K.I. – Freundschaft vorprogrammiert - Monica M. Vaughan - E-Book

K.I. – Freundschaft vorprogrammiert E-Book

Monica M. Vaughan

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Beschreibung

Wer oder was ist Eric? Eric ist 12 und hat ein Geheimnis, das nicht einmal er selbst kennt: Er ist kein Mensch, sondern ein programmiertes künstliches Wesen. Sein Leben erscheint perfekt. Er hat sowohl online als auch offline viele Freunde und immer die angesagten Markenprodukte. Danny ist auch 12, aber ganz anders: Er hat keine Freunde, noch nicht mal ein Social-Media-Profil und keine teure Kleidung – ein uncooler Nerd. Trotzdem freunden die beiden sich an. Bald kommt Danny hinter Erics Geheimnis. Sie fangen an nachzuforschen, doch je näher die beiden Erics Schöpfern kommen, desto gefährlicher wird es für sie …

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Seitenzahl: 351

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Über das Buch

Mein Freund, der Android

 

Eric ist 12 und hat ein Geheimnis, das nicht einmal er selbst kennt: Er ist kein Mensch, sondern ein programmiertes künstliches Wesen. Sein Leben erscheint perfekt. Er hat sowohl online als auch offline viele Freunde und immer die angesagten Markenprodukte. Danny ist auch 12, aber ganz anders: Er hat keine Freunde, noch nicht mal ein Social-Media-Profil und keine teure Kleidung – ein uncooler Nerd. Trotzdem freunden die beiden sich an. Bald häufen sich die merkwürdigen Ereignisse rund um Eric. Die Freunde fangen an, gemeinsam nachzuforschen. Doch je näher sie Erics Geheimnis kommen, desto gefährlicher wird es für sie …

 

Die Geschichte eines Jungen, der eigentlich gar keiner ist und doch mehr Herz zeigt als mancher Mensch.

 

 

 

 

Tigervater zeugt Tigersohn

(chinesisches Sprichwort)

 

 

 

Für Eli Maverick, zum Andenken

an seinen Tigervater Eric Seagraves

 

 

Und für Emilia. Auf ewig.

 

 

 

 

An alle, die das lesen:

 

Ich heiße Danny und brauche eure Hilfe. Ich muss gleich dazusagen, dass das hier nicht meine Geschichte ist, sondern die von Eric. Also, Eric war der Name, den sie ihm gegeben haben, aber für mich war er Slick und er war mein bester Freund. Ich sage »war«, weil er vor sechs Monaten gestorben ist.

Bevor ihr anfangt, Slicks Geschichte zu lesen, möchte ich euch noch ein bisschen was über ihn erzählen. Mir ist wichtig, dass ihr ihn mögt, und das könnte euch vielleicht schwerfallen, wenn ihr die ersten paar Seiten lest, es sei denn, ihr interessiert euch nur dafür, was für Sneaker jemand trägt und wie viele Freunde er auf Kudos hat. Ich fand ihn jedenfalls nicht besonders sympathisch, als ich ihm das erste Mal begegnet bin. Ihr müsst wissen, als wir uns kennenlernten, war er richtig besessen von Marken und davon, beliebt zu sein. Mir war es dagegen schon immer ziemlich schnuppe, von welcher Marke meine Kleider oder mein anderes Zeug sind; außerdem hätte ich mir das sowieso nicht wirklich aussuchen können.

Aber solche Sachen sind unter Freunden eben nicht wichtig. Denn das wurden wir dann: Freunde. Beste Freunde.

Und auf einmal war er verschwunden. Und damit meine ich, er wurde getötet. Und am nächsten Tag taten alle so, als wäre nichts passiert.

Aber es ist passiert, und ich werde auf keinen Fall zulassen, dass sie damit durchkommen. Sie denken, ich kann nichts tun, weil ich nur ein dummer, zwölfjähriger Junge bin. Offenbar haben sie vergessen, dass auch ein dummer, zwölfjähriger Junge einen Computer benutzen kann.

Und das hier ist mein Plan:

•Slicks Tagebuch veröffentlichen.

•Die ganze Welt liest es.

•Die Leute, die ihn getötet haben, werden den Rest ihres armseligen Lebens in einer Gefängniszelle verrotten.

Das war’s. Kaum zu glauben, dass ich vier Monate gebraucht habe, um mir das auszudenken, was?

Jedenfalls, bevor ihr anfangt, Slicks Tagebuch zu lesen, muss ich noch ein paar Dinge erklären:

Erstens: Ich habe ein bisschen was weggelassen. Das werdet ihr aber nicht merken. Der erste Monat von Slicks Tagebuch klingt eher wie ein Wörterbuch: Ein Ententeich ist ein Teich mit Enten darin. So was eben. Außerdem habe ich ab und zu was hinzugefügt – an Stellen, die man besser versteht, wenn ich erkläre, was passiert ist. Ich glaube, es ist leicht zu erkennen, was von mir stammt und was von Slick – ich bin derjenige, der nicht jedes einzelne Kleidungsstück von einer Person aufzählt. Und ich kann lustiger erzählen. Das klingt jetzt vielleicht angeberisch, ist es aber nicht. Meine Mutter kann bessere Witze erzählen als Slick, und das will echt was heißen.

Zweitens – und das ist schon irgendwie wichtig, finde ich: Slick war ein Roboter.

Genau genommen war er ein Android – also ein Roboter, der aussieht und klingt wie ein Mensch. Von denen hast du bestimmt schon gehört, aber bevor die Canny-Valley-Androiden gebaut wurden, gab es Roboter, die wie Menschen aussahen oder klangen, nur im Film. Mittlerweile gibt es schon sechzigtausend Canny-Valleys auf der Welt, darunter auch Slicks Eltern. Sie sind überall. Sie wohnen mitten unter uns, tun so, als wären sie normale Menschen mit einem normalen Leben, haben normale Jobs und suchen sich normale – menschliche – Freunde. Aber Slick war etwas Besonderes. Slick war der erste Kinderandroid. Aber das wusste er nicht. Er dachte, er wäre ein normaler Junge, der in eine neue Stadt gezogen ist, weil sie ihn so programmiert hatten, das zu denken. Und wir dachten das erst auch, bis eine Kissenschlacht alles verändert hat. Aber dazu komme ich später.

Hier ist es also: Slicks Tagebuch. Und wenn ihr es gelesen habt, erzählt bitte allen, die ihr kennt, davon. Wenn genügend Leute von der Sache erfahren, werden sie irgendwann für das, was sie getan haben, bezahlen müssen. Ich weiß, dass mich das in Schwierigkeiten bringen kann, aber ich muss etwas unternehmen. Ihr würdet doch das Gleiche tun, wenn es um euren besten Freund ginge, oder?

