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Alter egal – alles Liebe!
Anne kriegt die Krise. Da hat sie monatelang die Goldene Hochzeit ihrer Eltern vorbereitet, doch bei der Feier verkündet ihre Mutter, dass sie sich scheiden lässt. Altersstarrsinn oder Late Life Crisis? Als die Mutter dann auch noch einen deutlich jüngeren Freund präsentiert, wendet sich Anne an Tom, den Sohn des neuen Lovers – der jedoch kein Problem damit hat. Prompt bringt eine überraschende Versuchung Annes eigenes Eheleben durcheinander, und sie muss sich fragen: Ist die Liebe zu einem jüngeren Mann wirklich so abwegig?
Der neue Bestseller von Ellen Berg über die Frage, welche Zugeständnisse Frauen im Alter machen müssen – und ob wir jemals aufhören sollten, nach Liebe und Glück zu suchen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 407
Veröffentlichungsjahr: 2025
Friede, Freude, Eheglück – so hatte sich Anne die Goldenen Hochzeit ihrer Eltern vorgestellt. Doch statt warmer Gefühle gibt’s eine kalte Dusche: Ausgerechnet auf der liebevoll geplanten Feier verkündet ihre Mutter die Scheidung. Jetzt sei sie mal dran. Alle sind schockiert. Wie kann man nur fünfzig Jahre Ehe wegschmeißen? Als Anne dann erfährt, dass ihre Mutter einen fünfzehn Jahre jüngeren Mann am Start hat, ist sie komplett am Ende. Unterstützung sucht sie bei Tom, dem Sohn des neuen Lovers. Doch der findet Liebe über alle Altersgrenzen hinweg völlig okay und ist fortan Feind Nummer eins. Während Anne alle Hebel in Bewegung setzt, um das ungleiche Paar auseinanderzubringen, gerät sie durch eine überraschende Begegnung selbst ins Schleudern – obwohl sie ihr Leben fest im Griff zu haben glaubte. Hat ihre Mutter vielleicht doch recht? Wäre es an der Zeit, ebenfalls auf ihr Herz und ihre eigenen Bedürfnisse zu hören?
Ellen Berg, geboren 1969, studierte Germanistik und arbeitete als Reiseleiterin und in der Gastronomie. Heute schreibt und lebt sie mit ihrer Tochter auf einem kleinen Bauernhof im Allgäu. Dass Liebe kein Alter kennt, weiß sie aus eigener Erfahrung: Ihr Lebenspartner ist um einige Jahre jünger.
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Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Epilog — Zwei Jahre später
Impressum
Wer von diesem Roman begeistert ist, liest auch ...
O mein Gott, das hat sie nicht wirklich gesagt. Doch nicht heute. Doch nicht jetzt. Und sowieso schon mal gar nicht!
Fassungslos starre ich meine Mutter an. Oder habe ich mich verhört? Ich meine, wie schräg müsste man drauf sein, um auf der eigenen Goldenen Hochzeit zu verkünden: »Hiermit gebe ich unsere Trennung nach fünfzig Ehejahren bekannt«? Das wäre einfach zu, zu … Mir fehlen die Worte.
Leider deuten die eingefrorenen Mienen der anderen Gäste darauf hin, dass ich mich keineswegs verhört habe. Es ist mucksmäuschenstill im Saal. Kein Gläserklirren ist zu hören, kein Besteckgeklapper, nicht das kleinste Tuscheln. An die vierzig Menschen schweigen so laut, dass es in den Ohren dröhnt. Alle schauen vollkommen verdattert zur Goldenen Braut, die so seelenruhig an der festlichen Tafel steht, als hätte sie nicht gerade eine Bombe platzen lassen.
Sogar mein Mann blickt von seinem Handy auf. Die ganze Zeit hat er darauf rumgedaddelt, obwohl das nun wirklich unhöflich ist. Na ja, kenne ich schon. Jetzt malt sich ein WTF-Ausdruck in Karstens Gesicht. Ja, what the fuck. Eine bessere Umschreibung fällt mir beim besten Willen nicht ein.
»Sag mal, tickt deine Mutter noch richtig?«, flüstert er mir zu.
Ich habe keinen blassen Schimmer. Nur eines weiß ich: Was sie da abzieht, ist eine Ungeheuerlichkeit. Oder ein kapitaler Fall von Demenz. Dabei ist meine Mutter doch noch total fit für ihr Alter. Nicht jeder kommt mit zweiundsiebzig so lebendig und dynamisch rüber. Ihr Gesicht strahlt, ihr bodenlanges hellblaues Kleid schmiegt sich an einen bemerkenswert sportlichen Körper, das neuerdings blond gesträhnte Haar hat sie sich elegant hochstecken lassen. Von einem Friseur, den ich eigens für sie organisiert habe.
Aber was habe ich hier eigentlich nicht organisiert?
Langsam verwandelt sich meine Fassungslosigkeit in dicke, fette Wut. Weiß sie überhaupt, wie viel Aufwand ich betrieben habe, um diese Goldene Hochzeit zu stemmen? Seit Monaten bin ich im Nebenjob Wedding Plannerin. Ach, was sag ich, das ist ein Fulltimejob. Schließlich sind tausend Dinge zu bedenken, wenn man aus einer Familienfeier ein unvergessliches Event machen will. Da muss man sich schon richtig reinhängen.
Von der Location über die Gästeliste bis zu Deko, Menüfolge und Getränkeauswahl habe ich nichts dem Zufall überlassen. Allein den Festsaal auszuwählen, war eine Herausforderung. Nicht zu klein, nicht zu groß, nicht zu nobel, nicht zu rustikal, auf keinen Fall zu teuer, aber bloß keine billige Bude. Find so was mal. Die Suche hat mich volle drei Wochen gekostet, anfangs im Internet, danach mit meinem klapprigen alten Golf. Tagelang bin ich durch die Gegend gekurvt, bis ich die perfekte Location entdeckt hatte: den Lindenhof, ein Ausflugslokal mit einem parkähnlichen Garten für den Sektempfang und einem gemütlichen Saal für die Feier.
Was will man mehr? Auf diese Frage hat meine Mutter gerade eine höchst originelle Antwort gegeben.
»Ihr Lieben …«, in ihrem Gesicht breitet sich ein Lächeln aus, das ich mittlerweile als leicht irre interpretieren würde, »mir ist bewusst, dass die Bekanntgabe unserer bevorstehenden Scheidung überraschend kommt. Doch ihr müsst euch keine Sorgen machen. Herrmann und ich gehen in beiderseitigem Einvernehmen auseinander.«
Sie wirft einen Blick zu meinem Vater, der mit versteinerter Miene an seinem Ehering dreht. So viel dazu.
»Dies ist ein Tag der Freude und der Dankbarkeit«, fährt sie mit diesem sehr irritierenden Lächeln fort. »Wir feiern fünfzig gemeinsame Jahre – und die Freiheit. Ja, endlich frei sein, das habe ich mir schon lange gewünscht.«
Na toll. Und wofür habe ich dann den Saal geschmückt? Unzählige Male bin ich auf eine wackelige Leiter geklettert, um weiße und goldene Luftballons an der Decke zu befestigen. Von den weiß-goldenen Blumengestecken und der selbstgebastelten goldenen Fünfzig an der Stirnwand ganz zu schweigen. Sogar die Tischkarten habe ich per Hand geschrieben, mit einem goldenen Stift, versteht sich, und in endlosen Diskussionen das Menü mit dem Küchenchef abgestimmt: klassische Hochzeitssuppe mit Markklößchen, frischer Spargel an Pesto-Schaum, Kalbskarree mit Kartoffel-Brokkoli-Gratin, Lava-Schokotörtchen auf Campari-Erdbeeren.
Hinzu kam die Berücksichtigung diverser Unverträglichkeiten: Der eine isst keinen Zucker, der andere verträgt kein Gluten, meine Tochter Ella ist laktoseintolerant. Trotzdem habe ich alles hingekriegt. Geschafft haben wir es nur bis zum Kalbskarree. Und als Nachtisch serviert meine Mutter angebrannten Friede-Freude-Eierkuchen.
