Kafka und der Tote am Seil - Jon Steinhagen - E-Book
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Kafka und der Tote am Seil E-Book

Jon Steinhagen

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Beschreibung

Gestatten: Kafka, Franz Kafka.

Was wäre, wenn Franz Kafka nicht mit 40 Jahren an Tuberkulose verstorben wäre? Wenn er stattdessen am Tag nach seinem vermeintlichen Tod die Augen aufgeschlagen und sich an seinem Krankenbett eine ungewöhnlich große, ungewöhnlich eloquente Kakerlake als Pflegekraft befunden hätte? Die ihm noch dazu ungewöhnlich bekannt vorkäme? Schon bald werden Kafka und Gregor Samsa von einer geheimnisvollen Agentur als Privatermittler engagiert, denn im Wien des Jahres 1924 kommt es zu einer ebenso mysteriösen wie bizarren Mordserie – und des Rätsels Lösung ist absurder als alles, was Kafka sich jemals selbst hätte ausdenken können ...

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Buch

Was wäre, wenn Franz Kafka nicht mit 40 Jahren an Tuberkulose verstorben wäre? Wenn er stattdessen am Tag nach seinem vermeintlichen Tod die Augen aufgeschlagen und sich an seinem Krankenbett eine ungewöhnlich große, ungewöhnlich eloquente Kakerlake als Pflegekraft befunden hätte? Die ihm noch dazu ungewöhnlich bekannt vorkäme? Schon bald werden Kafka und Gregor Samsa von einer geheimnisvollen Agentur als Privatermittler engagiert, denn im Wien des Jahres 1924 kommt es zu einer ebenso mysteriösen wie bizarren Mordserie – und des Rätsels Lösung ist absurder als alles, was Kafka sich jemals selbst hätte ausdenken können …

Autor

Jon Steinhagen schreibt Drehbücher, Musicals und preisgekrönte Theaterstücke. Gelegentlich sieht man ihn auch vor der Kamera und auf der Bühne. Er liebt seine Heimatstadt Chicago, alte Schwarz-Weiß-Filme mit Cary Grant und sein hundert Jahre altes Klavier. »Kafka und der Tote am Seil« ist sein erster Roman.

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JON STEINHAGEN

Kafka und der Tote am Seil

Roman

Deutsch von Simon Weinert

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »The Hanging Artist« bei Abaddon Books, Oxford.

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Copyright der Originalausgabe © 2019, 2020 Rebellion Publishing IP Ltd. All rights reserved. Abaddon Books and the Abaddon Books Logo are trademarks or registered trademarks of Rebellion Publishing IP Limited. The trademarks have been registered or protection sought in all member countries of the European Union and other countries around the world. All rights reserved.

This translation is published by arrangement with Rebellion. www.rebellionpublishing.com

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2022 by Penhaligon in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: René Stein

Umschlaggestaltung: Anke Koopmann | Designomicon

Umschlagmotiv: Shutterstock.com (alexkoral; fran_kie; mart)

BSt · Herstellung: mar

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN 978-3-6412-7276-0V001

www.penhaligon-verlag.de

Gewidmet meiner Patentante, Judith Coolbaugh Peters,

der besten Patentante, die es je gab oder geben wird –

meine ewige Dankbarkeit dafür, dass du mir all die Detektivgeschichten geschenkt hast und all die Liebe.

»Du hast die Aufgabe, hast zu ihrer Ausführung so viel Kräfte, als nötig sind (nicht zu viel, nicht zu wenig, Du mußt sie zwar zusammenhalten, aber nicht ängstlich sein), Zeit ist Dir genügend frei gelassen, den guten Willen zur Arbeit hast Du auch. Wo ist das Hindernis für das Gelingen der ungeheueren Aufgabe? Verbringe nicht die Zeit mit dem Suchen des Hindernisses, vielleicht ist keines da.«

– »Konvolut 1920« aus Franz Kafkas nachgelassenen Schriften und Fragmenten, 16. September 1920

KAPITEL 1

Ein unerwarteter Mittwoch

Eines Morgens erwachte Franz Kafka aus unangenehmen Träumen und fand sich einem gewaltigen Insekt gegenüber, das versuchte, bei ihm Fieber zu messen. Allerdings hielt das Insekt – entweder weil es nicht recht wusste, wohin mit dem Thermometer, oder weil es gewillt war, Franz auf jähe und grobe Weise aufzuwecken – das Thermometer nicht auch nur in die Nähe von Franz’ Mund.