Okay, das war eigentlich alles. Jetzt will ich euch meinen besten Freund Slick vorstellen. Er war echt cool; schade, dass ihr ihn nicht gekannt habt.

 

Danny

 

 

 

 

SLICK:MONTAG,8. OKTOBER

Seit heute weiß ich, dass ich einen ersten richtigen Freund habe. Vor heute Morgen war ich mir schon zu 75 Prozent sicher, dass Harry mein Freund ist, aber erst, als ich eine Einladung zu seiner Geburtstagsparty bekam, war ich mir zu 100 Prozent sicher. Als er mir die Einladung gegeben hat, sah er genervt aus. Zuerst dachte ich, er würde vielleicht nicht wollen, dass ich komme, und seine Mutter hätte ihn gezwungen, mich zu fragen, weil ich neu bin, aber dann entschuldigte er sich für die lahme Einladung. Er sagte, seine Mutter hätte ihm befohlen, die Karten zu verteilen, damit sie weiß, wie viele Gäste kommen. Da habe ich begriffen, dass Ärger fast genauso aussehen kann wie Verlegenheit.

Ich weiß nicht, was ihn daran gestört hat. Mir gefällt die Einladung – überall sind Skateboards draufgedruckt. Ich mag Skateboard fahren. Ganz oben steht: Let’s Sk8 to Celebrate, und dann kommt eine Liste mit allen Informationen: Datum, Uhrzeit und Ort. Alles steht klar und deutlich auf der Karte und ich konnte seine Mutter verstehen: Es muss schwierig sein, eine Party zu organisieren, wenn man nicht weiß, wie viele Leute kommen. Ich begriff nicht, warum Harry ein Problem damit hatte.

Harry ist nur einer meiner Freunde. Ich habe zwanzig.

Einer davon ist zu 100 Prozent bestätigt: Harry. Siehe oben.

Zwei davon sind zu 75 Prozent bestätigte Freunde: Luke und Tyler. Das sind Kinder, die mich einladen, in der Mittagspause bei ihnen am Tisch zu sitzen, und die mich in ihre Teams wählen und mit denen ich mich auch schon nach der Schule getroffen habe.

Drei davon sind zu 65 Prozent bestätigte Freunde: Mateo, Jake und Theo. Das sind Kinder, die mich einladen, in der Mittagspause bei ihnen am Tisch zu sitzen, und die mich in ihre Teams wählen.

Vierzehn sind zu 50 Prozent bestätigte Freunde. Das sind Kinder, mit denen ich mehr als zwei Gespräche geführt habe (nicht über Schulthemen), seit ich hierhergekommen bin.

Ich habe keinen besten Freund. Wenn ich länger hier wohne, werde ich vielleicht mal einen haben, aber ich glaube, ein Monat ist noch nicht lange genug, um schon einen besten Freund zu finden.

Anmerkungen:

•Ich habe jetzt 457 Freunde auf Kudos. Als ich ankam, hatte ich 320, aber ich kann mich an keinen davon erinnern. Komisch, wie schnell man sein altes Leben vergisst, wenn es nicht mehr da ist.

•Von den 137 Freunden, die ich dazubekommen habe, seit wir nach Ashland gezogen sind, zählen nur 18 als Reale Freunde (RFs). Die übrigen sind Virtuelle Freunde (VFs), was das Gleiche ist wie Reale Freunde, nur dass man sie ausschließlich im Internet getroffen hat. Die meisten meiner neuen VFs sind Freunde von Freunden, deshalb werden sie vermutlich irgendwann zu RFs werden.

Luke: 438 118 Kudos-Freunde. Harry: 640 Kudos-Freunde. Mateo: 509 Kudos-Freunde. Tyler: 383 Kudos-Freunde.

•Luke hat die meisten Kudos-Freunde, weil er Sänger ist und einen eigenen Videokanal hat (LuckyLuke7). Der letzte Song, den er hochgeladen hat, bekam 2 004 833 Likes.

•Harry hat gesagt, niemand sagt mehr »krass«. Ich werde aufhören, »krass« zu sagen.

•Zwei Mädchen haben heute mein Profilbild kommentiert. Eine schrieb: »Süß!« Die andere hat drei Herz-Emojis geschickt. Ich habe »Vielen Dank« geantwortet, weil ich keine von beiden kenne und nicht wusste, was ich sonst schreiben soll. Sie gehen nicht auf meine Schule.

•Mein Profilbild ist cool. Das hat Harry gesagt, und die anderen fanden das auch. Es zeigt mich mitten im Sprung auf meinem Baltic-Wave-Skateboard, den Blick auf das Meer gerichtet. Ich habe es hochgeladen, bevor wir nach Ashland gezogen sind. Ich weiß nicht mehr, wer es gemacht hat.

•Mom und Dad sind nicht auf Kudos. Das liegt daran, dass sie Erwachsene sind und nur ihre Realen Freunde zählen. Mom hat neun RFs. Fünf davon sind zu 100 Prozent bestätigt, weil sie schon mehr als einmal was mit ihr unternommen haben. Dad hat zwölf RFs, aber keiner von ihnen ist zu 100 Prozent bestätigt. Dad sagt, das liegt daran, dass Männer auf andere Weise Freundschaften schließen als Frauen und Kinder.

 

 

 

 

SLICK:DIENSTAG,9. OKTOBER

Heute Morgen vor der Schule habe ich meinen Eltern von Harrys Party erzählt. Dad hat gesagt, ich könnte nicht hingehen. Er sagte, ich müsste bei der Benefizveranstaltung dabei sein.

Eine Benefizveranstaltung ist eine Veranstaltung, bei der Geld für einen guten Zweck gesammelt wird.

Ich habe meinen Dad gefragt, für welchen guten Zweck sie denn wäre. »Für deine Schwester«, sagte er, was ich überhaupt nicht kapiert habe, weil meine Schwester tot ist.