Fuck! Sie hätte sich wahrlich einen besseren Zeitpunkt für ihre behämmerte Ankündigung aussuchen können!
Mit dieser Meinung stehe ich keineswegs allein da. Die allgemeine Missbilligung ist mit Händen zu greifen und macht sich durch enerviertes Kopfschütteln und halblaut gezischte Unmutsäußerungen Luft. Beim Sektempfang im Garten war die Stimmung noch heiter, gelöst, richtig fröhlich. Die Stehtische hatte ich mit weißen Hussen und vergoldetem Efeu dekoriert, zwei Kellner reichten Canapés, ein Tenor sang italienische Liebesarien. Alle waren hellauf begeistert. Auch vom anschließenden Essen.
Vor dem Fleischgang hielt mein Vater dann die Rede, die ich in mehreren durchgrübelten Nächten für ihn geschrieben hatte: Fünf Jahrzehnte der kleinen und großen Ereignisse, der tiefen innigen Liebe, der kleinen Streitigkeiten und überschwänglichen Versöhnungen. Fünfzig Jahre durch Dick und Dünn, Hand in Hand, Herz an Herz … Sweet, oder?
Mein Vater ist noch immer eine eindrucksvolle Erscheinung, ein großer weißhaariger Herr Anfang achtzig, der sich aufrecht hält, mit kantigen Gesichtszügen, die seine Willenskraft verraten. Ich war unendlich gerührt, als er Wort für Wort meine Rede ablas. Im Handumdrehen hatte ich Pipi in den Augen. Gibt es etwas Herzerwärmenderes als zwei Menschen, die fast das gesamte Leben miteinander geteilt haben?
Für meine Mutter offensichtlich ja.
»Wir alle machen Kompromisse, um des lieben Friedens willen. Aber lohnt sich das?« Bedeutungsvoll schaut sie von einem zum anderen, als erwarte sie allen Ernstes Zuspruch für ihren unsäglichen Sermon. »Oder, anders gefragt: Wie lange muss man Kompromisse ertragen? Ich habe die Fünfzig vollgemacht, Jahr für Jahr, Monat für Monat, Tag für Tag. Jetzt ist Schluss. Wie steht’s bei euch? Ich sehe hier einige Paare, die sich nichts mehr zu sagen haben, wenn wir mal ehrlich sind. Warum zusammenbleiben, wenn man sich nur noch gegenseitig blockiert?«
Ein Raunen geht durch die Gäste. Es klingt nicht sehr freundlich. Der eine oder andere scheint sich angesprochen – und auf den Schlips getreten zu fühlen.
Auch ich frage mich, ob meine Mutter etwa Karsten und mich meint. Das wäre ja wohl die ultimative Unverschämtheit. Okay, zurzeit läuft es alles andere als geschmeidig bei uns. Aber das ist noch lange kein Grund, einfach hinzuschmeißen. Immerhin haben wir einander ewige Liebe geschworen, gemeinsam ein Haus gebaut, das wir noch viele Jahre lang abstottern werden, nicht zuletzt eine Familie gegründet.
Apropos. Wo sind eigentlich unsere Kinder?
An ihrem Platz jedenfalls nicht. Dort stehen nur zwei unberührte Teller mit erkaltetem Kalbskarree. Sie müssten mal kurz raus, hatten Noah und Ella nach dem Spargelgang gesagt, bisschen chillen und so, Familienfeiern seien so furchtbar langweilig. Mit siebzehn und fünfzehn eine durchaus verständliche Sicht der Dinge.
Wenn die wüssten, was hier gerade abgeht. Die allgemeine Entrüstung macht sich mittlerweile in lautstarkem Stimmengewirr Luft. Dabei kann meine Mutter noch froh sein, dass meine beiden älteren Brüder nicht erschienen sind. Die würden ihr was husten. Aber André jettet mal wieder beruflich um die Welt, und Henry glänzt sowieso meist durch Abwesenheit. Nur ich stehe wie immer auf der Matte, wenn unsere Eltern etwas brauchen.
Anne, die allzeit bereite Vorzeigetochter. Ich könnte schreiend im Kreis laufen, dass meine ganze Arbeit umsonst war. Und als hätte meine Mutter nicht schon genug Unheil angerichtet, spricht sie immer weiter, mit fester Stimme und kämpferisch erhobenem Kinn.
»Wollt ihr den Kopf in den Sand stecken?«, fragt sie in die Runde. »Alles so laufen lassen? Es erfordert Mut, einen Schlussstrich zu ziehen. Doch ich kann nur jedem wünschen, diesen Mut aufzubringen, wenn sich der gemeinsame Eheweg als Sackgasse entpuppt.«
Zwischenrufe werden laut. »Was soll das?«- »Jetzt reicht’s aber mal!« Auch ich kann mich kaum noch beherrschen. Wie geht das noch mal mit schlechten Nachrichten? Einatmen und ausrasten? Erbittert zerknülle ich meine weiße Stoffserviette und schleudere sie von mir.
»Danke, Mama, wir haben genug gehört!«
»Bin gleich fertig, Anne, Liebes«, erwidert meine Mutter völlig unbeirrt vom stetig ansteigenden Geräuschpegel. »Natürlich habe ich darüber nachgedacht, ob ich diese Goldene Hochzeit abblasen soll. Aber warum eigentlich? Ist es nicht wunderbar, dass Herrmann und ich fünfzig Jahre geschafft haben? Betrachtet den heutigen Abend einfach als Trennungsparty. Bei der Gelegenheit möchte ich euch jemanden vorstellen, der …«
»Schluss jetzt!«, kreischt eine weibliche Stimme.
Alle spähen in die Richtung, aus der die Stimme gekommen ist. Ach herrje. Wutbebend springt Tante Beate auf, die Schwester des Goldenen Bräutigams, eine ebenso betagte wie beleibte Dame mit untadelig ondulierten weißen Löckchen, die zur Feier des Tages ein auffallend figurbetontes Satinkleid in Tomatenrot gewählt hat.
»Wie kannst du nur, Felicitas!«, spricht sie vor Empörung zitternd aus, was alle hier denken.
»Ich kann, weil ich’s kann«, erwidert meine Mutter mit einer Gemütsruhe, die an Wahnsinn grenzt.
»Aber du machst alles kaputt!« Tante Beate unterstreicht ihre Worte, indem sie imaginäre Gegenstände mit den Handkanten zertrümmert. »Schon mal was von Taktgefühl gehört? Oder von Rücksicht auf die Gefühle anderer?«
»Weißt du«, eingehend betrachtet meine Mutter das Weinglas in ihrer Hand, als ob eine superwichtige Erkenntnis darin rumschwimmen würde, »es gibt auch falsche Rücksichtnahme. Früher sagte man: Mit der Scheidung warten wir, bis unsere Eltern tot sind. Aber was ist mit den Eltern selbst? Sollen die etwa mit der Scheidung warten, bis die Kinder tot sind? Nein, ich finde …«
Der Rest geht in einem unbeschreiblichen Tumult unter. Stühle fallen krachend um, Gläser zerbrechen, Teller landen scheppernd auf dem Boden, während vierzig Gäste gleichzeitig zu meiner Mutter rennen.
Okay. Ich fahr dann mal nach Hause und bekomme einen Nervenzusammenbruch.
Nein, ich bin nicht nach Hause gefahren. Aber ob ich das hier ohne Nervenzusammenbruch überstehe, wage ich zu bezweifeln. Was jetzt?
Es gibt die Ruhe vor dem Sturm – und die Ratlosigkeit danach. Mit vielem habe ich gerechnet. Dass meine relativ unfallfrei pubertierenden Kinder heimlich kiffen oder mein alter Golf seinen Geist aufgibt oder mein Mann doch noch lernt, die Spülmaschine einzuräumen. Nur die Ehe meiner Eltern, die war für mich in Erz gegossen. Feuervergoldet.