Franz schreckte zurück und erstaunte darüber, dass er die Kraft hatte, um zurückzuschrecken. Als er es das letzte Mal versucht hatte – gestern Abend? – , war er zu schwach gewesen, um irgendetwas anderes zu tun, als die Augen zu schließen und, so meinte er, ein allerletztes Mal einzuschlummern, doch nun war er wach und schreckte vor einem Insekt mit einem Thermometer zurück.

Ein Insekt.

»Ich wollte Sie nicht wecken«, sagte es. »Ich hoffe, Sie können mir das nachsehen.« Sagte. Nicht krächzte, sondern sagte. Seine klare Stimme überraschte ihn noch mehr als der Umstand, dass das Rieseninsekt, das ihn pflegte, der Sprache mächtig war.

Franz betrachtete den gewölbten braunen Bauch des Insekts, der von bogenförmigen Versteifungen geteilt war. Die vielen, im Vergleich zu seinem sonstigen Umfang kläglich dünnen Beine bewegten sich besorgniserregend in mehrere Richtungen gleichzeitig. Eines der Beinchen hielt gerade das Thermometer, das so groß wie ein Taktstock war, während zwei andere Wasser aus einer eingedellten Kanne in ein Glas gossen.

»Ich sehe es Ihnen nach, wenn Sie mit diesem Thermometer woanders herumfuchteln«, sagte Franz. Er nahm an, dass er sich in einem tiefen Traum befand, auch wenn der Traum ganz anders war als alle anderen, die er während seines vierzigjährigen Lebens über sich hatte ergehen lassen müssen: hell, sonnig, ruhig und höflich. Deswegen schloss er die Erklärung »Traum« aus und bemühte sich, seine Gedanken der Wirklichkeit anzupassen.

Das Zimmer, ein normales, menschengemachtes Zimmer, lediglich ein wenig zu klein, lag zwischen seinen vier sterilen Wänden völlig ruhig da. Außer dem Bett stand hier noch ein Stuhl mit dürren Beinen für Besucher und ein schäbiger Kleiderschrank, von dem die Knäufe abgegangen waren. Neben Franz befand sich der Nachttisch, an dem eine kleine elektrische Lampe angeschraubt war. Lampe und Tisch befanden sich vor dem einzigen Fenster des Zimmers, das keine Läden hatte und den Blick freigab auf – was?

»Sie sind noch im Sanatorium«, erklärte das Insekt und reichte Franz das Wasserglas. Ganz instinktiv verzog Franz das Gesicht und wandte sich ab, bevor das Glas seine Lippen berührte. »Sie müssen Durst haben«, sagte das Insekt. »Trinken Sie etwas.«

Die Stimme des Insekts war sanft und unfein, roh, aber nicht unangenehm, wie samtene Kiesel, die eine Abflussrinne hinunterkullern. Sein Kopf war eine braune Kugel aus Übertreibungen: glänzende schwarze Augen, die so groß waren wie Teller, und ein Mund, der an irgendwelche komplizierten Gartenwerkzeuge erinnerte und scherenartige Bewegungen machte, wenn es sprach.

»Sie kriegen das jetzt schon hin«, sagte das Insekt und drängte ihm das Wasser auf. »Glauben Sie mir.«

Franz glaubte dem Ding beinahe, doch heftige Erinnerungen an Schmerz hielten ihn davon ab, das Wasser anzunehmen. Seine Kehle war wund und trocken, eine verkrampfte Hölle, die nur dazu taugte, brennende Messerstiche zu produzieren, gefolgt von Blut, und keines von beiden konnte er als erfreulich erachten.

»Glauben Sie mir«, wiederholte das Insekt.

Doch Franz tat es nicht.

Das Insekt rasselte oder seufzte, oder vielleicht war sein Rasseln auch ein Seufzen. »Sie brauchen Flüssigkeit, Herr K.«, sagte es.