Meine Schwester ist gestorben, bevor wir hierhergezogen sind. Ich erinnere mich nicht wirklich an sie, weil sie eigentlich immer nur im Krankenhaus lag, aber ich weiß, wie sie aussah, weil überall im Haus Fotos von ihr hängen. Die Leute sagen, ich sehe aus wie sie, was ich bei einem Mädchen und einem Jungen irgendwie nicht so richtig verstehen kann. Ich denke, sie meinen damit, dass sie blonde Haare und blaue Augen hatte wie ich. Jeder, der ihr Bild sieht, sagt, wie hübsch sie doch war. Sie ist vor einem Jahr gestorben. Es war Moms Idee, eine Benefizveranstaltung für das örtliche Krankenhaus zu organisieren, obwohl meine Schwester nie dort behandelt worden ist. Mom sagte, es sei die perfekte Gelegenheit, unsere neuen Nachbarn richtig kennenzulernen und etwas Gutes für die Gemeinschaft zu tun. Ich finde, es ist wichtiger, dass ich neue Freunde finde, aber ich kann noch nicht fahren, und Kinder müssen tun, was ihre Eltern ihnen sagen, deshalb hatte es keinen Sinn zu widersprechen. Ich weiß nicht, wie sich das auf meine Freundschaft zu Harry auswirken wird, weil mir so was noch nie passiert ist.

 

Ich glaube, Harry ist immer noch mein Freund. Ich habe ihm gesagt, dass ich nicht zu seiner Party kommen kann, weil meine Eltern eine Benefizveranstaltung für meine tote Schwester organisiert haben. Er wurde ganz rot und sagte: »Kein Problem.« Dann haben alle am Tisch eine Weile geschwiegen, und ich dachte, es wäre vielleicht doch ein Problem. Manchmal sagen die Leute nicht, was sie wirklich denken, und das finde ich verwirrend. Aber dann hat Harry mir erzählt, er hätte sich ein Baltic-Skateboard zu seinem Geburtstag gewünscht, und wir haben darüber geredet. Deshalb denke ich, dass wir immer noch Freunde sind, weil es schon komisch wäre, ein Gespräch mit jemandem anzufangen, den man nicht mehr mag.

Harry hat sich von seinen Eltern das Baltic-Flame-Skateboard gewünscht. Ich habe die Wave-Version, das ist das gleiche Modell, nur mit einem anderen Design. Sie sind beide cool. Luke sagte, er würde sich auch eins zum Geburtstag wünschen. Sein Geburtstag ist im Dezember. Ich frage mich, ob ich zu seiner Party eingeladen sein werde.

Anmerkungen:

•Ich habe mein Profilbild gewechselt und eines genommen, das ich heute gemacht habe. Darauf bin ich mit Tyler, Harry, Luke und Mateo zu sehen und wir haben die Arme umeinandergelegt und lachen. Das war nach dem Fußballtraining. Ich habe Theo gebeten, das Foto mit meinem Hexam R3 zu machen, weil die Bildqualität der Kamera besser ist als bei Theos Handy. Außerdem hat das R3 120 Filter, unter denen man auswählen kann. Ich habe den Woodstock-Filter genommen. Luke und Theo haben auch Hexams, aber das R2, nicht das R3.

 

 

 

 

SLICK:SAMSTAG,13. OKTOBER

Heute bin ich den ganzen Tag mit Mom und Dad durch unser Viertel gelaufen, um Flyer für die Benefizveranstaltung zu verteilen. Dad und Mom kennen schon einige unserer Nachbarn, weil Mom Mitglied im Gartenklub, im Buchklub und im Bridgeklub ist, und Dad ist Mitglied im Golfklub und auch im Bridgeklub.

Sie mögen Klubs.

Wir haben sechs Stunden gebraucht, um 85 Flyer zu verteilen, weil wir ständig von den Leuten in ihre Häuser gebeten wurden.

Nach dem fünften Glas Limonade habe ich gesagt, es würde doch viel schneller gehen, wenn wir die Zettel mit der Post schicken, aber Dad sagte, wenn man mit den Leuten redet, wäre die Wahrscheinlichkeit höher, dass sie auch kommen.

Anmerkungen:

•Die Leute sagen ständig: »Bitte entschuldigen Sie die Unordnung«, auch wenn ihr Haus ganz aufgeräumt ist.

•Viele Leute wirkten nicht sehr froh, uns zu sehen, als sie die Tür aufmachten, obwohl sie uns gar nicht kennen.

•Nachdem wir ihnen gesagt haben, dass wir Geld sammeln zum Andenken an meine tote Schwester, waren alle sehr nett.

•Zwei Leute haben geweint.

•Die Dame in der Holland Road 24 hatte nur ein Handtuch umgewickelt, als sie uns aufgemacht hat. Ihr Gesicht ist knallrot geworden, und sie hat die Tür zugeschlagen, ohne was zu sagen. Wir haben gewartet, aber sie ist nicht zurückgekommen, deswegen haben wir den Flyer unter der Tür durchgeschoben.

•Als Harry bei sich zu Hause die Tür aufmachte, hat er ein neues Paar Slick-Sneaker getragen. Letzte Woche hat er mich mal nach der Schule zu sich nach Hause eingeladen und da hatte er noch keine Slicks. Das weiß ich, weil alle seine Schuhe in einem Regal in seinem Zimmer stehen. Ich habe ihm gesagt, er soll sich ein Paar Slicks holen, weil die total bequem sind und man mit ihnen viel höher springen kann (Harry spielt Basketball). Ich habe ihm auch gesagt, dass Brad »Slipstream« Brooks sie in der neuen Slick-Werbung trägt. Und jetzt hat Harry ein Paar. Ich habe ihm gesagt, sie würden super aussehen, und ich sagte, es wäre cool, wenn unsere ganze Gruppe Slicks tragen würde. Er findet das auch.

Ich mag Harry.

 

 

 

 

SLICK:DIENSTAG,16. OKTOBER

Heute kam ein Paketzusteller mit drei Paketen zu uns – eins für Mom, eins für Dad und eins für mich. Das von Dad war am größten. Dad sagte, die Pakete wären von Onkel Martin. Onkel Martin arbeitet für eine Zeitschrift in New York. Er bekommt immer wieder Zeug, um Rezensionen darüber zu schreiben, und hinterher schickt er die Sachen dann zu uns. Ich habe Onkel Martin noch nie getroffen, obwohl wir vor unserem Umzug auch in New York gewohnt haben. Vermutlich war er zu beschäftigt mit der Arbeit für die Zeitschrift.

Mein Paket enthielt:

•Ein Poster von Justin Peterson. Er ist der neue Linebacker der Ashland Arrows. Die Arrows sind meine Lieblingsmannschaft, deshalb ist es gut, dass wir hierhergezogen sind. Mein Großvater war schon Arrows-Fan und hat das an meinen Vater und mich weitergegeben. Mein Großvater ist gestorben, als ich noch klein war, aber ich habe eine schöne Erinnerung an ihn, wie er mir zeigt, wie man einen Ball wirft. Das ist auch meine einzige Erinnerung an ihn.

•Zwei Paar Slick-Sneaker aus der neuen Kollektion, die es noch nicht in den Läden zu kaufen gibt. Das erste Paar ist grün und gelb, das zweite Paar rot und orange.