Vielleicht hätte mich stutzig machen sollen, dass meine Mutter gar kein großes Fest wollte. »Aber so ein Ereignis muss doch gebührend begangen werden!«, hatte ich protestiert, »überlass alles mir, ich kümmere mich darum.« Was ich dann ja auch getan habe. Es ist einfach nicht fair, eine derart liebevoll durchgeplante Feier in die Tonne zu treten.
Mein Herz trommelt hart gegen die Rippen, und mein Puls rast, als ich mich endlich durch die anderen Gäste hindurch zu meiner Mutter vorgekämpft habe.
»Mama …« Ich muss mich räuspern, meine Stimme klingt heiser vor Wut. »Warum zur Hölle zerlegst du deine Ehe und diese Feier gleich mit? Ich versteh’s einfach nicht.«
Die Umstehenden nicken erbost. Da haben sie sich extra in Schale geworfen, viele Damen waren bei ihrer Kosmetikerin für den attraktiven Glow, die Herren haben ihre besten Krawatten rausgekramt, alle freuten sich auf ein rauschendes Fest und bekamen stattdessen eine Hiobsbotschaft vor den Latz geknallt.
»Anne, Schatz, du dramatisierst«, sagt meine Mutter.
»Ach, tue ich das? Dann erklär mir doch mal bitte, was hinter deinem unmöglichen Verhalten steckt.«
»Du hast ja keine Ahnung.« Seufzend nimmt sie einen Schluck Wein. »Ich war immer eine gute Ehefrau. Ich habe immer getan, was man von mir erwartete: auf ein eigenes Berufsleben verzichtet, mich um Mann, Haushalt und Kinder gekümmert, mich als Person quasi aufgelöst. Jetzt ist Schluss mit Service, Schluss mit der ewigen Nörgelei, Schluss damit, die Erwartungen anderer zu bedienen, und vor allem: Schluss mit einem Kerl, der mir seit fünfzig Jahren auf die Nerven geht. Jetzt bin ich dran!«
Schockstille. Betreten schauen alle zu Boden. So was sagt man nicht. So was denkt man nicht mal.
Besonders pikiert ist das »Team Waldmarsch«, die Nordic-Walking-Truppe, mit der meine Mutter fünfmal pro Woche durch die Gegend marschiert. Auch ich bin neuerdings dabei, weil ich dringend was für mich tun muss. Im Team Waldmarsch falle ich mit meinem Hüftgold nicht weiter auf. Das Durchschnittsalter liegt bei gefühlten Hundert Jahren, Instagram-taugliche Sanduhrfiguren sucht man vergeblich. Dass alle zur Goldenen Hochzeit eingeladen wurden, empfanden sie als große Ehre. Nun ist ihnen das Lächeln gründlich aus dem Gesicht gerutscht.
Nur ein Gast wirkt so gar nicht düpiert: ein ziemlich gut aussehender Mittdreißiger, der mir schon beim Sektempfang aufgefallen war. Was er hier zu suchen hat, weiß ich nicht, ich habe ihn noch nie vorher gesehen.
»Bitte, wir sollten nicht vorschnell urteilen«, sagt Mr. Unbekannt und streicht sich eine dunkle Haarsträhne aus der Stirn. »Für das Recht auf Glück gibt es kein Verfallsdatum. Im Gegenteil. Je älter man wird, desto gründlicher sollte man darüber nachdenken, wie man den Rest seines Lebens verbringen will.«
»Firlefanz«, knurrt Tante Beate, die sich unter Einsatz ihrer Ellenbogen ebenfalls bis zu meiner Mutter vorgearbeitet hat. »Was sich Felicitas hier leistet, nenne ich einen Egotrip erster Güte.« Nahezu hasserfüllt blitzt sie ihre Schwägerin an. »Was soll jetzt aus Herrmann werden? Hast du auch mal darüber nachgedacht? All die Jahre hat mein Bruder für dich gesorgt, dir jeden Wunsch von den Augen abgelesen. Und das ist jetzt der Dank? Dass du ihn kalt lächelnd abservierst?«
»Lächelnd ja, kalt keineswegs.« Mit einer Hand glättet meine Mutter die schimmernde hellblaue Seide ihres Kleids. »Wir haben in den vergangenen Monaten viele Gespräche geführt.«
»Was für Gespräche?«, faucht Tante Beate.
»Ich wollte etwas ändern, unserer Ehe neues Leben einhauchen. Aber du kennst ja Herrmann, der ist ein oller Sturkopf. Alles sollte so bleiben, wie es war: Er sitzt den lieben langen Tag auf der Couch und lässt sich bedienen, abends schraubt er im Keller an seiner Modelleisenbahn herum, weil das ja neuerdings wieder Trend ist. Ob ich damit glücklich werde oder nicht, interessiert ihn einen feuchten Pups.«
Wow. Sie macht es tatsächlich noch schlimmer. Allein, wie sie über Papa spricht! Feuchter Pups? Ist das noch meine Mutter?
»Überzeugt mich alles nicht«, entgegnet Tante Beate aufgebracht. »Warum jetzt? Warum nach vollen fünfzig Jahren eine Ehe beenden? Das ist doch, als ob man seit Stunden dringend mal muss und dann kurz vor dem Klo in die Hose macht.«
Jo. Musste vielleicht auch mal gesagt werden. Feingefühl ist nachweislich nicht die größte Stärke von Tante Beate.
Währenddessen steht der zukünftige Ex‑Mann meiner Mutter etwas abseits an der Stirnwand des Saals, direkt unter der goldenen Fünfzig. Seinen Rücken hat er den Gästen zugekehrt, am rechten Ohr klemmt sein Handy. Mit wem telefoniert er denn? Falls er Redebedarf hat, und davon kann man definitiv ausgehen, braucht er doch kein Telefon. Seine gesamte Familie und all seine Freunde sind hier. Nicht zuletzt ich, seine ja wohl hoffentlich über alles geliebte Tochter.
Oder spricht er etwa mit einem meiner Brüder? Dann muss er wirklich sehr verzweifelt sein. Alarmiert löse ich mich aus dem Pulk, der meine Mutter umringt, und laufe zu ihm.
»Papa? Alles in Ordnung?«
»Sekunde.« Mit einer Hand schirmt er das Handy ab. »Mein Anwalt ist dran. Bis jetzt hatte ich die unterschriebenen Scheidungspapiere zurückgehalten, aber du siehst ja selbst: Die Ehe mit deiner Mutter ist Geschichte. Jetzt muss ich das Vermögen in Sicherheit bringen. Also lass mich gefälligst weitertelefonieren, ja?«
Ich bin unfähig, etwas zu erwidern. Seine abweisende Art verschlägt mir buchstäblich den Atem. Was mein Vater da von sich gibt, bedeutet Krieg. Scheidungskrieg.
»Nun geh schon«, raunzt er mich an. »Mein Anwalt hat nicht ewig Zeit.«
Verständnislos mustere ich sein vertrautes Gesicht, dem die vielen Falten etwas sympathisch Lebenserfahrenes verleihen. Nur der harte Zug um den Mund ist neu. Auch die steile Falte zwischen seinen Augenbrauen kenne ich noch nicht. Plötzlich erscheint er mir verändert. Fremd. Oder ist das etwa sein wahres Gesicht, das er mir bisher verborgen hat?
Vollkommen verstört schleiche ich zur Tafel zurück. Da denkst du, du kennst deine Eltern in- und auswendig, und dann das. Meine Mutter betätigt sich als Party Crasher, mein Vater ist auf einmal kalt wie ein Fisch, beide wollen die Scheidung. Das macht mir Angst. Ich gehöre zu der Fraktion Alles-soll‑so-bleiben-wie‑es-immer-war. Doch nun ist meine Welt unversehens ins Wanken geraten. Ich übrigens auch. Ich muss mich an einer Stuhllehne festhalten, so schwindelig ist mir auf einmal.
