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Elli glaubt, Gewissheit über ihr Leben zu haben. Zu wissen, was wahr und was Lüge ist. Doch dies ist die wohl größte Lüge, die die Junior-Agentin je glaubte. Ein für tot gehaltener Mensch und die Macht über Erinnerungen bringen sie in eine Lage, der sie nicht zu entkommen glaubt.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
junior agents
SELINA BRIX
JUNIOR AGENTS
© 2021 Selina Brix
Herausgeber: Selina Brix
Autor: Selina Brix
Umschlaggestaltung: Ai Diem Ngoc Nguyen
ISBN Softcover: 978-3-347-46074-4
ISBN Hardcover: 978-3-347-46075-1
ISBN E-Book: 978-3-347-46076-8
Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
PROLOG
Jonas
Ich schlage die Augen auf. Erst ist meine Sicht verschwommen, doch nach und nach wird sie schärfer. Ich schaue an die Decke, welche genau wie die Wände und der Boden gepolstert ist. Ich will mich aufsetzen, doch bei jeder noch so kleinen Bewegung schmerzt mein Körper.
Es fühlt sich wie jeden Morgen an, denn seit dem Tod meines Vaters habe ich nicht mehr richtig geschlafen. Nachts bin ich durch die Straßen gezogen und wenn ich dann morgens wieder ins Heim kam, wurde ich angeschrien und zu Hausarrest verdonnert, was mich aber nie davon abgehalten hat, in der nächsten Nacht wieder loszuziehen.
Doch heute ist nicht jeder Morgen. Ich liege weder in meinem Bett im Heim, noch höre ich die anderen Jungs schnarchen oder schon flüstern. Ich bin alleine, niemand anderes ist in diesem Raum, und ich habe es schon gestern Abend aufgegeben, zu schreien und gegen die Tür zu rennen.
Ich bin mir nicht sicher, wie lange ich schon hier festsitze, doch wenn ich schätzen müsste, würde ich knapp 48 Stunden sagen. Ich weiß nicht genau, wie ich hierher gekommen bin, ich weiß nur noch, dass ich im Heim eingeschlafen und hier dann wieder aufgewacht bin. Ich habe um Hilfe geschrien, doch niemand ist gekommen, um mich hier rauszuholen.
Trotz der fast unerträglichen Schmerzen zwinge ich mich, aufzustehen. Ich lehne mich an die Wand, welche hinter meinem Bett ist. Dann reibe ich mir über die Augen, um den Schlaf loszuwerden. Mein Blick schweift durch den kleinen Raum. Alles ist noch genau so, wie ich es von gestern in Erinnerung habe.
Doch nicht. Mein Blick bleibt an einem Tablett vor dem Bett hängen. Auf dem Tablett befindet sich ein Frühstück. Brötchen mit Marmelade, ein Glas Wasser und sogar eine kleine Saftflasche. Ich mustere das Tablett und bin mir nicht sicher, ob ich lachen oder weinen soll. Sie halten mich hier gefangen und geben sich doch so Mühe bei meinem Frühstück. Das letzte halbe Jahr bestand mein Frühstück hauptsächlich aus Haferflockenmatsche mit einem Löffel Marmelade und es gab auch immer nur Wasser. Ich schlucke hart und muss die Tränen unterdrücken, denn das letzte Mal, als mein Frühstück so aussah, war, als mein Vater noch lebte.
Langsam gleitet meine Hand zum Brötchen, doch als ich es berühre, bekomme ich einen Stromschlag. Vor Schreck zucke ich zurück und muss tief durchatmen, um nicht vor Frust aufzuschreien. Ich hatte mich auf das Essen gefreut, vor allem, weil es meine erste Mahlzeit seit einer gefühlten Ewigkeit ist. Mein Blick wandert zum Brötchen und auch, wenn ich nicht weiß, was ich erwartet habe, war es das auf jeden Fall nicht. Die Stelle, an der ich das Brötchen berührt habe, ist verbrannt. Mein Blick zuckt zurück zu meiner Hand. War ich das? Nein, das ist bestimmt irgendein Trick, damit ich mich für gefährlich oder so halte. Auch wenn mein Magen rebelliert, fasse ich die Sachen auf dem Tablett nicht mehr an. Die leckeren Sachen. Sachen, die ich liebend gerne essen würde. Ich schüttele den Kopf. Wer weiß, was passiert, wenn ich das Wasser oder den Saft anfasse. Vielleicht fliegt hier dann alles in die Luft oder ich falle tot um.
Gerade als ich mich in diesem Gedanken verlieren will, öffnet sich die Tür. Ich springe auf und augenblicklich verspannt sich mein Körper. Es ist ein Mann um die sechzig, der jetzt das Zimmer betritt. Bei seinem Anblick wollen sich die Muskeln in meinem Körper entspannen, doch ich kämpfe krampfhaft gegen dieses Verlangen an. Der Mann ist in etwa 1,80 Meter groß, hat einen trainierten Körper und leicht angegrautes, schwarzes Haar und er lächelt mich mit einem so ehrlichen und aufmunterndem Lächeln an, dass ich mich gleich zuhause fühle. Doch es sind die Muskeln, die den Mann einhüllen, wegen derer ich mich nicht entspanne. Trotz seiner Jeans und einem Kapuzen-Pulli sind sie gut zu erkennen. Früher habe ich auch mal auf solche Muskeln hingearbeitet, doch irgendwann habe ich mich dann doch mit meiner schmalen, schlaksigen Statur abgefunden. Der Mann streckt mir seine Hand hin und sagt mit einer tiefen, beruhigenden und trotzdem respekteinflößenden Stimme:
„Du bist Jonas!“
Es ist weniger eine Frage als eine Bemerkung und trotzdem finde ich, es wäre richtig, etwas darauf zu erwidern. Also nicke ich zaghaft und gebe ihm meine Hand.
„Freut mich, Jonas. Ich bin Direktor Schultz.“
Ich hätte nicht gedacht, dass das Lächeln von diesem Mann, welcher sich als Direktor Schultz vorstellte, noch einladender werden könnte, und doch werde ich nun eines Besseren belehrt.
Mit einem irritierten Blick begutachte ich diesen Mann. Dieser Blick entgeht Direktor Schultz nicht.
„Richtig, du weißt ja noch gar nichts über unsere Organisation und unsere Basis hier.“ Er deutet auf das Bett:
„Wir sollten uns setzen, das könnte ein wenig länger dauern.“
Langsam setze ich mich zurück aufs Bett und dieser Direktor setzt sich in den Sessel, das einzige andere Möbelstück im Raum.
„Also, als Erstes sollte ich dir vielleicht mal erzählen, wo wir hier sind. Wir sind in einer unserer Basen. Wir haben überall auf der Welt welche. Meistens sogar pro Land mehrere, aber immer nur eine, in der wir unsere Junior-Agenten ausbilden. Und in einer solchen Basis befinden wir uns momentan. Wir sind eine Organisation, die Agenten ausbildet und einsetzt. Doch wir sind nicht irgendwelche Agenten, nein, unsere Agenten sind besonders. Sie haben Begabungen.“ Ich schaue ihn skeptisch an:
„Stopp, Stopp, Stopp! Sie wollen mir erzählen, ich werde von einer Organisation festgehalten, welche Agenten ausbildet? Und ich bin dann der Verbrecher oder wie?“
Direktor Schultz lacht auf, als wäre das ein Witz gewesen.