Die laxe Anrede verärgerte Franz. »Kafka«, sagte er. »Herr Kafka.«

»Entschuldigen Sie, dass ich so frei war«, sagte das Insekt.

»Ist schon gut«, sagte Franz. Und schluckte.

Nichts.

Kein brennender Schmerz, kein Krampf, kein Husten.

Und kein Blut.

Das machte ihm Mut.

Und es machte ihn misstrauisch.

Er schluckte noch einmal.

Nichts. Vielmehr eine Freude.

Und er hatte höllischen Durst.

Er nahm dem Insekt das Glas aus der Hand und trank, wie er noch nie zuvor getrunken hatte. Innerhalb eines Augenblicks war das Wasser weg. »Mehr«, sagte er.

Das Insekt reichte ihm die Kanne. »Das können Sie auch gleich selber machen.«

Franz setzte die Kanne an die Lippen, und das Zinn schmeckte köstlich auf seiner vormals geschwollenen Zunge. Ohne Luft zu holen, stürzte er das Wasser hinunter.

Zum Abschluss rülpste er.

Das Insekt nahm ihm die Kanne ab. »Sie sollten nicht gleich losrennen, wenn Sie erst zu krabbeln gelernt haben«, sagte es. »Aber in Ihrem Fall kann man bestimmt ein Auge zudrücken.« Es legte Franz eines seiner Steckenbeine an die Stirn, worauf Franz schauderte. »Entschuldigen Sie, dass ich mich etwas schroff anfühle. Ich neige dazu, mindestens zwei linke Beine zu haben«, sagte es und legte mit einem anderen Bein das Thermometer weg. »Sie sind ja kalt wie ein Fisch«, sagte es, »vorausgesetzt, dass Fische kalt sind. Ich habe noch nie einen berührt. Aber die Redewendung gefällt mir.«

Bei der Erwähnung von Fisch knurrte Franz’ frisch gewässerter, aber ansonsten leerer Magen, und es klang wie das Gurgeln eines abfließenden Spülsteins. Franz entschuldigte sich.

»Ich habe schon Schlimmeres gehört«, sagte das Insekt, »und normalerweise tönt es aus mir selber heraus.«

Franz legte sich auf das Kissen zurück. Was immer mit ihm geschah, passierte ihm zu schnell und holte ihn nun ein. Er betrachtete die weißen Wände und die weiße Decke, die frische weiße Tagesdecke auf seinem Bett, die dunkelblauen Paspeln auf seinem billigen Pyjama. Das Leintuch fühlte sich wie Leintuch an, das Kissen wie ein Kissen, die Luft roch nach Luft (mit nur einer Spur Karbol), und das Junisonnenlicht, das träge durchs Fenster strömte, war eindeutig sonnig.

Aber war es denn überhaupt Juni?

Gestern war Juni gewesen, aber Franz war sich nicht sicher, ob heute auch Juni war. Ihm war vage bewusst, dass er offenbar von seiner Krankheit geheilt worden war, aber sofern es stimmte: Konnte so etwas über Nacht geschehen sein?

»Heute ist der vierte Juni«, kam das Insekt erneut Franz’ Frage zuvor. »Oder haben Sie etwa gerätselt, welchen Wochentag wir haben? In dem Fall wäre das der Mittwoch.«

»Und welches Jahr?«, fragte Franz.

»Wir haben immer noch 1924«, sagte das Insekt. »Sie sehen keinen Tag älter aus. Oder vielmehr: Sie sehen tatsächlich einen Tag älter aus, denn Sie sind ja auch einen Tag älter als gestern. Ich möchte Sie nur be…«

»Über Nacht«, sagte Franz.

Er war kein verkrampftes Knäuel aus wundem, blutigem Gewebe mehr. Er konnte die Arme und Beine ausstrecken, ohne dass sich sein ganzer Leib widerspenstig in Qualen zusammenzog. Er konnte sprechen. Er konnte trinken. Er konnte atmen.

Was er jedoch nicht konnte: sich das gewaltige, sprechende Insekt neben seinem Bett erklären.

»Und trotzdem ist mir klar, dass ich das nicht träume«, sagte er.