•Vier Paar Hosen, zehn T-Shirts, drei Jacken, drei Pullover, zwei Gürtel, eine Sonnenbrille, sechs Paar Socken – alles von Oldean. Ich trage eigentlich nur Graves, deshalb werde ich die Sachen vermutlich nicht anziehen. Aber es ist trotzdem sehr aufmerksam von Onkel Martin, mir das alles zu schicken.

 

 

 

 

SLICK:FREITAG,19. OKTOBER

Nach der Schule hatten wir einen Termin bei Dr. Killman. Sie ist meine Zahnärztin. Zuerst war Mom dran, um 19.00 Uhr, dann Dad um 19.30 und um 20.00 Uhr dann ich. Während ich auf Mom und Dad wartete, habe ich Land X auf meinem Handy gespielt.

Land X hat über fünfzehn Millionen aktive Spieler am Tag. Ich habe erst damit angefangen, als wir nach Ashland gezogen sind, deshalb bin ich noch nicht so weit wie die anderen an der Schule, aber ich hole auf. Ich bin jetzt auf Level 21. Mein Avatar heißt Baltic_Slick. Ich habe den Namen gewählt, weil ich Baltic-Skateboards und Slick-Sneaker mag.

Wir gehen jeden Freitag zu Dr. Killman, aber von dem Besuch heute erzähle ich deshalb, weil Dr. Killman nicht da war. Stattdessen hat sich Dr. Neumund um mich gekümmert. Als ich an der Reihe war, fragte ich ihn, ob er Zahnarzt geworden wäre, weil er Neumund heißt. Er lachte, dann blieb er stehen und starrte mich an.

»Hast du gerade einen Witz gemacht, Eric?«

So, wie er das gefragt hat, klang es, als hätte ich was falsch gemacht.

»Nein.«

»Du wolltest also nicht witzig sein?«

»Nein. Tut mir leid, wenn das unhöflich war. Es ist nur, dass Dr. Neumund so ähnlich klingt wie Dr. Neuer Mund. Und Zahnärzte machen doch die Münder von den Leuten neu.«

»Dann hast du also nur eine Tatsache festgestellt?«

»Ja.«

Da lächelte Dr. Neumund und schüttelte den Kopf. »Einen Moment lang …«

Dann sagte er nichts mehr, außer dass er mich bat, die Augen zu schließen. Danach bin ich eingeschlafen, deshalb redeten wir erst wieder miteinander, als mein Termin vorbei war. Er sagte, es wäre ihm eine große Freude gewesen, mich endlich kennenzulernen. Ich weiß nicht, warum er »endlich« sagte, aber weil ich nicht wieder etwas Falsches fragen wollte, sagte ich lieber nichts dazu. Stattdessen fragte ich ihn, ob er mein neuer Zahnarzt wäre. Er sagte, er würde nur Dr. Killman vertreten, während sie im Urlaub sei, und dass sie nächste Woche wieder da wäre.

»Also, das ist doch mal ein Name, der die Herzen der Patienten mit Furcht erfüllen sollte, oder?«, sagte er und fing an zu lachen. Ich lächelte, obwohl ich nicht begriff, wie er das meinte.

Ich fand die Dinge, die Dr. Neumund heute gesagt hat, ziemlich verwirrend. Und deshalb denke ich jetzt darüber nach.

Als wir nach Hause kamen, war es zweiundzwanzig Uhr. In den nächsten zwei Stunden haben wir alles für die Benefizveranstaltung morgen vorbereitet. Ich werde meine neuen Oldean-Sachen tragen. Ich hatte sie mir gar nicht richtig angeschaut, als sie kamen, aber jetzt sehe ich, wie cool sie sind. Ich glaube nicht, dass ich die Graves-Sachen noch länger anziehe.

Es ist Mitternacht. Ich muss jetzt schlafen.

 

 

 

 

DANNY:SAMSTAG,20. OKTOBER

Ich habe Slick am Samstag, den 20. Oktober, kennengelernt, bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung für seine tote Schwester. In Wirklichkeit hat Slick nie eine tote Schwester gehabt und auch keine lebendige, aber das wusste er damals nicht, genauso wenig wie ich.

Eigentlich hätte ich gar nicht hingehen sollen. Ich sollte den Tag mit meinem Dad verbringen. Mein Cousin Vito nennt ihn »die Person, die einen biologischen Beitrag zu meiner Entstehung geleistet hat«, was vielleicht ein bisschen lang ist, aber es ziemlich präzise beschreibt. Ich soll »Dad« eigentlich jedes zweite Wochenende sehen, aber letztes Jahr ist er nur drei Mal aufgetaucht, deshalb war ich nicht wirklich überrascht, als Mom ihn anrief, um herauszufinden, wo er steckte, und er ihr mitteilte, er würde es leider nicht schaffen. Ich wusste, dass er das sagte, weil Mom immer aus dem Zimmer geht und leise ins Telefon zischt, wenn sie wütend auf ihn ist. Nach ein paar Minuten kam sie zurück und reichte mir den Hörer.

»Hey, Kleiner, tut mir echt leid. Ich bin auf dem Weg nach Kentucky. Ein Freund von mir hat einen guten Tipp für ein Pferd bekommen und das kann ich mir doch nicht entgehen lassen.«

Mein Dad wettet gern auf Pferde. Nur ist er leider richtig mies darin. Man sollte meinen, er hätte das mittlerweile geschnallt.

»Schon klar«, sagte ich.

»Ich mach’s wieder gut.«

»Na logisch.«

»Sei nicht so frech.« Er hielt inne. »Wie geht’s dir so?«

»Gut. Du hast meinen Geburtstag vergessen.«

»Ehrlich? Mist … Wenn ich gewinne, kaufe ich dir, was du willst.«

»Na, da werde ich lange drauf warten können.«

Ich hörte ein lautes Krachen durch den Hörer. Hoffentlich war er mit dem Kopf gegen eine Mauer geknallt. »Du kleiner …«, fing er an.

Ich legte auf.

Mom kam und wollte mich umarmen, aber ich wehrte sie ab und ging in den Keller, um an dem Computer herumzuschrauben, den ich mir gerade baute. Ich hatte ein schlechtes Gewissen – ich weiß, sie kann nichts dafür, dass er so ein Loser ist, aber sie hat sich nun mal dafür entschieden, ein Kind mit diesem Mann zu bekommen, deshalb ist es schon auch irgendwie ihre Schuld, finde ich.