Aus dem Augenwinkel beobachte ich, wie Tante Beate einen Kellner herbeiwinkt, der nichtsahnend mehrere hübsch dekorierte Dessertteller auf einem Tablett hereinträgt. Mit bloßen Händen schnappt sie sich gleich zwei Schokotörtchen vom Tablett und vertilgt sie in Rekordgeschwindigkeit.
»Tante Beate«, hauche ich konsterniert. »Was machst du da?«
»Glücklich ist, wer verfrisst, was nicht mehr zu ändern ist«, antwortet sie kauend, wobei ein Klecks flüssiger Schokolade auf ihr rotes Kleid tropft. »Oder erwartest du etwa Mitleid, weil du neuerdings Scheidungswaise bist?«
Also nee, so viel Sarkasmus habe ich nicht verdient. Was ist denn bloß los? Warum lässt einer nach dem anderen die Maske fallen? Als ich mich abwende und Tante Beate mit ihren vermaledeiten Törtchen stehenlasse, muss ich feststellen, dass die Feier auch anderswo völlig aus dem Ruder läuft.
Onkel Gerhard, der immer so aussieht, als würde er die entsorgten Toupets von Heino auftragen, hat seine Füße aufs Tischtuch gelegt und pafft eine Zigarre. Cousine Natascha sitzt auf dem Schoß ihres neuen Freunds und knutscht ungeniert. Herr Mattenklott, ein langjähriger Mitarbeiter meines Vaters, kippt klare Schnäpse, die er sich von einem schief grinsenden Kellner reichen lässt. Und meine Freundinnen Beatrice und Carina, die quasi zur Familie gehören? Dem Anlass entsprechend tragen beide schicke Cocktailkleider in matten Rosé-Tönen sowie schwindelerregende High Heels, auf denen ich es nicht mal bis zur Toilette schaffen würde.
»Das ist pures Gold für meinen Blog«, lächelt Beatrice, die ungeniert Handyvideos aufnimmt. »Wie die fünfzehnte Staffel einer Serie: Der Hype ist vorbei, die Handlung wird immer verworrener, dauernd tauchen neue Gesichter auf, trotzdem bleibt man dran.«
»So ein kaputter Plot ist eigentlich nur noch zu toppen, indem jemand stirbt«, ergänzt Carina. »Aber Spaß beiseite: Ich bin entsetzt. Man kann doch nicht einfach eine langjährige Ehe canceln. Wo bleiben da die Werte? Hättest du nicht etwas dagegen tun können, dass sich deine Eltern trennen, Anne? Vorbeugend sozusagen?«
Na, besten Dank auch. Jetzt bin ich auf einmal schuld? Meine Contenance dreht mittlerweile im roten Bereich. Bloß weg hier. Bloß weg von diesem Desaster.
Wie getrieben laufe ich raus in den Garten, wo ich erst mal tief durchatme. Hier ist es wenigstens friedlich. Vögel singen, üppige Rhododendronbüsche blühen weiß und rosa, kreisförmig angelegte Rosenbeete verströmen einen betörenden Duft. Im rötlichen Abendlicht sieht der Garten noch romantischer, noch verwunschener aus als beim Sektempfang. Nichts lässt ahnen, was für ein Chaos nur wenige Meter entfernt ausgebrochen ist.
Neben einem Springbrunnen mit einem nackten Putto, aus dessen bestem Stück es fröhlich plätschert, finde ich eine Bank. Schluchzend sinke ich darauf nieder, froh, endlich allein zu sein und meinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Der Enttäuschung, der Trauer, der Wut. Ach, was weiß ich.
»Hey, kann ich helfen?«
Ich zucke zusammen. Vor mir steht der smarte Unbekannte, der vorhin Partei für meine Mutter ergriffen hat. Auch das noch.
»Sie würden mir sehr helfen, wenn Sie mich in Ruhe lassen«, schniefe ich, während ich so tue, als sei es völlig normal, tränenüberströmt im Grünen rumzuhocken. »Was ich momentan brauche, ist Privatsphäre.«
»Das trifft sich gut. Ich auch.«
Als hätte ich mich nicht klar und deutlich ausgedrückt, setzt er sich einfach neben mich auf die Bank. Aufdringlicher Kerl. Demonstrativ rücke ich ein Stück von ihm ab. Was nimmt der Blödmann sich heraus? Was hat er überhaupt auf dieser Feier zu suchen?
Jetzt fällt mir wieder ein, dass es noch mehr unbekannte Gesichter unter den Gästen gibt. Meine Mutter hat sie auf die Einladungsliste gesetzt. Kommentarlos. Womöglich haben ihr ja ihre neuen Bekannten den Floh ins Ohr gesetzt, eine fünfzigjährige Ehe auf den Müll zu befördern?
»Schöner Schlamassel, das gerade, aber ganz bestimmt kein Weltuntergang«, sagt der Unbekannte und streckt mir seine rechte Hand hin. »Tom Merseburger, freut mich, Sie kennenzulernen.«
Ich bin so überrumpelt, dass ich die Hand ergreife. Ein reiner Höflichkeitsreflex, denn ich habe gerade so was von gar keine Lust, Bekanntschaft mit irgendwem zu machen. Schon gar nicht mit einem Typen, der sich Zugang zu einer Familienfeier erschlichen hat und dann auch noch Verständnis für das unsägliche Verhalten meiner Mutter zeigt.
»Anne Stegner, die Tochter der Goldenen Braut«, nuschele ich. Mit meinem rechten Fuß kicke ich ein paar Kieselsteinchen ins nächste Rosenbeet. »Oder sollte ich sagen: die Tochter der goldenen Scheidungskandidatin? Im Übrigen würden Sie mir einen Riesengefallen tun, wenn Sie mich in Frieden lassen.«
Seine Antwort besteht aus einem breiten Lächeln. Ha! Der hält sich wohl für unwiderstehlich! In seinem gut geschnittenen Gesicht leuchten grüngoldene Augen, mit denen er Frauen vermutlich reihenweise den Kopf verdreht. Mir nicht. Ich finde ihn einfach nur daneben. Wie werde ich die Klette bloß wieder los?
»Ich möchte Ihnen ja kein Gespräch aufdrängen, Frau Stegner«, entspannt faltet er die Hände hinter dem Kopf und lehnt sich zurück, »aber wollen Sie vielleicht darüber reden? Das tut manchmal …«
»Finde den Fehler«, falle ich ihm ins Wort. »Sie wollen mir kein Gespräch aufdrängen und texten mich trotzdem voll? Obwohl ich gesagt habe, dass ich Privatsphäre brauche?«
»Stimmt, das sagten Sie bereits. Allerdings habe ich den Eindruck, dass das nicht ganz der Wahrheit entspricht.«
Für den ultimativen Frauenversteher hält er sich also auch noch. Viel Glück dabei. Mit so was beißt er bei mir auf Granit. Ich bin eine gestandene Frau von achtundvierzig Jahren, die nicht gleich in Ohnmacht fällt, nur weil sie von einem zugegebenermaßen unglaublich attraktiven Mann angesprochen wird. Mist. Habe ich das wirklich gerade gedacht?
»Nur keine Scham«, fügt er weich hinzu. »Sie können mir gern Ihr Herz ausschütten.«
Diesem aufdringlichen Dämlack? Das wäre ja, als ob man bei McDonald’s nach der Weinkarte fragt.
»Nein, danke. Wenn ich Gesprächsbedarf habe, wende ich mich vertrauensvoll an meinen Mann.«
Verstimmt nagt er an seiner Unterlippe. Klar, so eine Abfuhr bekommt er nicht alle Tage. Recht so. Zwar sieht er eigentlich ganz sympathisch aus, aber das ist noch lange keine Lizenz für verbale Überfälle.