Das Insekt zog den Stuhl ans Bett und gab sich alle Mühe, seine unpassende Gestalt darauf zu drapieren, doch sein mächtiger runder Rücken machte es ihm unmöglich. Es fluchte, drehte den Stuhl um und setzte sich, so gut es ging, rittlings darauf.

»Erzählen Sie mal, woher Sie wissen, dass Sie das nicht träumen«, sagte das Insekt.

Franz prüfte sorgfältig seine Gedanken und stellte fest, dass sie zu wünschen übrig ließen. »Wenn etwas echt ist«, sagte er, »vermittelt es einem den starken Eindruck, dass es nichts anderes sein könnte.« Da das Insekt nicht gewillt schien, seine Erklärung zu kommentieren, fuhr Franz fort. »Was nicht heißt, dass ich keine Fragen hätte.«

Das Insekt nickte. »Schießen Sie los.«

»Gestern noch war es aus mit mir«, sagte Franz. »Daran herrschte kein Zweifel. Die Tuberkulose, gegen die ich seit Ewigkeiten angekämpft habe, hatte gewonnen. Ich wusste es, die Ärzte wussten es, die Krankheit wusste es. Ich hatte den Kampf aufgegeben. Ich habe die Augen zum allerletzten Mal geschlossen, so hat es sich zumindest angefühlt.«

Und so war es auch gewesen. Er hatte nicht einmal gewusst, wer noch bei ihm im Zimmer geblieben war – falls überhaupt jemand. Er war davon ausgegangen, dass er völlig allein war, verlassen. Nicht einmal Dora hatte an seinem Bett gesessen. Oder war sie doch dort gewesen? Im öligen, undeutlichen Gewaber seiner anstrengenden letzten Augenblicke war er sich keines anderen Menschen und keiner anderen Sache bewusst gewesen, nur seiner selbst, verloren auf einem harten Sanatoriumsbett, wo ihm die Luft ausging, bis selbst der allerleiseste Hauch zugleich ein Geschenk und ein Abschied gewesen war. Er erinnerte sich daran, wie er schließlich die Lider geschlossen hatte – als würde man einen Vorhang herunterlassen – , mit einem Gefühl von Erleichterung und Aufgabe.

»Und jetzt«, sagte Franz, »bin ich wach, durstig, hungrig, sauge kübelweise Luft in meine frische, rosige Lunge – zumindest fühlt sie sich rosig an – , als wäre ich nie im Leben krank gewesen. Ich nehme zwar eine Karbolnote im Zimmer wahr, und ich meine gehört zu haben, wie sich eine arme Seele nebenan übergeben hat. Mir aber geht es gut. Besser als gut. Mir geht es besser, als es mir jemals ging. Ich bin kräftig, habe geschärfte Sinne, bin gesprächig, und seit circa zehn Minuten – oder wie lange ich eben wach bin – habe ich keinen Arzt und keine Schwester mehr gesehen.«

»Wie Sie schon sagten, es sind erst zehn Minuten vergangen«, sagte das Insekt. »Vielleicht schaut bald jemand vorbei.«

»Ich habe das eigentümliche Gefühl, dass das nicht der Fall sein wird. Und wenn, dann kriegen sie den Schock ihres Lebens.«

»Und wie erklären Sie sich mich?«, sagte das Insekt und beugte sich näher heran.

»Ganz einfach«, sagte Franz, und zum ersten Mal seit einem gefühlten Zeitalter lächelte er ganz unverstellt. »Sie sind mein Kompromiss.«

»Ihr Kompromiss?«

»Das Eingetauschte.«

»Erklären Sie mir das?«

»Heute Nacht ist etwas Unerklärliches mit mir geschehen«, sagte Franz und merkte zum ersten Mal, dass in den Ecken der Zimmerdecke die weiße Farbe abblätterte, sodass darunter eine grünliche Schleimschicht zum Vorschein kam. »Etwas Unerklärliches und – Wunderbares? Ja, vielleicht wunderbar, aber da Wunder keine Preisschilder haben, ist mir klar, dass ich im Tausch gegen meine Gesundheit etwas opfern musste. Und was habe ich geopfert? Offenbar meine geistige Gesundheit. Und so erkläre ich mir Ihr Auftauchen in meinem Zimmer als einen geistigen Anfall.«