„Nein, natürlich nicht. Du wirst Agent!“
Ich schaue verständnislos, und mein Blick scheint all meine Gedanken zu spiegeln, denn Direktor Schultz redet schon weiter:
„Ich glaube, du hast den Teil mit den Begabungen nicht verstanden. Unsere Agenten sind besonders und damit meine ich nicht besonders im Sinne, dass jeder Mensch besonders ist. Unsere Agenten haben Begabungen - einmalige Fähigkeiten, die sonst niemand beherrscht. Ich glaube, ich muss es dir zeigen.“
Er lächelt immer noch, doch diesmal eher bemitleidend. Sein Blick schweift zum Wasserglas, welches ich nicht angerührt habe. Ich folge dem Blick des Direktors und erschrecke. Der Direktor hat die Hand aufs Wasserglas gerichtet und auf einmal wird das Wasser zu Eis. Ich zucke auf meiner Matratze zurück und schaue mit weit aufgerissenen Augen auf das Wasserglas, welches nun mit Eisblumen überzogen ist. Verängstigt zuckt mein Blick zwischen dem Glas und diesem Mann hin und her.
„Das sind unsere Begabungen. Wir können Dinge, die sonst niemand kann. Bei den anderen sind es andere Sachen und ich kann dir auch noch nicht sagen, welche Begabung es bei dir ist, außer wenn dir vielleicht irgendetwas Ungewöhnliches passiert ist, seitdem du hier bist.“
Ein verunsicherter Blick schleicht sich auf das Gesicht von Direktor Schultz. Mein Finger zittert, als ich auf das angebrannte Brötchen vor mir zeige.
Unvermittelt kehrt das Lächeln auf das Gesicht von Direktor Schultz zurück: „Das ist toll. Hast du dabei irgendetwas gespürt?“
Ich nicke und sage dann: „Ich hab einen Stromschlag bekommen.“
Das Lächeln verzieht sich und ein nachdenklicher Blick erscheint unter den schwarzgrauen Haaren.
„Interessant, vielleicht was mit Energie“, sagt er eher zu sich selbst als zu mir.
„Darf ich wieder nach Hause?“, oder zumindest ins Heim, füge ich in Gedanken hinzu.
Meine Worte reißen Direktor Schultz aus seinen Gedanken.
„Nach Hause?“
Ich nicke und Herr Schultz fängt an, sich die Schläfen zu massieren.
„Wir sind Geheimagenten. Und damit du auch einer wirst, bedarf es viel Training. Dein Heim ist rund 200 Kilometer entfernt. Es würde nicht gehen, wenn du da wohnst und gleichzeitig hier ausgebildet wirst. So leid es mir tut, dich vor diese Entscheidung zu stellen. Du musst dich zwischen dem Heimleben und dem Geheimagentenleben entscheiden. Wenn du dich für dein altes Leben entscheidest, werden wir deine Erinnerungen an das hier löschen und deine Begabung vernichten.“
Ich schlucke. Auch wenn ich das Leben im Heim nie mochte, will ich es auch nicht aufgeben. Ich denke an meine Freunde und dann denke ich an das Leben, das ich haben könnte, wenn ich mich hierauf einlassen würde. Vielleicht würde ich hier neue Freunde finden, ganz neu anfangen können. Nicht mehr ständig meinen Vater vermissen. Ich hätte mir für später schon einen Job gesichert. Und vielleicht würde ich auch so coole Muskeln bekommen. Zugegeben, das Letzte ist kein Argument, aber ein netter Zusatzbonus. Ich schaue wieder zu dem Mann, der mein ganzes Leben ändern könnte, wenn ich jetzt zustimme.
„Ich mach’s. Ich werde Geheimagent.“
Erst als diese Worte meinen Mund verlassen, wird mir klar, welcher Sache ich da eben zugestimmt habe.
Das Lächeln auf Direktor Schultz Gesicht ist zurück.
„Toll. Ich lasse anordnen, dass deine Sachen hierher gebracht werden, und schicke gleich jemanden, der dir dein Zimmer und die Basis zeigt. Ich würde das ja auch gerne selber machen, aber ich muss zu einem Termin.“
Ich muss lächeln, da mir seit Monaten nicht mehr so viel Herzlichkeit entgegengebracht wurde.
„Danke“, dieses Wort verlasst meinen Mund, bevor ich darüber nachdenke. Und doch ist mir auf einmal klar, wie wahr es ist. Gerade als der Direktor den Raum verlassen will, bleibt er stehen und zieht etwas aus seiner Hosentasche.
„Das hätte ich fast vergessen.“
Er reicht mir seinen Tascheninhalt.
Es sind schwarze fingerlose Lederhandschuhe. Ich schaue ihn irritiert an, doch der Direktor erklärt sich.
„Solange wir nicht wissen, um was es sich bei deiner Begabung handelt und du sie noch nicht unter Kontrolle hast, blockieren diese Handschuhe deine Begabung, damit du dir und anderen nicht wehtun kannst!“
Ich lächele und frage: „Kann ich damit auch essen?“
Der Direktor nickt und verlässt dann den Raum. Ich streiche mit meinen Fingern über das kalte Leder und schlüpfe dann in die Handschuhe. Es fühlt sich gut an und ich lasse mich wieder aufs Bett sinken. Ich starre an die Decke und jetzt kommt die Bedeutung dieser Minuten, wie eine Lawine, auf mich nieder. Ich habe einem neuen Leben zugestimmt, was dem alten wahrscheinlich in nichts ähneln wird. Und auch, wenn ich jetzt schon weiß, dass ich einiges vermissen werde, stiehlt sich ein Lächeln auf mein Gesicht.
KAPITEL 1
Jonas
Ich höre ein Räuspern und schrecke auf. Ich musste eingeschlafen sein, denn jetzt sehe ich ein Mädchen in ungefähr meinem Alter vor mir stehen.
„Schön das du auch endlich wach bist. Direktor Schultz schickt mich, ich soll dich ein wenig rumführen und dir dein Zimmer zeigen.“
Irritiert schaue ich das Mädchen an, da es ein paar Sekunden dauert, bevor ich mich an die Geschehnisse erinnere. Wieder schaut sie mich erwartungsvoll an.
Ich mustere sie: Sie ist ungefähr 1,70 Meter groß, trägt ihre braunen Haare in einem Pferdeschwanz und hat, ebenfalls wie Direktor Schultz, einen trainierten Körper, nur dass ihrer nicht ganz so viele Muskeln aufweist. Ihre Klamotten schreien förmlich ‚weinrot‘ und sind Sportklamotten. Ich lasse meinen Blick an ihr hoch wandern, bis ich ihr in die Augen sehe. Ich muss schlucken. In ihren Augen ist irgendetwas Verborgenes, Geheimnisvolles und Gefährliches.
„Kommst du endlich?“, ihre genervte Stimme reißt mich aus meinen Gedanken.
Ich stehe auf und grinse sie an: „Wenn du mir deinen Namen sagst.“
Sie verdreht nur die Augen und mein Grinsen wird noch breiter.