»Wo ist er denn, Ihr Gatte?« Auch er kickt jetzt ein paar Kieselsteine ins Rosenbeet. Mit weißen Sneakers, die er zu seinem modisch eng geschnittenen dunkelblauen Anzug trägt. »Sollte er Ihnen nicht zur Seite stehen in Ihrem aufgelösten Zustand?«
Ja, sollte er. Tut er aber nicht. Verärgert stelle ich fest, dass Mr. Frauenversteher einen wunden Punkt getroffen hat. Karsten ist halt nicht so die Gesprächskanone, und auch sonst läuft unsere Kommunikation eher suboptimal. Vermutlich sitzt er in irgendeiner Ecke, daddelt weiter auf seinem Handy rum und denkt gar nicht daran, mich zu trösten oder mir etwas Aufbauendes zu sagen. Wie ich mich fühle, wie es mir geht – kein Thema für Karsten.
»Mein Mann und ich verstehen uns auch ohne Worte«, behaupte ich. »Das ist das Wundervolle an einer glücklichen Ehe.«
»Gratulation«. Eine neue Ladung Steinchen landet im Rosenbeet. »Ist wohl so was wie ein Sechser im Lotto, Ihr Mann, was?«
Schwer atmend betrachte ich die zartgelben Rosen, deren Duft geradezu berauschend ist. Wann hat mir Karsten eigentlich das letzte Mal Blumen mitgebracht? Falsche Frage. Überhaupt ist hier so einiges falsch. Zum Beispiel, dass unsere Ehe wundervoll ist. Oder glücklich.
Aus den geöffneten Fenstern des Festsaals weht Musik herüber. Whitney Houstons I Will Always Love You, gespielt von der Band, die ich für den Tanz nach dem Festessen bestellt habe. Time to Say Goodbye wäre eindeutig passender.
»Die Rede Ihrer Mutter hat mich sehr berührt«, sagt mein unerwünschter Banknachbar unvermittelt. »Wir sollten alle von Zeit zu Zeit die Tafel wischen und überlegen, ob wir das Leben führen, das wir uns immer erträumt haben.«
Nein, ich will mich nicht mit ihm unterhalten. Wirklich nicht. Doch solche neunmalklugen Sätze kann ich nicht unwidersprochen stehen lassen.
»Das wahre Leben findet allerdings nicht in unseren Träumen statt«, entgegne ich schärfer als beabsichtigt. »Für Sie vielleicht. Die meisten anderen Leute müssen Verantwortung tragen und auch mal zurückstecken, wenn nötig. »
Ich spüre, wie er mich von der Seite ansieht, und werde rot. Wieso das denn? Weil ich so resigniert klinge? So verdammt illusionslos? Was sieht er in der verheulten Endvierzigerin mit dem aschblonden Pagenschnitt und dem weitgeschnittenen geblümten Sommerkleid, das ihre runden Hüften kaschieren soll? Bestimmt findet er mich spießig. Und uralt. Auf ein Sahneschnittchen wie diesen Tom Merseburger muss ich ja durchschnittlich wirken. Ich bin halt der Hausfrauentyp, nett, aber reizlos, obendrein ziemlich frustriert. Und zwar nicht nur wegen meiner Eltern.
Wieso denke ich überhaupt über solche Dinge nach? Kann mir doch egal sein, ob er mich interessant oder gar anziehend findet. Der ist doch so simpel gestrickt, wenn der zwei Gehirne hätte, wäre er nicht zweimal so schlau, sondern doppelt so blöd.
»Respekt, dass Sie es mit der Verantwortung so ernst nehmen«, sagt er eine Spur amüsiert. »Ich hoffe aber doch, dass Sie sich auch mal eine Auszeit von Ihren Pflichten gönnen? Über die Stränge schlagen? Spaß haben? Tanzen gehen, so was in der Art?«
Tanzen. Also wirklich. Allenfalls heute auf der Goldenen Hochzeit hätte ich eine Chance auf rhythmische Bewegung gehabt. Nicht etwa mit Karsten, der ist ein Tanzmuffel, aber vielleicht mit Onkel Gerhard, der die goldene Ehrennadel des Tanzvereins Kesse Sohle am Revers trägt.
»Spaß wird überschätzt«, höre ich mich sagen.
Im selben Moment merke ich, wie hoffnungslos dämlich das klingt. Geradezu blechern. Eine Pause entsteht. Schweigend sehen wir dem Springbrunnen-Putto zu, aus dessen Gemächt es unaufhörlich sprudelt. Ich will gerade aufstehen, als sich Tom Merseburger zu mir herüberneigt.
»Schade, dass Ihr Spaßfaktor so schauderhaft niedrig liegt, Frau Stegner.« Er lächelt mich an. »Man sollte sich immer alle Optionen offenhalten, Ihre Mutter ist das beste Beispiel dafür. Und Sie? Schon mal über einen Change nachgedacht?«
Wie bitte? Einen kurzen Moment lang bin ich sprachlos. Wie kommt dieser Typ dazu, mir so eine indiskrete Frage zu stellen?
»Change ist was für Leute, die nicht wissen, wo sie hingehören«, entgegne ich sehr von oben herab. »Dafür ist meine Mutter das beste Beispiel. Im Übrigen: Wer offen für alles ist, muss aufpassen, dass ihm nicht eines Tages das Hirn rausfällt.«
Auch diese Sätze klingen dämlich. Ich schäme mich, dass mir nichts Besseres einfällt.
»Ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen«, er schaut mir jetzt so eindringlich in die Augen, dass mir ganz mulmig wird, »der Schlüssel zum Glück steckt von innen. Vielleicht sollten Sie ihn mal umdrehen, um Ihr volles Potenzial zu entfalten. Ich glaube nämlich, bei Ihnen gibt es noch jede Menge Luft nach oben.«
Ist es nicht gemein, dass ein einziger Satz alles infrage stellen kann? Ob ich will oder nicht, auf der Heimfahrt vom Lindenhof muss ich nicht nur dauernd über die verunglückte Goldene Hochzeit nachdenken, auch das Gespräch mit diesem unausstehlichen Tom Merseburger will mir nicht mehr aus dem Kopf.
Jede Menge Luft nach oben. Der Kerl hat echt Nerven. Was bildet der sich eigentlich ein, einer wildfremden Frau so was zu sagen?
Leider gehört Schlagfertigkeit nicht zu meinen herausragenden Talenten. Deshalb fällt mir erst jetzt, mit schmählicher Verspätung, die Antwort ein: Passen Sie mal auf, Sie kleiner Besserwisser, ich bin zufrieden, sogar zufriedener als die meisten Frauen meines Alters, und zwar so was von. Ich kann stolz sein, dass ich seit vierundzwanzig Jahren verheiratet bin und zwei Kinder so gut wie großgezogen habe. Ich wohne in einem entzückenden Haus mit Garten, habe großartige Freunde und einen spannenden Job als Rechtsanwaltsfachangestellte in der Kanzlei meines Mannes. An meinem Leben gibt es nichts auszusetzen. Rein gar nichts.
Dachte ich jedenfalls. Bis mich der blöde Luft-nach-oben-Spruch aus meiner Komfortzone geschubst hat. Und das auch noch im falschen Moment. Oder im richtigen, wie man’s nimmt.
Seit einiger Zeit macht mir zu schaffen, dass ich unaufhaltsam auf die Fünfzig zuschlittere. Ja, mein Leben und ich feiern in zwei Jahren Goldene Hochzeit. Wie ein Menetekel schwebt die furchterregende Fünfzig über meinem Kopf. Da kommt man ins Grübeln, was man eigentlich mit dem Rest seiner Zeit anfangen will. Wenn einem dann noch gesagt wird, man hätte nicht sein volles Potenzial ausgeschöpft, kommt man ganz schön ins Schleudern.
