Julies Leben - Emmanuel Carrère - E-Book

Julies Leben E-Book

Emmanuel Carrère

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Beschreibung

An einem kalten Februarmorgen 1993 sieht die Fotojournalistin Darcy Padilla eine Achtzehnjährige mit einem Neugeborenen im Arm in der Lobby des Ambassador-Hotels in San Francisco stehen – barfuß. Sie bittet sie, ein Foto von ihr machen zu dürfen. Sie wird Julie die nächsten achtzehn Jahre bis zu deren Aids-Tod im Jahr 2010 als Chronistin ihres Lebens und Freundin fotografisch begleiten. Als Emmanuel Carrère die Fotos zum ersten Mal sieht, beschließt er, sich auf die Spuren der beiden Frauen zu begeben, und reist in die USA. Als Meister der dokumentarischen Erzählung beschreibt er Julies Lebensweg und die Freundschaft der beiden ungleichen Frauen: Abhängigkeiten, familiäre Katastrophen, Beziehungen, Geburten und Abschiede, viele tragische und wenige heitere Momente in einem Milieu, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint. Denn Julie ist ein Fall von Tausenden: Padillas Bilder und Carrères Text werfen die Frage nach der sozialen Bedingtheit eines Schicksals auf, nach dem Gebot der Anteilnahme angesichts von Lebenswegen, die aussichtslos erscheinen.

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Seitenzahl: 36

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Emmanuel Carrère

Julies Leben

Aus dem Französischenvon Claudia Hamm

Mit Fotografienvon Darcy Padilla

punctum 016

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

1

Das rund um die 6th Street im Zentrum von San Francisco gelegene Tenderloin ist ein Umschlagplatz für Crack und eine Heimat von Elend und Kriminalität – man sieht dort sogar Leute Zigaretten rauchen, und das will was heißen. Die meisten Hotels arbeiten mit den Sozialbehörden zusammen, und diese überweisen ihnen direkt die Miete für ihre Gäste, damit die Zimmer auch garantiert bezahlt sind, bevor Erstere losrennen, um sich ihre tägliche Dosis zu beschaffen. Anfang der 1990er Jahre, auf dem Höhepunkt der Aids-Epidemie, dienten diese Hotels überfüllten Krankenhäusern auch als Außenstellen und man brachte dort die Patienten unter, für die außer täglichen Morphinspritzen nichts mehr zu machen war. Auch das Ambassador gehörte dazu, das die junge Fotografin Darcy Padilla von 1992 an regelmäßig aufsuchte, weil sie eine Ärztin auf ihrer Visite begleitete, über die sie eine Reportage machte. Als die Dokumentation fertig war, kam sie allein wieder, um über längere Zeit hinweg Kranke zu fotografieren, mit denen sie Freundschaft geschlossen hatte. Noch heute erzählt sie bewegt von Dorian, dem Transsexuellen, der so stolz auf seine Brüste war, von Diane, die gerade noch 30 Kilo wog, und von Steven, dem sie einen Erzählband von Salinger geschenkt hatte und der so große Angst hatte, allein zu sterben, dass sie ihm am liebsten versprochen hätte, im entscheidenden Moment bei ihm zu sein, doch sie wusste, dass man nichts versprechen sollte, was man nicht auch sicher halten könne, und obwohl sie täglich mehrere Stunden mit Steven verbrachte, ihm vorlas und ihn mit Vanilleeis fütterte – das Einzige, was er noch zu sich nehmen konnte –, war sie doch nicht ununterbrochen bei ihm, und er ist tatsächlich, wahrscheinlich in Panik und Verzweiflung, um drei Uhr morgens allein gestorben, während Darcy ruhig an der Seite ihres damaligen Freundes sieben oder acht Blocks entfernt schlief.

Die Geschichten von Dorian, Diane, Steven und vielen anderen ähnelten sich: von Armut und Gewalt geprägte Familien, in zartem Alter erste Ausreißversuche, dann Drogen, Prostitution, ein Leben auf der Straße und schließlich die Krankheit, die sie befiel, in Klappergestelle voller Druckgeschwüre verwandelte und letztlich ins schwarze Loch zog: ein düsteres Zimmer im Hotel Ambassador. Diese Leute, die damals zwanzig oder dreißig Jahre alt waren, sind inzwischen alle tot, und niemand erinnert sich mehr an sie außer Darcy, die von jedem von ihnen, in Schachteln mit ihren Namen darauf, Hunderte von Fotos aufbewahrt. Diese Schwarzweißabzüge, auf denen man sie lachen, weinen und ihre Wunden, Ängste und Nöte ausstellen sieht, sind die einzigen Spuren, die von ihrem Erdendasein übrig sind. Das Buch, das Darcy damals vorschwebte, sollte Separate Lives, Different Worlds: Living Poor in Urban America heißen und sich nicht nur um einen von ihnen drehen, vielmehr war es als Porträtsammlung gedacht, und als sie Julie kennenlernte, hätte sie nie geglaubt, dass sie die nächsten achtzehn Jahre damit verbringen würde, eine Chronik ihres Lebens zu fotografieren – und ihres Todes.

Julie und Jack waren Bewohner des Ambassador