„Den hätte ich dir auch so gesagt. Ich bin Elli. Eigentlich Eleanor, aber das bin ich nun mal nicht.“
Ein prüfender Blick schleicht sich auf ihr Gesicht, bis sie sagt:
„Und wenn ich Direktor Schulz richtig verstanden hab’, bist du Jonas?“
Ich verziehe das Gesicht, denn scheinbar wissen hier alle über mich Bescheid und ich weiß absolut nichts über sie.
„Du hast ihn richtig verstanden.“
„Gut“, sie zieht die Tür auf: „nach dir.“
Als ich aus dem Zimmer trete, komme ich in einen Flur. Links und rechts gehen weitere Türen vom Flur ab und ich vermute, dass sie auch in solche Zimmern führen, wie in welchem ich die letzten Stunden, vielleicht sogar Tage verbracht habe.
„Also das ist ein Teil unseres Kellers. Hier können sich Leute, deren Begabungen außer Kontrolle geraten sind, wieder beruhigen und ihre Begabungen wieder in den Griff bekommen.“
Ich muss schlucken, denn irgendwie hört es sich so ähnlich an wie: ‚Hier werden Verrückte eingesperrt, die total gefährlich sind.‘
„Verlieren oft Leute die Kontrolle über ihre Begabung?“
„Eher selten, aber leider trotzdem zu oft.“
„Und wie passiert das?“
„Unsere Begabungen werden von unseren Gefühlen geleitet und wenn wir unsere Gefühle nicht mehr im Griff haben, dann haben wir auch unsere Begabungen nicht mehr im Griff. Wir können dann Dinge tun, die wir unter normalen Umständen nie tun würden. Und bevor du fragst, man erkennt das daran, dass sich die Augen verändern. Sie nehmen eine andere Farbe an, je nach Begabung.“
Auch, wenn ich das nicht fragen wollte, ist es interessant zu wissen.
Erst als ich das Piepsen eines Fahrstuhles höre, bemerke ich, dass wir den Flur entlang gegangen sind und nun vor dem Fahrstuhl und am Ende des Ganges stehen. Langsam öffnet sich die Tür des Fahrstuhles und wir stellen uns hinein. Elli drückt die Taste, die uns zur vierten Etage bringt, und die Türen des Fahrstuhles schließen sich wieder.
Elli zeigt mir fast die ganze Basis. Als Erstes sehe ich die megaimposante Eingangshalle, welche durch die zwei großen Eingangstüren betreten werden kann. Im Zentrum steht ein großer runder Empfangstisch, in dessen Mitte eine Frau mittlerem Alters und ein Mann, knapp über zwanzig, sitzen und sich lachend unterhalten.
Die Fitnessräume sind allererste Sahne und sie lösen das Rätsel, um die trainierten Körper, den alle hier zu haben scheinen. Das Schwimmbad ist etwa zwanzig Meter lang und acht Meter breit.
Der Speisesaal besteht aus vier langen, nebeneinander stehenden Tischen. Über einer am Ende des Raumes stehenden, glänzenden Essensausgabe ist noch ein großer Bildschirm angebracht, der das heutige Mittagessen verkündet.
Aber mit Abstand das Coolste ist der Ausrüstungstrakt, wo es in mehreren Räumen ein riesiges Sortiment an Verkleidungen, getarnten Waffen und anderen Agentensachen gibt. Alles in einem ist das große Herrenhaus, in dem die Basis untergebracht ist, elegant, altmodisch und gleichzeitig schlicht eingerichtet. Das alte Holz, aus welchem ein Teil der Einrichtung besteht, passt perfekt zu dem modernen Rest.
Jetzt stehen wir in einem großen Zimmer, das durch ein Fenster mit Sonnenlicht geflutet wird. In der Mitte des Raumes steht ein großes Bett und unter dem Fenster hat ein überdimensionaler Schreibtisch Platz gefunden. Auf der anderen Seite ist eine komplette Wand mit Schränken und Regalen zugepflastert. Alles ist in einem sauberen und strahlenden Weiß gestrichen. Elli geht zu der Wand mit den Regalen und Schränken und öffnet eine Tür, die mir noch nicht aufgefallen war.
Mit einem kurzen Blick in den Raum fragt sie: „Und?“
Ich kann über diese Frage nur schmunzeln, denn sie sagt es, als wäre das hier das normalste der Welt.
„Das ist mega!“
Sie grinst.
„Wenn du das hier schon mega findest, musst du dir mal dein Bad anschauen.“
Ich ziehe die Augenbrauen hoch, doch ich komme dann trotzdem zu ihr und werfe ein Blick in das Bad. Alles, bis auf die dunkelblau geflieste Dusche, ist weiß. Es gibt ein breites Waschbecken und daneben Handtuchhalterungen. Außerdem befindet sich im hinteren Teil noch eine Toilette. Es ist nicht der Palast vom Kaiser von China, aber auch nicht so wie im Waisenhaus.
Langsam drehe ich mich zu Elli um.
„Und hier wohne ich jetzt?“
Sie grinst.
„Wenn’s dir nicht gefällt, gibt es auch noch die Besenkammer am Ende des Flures.“
Sie sagt es so ehrlich, dass ich sie einen Moment entsetzt anstarre, bevor sie lacht und mir auf die Schulter klopft: „Sorry.“
Gerade als ich antworten will, klopft es an die Tür.
„Herein!“, höre ich mich sagen und ein Mann in mittlerem Alter tritt ein und stellt zwei Koffer in den Raum, bevor er sagt: „Ihre Sachen, Jonas. Der Rest kommt gleich.“
Bevor ich mich bedanken kann, ist der Mann schon wieder verschwunden und lässt uns zurück.
„Ich lass dich dann mal in Ruhe. Wenn du fertig bist, findest du mich und wahrscheinlich auch die anderen aus unserem Jahrgang im Gemeinschaftsraum.“
Ein letztes Lächeln und verschwunden ist sie.
Nun bin ich mit all meinen Sachen allein und vorsichtig öffne ich die erste Kiste und fange an, auszuräumen.
Als ich fertig bin, betrachte ich mein Werk stolz. Meine Bücher sind in den Regalen eingeräumt, meine Klamotten sind in den Schränken und meine Duschsachen, Zahnbürste, Zahnpasta und Haarpflege-Produkte sind sicher im Badezimmer verstaut. Auf meinem Schreibtisch steht mein Laptop und einige Fotos von mir mit Freunden, meinem Vater und sogar eins mit meiner Mutter sind auf der Fensterbank und den Regalen verteilt. Mein Handy liegt am Ladekabel auf meinem Nachttisch. Zufrieden lächele ich, denn auch wenn ich nicht mehr allzu viele Sachen besitze, fühle ich mich wohl. Aus meinem Fenster hat man eine mega Aussicht auf den Wald, welcher das große Herrenhaus umgibt. Auch wenn ich noch nicht weiß, wie es weiter gehen wird, weiß ich eins sicher: Ich werde diese Entscheidung nicht bereuen, denn das hier ist alle mal besser als das Heim.
Und die Hoffnung auf eine Adoption hat man mir schon in den ersten Tagen im Heim ausgeredet. ‚Die Leute wollen kleine, süße Kinder und keine pubertierenden 16-Jährigen‘, die Worte meiner ersten Pflegemutter klingen in meinem Kopf nach. Ich grinse, denn sie hat sich getäuscht. Ich wurde adoptiert, wenn auch aus einem anderen Grund.