Unwillkürlich steige ich auf die Bremse. Da ich Fahrdienst habe, weil Karsten von jeher behauptet, ohne Alkohol überlebe er meine Eltern nicht, sollte ich mich wohl besser auf die Straße konzentrieren, statt mir den Kopf über die Bemerkungen eines gewissen Herrn Merseburger zu zerbrechen. Den Blödmann sehe ich ja sowieso nie wieder. Außerdem steuere ich die heilige Familienkutsche, Karstens geliebten anthrazitgrauen BMW. Ein Kratzer, und er flippt aus.
»Mum, wenn du noch langsamer fährst, kannst du auch gleich parken!«, tönt es von hinten.
Das ist mal wieder typisch Noah. Was will man auch von einem Siebzehnjährigen erwarten, dessen beachtliche Körpergröße über einen noch entwicklungsbedürftigen Verstand hinwegtäuscht? Mütter sind halt peinlich, wenn man siebzehn ist. Immer. Weiß ich doch.
»Danke für den Tipp, mein Großer.«
Gas geben, weitermachen, schärfe ich mir ein. Deine Familie nach Hause bringen. Noch schnell eine Maschine Wäsche anstellen, die Reste vom Festmenü eintuppern, später beim Lesen eines guten Buchs einschlafen. Und bloß keine Sinnfragen stellen. Dass sich deine Eltern scheiden lassen wollen, ist schon emotionaler Stress genug.
Ich kann es immer noch nicht glauben. Es will mir einfach nicht in den Kopf, wie man es mit zweiundsiebzig fertigbringt, sozusagen auf den letzten Metern etwas so Hirnrissiges anzustellen.
»Granny war heute echt der Hammer«, meldet sich in diesem Moment Ella zu Wort.
»Wieso?« Ich verstelle den Rückspiegel ein wenig, damit ich meine Teenagerkinder im Fond sehen kann. »Ihr habt doch gar nichts mitbekommen, oder?«
»Wir haben alles mitbekommen«, grient Noah. »Total krass, wie Oma die öde Party aufgemischt hat.«
»Irgendwie auch cool.« Nachdenklich wickelt Ella eine Strähne ihres exakt geglätteten brünetten Haars um den Zeigefinger. »Im Ernst, fünfzig Jahre mit demselben Mann, und dann noch mit Opa? Das hält doch keiner aus.«
»Also bitte«, schaltet sich Karsten ein, der auf dem Beifahrersitz mit seinem unvermeidlichen Handy beschäftigt ist. »Du bist fünfzehn. Über solche Dinge kann man sich in deinem Alter noch kein Urteil erlauben.«
»Wann denn? Kurz vor scheintot?« Ella macht einen Schmollmund. »Ich werde jedenfalls nie heiraten.«
»Was bleibt dir auch anderes übrig?«, zieht Noah sie auf. »Nicht schlau genug für Twitter, nicht hübsch genug für Instagram, nicht originell genug für TikTok, willkommen im Club der Singles.«
»Musst du gerade sagen, alte Chillkröte«, revanchiert sich Ella. »Ich rede von was anderem: Wie soll ich mit dreißig wissen, auf wen ich mit vierzig stehe? Oder mit vierzig, wen ich mit fünfzig gut finde?«
»Deine Mutter wusste schon mit Mitte zwanzig, dass ich der Richtige bin«, erwidert Karsten ein bisschen zu selbstgefällig für meinen Geschmack. »Und wir sind immer noch zusammen, da siehst du mal, wie gut das mit dem Heiraten funktioniert.«
Darauf erwidert Ella nichts. Sie muss auch gar nichts sagen. Ihre schiefe Grimasse spricht für sich: So eine Ehe wie Eure will ich nicht mal geschenkt.
Ist natürlich alles eine Frage der Perspektive. Wenn man fünfzehn ist und die ersten Jungsgeschichten ganze Schmetterlingspopulationen im Bauch rumflattern lassen, hängt der Himmel noch voller rosaroter Sternchen. Da wird geschwärmt und geseufzt und stundenlang gechattet, da hat man noch hochromantische Vorstellungen von einer Beziehung. Verglichen damit führen Karsten und ich eine komplett unromantische Ehe. Leben nebeneinander her, reden nur das Nötigste, versuchen irgendwie, miteinander klarzukommen. In unserem Alter muss man halt mit dem vorhandenen Material arbeiten.
Auf einmal überläuft mich ein Frösteln. Ist das wirklich alles, was ich über meine Ehe sagen kann?
Ich werfe einen Blick zum Beifahrersitz. Karsten ist der Typ Mann, der optisch beneidenswert gut altert. Demnächst wird er vierundfünfzig, und im Laufe der Jahre hat er rein äußerlich eher gewonnen. Die Falten geben ihm etwas Kerniges, die ersten grauen Haare verleihen ihm eine Aura reifer Seriosität, seinen Körper hält er durch Joggen in Form. Früher punktete er auch mit Charme. Mittlerweile gehört er zu jenen Menschen, mit denen man auf keinen Fall im Aufzug stecken bleiben will: übellaunig und dauergenervt. Wenn er überhaupt mal lacht, dann über die Flachwitze unserer Kanzleisekretärin. Witze von der Sorte: Habe gerade beim Brötchen angerufen – war belegt!
Jetzt ist sein Mund nur ein dünner Strich. Stumm schaut er geradeaus. Vielleicht geht ihm gerade dasselbe durch den Kopf wie mir: Irgendwann hat man geheiratet, irgendwann stellt man fest, dass alles nur noch Routine ist.
Wo sind die Gefühle geblieben? Die zärtlichen Momente? Die Gewissheit, dass es diesen einen Menschen gibt, mit dem man sein ganzes Leben teilen möchte?
»Was macht Granny denn jetzt?«, will Ella wissen. »Schmeißt sie Opa raus?«
»Opa rausschmeißen«, echot Noah. »Das lässt der sich doch nie im Leben gefallen.«
»Dann gibt es ja noch mächtig Zoff.«
Das befürchte ich allerdings auch. Meine Eltern wohnen in einem schmucken Einfamilienhaus; schwer vorstellbar, dass einer von ihnen freiwillig auszieht. Ginge es nach meinem Vater, müsste wohl meine Mutter ihre Sachen packen. Schließlich will er sie auch finanziell ausbooten, wenn ich es richtig verstanden habe. Mit anderen Worten: Der Schlamassel, von dem Tom Merseburger gesprochen hat, fängt gerade erst an.
»Ähm, na ja, so eine Trennung ist ein langwieriger Prozess«, halte ich mich bedeckt. »Da muss noch einiges geklärt werden.«
Karsten sieht mich an, als hätte ich den Verstand verloren.
»Was gibt es da zu klären? Deine Mutter cancelt ihre Ehe, also soll sie sehen, wo sie bleibt.«
Was, was, was? Ich traue meinen Ohren nicht.
»Jetzt mal halblang, Schatz. Willst du etwa behaupten, dass eine Frau bestraft werden sollte, wenn sie ihren Mann verlässt?«
»Jedenfalls sollte sie nicht auch noch dafür belohnt werden«, antwortet er misslaunig.
»Autsch.« Im Rückspiegel sehe ich, wie Ella die Augen verdreht. »Der Oberpatriarch hat gesprochen.«
»Autsch trifft es nicht mal ansatzweise«, ätzt Noah.
Für mich hörte es sich sogar fast wie eine Drohung an: Wehe, Anne, du kommst auf den Gedanken, dich von mir zu trennen.
Karsten ist Anwalt. Da weiß man, was zu tun ist, um bei einer Scheidung seine Schäfchen ins Trockene zu bringen. Gewappnet ist er auf jeden Fall, denn einmal stand unsere Ehe schon auf Messers Schneide: im letzten Sommer, als Karsten verdächtig oft am Wochenende in der Kanzlei arbeitete und ich herausfand, dass er sich dort mit seiner neuen Kollegin Sandra traf. Definitiv nicht der Hausfrauentypus, diese Sandra. Vielmehr eine sehr junge, sehr hübsche, sehr kurvige Person, deren Röcke kürzer waren als mein Geduldsfaden.