 

Weil Mom mich wegen meiner miesen Laune nicht allein zu Hause lassen wollte, zwang sie mich, mit ihr auf diese Wohltätigkeitsveranstaltung zu gehen. Sie wollte hin, weil da Geld für das Ashland Hospital gesammelt werden sollte, wo sie als Krankenschwester arbeitet, und weil ihre Freundin Annie sie gebeten hatte, mit ihr hinzugehen. Annie arbeitet auch im Krankenhaus. Ich erklärte Mom, dass ich a) nicht mies gelaunt wäre, und b) nicht im Krankenhaus arbeiten würde und deshalb da auch nicht hingehen müsste. Aber dann hat sie mir diesen Blick zugeworfen – den Blick, der sagt: Halt die Klappe, zieh deine Jacke an und setz dich ins Auto. Mom kann mit ihrem Gesicht eine richtige, eigene Sprache sprechen. Vito sagt, das wäre so ein Mom-Ding – diese Sprache würden alle Mütter perfekt beherrschen.

 

»Amore, komm schon, zieh doch nicht so ein Gesicht. Das wird bestimmt nett«, sagte Mom, während ich schmollend auf dem Rücksitz hockte. Sobald das Auto an einer roten Ampel hielt, drehte sie sich zu mir um. »Wer weiß? Vielleicht sind ja Kinder in deinem Alter da.«

Ich verdrehte die Augen und zog mir die Kapuze über den Kopf. Mom seufzte.

Mom will immer, dass ich mich mit anderen Kindern anfreunde. Vito sagt, ich soll einfach relaxt bleiben und dass es typisch für Mütter ist, sich Sorgen zu machen. Das kann schon sein, aber das macht es nicht weniger nervig.

 

Wir kamen zu früh bei der Veranstaltung an, weil Mom ihrer Freundin versprochen hatte, beim Aufbau zu helfen, obwohl sie Slicks Eltern gar nicht kannte.

»Denk daran, sei höflich«, flüsterte Mom, als wir in den Gemeindesaal kamen. »Das ist bestimmt sehr schwer für die Familie.«

Ich nickte. »Okay.«

»Guter Junge«, sagte sie. Sie gab mir einen Kuss auf den Kopf und ging zu einer Gruppe von Erwachsenen. Als ich durch den Saal ging und unauffällig nach einem guten Versteck suchte, bemerkte ich Slick. Wir hatten noch nie miteinander gesprochen, aber ich erkannte ihn trotzdem – er war der Neue aus meiner Stufe. Ich hatte mitbekommen, dass er immer mit Luke und Tyler abhing, was mir so ziemlich alles über ihn verriet, was ich wissen musste. Ich zog mir die Kapuze über den Kopf und verkrümelte mich in eine Ecke, so weit weg von ihm wie möglich.

Dort holte ich mein Handy raus, um Land X zu spielen. Ich war kurz davor, die Mission der Eisernen Hand abzuschließen und hatte den letzten Gegenstand, den ich dazu brauchte, am Morgen gefunden: einen goldenen, verspiegelten Schild. Jetzt musste ich nur noch Gorgon Gaia aufspüren und vernichten, nur hatte Mom leider andere Pläne für mich.

»Ich möchte dir jemand vorstellen«, sagte sie und nahm mir das Handy aus der Hand, bevor ich es verhindern konnte.

Ich war stinksauer. »MOM! Ich war kurz davor, Gorgon Gaia zu töten!«

»Dann ist heute wohl Gordons Glückstag«, meinte sie, schaltete das Handy aus und gab es mir zurück.

»Gorgon, Mom, nicht Gordon«, sagte ich.

Sie beachtete mich nicht und zeigte auf Slick, der am anderen Ende des Saals stand und einen Stapel Poster auf einen Tisch legte. »Der Junge heißt Eric. Seine Mutter hat mir erzählt, dass er seit ein paar Wochen auf deine Schule geht. Kennst du ihn?«

»Er ist in meiner Stufe.« Ich wusste genau, was sie vorhatte. »Mom … ich hab keine Lust, mich mit ihm anzufreunden. Mir geht’s gut. Ich bin glücklich. Ich habe Freunde, hier drin.«

Ich hielt mein Handy hoch.

Mom seufzte laut. »Das sind keine richtigen Freunde. Und jetzt steh auf, sonst geh ich los und hole ihn zu dir.«

Das würde sie tun, das wusste ich.

»Du weißt doch gar nicht, wie er so ist«, protestierte ich, aber sie marschierte schon davon.

»Ich kann dich nicht hören«, trällerte sie mit ihrer Singsang-Stimme.

In diesem Moment hasste ich meine Mutter zutiefst.

Bis ich sie eingeholt hatte, war sie schon dabei, sich vorzustellen.

»… so schön, dich kennenzulernen. Ich bin Maria Lazio und das ist mein Sohn Danny. Ich glaube, ihr beide geht auf die gleiche Schule.«

»Ja, das stimmt«, sagte Eric/Slick. »Es freut mich, Sie kennenzulernen, Miss Lazio.« Slick schüttelte Moms Hand, dann drehte er sich um und lächelte mich an.

»Hi Danny.«

Ich nickte. »Hey.«

»Es tut mir so leid wegen deiner Schwester«, sagte Mom. Erst da wurde mir klar, dass er der Bruder von dem toten Mädchen war. Da bekam ich dann doch ein schlechtes Gewissen.

Slick lächelte. »Danke.«

»Ich dachte, ihr hättet vielleicht Lust, euch ein bisschen zu unterhalten, bevor die Veranstaltung losgeht«, sagte Mom.

Ich rollte genervt mit den Augen.

»Tut mir leid, aber ich muss helfen, alles vorzubereiten«, erklärte Slick.

»Danny hilft dir sicher gern, nicht wahr?«, flötete Mom.

»Ich habe mir ein System dafür ausgedacht«, sagte Slick und zeigte auf den Tisch.

»Ach, Danny kapiert das sicher schnell«, meinte Mom. »Wenn es dir nichts ausmacht?«

»Er hat doch gesagt, er hat sein System«, sagte ich. Es war offensichtlich, dass meine Hilfe nicht erwünscht war, aber Mom kapierte das einfach nicht.

»Es macht mir nichts aus«, sagte Slick. »Ich zeige es dir, Danny.«

»Du bist wirklich ein Schatz«, sagte Mom. Sie nahm mein Gesicht in ihre Hände und drückte mir einen lauten Kuss auf die Backe. »Viel Spaß.«

»Mom!«, sagte ich. Ich konnte nicht glauben, dass sie mich vor einem anderen Jungen geküsst hatte.

Mom lachte. »Ich bin schon weg, keine Sorge.«

»Meine Mutter ist so was von peinlich«, schimpfte ich, sobald sie weg war, und wischte mir über die Backe. »Das macht sie ständig.«

»Was denn?«, fragte Slick.