Als ich kurz darauf den Gemeinschaftsraum betrete, schlägt mir eine Welle aus Lachen und guter Laune entgegen. Ich lasse meinen Blick schweifen. Ich wurde noch nicht bemerkt. Auf einem der Sofas in der Mitte des Raumes sitzen Elli und ein anderes Mädchen nebeneinander und schauen zusammen, auf einem Tablet, einen Film oder eine Serie. Beide haben jeweils einen Kopfhörer im Ohr und lachen immer wieder. Das Mädchen neben Elli hat feuerrotes, mittellanges und leicht gewelltes Haar, das sie, ebenso wie Elli, in einem Pferdeschwanz trägt. Sie sieht sehr trainiert aus und ihr Hoody, der rot ist, scheint perfekt zu ihr zu passen.
An einem Kicker, im hinteren Teil des Raumes, spielen zwei Jungs gegen zwei Mädchen. Es sieht eher so aus, als würden die Mädchen gewinnen, denn die Jungs fluchen immer wieder, während sich die Mädchen abklatschen. Der eine Junge hat kurze braune Haare, die er sich immer wieder aus dem Gesicht streicht. Er ist etwa 1,80 Meter groß und hat wie jeder hier einen muskulösen Körperbau. Der zweite Typ ist ungefähr so groß wie der andere, doch seine Haare sind etwas länger und nicht so gelockt wie die des Ersten und blond. Seine Haut ist gut gebräunt und seine Schultern sind undefinierbar breit. Mein Blick wandert zu den beiden Mädchen.
Die eine hat schulterlanges, schwarzes Haar, eine elegante Brille und trotz einer eher zierlichen Statur würde ich mich um nichts in der Welt mit ihr anlegen, denn ihr Blick verrät, was für Power in ihr steckten muss. Das andere Mädchen ist schwer zu beschreiben. Sie ist in etwa so groß wie Elli und hat langes, glattes, blondes Haar und ihre Augen sind so blau wie… mir fällt nichts ein, was so blau ist, wie diese Augen. Es ist so tiefgründig wie das Meer. Unvermittelt muss ich überlegen, was ihre Begabung sein könnte, bestimmt etwas mit Wasser. Nur widerwillig löse ich die Augen von ihr und lasse meinen Blick weiter schweifen.
In den drei Sesseln sitzen drei Jungs. Einer spielt auf seinem Handy ein Spiel, bei welchem er immer wieder flucht und die beiden anderen spielen Karten. Der Typ am Handy sieht etwas kleiner, aber nicht weniger kräftig aus. Er hat schwarzes, kurzes Haar und besitzt leicht asiatische Züge. Der eine der beiden Kartenspieler ist bestimmt 1,90 Meter groß, hat längeres, braunes Haar, das er im Nacken zusammen gebunden trägt. Der andere hat sympathische Züge, schwarzes Haar und eine ähnliche Statur und Körpergröße wie Direktor Schultz. Wenn ich so darüber nachdenke, sieht er Direktor Schultz insgesamt sehr ähnlich. Ich überlege, ob sie vielleicht verwandt sind. Vater und Sohn oder Onkel und Neffe? Ich lasse den Blick weiter schweifen. Außer den neun Kids und mir ist niemand da. Kurz bin ich irritiert, bevor mir wieder einfällt, was Elli mir erzählt hat, nämlich, dass jeder Jahrgang seinen eigenen Gemeinschaftsraum hat.
Auf einmal starren mich durch und durch blaue Augen an. Ich zucke zusammen und bemerke erst jetzt, dass das Mädchen vom Kicker vor mir steht und mich mustert. Sie starrt mich an und ihre Blicke durchbohren mich.
„Du musst der Neue sein.“
Ich weiß nicht, ob sie dies absichtlich macht, aber diese Aussage scheint mir nicht ganz so höflich. Es ist ja nicht so, als wäre es schön ‚der Neue‘ zu sein und dann auch noch so angesprochen zu werden.
„Wie war noch gleich dein Name?“, fragt sie und legt den Kopf leicht schief.
Ich will zur Antwort ansetzen, doch gerade, als ich Luft hole, hebt sie die Hand.
„Nicht sagen. Du musst wissen, mein Namengedächtnis ist grauenhaft.“
Ein entschuldigender Blick an mich und ich kann gar nicht anders, als zu lächeln.
„Jonas.“
Meinen Namen zu hören, überrascht mich. Ich schaue mich um, von wem die Stimme kam. Sie kam von dem großen Typ mit Zopf. Inzwischen haben sich alle zu mir umgedreht. Alle, außer der Junge mit dem Handy, der immer noch auf den kleinen Bildschirm starrt.
„Kalle!“
Die verärgerte Stimme von dem Mädchen vor mir, von dem ich leider immer noch nicht den Namen kenne, lässt mich erneut zusammenzucken.
Kalle erhebt sich schwungvoll und kommt zu mir. Obwohl ich nie sonderlich klein war, komme ich mir neben Kalle wie ein Zwerg vor. Als er vor mir und neben diesem Mädchen zu stehen kommt, schlägt sie ihn gegen den Arm. Die beiden sehen irgendwie witzig aus, so wie sie jetzt nebeneinander stehen. Kalle ist gut einen Kopf größer als sie und, dass sie nun auf seinen Arm einschlägt, scheint er nicht mal zu bemerken.
Er streckt mir die Hand entgegen und stellt sich vor.
„Kalle.“ Ich schlage ein und sage:
„Jonas, aber das scheint ihr ja schon zu wissen.“
Er grinst.
„Direktor Schultz hat uns gesagt, dass wir einen Neuen kriegen.“
Er schaut genervt auf das immer noch auf ihn einschlagende Mädchen und zeigt dann auf sie.
„Dieses kleine Nervenbündel ist Wendy.“
Bei ihrem Namen hört Wendy auf, auf Kalle einzuschlagen, und grinst mich an. Doch zwei Sekunden später verdunkelt sich ihre Miene und ihr Blick wandert zu Kalle, wobei sie ihren Kopf in den Nacken legen muss.
„Kleines Nervenbündel?“
Er grinst sie provozierend an: „Wie würdest du dich beschreiben?“
Sie überlegt, wobei sie sich auf die Unterlippe beißt: „Gutaussehend und sympathisch.“
Das wird von Kalle mit einem Schnauben quittiert, bevor er sich wieder mir zuwendet.
„Das da am Kicker ist Mina“, er zeigt auf das Mädchen mit den schulterlangen, braunen Haaren und der Brille. Mina hebt die Hand und lächelt, wobei ihre Brille ihr ein wenig die Nase runterrutscht.
Kalle deutet auf die beiden Jungs am Kicker: „Das sind Milo und David.“
Wenn ich das jetzt richtig verstanden habe, ist der mit den braunen, gelockten Haaren Milo und der blonde ist David. Die beiden heben ebenfalls die Hand, wobei David schon weiterredet.
„Du hast Glück, du bist im Jahrgang der coolsten gelandet.“
Für den Spruch fängt er sich von Wendy einen bösen Blick ein und Mina wirft ihn mit dem Kicker-Ball ab, doch er grinst.