Klingt das nach Klischee? Nun, wenn ich etwas gelernt habe, dann: Männer sind nicht sonderlich originell, wenn die Libido Limbo tanzt.
Ich fand das alles grauenvoll. Gut, jede Ehe wird irgendwann monoton, aber wenigstens wird der Gatte monogam. Auch unsere Ehe verläuft ziemlich eintönig. Nur das mit der Monogamie hat Karsten nie richtig hingekriegt. In dieser Hinsicht kann ich auf einen reichen Erfahrungsschatz zurückgreifen. Es ist wie ein Reflex bei ihm. Ein Jagdinstinkt. Druck auf dem Stift, Tinte auf dem Füller, was weiß ich.
Wenn ich ihn dabei ertappe, wie er irgendeiner Frau mit auffallenden sekundären Geschlechtsmerkmalen hinterherschaut, ist er tief zerknirscht und anschließend der liebevollste Mann der Welt. Das macht es ja so schwierig. Karsten kann süß sein, zugewandt. Aufmerksam. Damit kriegt er mich jedes Mal wieder rum, wenn ich schon drauf und dran bin, ihn zu verlassen.
Doch bei dieser Sandra knallten alle Sicherungen bei ihm durch. Zwar haben wir uns noch mal zusammengerauft, uns sogar ein Probejahr zugestanden, doch die Zweifel blieben. Auch meine Selbstzweifel. Bin ich noch begehrenswert genug? Reicht es noch für Karsten – oder überhaupt für irgendwas? Will ich mir überhaupt solche Fragen stellen? Jedenfalls habe ich ihm immer wieder eine Chance gegeben. Ich weiß, das klingt nach Schwäche. Aber ich bin nun mal ins Gelingen verliebt, nicht ins Scheitern. Deshalb sind wir immer noch ein Paar.
»Wie geht es denn nun mit deinen Eltern weiter?«, fragt Karsten, ohne den Kopf zu heben. »Will sich deine Mutter wirklich scheiden lassen? Oder war das nur eine verrückte Laune? So eine Scheidung ist sauteuer. Das lohnt sich doch gar nicht mehr in dem Alter.«
»Wieso, Oma ist erst zweiundsiebzig«, widerspricht Ella. »Da hat sie noch mindestens fünfzehn gute Jahre.«
»Vielleicht hat sie ja eine Late Life Crisis«, denkt Noah laut nach. »Oder die falschen Tabletten genommen.«
»Morgen früh fahre ich hin und versuche, es ihr auszureden«, erkläre ich wild entschlossen.
»Sehr gut«, nickt Karsten, »bring sie zur Vernunft.«
Inzwischen sind wir fast daheim angelangt. Im Schein der Straßenlaternen erkenne ich die vertrauten Straßen, die gepflegten Vorgärten, die hübschen Häuser. Es war immer mein Traum, hier in der Vorstadt zu wohnen, wo es so herrlich grün und ruhig ist. Dieser Traum hat sich erfüllt. Aber führe ich auch das Leben, das ich mir erträumt habe?
Vielen herzlichen Dank, Tom Merseburger. Sie haben mir gründlich den Tag versaut.
»Sag mal, Mum«, Ellas Stimme klingt auf einmal quietschig, »wer war eigentlich der Hottie, mit dem du im Garten geflirtet hast?«
Karstens Kopf ruckt zu mir herum.
»Du hast – was?«
Da denkst du, du setzt liebe süße Kinder in die Welt, und stellst fest, dass du Mitwisser produziert hast, die alles frohgemut ausplaudern. Das ging ja schon im Kindergarten los. Noah erzählte arglos, dass Karsten und ich oft getrennt schlafen, Ella berichtete, ich hätte was mit dem Amazon-Paketboten, weshalb er fast täglich vorbeikomme. Wenn mich die Erzieherinnen und Erzieher darauf ansprachen, grinsten sie vielsagend.
Doch dass meine Kinder auch noch als Teenager heikle Dinge ausposaunen, ist so ziemlich das Letzte, was ich gebrauchen kann. Karsten hat plötzlich diesen gefriergetrockneten Ausdruck im Gesicht, der nichts Gutes verheißt. Das gibt Ärger. Richtig Ärger.
»Ich kann Mum verstehen«, setzt Ella noch einen drauf. »Was für’n Smartie.«
»Für mich sah’s eher aus, als hätte der Typ Mum angebaggert«, wirft Noah ein.
»Quatsch. Alles Quatsch.« Meine Hände umklammern das Lenkrad. »Das war nur harmloser Smalltalk. Ein Zufallsgespräch mit einem Gast, den meine Mutter eingeladen hat.«
»Dafür warst du aber ganz schön lange weg«, muffelt Karsten. »Scheint dir gefallen zu haben, mit irgendeinem Kerl im Garten zu sitzen.«
»Wie gesagt, ich kannte ihn gar nicht.«
»Macht die Sache doch umso interessanter«, gluckst Ella.
Hoffentlich fragt mich Karsten jetzt nicht, worüber wir geredet haben.
»Worüber habt ihr denn geredet, Anne, Schatz?«
Prompt schießt mir das Blut in die Wangen. Könnte Karsten in meinem Gesicht lesen wie in einem offenen Buch, stände da: über mein wunderbares spaßbefreites jämmerliches Leben. In Großbuchstaben.
»Ach, das war nur … ich weiß es gar nicht mehr genau«, eiere ich rum.
»Jedenfalls sah er wirklich hot aus.« Ella stupst ihren Bruder mit dem Ellenbogen an. »Und ich glaube, er war sehr an Mum interessiert. Viele jüngere Männer fahren auf ältere Frauen ab. Das liest man doch jetzt immer wieder. Wie nennt man die noch? Cougars?«
»Milfs«, korrigiert Noah sie fachmännisch. »Mothers you like to … weißt schon. Es gibt auch Dilfs, Daddys you like to … Aber in der Milf-Liga ist Mum nicht wirklich unterwegs, oder?«
»Was soll das dumme Gerede?«, schimpft Karsten. »Ältere Frauen und jüngere Männer, das ist doch, also, das ist …«
»Ich glaube, das Wort, das du suchst, ist sexy«, kichert Ella.
»Next level shit«, ergänzt Noah.
»Schluss damit!«, brüllt Karsten.
Selten habe ich ihn so aufbrausend erlebt. Fühlt er sich etwa provoziert von dem Gedanken, ein jüngerer Mann könnte sich für mich interessieren?
Von Cougars und Milfs habe ich durchaus schon mal gehört. In meiner Vorstellung sind das überreife Damen mit perfekten Körpern, die sich lasziv auf Seidenbettlaken räkeln und Youngsters vernaschen wie andere Frauen Trüffelpralinen. Es würde mir nicht im Traum einfallen, so was mit mir in Verbindung zu bringen. Abgesehen davon, dass ich einen Ehering am Finger trage, bin ich viel zu verklemmt für solche Extravaganzen.
Doch, doch, Sex ist schon ein Thema für mich. Na ja. War. Damals, als Karsten und ich uns kennenlernten, brannte die Hütte. Wir waren so wild aufeinander, dass wir keine Gelegenheit ausließen, übereinander herzufallen, sogar auf Parkbänken und Autorücksitzen. Als die Kinder kamen, war’s erst mal vorbei mit spontanen Einlagen. Auch danach kam die Sache nie wieder richtig in Schwung. Nach dem Motto »Weihnachten ist öfter« passierte nur noch alle Jubeljahre mal was im Bett, mittlerweile befinden wir uns im Brüderchen-und-Schwesterchen-Modus. Und mein Körper ist seither zur enterotisierten Zone geworden. Allein die Idee, einen anderen Mann zu küssen, liegt außerhalb meiner Vorstellungskraft. Ich meine – hä? Wer sollte sich denn für mich als Frau oder, noch krasser, für meinen achtundvierzigjährigen Körper interessieren? Ich nehme ihn ja selber kaum noch wahr, es sei denn, es zwickt im Rücken, oder die Hose spannt am Bund.
