fühlte sich an, als würde es gedehnt, und ich
nahm mir fest vor, diese Informationen in mein gelbes Buch zu
schreiben. »Das ist doch irre!«
Mum zuckte zusammen. Sie hasste dieses Wort. Sie sagte im-
mer, dass Leute, die man für irre hielt, oft einfach nur missver-
standen wurden. »Es ist clever.«
»Wie kann man so alt werden?«
»Grönlandhaie sind langsam«, sagte sie. Der Wind wehte ihr
die Haare ins Gesicht, aber sie schob die Strähnen nicht weg.
Daran erinnere ich mich noch: dass sie ihre Haare offen trug, ob-
wohl sie sie normalerweise zurückband. An diesem Tag verbargen
die Haare ihr halbes Gesicht und ich fand, sie sah aus wie eine
märchenhafte Seherin, die eine Prophezeiung ausspricht.
»Langsam?« Ich rümpfte die Nase. »Na und?«
»Sie bewegen sich langsam und sie altern langsam. In gewisser
Weise tricksen sie die Zeit aus. Sie wachsen einen Zentimeter pro
Jahr. Das ist etwa so viel.« Sie hob die Hand und schob Daumen
und Zeigefinger so nah zusammen, dass sie sich beinahe berührten.
»Aber das weißt du natürlich. Wie auch immer, das ist nicht viel.«
15
»Meinst du, ich werde lange leben, obwohl ich so schnell
wachse?«
Mum lachte und zog mich in eine Umarmung. Sie roch nach
dem Gummi, aus dem ihre Jacke bestand, nach frischer Luft und
nach Würstchen im Teigmantel. »Aber klar doch.«
»Mu-um.« Ich tat so, als wollte ich mich aus ihrer Umarmung
befreien, aber im Grunde machte es mir nichts aus. Das Horn der
Fähre ertönte, und nachdem alle Autos an Bord waren, sackte sie
ziemlich tief ins Wasser. Ich versuchte, nicht hinzuschauen, son-
dern holte mein gelbes Notizbuch heraus, um meine Angst, wir
könnten sinken, zu verdrängen. Ich schlug eine leere Seite auf,
schrieb »Grönlandhai« ganz oben hin und notierte dann, was
Mum über Kristalle und weiche Knochen erzählt hatte.
Geschichte ist nicht mein Lieblingsfach, aber ich konnte mir
ausrechnen, dass der Hai schon gelebt hatte, bevor Napoleon
geboren worden war, sogar noch vor Mozart, den wir in Miss
Braimers Musikunterricht durchgenommen hatten. Und Napo-
leon und Mozart lebten vor sehr, sehr langer Zeit.
Der Ort Belmont tauchte aus dem grauen Meer und den grau-
en Wolken auf, niedrige graue Gebäude, die sich an die Küste
kauerten. Grau macht mir nichts aus. Meine Lieblingstiere –
außer Nudel natürlich – sind die grauen Kegelrobben. Trotzdem
wurde mir ein bisschen schwer ums Herz, weil ich das sonnige
Cornwall gegen das verregnete Unst eintauschen musste, und sei
es auch nur für einen Sommer.
Wir fuhren wieder mit dem Auto und waren ziemlich still, sogar
Nudel. Ich fragte mich, ob sie ähnlich empfand wie ich. Es gab nur
eine einzige Straße, die aus der Stadt herausführte. Die anderen
Autos bogen alle ab, bis nur noch zwei vor uns waren. Aber
auch die fuhren nach rechts, als wir am Ende der Straße die linke
Abzweigung nahmen, so wie es auf der ausgedruckten Wegbe-
schreibung stand, die Dad von seinen Auftraggebern bekommen
hatte. Es gab keine Hinweisschilder und die Straße wurde immer
holpriger und holpriger.
Der Regen auf dem Autodach klang wie klopfende Finger, wie
Dad, der mit den Fingerspitzen auf seinen Schreibtisch trom-
melt, wenn er auf eine E-Mail wartet. Mum hatte ihr Fenster
immer noch off en und ich roch den Regen – eine Mischung aus
Schlamm und Gras.
»Bist du sicher, dass das der richtige Weg ist?«, fragte Dad.
»Es gibt keinen anderen Weg«, sagte Mum und wedelte mit
dem Blatt Papier in ihrer Hand. »Hier steht: die Straße entlang,
die aus Belmont herausführt, an der Gabelung links, bis zum
Uffl e-Gent-Leuchtturm.«
Ja, du hast richtig gehört. Uffle-Gent. Der einzige andere
Leuchtturm in der Gegend heißt Muckle Flugga, es hätte also
deutlich schlimmer kommen können.
Das Land stieg allmählich an und unser Auto rauschte höher,
höher, höher. Als wir oben angekommen waren, kurbelte Mum
ihr Fenster herunter, steckte den Kopf hinaus und stieß einen
Jubelschrei aus.
»Guckt mal! Juli! Dan!«
Sie tat, als ob wir ihn übersehen könnten, aber das war un-
möglich. Oben auf dem Hügel wurde die Straße fl acher und
mündete in einen ungepflegten, unbefestigten Platz, eine Art
Einfahrt. Und am anderen Ende des Platzes, direkt an der
Klippe, vor der sich ein weiter und bewegter Ozean er-
streckte, ragte ein runder schwarz-weißer Turm in die
Höhe.
Uffl e-Gent. Unser Leuchtturm.
18
Ich konnte nachvollziehen, warum so viele Geschichten in Leucht-
türmen spielten. An einem solchen Ort locken Abenteuer, noch
bevor man überhaupt hineingeht. Eine Leiter führte am Turm hi-
nauf, der direkte Weg zum Licht. Um die Spitze verlief ein Ge-
länder, damit man nicht von der Plattform stürzte. Und dort
oben, hinter einem Gitterkäfig, befand sich die große Lampe. Am
Fuß des Leuchtturms wucherten Brennnesseln und Stechginster,
die Dad erst einmal herausreißen musste, um den Schlüssel zu
finden. Er fluchte ausgiebig und Mum meckerte ihn nicht einmal
an, denn sie war viel zu sehr damit beschäftigt, das Meer zu be-
trachten. Schließlich fand Dad den Schlüssel unter einem alten
Blecheimer, der halb mit Regenwasser gefüllt war. Vorsichtig hob
er ihn auf und wischte sich die Finger an den Jeans ab. Dad ist
nämlich ziemlich pingelig.
Drinnen war es sehr düster und eng, und als ich hineinging,
schlug mein Herz einen Purzelbaum. Man konnte das ganze Erd-
geschoss mit nur zehn Schritten durchqueren, in Dads Fall sogar
mit sechs. Das winzige Badezimmer war direkt neben der Küche
und zwischen Klo und Badewanne hatte man kaum Platz, um
sich umzudrehen.
Die Möbel, die noch von dem letzten Leuchtturmwärter stamm-
ten, wirkten allesamt irgendwie unglücklich. Die Wände waren
rund, die Möbel eckig, es passte nichts zusammen und überall
ragten Kanten hervor und blockierten T