„Merkt man!“, die Worte verlassen meinen Mund, bevor ich sie stoppen kann. Und doch bin ich insgeheim stolz drauf.
Wendy boxt mir gegen die Schulter: „Gut so, denen muss man zeigen, wo es langgeht.“
Mit dem Kopf deutet sie zum Kicker. Bevor sie weitersprechen kann, schlingt Kalle einen Arm um ihren Kopf und hält ihr den Mund zu.
Sie wehrt sich, doch Kalle fährt unbeirrt fort.
„Der Typ mit den Karten ist Ben, der coole Sohn unseres Direx.“
Wusste ich es doch, Vater und Sohn. Ben nickt mir lächelnd zu und wendet sich mit einem genervten Tonfall an Kalle.
„Wieso reibst du das jedem unter die Nase?“
Kalle zuckt nur mit den Schultern, was angesichts der Tatsache, dass er Wendy immer noch den Mund zuhält, ein wenig unbeholfen aussieht.
Kalle wendet sich wieder mir zu.
„Und der da ist Riku.“
Er deutet mit dem Kopf auf den Jungen mit dem Handy in der Hand. Bei seinem Namen guckt Riku auf und schaut irritiert in die Runde. Es dauert einige Sekunden, bis sein Blick auf mir landet und er mich anlächelt.
„Macht ihr schon eine Vorstellungsrunde oder was habe ich verpasst?“
Elli schaut ihn vorwurfsvoll an, doch ich finde nicht, dass es dafür einen Grund gibt. Ich habe mich auch schon oft in Handy-Spielen verloren und die Welt um mich herum komplett vergessen. Entschuldigend hebt Riku die Hände und schaut mich musternd an.
Ein Räuspern, das von dem Mädchen neben Elli kommt, befreit mich aus diesem Blick. Sie lächelt in die Runde und schaut dann mich an.
„Ich bin Anni. Eigentlich Anastasia, aber das bin ich nicht.“
Ich muss grinsen, denn Elli hat sich mir genauso vorgestellt. Meine Gedanken schweifen zu dieser ersten Begegnung mit Elli zurück und mir fällt auf, dass sich Elli und Anni ziemlich ähnlich sind. Und auch ihre Klamotten sind sich ähnlich, nur dass Elli eher in Schwarz und Weinrot und Anni in Feuerrot und Braun gekleidet ist. Ich überlege, ob die beiden Schwestern sind, doch dafür sehen sie zu unterschiedlich aus. Vielleicht beste Freundinnen? Dazu würde auch passen, wie sie so nebeneinander sitzen, jede einen Kopfhörer im Ohr und das Tablet auf dem Schoß. Es sieht so aus, als wäre das hier nicht ihr erster, gemeinsamer Fernsehabend.
„Freut mich.“, gebe ich zurück.
Diese Bemerkung scheint mich aus dem Mittelpunkt zu ziehen.
Ben erhebt die Stimme: „Ich habe heute Abend vier Runden gegen Kalle gewonnen und ich brauche mal neue Herausforderungen!“
Mina geht zu ihm und lässt sich neben ihn auf die Armlehne des Sessels fallen: „Ich nehm’ die Herausforderung an.“
Sie wendet sich an die Übrigen: „Sonst noch wer?“
David setzt sich in Bewegung und lässt sich in den letzten, noch freien Sessel fallen, woraufhin Kalle zu ihm geht und sich vor ihm aufbaut:
„Da saß ich!“
David grinst Kalle nur provozierend an und macht es sich demonstrativ bequem.
„Ich weiß!“
Kalle verzieht das Gesicht und lässt sich dann auf den Boden fallen. Milo, der inzwischen zu den anderen gekommen ist, lässt sich neben Kalle nieder und lehnt sich zwischen Annis Beinen an das Sofa. Wendy hat es sich bereits neben Elli auf dem Sofa bequem gemacht.
Jetzt schauen alle erwartungsvoll zu mir, denn ich stehe immer noch da, wo mich Kalle zurückgelassen hat. Wendy klopft vor sich auf den Boden und ich setze mich zögernd in Bewegung. Ich setze mich hin und lehne mich, genau wie Milo an das Sofa. Ben fängt an, die Karten auszuteilen, und wir spielen eine Runde nach der andern.
Im Laufe des Abends komme ich immer mehr an und, nach und nach, fühle ich mich, als würde ich dazugehören. Ich lache mit den andern über Witze und über Kalle, wenn er wieder eine Runde verliert und sich aufregt, als würde die Welt untergehen. Die anderen reden mit mir, als wäre ich schon immer da, und ich habe das erste Mal seit dem Tod meines Vaters das Gefühl, wo gewollt und respektiert zu werden.
Und auch, wenn ich noch nicht so dazugehöre, wie all die andern, lässt mich das niemand spüren. Niemand behandelt mich, wie ‚der Neue‘, so wie es im Heim der Fall war. Und scheinbar interessiert es auch niemanden, dass sie einen Waisen da haben. Ich werde wegen nichts verurteilt, was ich tue oder sage. Nein, es scheint sogar so, als würden sie mich mögen und aufnehmen, ganz so, wie ich bin.
Im Heim wurde ich nicht so genommen, wie ich bin. Die anderen Jungen hatten keinen Respekt vor den Gefühlen anderer und meine Heimmutter hat sich auch nicht darum gekümmert, dass sich alle bei ihr wohlfühlen. Und jetzt sitze ich hier und habe das erste Mal nach dem Tod von meinem Vater das Gefühl ‚zuhause‘ zu sein, wirklich zuhause und gewollt.
KAPITEL 2
Elli
Ich reibe mir den Schlaf aus den Augen. Ich liege in meinem Bett, in meinem Zimmer in der Basis. Mein Zimmer ist schlicht gehalten: Die Wand aus Schränken und Regalen ist weiß, genau wie der Rest der Wände. Meine Vorhänge sind weinrot und mein Schreibtisch ist schwarz, mit einem weinroten Gymnastikball als Schreibtisch-Stuhl. An den Wänden hängen Fotos in schwarzen, weinroten und grauen Bilderrahmen.
Einige der Bilder zeigen mich mit Wendy, Mina, Kalle, Milo, David, Riku, Ben und natürlich Anni. Sie zeigen uns in der Basis, im umliegenden Wald, auf unseren freien Wochenenden und eines zeigt uns nach unserer allerersten Mission. Andere Fotos zeigen mich, Ben, Direktor Schultz und seine Frau Clarissa.
Ich bin, seit ich vier Jahre alt bin, bei ihnen. Meine Eltern kamen bei einem Autounfall ums Leben und Clarissa ist seitdem mein Vormund, denn sie und meine Mutter waren befreundet. Sie brachte es nicht über sich, mich ins Heim zu geben und deswegen haben sie mich bei sich aufgenommen. Dass ich eine Begabung habe, ist reiner Zufall.
Obwohl wir nicht blutsverwandt sind, sind sie meine Familie. Clarissa ist wie eine Mutter, Direktor Schultz wie ein Vater und Ben wie ein Bruder.
Wir sind zusammen groß geworden. Wir haben zusammen gelacht, zusammen geweint und wenn wir uns gestritten haben, haben sich Direktor Schultz und Clarissa nie auf Bens Seite geschlagen, sondern uns immer gleichbehandelt. Meiner Meinung nach hat Familie nichts mit Blut zu tun, sondern damit, wo man sich zuhause fühlt.