»Ashton Kutcher ist sechzehn Jahre jünger als Demi Moore, trotzdem waren sie einige Jahre verheiratet«, sagt Ella flüsternd, aber gut hörbar für Menschen, die über einen funktionierenden Satz Ohren verfügen.
»So wie die beiden aussehen, ging’s bestimmt ab«, flüstert Noah zurück.
»Junge Männer wissen nicht, was sie tun, aber sie tun es die ganze Nacht. Sagt zumindest Madonna. Und die muss es echt wissen.«
»Jetzt haltet endlich die Klappe!«, explodiert Karsten. »Habt ihr denn nur Blödsinn im Kopf?«
Im Rückspiegel sehe ich, wie sich die beiden abklatschen. Offensichtlich bereitet es ihnen ein diebisches Vergnügen, ihren notorisch geistesabwesenden Vater aus der Reserve zu locken.
»Was machen wir denn nun Schönes mit dem angebrochenen Abend?«, wechsle ich das Thema, um die gereizte Atmosphäre aufzulockern. »Bei dem schönen Wetter könnten wir uns doch noch alle ein bisschen draußen auf die Terrasse setzen.«
»Nee, bin mit Marco verabredet, Pub Ji spielen«, winkt Noah ab.
»Ich kann auch nicht, muss für meinen Mathetest lernen«, schließt sich Ella an.
»Und ich muss noch ein paar Unterlagen aus der Kanzlei holen«, brummt Karsten.
Unwillkürlich ziehe ich den Bauch ein. Hallo Zweifel, da seid ihr wieder.
»Dein Ernst? Am Samstagabend?«
»Dafür kann ich dann morgen zu Hause arbeiten, Schatz.« Er macht sein Wichtig-wichtig-Gesicht. »Es geht um einen neuen Mandanten. Rupert Sanders ist ein Top-Klient, da muss ich gut vorbereitet sein.«
Womit sich ganz nebenbei die Aussicht auf einen gemeinsam verbrachten Sonntag erledigt hätte. Wäre es ein normaler Wochentag, könnte ich mich wenigstens mit meinen Freundinnen Carina und Beatrice verabreden. Doch die haben selbst Familien, für die der Sonntag reserviert ist. Wie so oft, werde ich morgen allein auf der Terrasse sitzen und auf den Sonnenuntergang warten, um mir ein Glas Rotwein zu genehmigen. Vielleicht auch zwei. Oder drei.
Mir graut vor diesen einsamen Sonntagen. Leider kann man eben auch in einer Familie sehr einsam sein. Zwar bin ich rund um die Uhr von meinen Liebsten umgeben, werde aber eher als Servicekraft betrachtet. Wie es mir geht, was mich bewegt, was ich mir wünsche, darüber reden wir nie. Allenfalls Ella fragt manchmal, ob alles okay ist. Womit sie wohl meint, dass ich nicht so aussehe, als ob alles okay für mich ist.
Unser Haus kommt in Sicht, ein zweistöckiger Walmdachbungalow, die Architektur gewordene Gemütlichkeit plus Garten und Doppelgarage. Genau das, was man in dieser Gegend mit all den Wir-sind-wahnsinnig-glücklich-Familien erwartet. Von so einem Haus habe ich früher ebenfalls geträumt. Nur dass man darin vielleicht gar kein so traumhaftes Leben führt, dieser Gedanke ist mir früher nie gekommen.
Kaum habe ich vor dem Garagentor angehalten, als es alle sehr eilig haben auszusteigen. Seit dem Milf-Disput ist die Stimmung ja auch ziemlich im Eimer.
Während ich die Fernbedienung für das Garagentor aus dem Handschuhfach fische, gondelt mir alles Mögliche durch den Kopf. Die verpatzte Feier. Die furchterregende Fünfzig. Die Luft nach oben. Was könnte da oben auf mich warten? Ich habe keine Ahnung. Ich habe einfach viel zu lange nicht mehr darüber nachgedacht. Warum auch? Irgendwie ist mein Leben doch gelaufen. Die guten Jahre sind vorbei, meine Jugend sowieso, inzwischen bin ich eine berufstätige Ehefrau und Mutter, die halt funktionieren muss, damit der Laden läuft. Das war’s. Mehr ist nicht drin. Ob ich glücklich bin, interessiert ja keinen. Ob ich noch Träume habe, ob ich eventuell mehr will, auch nicht. So was gesteht man mir einfach nicht zu – und ich mir selbst am allerwenigsten. Eine Nummer, wie sie meine Mutter heute abgezogen hat, ist unvorstellbar für mich.
Fünf Minuten später stehe ich im Badezimmer und begutachte mich so unbarmherzig im Spiegel, wie es nur Frauen tun. Irgendwas ist doch immer. Eine neue Falte hier, eine etwas schwammige Stelle dort, ein rotes Pünktchen, wo vorher keins war. Früher, also ganz viel früher, war ich richtig stolz auf meinen Körper. Ich mochte meinen straffen Busen, und mein Bauch war immer flach wie ein Bügelbrett. Auch meine Beine konnten sich sehen lassen. Dann kamen die Schwangerschaften. Es war schön, das werdende Leben in meinem Bauch zu spüren, weniger schön waren die Dellen, die sich danach nicht mehr wegtrainieren ließen. Auch die Besenreiser an den Oberschenkeln waren alles andere als willkommen. Müsste mich ja nicht weiter stören, weil ich mich Karsten schon lange nicht mehr nackt zeige, aber fürs Ego ist das alles nicht gerade der Burner.
Wir Frauen sind halt Weltmeisterinnen in Sachen Selbstkritik. Ganz anders Männer. Karsten zum Beispiel betrachtet sich allenfalls flüchtig im Spiegel, dann zwinkert er seinem Spiegelbild zu und findet sich toll.
Also los, Anne. Wie findest du dich? Du lebst noch. Aber bist du auch noch lebendig?
Meine erste Bilanz fällt weniger niederschmetternd aus als gedacht. Gut, meine Prime Time ist vorbei. Fältchen gehören in meinem Alter halt dazu, und seit Neuestem brauche ich eine Lesebrille fürs Kleingedruckte. Aber meine Augen haben noch einen gewissen Glanz, und meine Lippen, na ja, sind immer noch sinnlich und voll.
Wenn nur nicht dieser resignative Ausdruck um den Mund wäre. Etwas Verzagtes, Hoffnungsloses, als hätte ich nichts Schönes mehr zu erwarten. Nur die üblichen Meilensteine: Noahs Abiball, meine Silberne Hochzeit, mein fünfzigster Geburtstag, Ellas Abiball, so was in der Art. Aber nichts, was mir ein erregendes Gefühl der Vorfreude beschert, dieses Kribbeln, mit dem man sich in jungen Jahren die Zukunft ausmalt: als große verlockende Wundertüte.
Wie lange erträgt man es zu wissen, dass nichts mehr kommt?
Manchmal wünschte ich, jemand würde mir auf die Schulter klopfen und sagen: April, April, das ist gar nicht dein Leben. Und auf einmal kommt mir ein seltsamer Gedanke: Ich will meine Zukunft zurück.
»So aufgebrezelt? Bist du nicht zu alt für solche Glitzerfummel?«
Missgelaunt sitzt Karsten am gedeckten Frühstückstisch und schaut zu, wie ich die obligatorischen Spiegeleier in die Pfanne haue. Es ist halb neun. Wir sind nur zu zweit in der Küche, unsere Kinder stehen sonntags selten vor Mittag auf.
»Mir war halt nach einem anderen Look«, erwidere ich etwas lahm.
»Anders ist nicht automatisch besser.«
Aha. Wieder was gelernt. Auch wenn mich diese Lektion etwas stutzig macht. Sollte sich ein Mann nicht freuen, wenn seine Frau hübsch angezogen ist? Normalerweise bevorzuge ich an Wochenenden den bequemen Schlabberlook: ausgeleierte Jogginghose, XXL