»Mich vor anderen Leuten abzuknutschen.«

»Oh«, sagte Slick.

»Das liegt daran, dass sie aus einer italienischen Familie kommt«, erklärte ich hastig. »In Italien küssen sich alle ständig.«

Slick nickte. »Klingt logisch – wir sind keine Italiener, und meine Eltern haben mich noch nie geküsst.«

 

Das war der Moment, in dem mein innerer Detektor, der alles registrierte, was irgendwie seltsam oder schräg war, zum ersten Mal anschlug. Und danach hörte er gar nicht mehr auf zu piepsen.

 

Slick zeigte mir das »System«, nach dem er die Poster aufhängte. Es bestand hauptsächlich darin, Klebestreifen an den vier Ecken eines Posters zu befestigen und es an die Wand zu kleben. Er schien überrascht, dass ich es so schnell kapierte. Wir brauchten ungefähr zehn Minuten, um alle aufzuhängen, und redeten nicht wirklich viel dabei, was mir ganz recht war – ich bin nicht gerade gut, wenn es um Small Talk geht.

Slick drückte die Ecke des letzten Posters fest und lächelte mich an. »Cool – das ging richtig schnell. Wenn du willst, kannst du mir noch bei meiner nächsten Aufgabe helfen.«

Mom beobachtete mich von der anderen Seite des Raums aus. Weil mir klar war, dass ich auf keinen Fall weiter Land X spielen konnte, nickte ich.

»Super«, sagte Slick.

Ich folgte ihm zu einem Tisch, auf dem mehrere Plastikbehälter mit Essen standen. Slick nahm eine Einkaufstüte, holte zwei große Beutel mit Ballons heraus und gab mir einen.

»Von welche Marke sind deine Turnschuhe?«, fragte er, nachdem wir uns in die gleiche Ecke gehockt hatten, in die ich mich vorher schon verkrochen hatte.

Ich musterte die weißen Turnschuhe, die Mom mir im Sommer gekauft hatte.

»Die sind von keiner besonderen Marke«, sagte ich.

»Aber du musst sie doch irgendwo gekauft haben«, meinte Slick.

Ich hatte keine Ahnung, worauf er hinauswollte, aber irgendwie gefiel mir dieses Gespräch nicht. Es erinnerte mich an die dritte Klasse, als ich mit einer Jacke in die Schule gekommen war, die Mom von irgendwem aus der Familie geschenkt bekommen hatte. Ich trage oft gebrauchte Sachen. Jedenfalls stellte sich heraus, dass Lukes Schwester die gleiche Jacke hatte, was er sofort überall laut rumposaunte, woraufhin alle anfingen, mich »Daniella« zu nennen. Als ich mich bei meiner Lehrerin beschwerte, lachte sie nur und meinte, das wäre doch nur ein Scherz und dass ich nicht immer alles so ernst nehmen sollte. Leichter gesagt als getan, finde ich. Eines Tages in der Pause hänselte mich Tyler Bowdry dann einmal zu oft mit diesem Daniella-Mist und ich rastete aus und verpasste ihm einen linken Haken. Worüber ich vermutlich genauso überrascht war wie Tyler. So was hatte ich noch nie getan. Die Aktion brachte mir einen Schulverweis ein, aber danach hörten sie wenigstens mit diesem Daniella-Dreck auf.

 

»Danny? Woher hast du deine Schuhe?«, fragte Slick erneut.

Ich schüttelte den Kopf, um diese Erinnerung zu vertreiben, und sah ihn finster an. »Es schwimmen nun mal nicht alle in Geld«, sagte ich.

»Was meinst du damit?«

»Nicht jeder hat Eltern, die alles kaufen können.«

»Meine Eltern kaufen mir nicht alles. Das meiste schickt mir mein Onkel Martin.«

Es kam mir ein bisschen so vor, als würde ich mit einem Fünfjährigen sprechen. »Na schön«, sagte ich. »Aber ich habe keinen Onkel Martin. Kapiert?«

Slick sah mich verständnislos an.

»Du meinst, ihr habt nicht viel Geld, und ihr habt keinen in der Familie, der dir neue Schuhe schickt?«

»Wahnsinn, wie klug du bist«, sagte ich.

»Danke«, sagte Slick. Er sah nicht so aus, als hätte er das ironisch gemeint. Ich sah ihn verwundert an. Doch bevor ich dazu was sagen konnte, fing er mit was anderem an. Leider war es wieder ein Thema, das ich absolut nicht ausstehen konnte. »Bist du auf Kudos?«

»Warum willst du das wissen?«

»Weil ich alle aus der Stufe dort nachgeschaut habe, bevor ich auf die Schule gekommen bin. Du bist der Einzige, der keinen Account hat.«

»Das ist ja echt gruselig. Und vielleicht hab ich mich ja nicht mit meinem echten Namen angemeldet.«

»Ahhh«, sagte er, ohne auf das »gruselig« weiter einzugehen. »Dann hast du dich unter Danny registriert?«

Ich war verwirrt. »Danny ist doch mein echter Name«, sagte ich.

»Ich dachte, du heißt Daniel.«

»Ist das dein Ernst?«

Langes Schweigen. Viel zu lange.

»Und welchen Namen benutzt du dann auf Kudos?«, fragte er schließlich.

»Gar keinen.«

»Aber du hast doch gesagt –«

»Ich sagte, vielleicht würde ich meinen echten Namen nicht benutzen. Ich habe nicht gesagt, dass es wirklich so ist.«

»Wie meinst du das?«

»Ich meine, dass ich nicht auf Kudos bin. Können wir jetzt von was anderem reden?«

»Ich dachte, alle sind auf Kudos.«

»Ich nicht. Ich weiß nicht, was daran so toll sein soll.«

»Weil man da Sachen mit seinen Freunden teilen kann.« Slick lächelte. »Fotos und Videos und so, und man kann sich gegenseitig Nachrichten schicken. Wie kommunizierst du dann mit deinen Freunden?«

»Gar nicht.«

»Oh«, sagte Slick. »Warum? Hast du keine Freunde?«

Ich sagte nichts. So langsam fand ich ihn richtig doof.