Und seit ich trainiert werde, ist meine Familie immer größer geworden, denn die andern Junior-Agenten aus meinem Jahrgang gehören mittlerweile genauso dazu.
Wir sind alle in etwa gleich alt. Ich bin mit meinen 15 Jahren die Jüngste. Anni, Milo, Wendy, Mina und Ben sind 16 und Riku, David und Kalle sind mit ihren 17 Jahren die ältesten unseres Jahrganges. Jonas Alter hab ich mir in der kurzen Zeit noch nicht gemerkt, aber ich würde ihn auch um die 16 schätzen.
Unsere Jahrgänge werden nicht nach Alter, sondern nach dem ersten Auftritt der Begabungen sortiert. Eigentlich hätte Jonas in den jetzt neuen Jahrgang kommen müssen, doch Direktor Schultz meinte, er müsse nur die grundlegenden Kurse des ersten Jahrganges besuchen. Erklärt hat er es nicht, aber er brabbelte was von wegen: Er hätte seine Begabungen schon länger und es würde ihn in seiner gesamten Entwicklung zurückwerfen.
Ich setze mich auf und strecke mich. Die Uhr auf meinem Nachtisch sagt mir, dass wir sechs Uhr haben, was bedeutet, dass Ben und ich uns in einer halben Stunde zum Morgenlauf treffen. Allerdings müssen wir heute noch Jonas mitnehmen, denn Direktor Schultz hat uns beide mit der Aufgabe beauftragt, ihn hier an das Leben zu gewöhnen.
Meine Füße bewegen sich wie von selbst über den Boden in Richtung Badezimmer. Dort angekommen, putze ich mir die Zähne und binde meine, vom Schlaf zerzausten Haare zu einem Pferdeschwanz hoch.
Obwohl mein Kleiderschrank aus allen Nähten platzt, dauert es fast zehn Minuten, bis ich mich für eine schwarze Jogginghose, einen weinroten Kapuzenpulli und meine schwarzen Laufschuhe entschieden habe.
Pünktlich um halb sieben komme ich aus meinem Zimmer. Ben lehnt bereits im Flur und grinst mich an.
„Morgen.“
Seine Worte breiten eine wohltuende Wärme in mir aus, denn seine Stimme ist genau wie die seines Vaters: beruhigend. Und sie löst in mir ein Gefühl von zuhause aus. Doch ich werde einen Teufel tun und ihm das sagen, stattdessen grinse ich zurück und sage:
„Morgen, Frühaufsteher!“ Er stößt sich von der Wand ab und kommt auf mich zu.
„Wenigstens hast du deine Bruderherz-Phase hinter dir.“
Unvermittelt muss ich lachen. Als wir um die 13 Jahre alt waren, hab ich ihn immer Bruderherz genant. Und das nicht, weil ich es nett meinte, sondern weil ich genau wusste, wie sehr es ihn aufregte.
„Wer weiß“, diese Antwort konnte ich mir beim besten Willen nicht verkneifen.
Warnend hebt er den Finger. Doch gerade als er den Mund aufmachen will, klopfe ich an die Tür von Jonas Zimmer und Ben verstummt.
Ich klopfe einmal, dann zweimal. Und als beim dritten Mal immer noch nichts passiert, öffne ich die Tür und trete ein.
Die Vorhänge sind zugezogen und es ist dunkel. Ich drücke auf den Lichtschalter neben der Tür und sofort wird der Raum erhellt. Jonas liegt in seinem Bett und schläft noch. Ein Blick zu Ben und mir ist klar, dass wir dasselbe denken. Er geht zum Bett und zieht Jonas die Decke weg. Dieser blinzelt und schreckt hoch, als er uns sieht.
„Morgen, Schlafmütze!“
Es ist Bens Stimme, die diese Worte sagt, und es liegt überraschend viel Mitgefühl darin. Ich sehe, wie Jonas Blick zu seinem Wecker zuckt.
„Was zum Teufel macht ihr hier?“
„Dich zum Morgenlauf abholen!“
Die Worte klingen so selbstverständlich, dass ich grinsen muss.
„Die anderen sind schon los.“, sage ich.
Jonas reißt die Augen auf und ich sehe das Entsetzen in seinen Augen und mein Grinsen wird noch breiter. Ben und ich sind mit dem Morgenlauf aufgewachsen, doch ich kann mir vorstellen, wie es für ihn klingen muss.
Trotzdem sage ich: „Du hast zehn Minuten, wir warten vor der Tür. Ach, und duschen solltest du lieber erst nachher, denn das wird kein Sonntags-Spaziergang.“
Er schluckt merklich, steht dann aber doch auf. Ich drehe mich um und verlasse das Zimmer, dicht gefolgt von Ben.
Vor der Tür lassen wir uns Seite an Seite auf den Boden sinken und lehnen uns an die Wand. Sein Blick wandert über mein Gesicht und sein Gesichtsausdruck nimmt besorgte Züge an.
„Alles gut?“
Erst stutze ich, bevor mir wieder einfällt, dass ich ungeschminkt bin und meine Augenringe wahrscheinlich mein halbes Gesicht einnehmen.
Ich zucke mit den Schultern und sage dann: „Ich habe einfach nur schlecht geschlafen.“
Prüfend schaut er mich an. Ich weiß, dass ich ihm nichts vormachen kann, denn dafür kennt er mich schon zu lange und zu gut.
„Wills du mit mir darüber reden?“
Seine Worte treffen mich, obwohl ich wusste, dass er mich durchschauen würde. Ich schüttle den Kopf und lehne mich dann an seine Schulter.
Ich merke, wie sein besorgter Blick mich durchbohrt, doch dann legt er mir seinen Arm um die Schulter und lehnt seinen Kopf an meinen. Genau so hat er es auch schon früher immer gemacht, wenn es mir nicht gut ging.
Ich lasse mich in diese Umarmung fallen und schließe die Augen. In diesem Moment bin ich ihm einfach nur dankbar, dass er für mich da ist, und mir nicht, wie es viele andere tun würden, erzählt, dass es besser werden wird und ich mich da nicht reinsteigern soll, denn das tue ich nicht.
Keine zehn Minuten später wird die Tür neben mir aufgestoßen. Ich zucke zusammen und setze mich gerade auf. Jonas Blick fällt auf uns, wie wir da am Boden sitzen. Ich in Bens Arm und den Kopf an seiner Schulter.
Bei Jonas Blick wird mir klar, wie es für ihn aussehen muss, denn er weiß zwar, dass Ben Direktor Schultz' Sohn ist, aber er weiß nicht, dass ich ebenfalls in dieser Familie aufgewachsen bin.
„Störe ich?“, fragt er und diese Frage bestätigt meine Vermutung.
Doch mir ist es egal und ich mache mir auch nicht die Mühe, dieses Missverständnis aufzuklären.
Ben steht schwungvoll auf und wendet sich an Jonas: „Wobei solltest du? Immerhin warten wir auf dich.“
Scheinbar hat Ben nicht die Zweideutigkeit dieser Situation erkannt. Ich muss grinsen, denn es passt zu Ben. Nun streckt Ben mir die Hand hin und ich greife nach ihr. Schwungvoll zieht er mich auf die Beine und fragt dann:
„Können wir?“.
Ich weiß genau, dass er auf diese Frage keine Antwort braucht, geschweige denn will. Also mache ich mir gar nicht erst die Mühe, ihm zu antworten.
Doch Jonas antwortet in einem unmotivierten Tonfall: „Meinetwegen!“.
Einige Minuten später joggen wir in einem angenehmen Tempo durch den Wald, der das Herrenhaus, in dem die Basis untergebracht ist, umringt. Trotz der kühlen Morgentemperatur sammelt sich Schweiß auf meiner Stirn.
Hinter mir höre ich das Keuchen von Jonas, der mit diesem Lauf scheinbar an sein Limit kommt. Ich muss grinsen und sofort haue ich mir selbst, in Gedanken, eine rein. Es ist ungerecht, denn das ist scheinbar Jonas erster Morgenlauf.
Doch wenn er das ab jetzt jeden Morgen macht, wird er in ein paar Wochen schon viel mehr Kondition haben. Ben joggt neben mir und ich sehe ihm die Langeweile an, denn wenn ich dieses Tempo langsam finde, muss es für ihn nervtötend sein, da er zu den Schnellsten der Junior-Agenten gehört. Er bemerkt meinen Blick und wendet sich mir zu. Er verdreht seine Augen und macht dann den Mund auf:
„Ich jogge vor und warte beim Frühstück auf euch.“
Ich will etwas erwidern, doch er ist weg, bevor ich ihn dafür anschnauzen kann. Ich schaue auf meine Uhr und wende mich dann an Jonas.
„Wir haben zehn vor halb acht. Wenn wir noch was zu essen haben wollen und uns vor dem Unterricht duschen möchten, müssen wir uns beeilen. Ich schlage eine Abkürzung vor.“
Ich hör’ von Jonas nur ein Schnauben, das sich verdächtig nach einem ‚Ja‘ anhört. Ich schlage einen Trampelpfad ein und 15 Minuten später sitzen wir geduscht im Speisesaal.
Ich bin nun geschminkt und meine Augenringe sind erfolgreich mit Make-up verdeckt. Ich esse mein Porridge und meine Bewegungen müssen in etwa, wie die eines Roboters aussehen.
Im Speisesaal gibt es zwei Tische für uns Junior-Agenten. Die anderen zwei Tische werden von Agenten und Angestellten besetzt.
Die meisten Agenten leben mit ihren Familien irgendwo auf der Welt und führen ein normales Leben oder halt ein so normales Leben, wie das Leben eines Geheimagenten nun mal sein kann.
Doch Agenten, die von anderen Basen zu Besuch sind, oder die, die frisch ausgebildet wurden und die noch keine eigene Wohnung haben, leben hier. Wir sitzen am äußeren Tisch und in meinem Rücken ist die Wand.
Neben mir sitzt meine beste Freundin Anni. Wir kennen uns, seit wir elf sind, damals hat sich ihre Begabung entwickelt und Direktor Schultz hat sie auf die Basis geholt. Inzwischen ist sie wie eine Schwester für mich. Es ist anders als mit Ben, immerhin bin ich mit ihm aufgewachsen. Auf jeden Fall könnte ich mir kein Leben ohne sie vorstellen. Auf meiner anderen Seite sitzt Ben und neben ihm Milo. Gegenüber von mir sitzen die Restlichen meines Jahrganges und lachen über irgendeinen Witz, den ich nicht verstanden habe.
Meine Gedanken driften schon wieder ab und ich bemerke nicht mal, dass ich mich auch in Bewegung setze, als sich alle anderen auf den Weg zum Unterricht machen.
Gerade als ich den Raum, in dem wir gleich Berichtsverfassung haben, betreten will, hält mich eine starke Hand am Handgelenk fest.
Ich zucke zusammen und drehe mich zu der Person, die mich festhält. Ich starre in das Gesicht von Ben, der an der Wand lehnt und mich vorwurfsvoll und bemitleidend anschaut. Ich entreiße ihm meinen Arm und schnauze ihn an:
„Was?“.Er schaut sich um, ob niemand in der Nähe ist, der uns hören kann, und sagt dann:
„Ich weiß, dass Du nicht darüber reden willst, und das finde ich okay, aber so geht das nicht.“ Ich bemühe mich um einen fragenden Blick und frage dann:
„Was meinst du?“. Ich weiß, dass ich ihm nichts vormachen kann. Er schaut mich durchdringend an.
„Du weißt, was ich meine.“ Ich schlucke, denn er hat recht. Ich weiß, was er meint und dass er sich nur Sorgen um mich macht.
„Es ist enorm auffällig, dass es dir nicht gut geht, und du weißt, was passiert, wenn das rauskommt.“
Ich nicke, denn er hat schon wieder recht. Er ist der Einzige, der davon weiß, und das muss auch so bleiben, denn wenn es rauskommt, ist meine Ausbildung und auch meine ganze Karriere als Agentin dahin. Ich schaue überall hin, nur nicht in seine Augen, denn ich weiß nicht, ob ich dann nicht zusammenbreche.
„Hast du das verstanden? Denn ich möchte nicht ohne dich weitermachen, klar?“
Ich antworte nicht und meide immer noch seinen Blick. Er hebt mein Kinn an und zwingt mich somit, ihm in die Augen zu schauen. Ich muss erneut schlucken, denn sein Blick ist so verzweifelt, dass ich sofort Schuldgefühle bekomme.
„Hast du das verstanden?“
Seine Stimme ist ebenfalls verzweifelt und meine Schuldgefühle werden noch größer.
Ich bringe nur ein: „Ja“, heraus und es benötigt all meine Selbstbeherrschung, nicht in Tränen auszubrechen. Er zieht mich in eine Umarmung und flüstert.
„Ich wüsste nicht, wie ich das hier ohne meine Schwester schaffen sollte.“
Unter meine Schuldgefühle mischt sich jetzt auch ein Hauch von Glück, denn auch wenn wir nicht blutsverwandt sind, zeigen mir diese Worte, dass ich ihm genauso wichtig bin, wie er mir. Einige Sekunden hält er mich fest, doch dann schiebt er mich von sich weg, um mir wieder in die Augen zu schauen.
„Du weißt, dass du das Richtige gemacht hast?“
Diese Frage hat er mir in letzter Zeit fast täglich gestellt und wie immer nicke ich.
Ich höre ein Räuspern hinter mir und drehe mich ruckartig um. Vor mir steht Herr Klein. Herr Klein ist unser Lehrer in Berichtsverfassung und seinem Namen entsprechend wirklich klein, aber dafür breit gebaut.
„Könntet ihr eure Gespräche nach dem Unterricht fortführen?“ Ich schlucke, doch nicke dann.
Herr Klein folgt mir und Ben, als wir den Unterrichtsraum betreten. Ich lasse mich neben Anni auf meinen Platz gleiten und werfe Ben noch einen letzten Blick zu, bevor ich mich zwinge, die Gedanken an unser Gespräch und den Grund dafür beiseite zuschieben und mich stattdessen auf Berichtverfassung zu konzentrieren.