»Aber in der Schule musst du doch Freunde haben, oder?«

 

Ja, ich weiß. Das klingt jetzt so, als wäre ich der größte Loser aller Zeiten, und vermutlich bin ich das auch. Ich habe echt keine Ahnung, wie alles so in die Hose gehen konnte. Ich bin einfach ziemlich durch den Wind gewesen, nachdem mein Vater abgehauen war – schließlich war ich damals erst sechs. Jedenfalls habe ich angefangen, mir die ganze Zeit Sorgen zu machen – dass Mom was passieren könnte und so. Und darum wollte ich immer wieder von der Schule weg und nach Hause rennen, und wenn die Lehrer mich nicht ließen, fing ich an zu heulen. Die anderen Kinder lachten mich aus, ich bin ausgerastet, na ja, und so weiter eben.

 

»Sagst du nichts, weil du keine Freunde hast?«, fragte Slick.

Heute weiß ich, dass Slick das nicht böse gemeint hat – er war nur verwirrt –, aber damals fühlte ich mich provoziert.

»Was ist eigentlich dein Problem?«, fauchte ich.

»Wie meinst du das?«

Und da beschloss ich dann, dass ich die Nase voll hatte von diesem Gespräch. »Du bist echt ein Volltrottel«, sagte ich und marschierte davon.

Ich hörte, wie Slick mir hinterherlief. Schnell zog ich mir die Kapuze über den Kopf und ging weiter.

»Hey, Danny. Es tut mir leid.«

Ich blieb trotzdem nicht stehen. Slick griff nach meiner Schulter, um mich aufzuhalten.

»Nimm deine Hände da –«

»Warte, Danny. Es tut mir wirklich leid. Manchmal sage ich die falschen Sachen, aber ich meine es nicht so.«

Da endlich drehte ich mich zu Slick um. Mein Blick fiel auf eines der Poster von seiner toten Schwester, die hinter ihm an der Wand hingen, und auf einmal hatte ich ein furchtbar schlechtes Gewissen. Ich meine, wenn ich auf einer Benefizveranstaltung für meine tote Schwester sein müsste, würde ich mich vielleicht auch ein bisschen seltsam benehmen.

Schulterzuckend sagte ich: »Schon gut. Egal.«

Slick lächelte. »Cool. Willst du mir mit denen hier helfen?«

Er hielt den Beutel mit den Luftballons in die Höhe. »Wir müssen dreihundert davon aufblasen.«

»Dreihundert?«

Slick nickte. »Wenn wir es zu zweit machen, sind wir doppelt so schnell.«

Da irrte er sich. Ich habe keine Ahnung, wie man das genau berechnet, aber in der Zeit, in der ich acht Ballons aufblies, hatte Slick die restlichen mit Luft gefüllt.

Ich starrte ihn an. »Geht dir eigentlich nie die Puste aus?«

Slick schüttelte den Kopf und knotete Bindfäden an die Ballons. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte, deshalb schaute ich einfach nur zu, wie Slick die Ballons zusammenband und ineinanderschlang. Er arbeitete schnell – nicht so schnell wie ein Roboter, aber so wie jemand, der das schon Hunderte Male gemacht hatte.

»Halt mal.« Slick reichte mir das Ende der Schnur, ging zum anderen Ende des Ballonhaufens und rief mir zu, ich solle ziehen. Ich rupfte an der Schnur, und ein lautes »Ooh« tönte durch den Raum, als sich ein riesiger Bogen aus perfekt zusammengebundenen Ballons aufrichtete. Ich bin echt kein Ballon-Fan, aber dieser Bogen sah wirklich verdammt cool aus, das musste selbst ich zugeben.

Ich starrte das Teil an. »Woher weißt du, wie man so was macht?«, fragte ich.

Slick nahm mir die Schnur aus der Hand und knotete sie an einem Tischbein fest.

»Keine Ahnung«, sagte er. »Ich weiß es einfach.«

»Schon immer? Du musst ja ein seltsames Baby gewesen sein.«

Slick sah mich ernst an. »Ich erinnere mich nicht daran, dass ich mal ein Baby war.«

»Das war ein Witz«, sagte ich. »Aber zugegeben, ein ziemlich lahmer«, fügte ich hinzu.

»Oh. Okay. Echt lustig.« Er tat so, als würde er lächeln.

»In New York haben sie doch auch schon Witze gekannt, oder?«

»Klar.«

Ich war neugierig. »Okay. Mach mal. Schieß los.«

»Wieso soll ich auf dich schießen?«

»Oh Mann«, sagte ich. Der Typ war mir echt ein Rätsel. »Schieß los – damit meine ich, dass du mir einen Witz erzählen sollst.«

»Fährst du Skateboard?«

»Das soll ein Witz sein?«

»Nein. Ich wollte nur …«

»Du kennst gar keine Witze, oder?«

Slick schüttelte den Kopf. »Du?«

Ich zuckte die Schultern. »Nee, nicht wirklich. Keine guten jedenfalls.«

»Was ist ein schlechter Witz?«, fragte er.

Ich überlegte. »Okay, aber der ist echt mies – meine Mutter hat ihn mir erzählt, als ich so ungefähr vier war. Bereit?«

Slick nickte.

»Wo wohnen Katzen?«

»Keine Ahnung«, sagte Slick.

»Im Miiiiezhaus.«

Slick schaute mich ein paar Sekunden lang an, dann fing er an zu lachen. Aber so richtig.

»Komm schon, das ist wirklich nicht besonders witzig«, sagte ich.

Slick lachte immer noch. »Ich finde das lustig! Wegen der Miezekatze. Und dem Mietshaus.«

»Du bist echt seltsam.« Ich grinste.

Slick hörte auf zu lachen. »Warum findest du mich seltsam?«

Ich wollte schon darauf antworten, da fiel mir wieder ein, warum wir hier waren und dass ich vielleicht nicht so streng mit ihm sein sollte. Deshalb schüttelte ich den Kopf. »Vergiss es«, sagte ich. »Das war nur ein Witz … Also, brauchst du sonst noch für irgendwas Hilfe?«

»Nein, das war alles.«

»Okay. Cool. Also, war nett, dich kennenzulernen, Eric.«

»Wohin gehst du?«

»Ach, weißt du, ich bin kurz davor, eine Mission bei Land X abzuschließen, und wollte –«

»Du spielst Land X?«, fragte Slick.

Ich nickte.

»Ich bin Level 22. Und du?«

»64.«

Slick sah mich staunend an. »Das ist ja irre gut. Harry hat den höchsten Level von allen, die ich kenne, und er ist nur 37.«

Schulterzuckend meinte ich. »Was soll ich sagen? Ich hab auch schon ’ne Menge Zeit investiert.«

»Aber wie? Muss man nicht immer wieder vierundzwanzig Stunden auf Quarz warten?«

Diesen Quarz braucht man, um in Land X zu reisen. Wenn man nicht reisen kann, kann man auch keine Missionen erfüllen.

Ich lächelte.