Eigentlich sind mir praktische Fächer lieber, doch dieses gehört leider auch dazu, denn nach jedem Auftrag, ob erfolgreich oder misslungen, muss man einen genauen Bericht verfassen, in dem jedes noch so kleine Detail genannt wird.
„Alles in Ordnung?“
Annis Stimme reißt mich aus meinen Gedanken und ich drehe mich zu ihr. Herr Klein erklärt gerade irgendetwas und ich antworte Anni.
„Was soll los sein?“
Ich hab den Mund nicht einmal geschlossen und schon verfluche ich mich für diese Antwort, denn ich weiß, was jetzt kommt.
„Das frage ich dich.“
Obwohl ich weiß, dass ich ohne eine Lüge hier nicht rauskomme, wollte ich es herauszögern, denn ich hasse es, sie anzulügen. Vor allem weil ich weiß, dass sie mir alles erzählen würde. Ich schlucke, setze ein Lächeln.
„Alles in Ordnung.“
Die Worte kommen mir schon viel zu leichter über die Lippen und insgeheim hasse ich mich dafür, denn bei dieser Frage lüge ich nicht zum ersten Mal. Skeptisch betrachtet Anni mich und ich lehne mich zu ihr, in der Hoffnung, mein nächstes Wort könnte ihr Skepsis verjagen.
„Wirklich!“
Sie lächelt und gerade, als sie den Mund aufmacht, um etwas zu erwidern, hören wir Herrn Klein unsere Namen sagen.
„Elli, Anni, wärt ihr so gut und würdet zuhören?“
Ich schaue ihn entschuldigend an und versuche meine Aufmerksamkeit, auf den Unterricht zu lenken, doch es will mir einfach nicht gelingen. Mein Blick fällt immer wieder auf Anni und ich bin auf einmal froh, dass wir ermahnt wurden, denn ich weiß nicht, ob ich es bei ihren nächsten Worten hätte für mich behalten können.
Der Tag dauert viel zu lange und abends liege ich auf meinem Bett und reibe mir die Schläfen. Ich habe Kopfschmerzen und obwohl der Vorfall schon einige Wochen her ist, war heute einer der schlimmsten Tage.
Die Kopfschmerzen sind unerträglich und ich musste sogar unsere Köche bitten, mir unerlaubter weise nach fünf Uhr noch einen Kaffee zu kochen, damit ich nicht vor den Augen aller einschlafe.
Jetzt liege ich einfach nur so da und bei den Gedanken an die Geschehnisse steigen mir Tränen in die Augen. Ich belüge meine beste Freundin, ich belüge meine Familie und ich habe einen der wichtigsten Menschen verloren. Eine Träne rollt mir aus dem Augenwinkel aufs Kissen und ich schniefe. Es ist so verdammt unfair, dass ich das durchmachen muss und ihm jegliche Erinnerung genommen wurde. Eine weitere Träne löst sich aus meinen Augen und ich setze mich auf. Wie ferngesteuert greife ich nach einem Taschentuch aus der Taschentuchpackung auf meinem Nachtisch. Es bleibt nicht bei einem und leider auch nicht bei einer Träne. Inzwischen weine ich so oft, dass ich bestimmt die tausende Mal getoppt habe. Am Anfang wollte Ben, dass ich ihm Bescheid gebe, wenn ich wieder einen Gefühlsausbruch habe, doch schließlich hat er bemerkt, dass ich besser allein sein sollte, wenn ich weine. Ich habe ganze Nächte durch geweint und mit jeder schlaflosen Nacht werden sowohl meine Augenringe als auch meine Herzschmerzen größer.
Es dauert eine gute Stunde, bis ich mich gefangen habe, und die Taschentuchpackung wieder beiseitelegen kann. Ich habe den andern gesagt, dass ich Kopfschmerzen habe und ein wenig Ruhe haben möchte. Erst hat Anni mir angeboten, mitzukommen, doch ich habe das Angebot abgelehnt. Ben hat mir einen mitfühlenden Blick zugeworfen und ich bin mir sicher, dass er weiß, was mit mir los ist. Ich glaube, die anderen aus meinem Jahrgang wollten irgendeinen Krimi gucken und wahrscheinlich haben sie sich für einen dieser ewig langen entschieden, denn sonst wäre auf jeden Fall schon einer von ihnen hier aufgekreuzt und hätte gefragt, ob meine Kopfschmerzen nun besser sind.
Eigentlich sollte ich froh sein, dass keiner von ihnen hier ist und mich fragt, warum ich so verheult aussehe. Doch, um ehrlich zu sein, wünsche ich mir gerade nichts lieber als das. Ich möchte meinen Freunden und meiner Familie alles gestehen, denn sie alle sind so gut zu mir und vertrauen mir blind. Keiner von ihnen würde mir jemals unterstellen, dass ich sie anlügen oder etwas verheimlichen.
Bei diesem Gedanken wachsen meine Schuldgefühle wieder, nicht nur gegenüber ihnen, sondern auch gegenüber Ben, der das Gleiche durchmacht. Okay, eigentlich nur einen Teil meines Schmerzes, aber die gleichen Schuldgefühle. Auch er belügt seine Freunde und Familie, aber ihm kann man keinen Vorwurf machen, denn es ist nicht sein Geheimnis, welches er hütet. Ich schlucke wieder, doch der Klos in meinem Hals möchte nicht verschwinden.
Langsam setze ich mich auf die Bettkante und gehe dann zum Schreibtisch. Ich klappe meinen Laptop auf. Es kostet mich all meine Überwindung, mich einzuloggen und auf einen Ordner zu klicken, welchem ich seit Wochen keine Aufmerksamkeit mehr geschenkt habe. Ein Doppelklick und er öffnet sich. Ich schaue mir den Inhalt nicht mal richtig an, denn ich weiß, dass ich sonst wieder in Tränen ausbreche und ich habe es satt, ständig zu heulen. Mein Blick findet das Foto, welches ich gesucht habe, und ich öffne es. Ich drücke auf das Druck-Symbol und schalte meinen Drucker an. Nach ein paar ächzenden Geräuschen spuckt der Drucker das Foto aus und mir lachen zwei, viel zu glückliche und gleichzeitig viel zu vertraute Gesichter entgegen. Wieder rollt mir eine Träne die Wange runter, doch das Schluchzen und Schniefen bleibt aus. Langsam nehme ich das Bild in die Hand und setze mich wieder aufs Bett.
Ich weiß nicht, wie lange ich einfach da saß und das Foto anstarrte, doch plötzlich klopft es an die Tür. Schnell schiebe ich das Foto unter mein Kopfkissen.
„Herein!“
Langsam öffnet sich die Tür und ein Gesicht, umrahmt von roten Haaren, erscheint. Ich lächle gezwungen und warte, bis Anni im Zimmer steht.
„Geht es dir wieder besser?“
Ich unterdrücke den Impuls, ihr die Wahrheit zu sagen, und presse dafür heraus: „Ein wenig, aber ich glaube, ich sollte schlafen.“
Es ist nicht gelogen, denn es geht mir ein wenig besser und schlafen sollte ich wohl auch.
Mitfühlend sagt sie: „Tu das!“
Jetzt hasse ich mich noch mehr. Sie dreht sich zum Gehen, doch bleibt dann kurz vor der Tür stehen.