»Ich zeig dir was. Wie ist dein Spielername?«

»Baltic_Slick. Weil ich auf Baltic-Skateboards und Slick-Sneaker stehe.«

»Okay, egal. Ich bin Binarius_X. Ich adde dich mal.«

Slick und ich verzogen uns wieder in die Ecke und holten unsere Handys raus. Ich zeigte ihm, wie er die Datumeinstellung so verändern konnte, dass er keine vierundzwanzig Stunden warten musste, um Quarz zu ernten, und dann brachte ich ihn zur Harfe der Schiefen Töne, damit er die Mission vollenden konnte, an der er gerade festhing.

Wir spielte eine Stunde zusammen, bis die Veranstaltung offiziell begann und sein Vater ihn holen kam. »Danke, Danny. Das war echt cool«, sagte Slick und stand auf. »Bis Montag dann.«

»Ja, klar«, sagte ich.

 

Ich muss zugeben, ich war doch irgendwie froh, dass meine Mutter mich gezwungen hatte, sie zu begleiten, auch wenn sie vielleicht noch ein bisschen glücklicher darüber war als ich. Sie rief sogar meine Tante und meine Oma an, um ihnen von meinem neuen Freund zu berichten, als wir nach Hause kamen. Aber ich protestierte nicht groß dagegen. Die Wahrheit war, ich mochte Slick. Ich meine, klar, er war schon irgendwie seltsam, aber das war in meinen Augen nicht unbedingt eine schlechte Eigenschaft.

 

 

 

 

SLICK:MONTAG,22. OKTOBER

Miss Lake bat mich, nach dem Unterricht noch kurz zu ihr zu kommen. Tyler flüsterte: »Mann, hast du ein Glück«, und boxte mir gegen den Arm. Es war ein freundschaftlicher Schlag. Das weiß ich, weil er dabei lächelte. Tyler sagte das deswegen zu mir, weil er Miss Lake mochte, so auf diese Junge-mag-Mädchen-Art. Er ist nicht der Einzige, der sie gut findet – alle meine neuen Freunde haben neulich in der Mittagspause darüber geredet, wie heiß sie wäre. Es dauerte eine Weile, bis ich kapiert hatte, dass sie nicht von ihrer Körpertemperatur sprachen. Ich begreife nicht ganz, warum ein Kind einen Erwachsenen attraktiv finden sollte, aber es ist wichtig, dass man seinen Freunden zustimmt, weil sie sonst vielleicht nicht mehr lange deine Freunde sind, deshalb pflichtete ich ihnen bei.

Nachdem alle anderen Schüler das Klassenzimmer verlassen hatten, ging ich zu Miss Lakes Schreibtisch. Sie trug ein Oberteil von Blise – das ist die Lieblingsmarke meiner Mutter. Meine Mutter trägt nur Blise, deshalb kannte ich die ganze Kollektion.

Miss Lake fragte, wie die Benefizveranstaltung gelaufen sei. Ich sagte, alles wäre gut gegangen und dass meine Mutter sehr zufrieden wäre mit den Geboten für die Aufbewahrungsdosen von SuperFresh.

»Ich habe gehört, dass du dort einen Jungen kennengelernt hast. Daniel Lazio.«

»Ja«, sagte ich. »Aber er heißt eigentlich Danny.«

»Danny ist die Kurzform von Daniel. So was nennt man einen Spitznamen.«

»Oh«, sagte ich. Jetzt begriff ich.

»Hast du dich mit Danny angefreundet?«

»Ich glaube nicht. Ich glaube, er mag mich nicht besonders.«

»Das ist gut. Er ist nicht sehr beliebt, und du solltest dich besser nicht mit unbeliebten Kindern abgeben – das macht einen schlechten Eindruck. Konzentrier dich lieber darauf, mit Luke und den anderen Jungen befreundet zu sein, mit denen du auch in der Schule Zeit verbringst. Vor allem mit Luke.«

»Ja, Miss Lake.«

Ich war mir nicht sicher, warum es Miss Lake kümmerte, mit wem ich befreundet war, aber vielleicht wollte sie auf mich aufpassen, weil ich neu an der Schule bin. Das finde ich sehr nett von ihr.

»Außerdem finde ich, dass du dich auch mit Ethan Schwartz anfreunden solltest. Kennst du ihn?«

»Ja. Aber er ist nicht sehr beliebt.« Ich war verwirrt. Miss Lake hatte mir eben erst gesagt, dass ich mich nur mit den beliebten Kindern anfreunden sollte, aber Ethan hatte nur 315 Freunde auf Kudos, was lediglich einer durchschnittlichen Beliebtheit entsprach.

»Das stimmt«, sagte Miss Lake. »Aber sein Vater ist eine bedeutende Persönlichkeit und kennt viele Leute. Ich glaube, deinen Eltern würde es gefallen, wenn du mit ihm befreundet wärst.«

»Ja, Miss Lake.«

»Gut. Du kannst ja mal sehen, wie es so läuft, und wenn du Hilfe brauchst, lass es mich wissen. Ich kann dich in unserer nächsten Stunde neben ihn setzen, wenn du es bis dahin nicht geschafft hast, mit ihm zu reden.«

»Ja, Miss Lake«, sagte ich.

»Das wäre dann alles«, sagte Miss Lake. Sie lächelte, ich lächelte auch und verließ das Klassenzimmer.

 

 

 

 

DANNY:MONTAG,22. OKTOBER

Weil Slick und ich keinen gemeinsamen Unterricht haben, sah ich ihn erst in der Mittagspause. Ich stand vor meinem Schließfach, als er allein an mir vorbeikam. Er bemerkte mich erst, als ich Hallo sagte. Er hob kurz den Kopf, dann schaute er wieder nach vorne und ging weiter. Ich lief neben ihm her.

»Gehst du zum Essen?«, fragte ich.

»Jap.« Er verlangsamte seine Schritte nicht. Das hätte mich eigentlich warnen müssen, aber ich wusste ja, dass er ein bisschen merkwürdig war, deshalb dachte ich mir nichts dabei.

»Hast du den Safe entdeckt?«

Slick blieb stehen und drehte sich zu mir. »Safe?«

»Ja. Er ist hinter dem Gemälde von dem Kriegsschiff in Lady Vickers Haus.«

Slicks Augen wurden groß. »Ich wusste, dass er da irgendwo sein muss. Ich bin gestern rein, konnte aber nichts finden.«

»Du brauchst den Code, um ihn zu öffnen.«

»Okay. Wie lautet er?«

»Ich habe Stunden gebraucht, um das herauszufinden, und jetzt soll ich ihn dir einfach so sagen?«

Slick nickte. »Ja.«