»Ich bin froh, dass Sie nicht von ›Befall‹ gesprochen haben«, sagte das Insekt. »Ich reagiere empfindlich auf gemeine Ausdrücke.«

»Nun, Sie sind allein, deshalb kann man wohl kaum von einem Befall sprechen.«

»Stimmt.«

»Und ich empfinde Ihre Gegenwart nicht gänzlich widerwärtig.«

»Der leicht mistige Geruch, der mich begleitet, lässt sich nicht vermeiden, fürchte ich, obwohl ich mir Ihr Eau de Toilette geborgt habe in der Hoffnung, es würde ihn ein wenig überdecken.«

»Aha.«

»Das billige Wässerchen, das Ihre Schwester Ihnen zu Ihrem letzten Geburtstag geschenkt hat?«

»Aha.«

»Ich habe es ganz aufgebraucht.«

»Aha.«

»Hat nicht viel gebracht, was?«

»Ich gewöhne mich daran«, sagte Franz. Und das war gelogen.

Das Insekt stand auf und schob den Stuhl wieder in seine Ecke. Dann hielt es respektvoll Abstand zum Fußende des Bettes, wobei seine Fühler hierhin und dorthin schwankten.

Franz setzte sich wieder auf. »Ich habe Kohldampf.«

»Was hätten Sie denn gerne?«, fragte das Insekt.

»Alles«, sagte Franz, und sein Magen stieß ein erneutes Bittgebet aus. »Würden Sie bitte nach jemandem läuten?«

»Wahrscheinlich ist es besser, wenn ich Ihnen bringe, was Sie brauchen«, sagte das Insekt. »Was möchten Sie? Pflaumenkompott? Etwas Obst? Vielleicht einen Salat. Haferbrei? Haferschleim?«

Franz spürte, wie sein Magen sich empört aufbäumte. »Meine Güte, nein«, sagte Franz. »Ich will Fleisch. Für den Anfang ein Beefsteak, so groß wie der Tisch da. Dann Aufschnitt. Schnitzel, alle Sorten, die sie haben. Das Ganze in Soße schwimmend. Obst und Salat – zum Teufel mit dem Karnickelfutter. Aber wenn ich so drüber nachdenke, dann nehme ich auch noch ein Kaninchen …«

Er hielt inne, als ihm auffiel, was er da gerade gesagt hatte.

»Dann darf ich annehmen, dass Sie Ihr Vegetarierdasein hinter sich gelassen haben?«

Ja, dachte Franz, das hatte er hinter sich gelassen, und er wunderte sich über seinen plötzlichen, wiedererwachten Heißhunger auf Fleisch. Was hatte sich an ihm sonst noch verändert? Oder genauer gesagt: Wie viele seiner früheren Überzeugungen waren innerhalb einer Nacht von ihm abgefallen? Er machte sich nicht an eine Inventur, da er spürte, wie ihm Kopf und Augenlider bereits wieder schwer wurden, als würde das Buffet aus fetten, nahrhaften Speisen, das in seinen Gedanken kreiste, ihn bereits in den Verdauungsschlummer versetzen.

»Dasein … hinter sich …«, sagte er.

Er würde versuchen, alles zu verstehen, wenn er wieder aufwachen würde, doch die allerwichtigste Frage galt es noch zu klären.

»Warum?«, fragte er.

»Warum was?«, fragte das Insekt.

»Warum bin ich nicht gestorben?«

Irgendwo tickte eine Uhr, doch Franz wusste, dass während seines hiesigen, zweimonatigen Dahinsiechens niemand eine Uhr in dieses Zimmer gestellt hatte.

»Warum bin ich nicht gestorben?«, fragte er erneut.

Er hörte, dass sich das riesige Insekt setzte.

»Wer weiß?«, sagte es. »Vielleicht gibt es irgendwo jemanden, der Sie braucht.«

Franz lachte. Es war das erste Lachen seit einer Ewigkeit, das ihm keine Schmerzen verursachte. Es fühlte sich gut an. »Niemand braucht mich, mein Freund.«

»Auch das ist möglich. Ach ja. Nun wünsche ich einen angenehmen Schlaf, Herr Kafka.«

»Wie lange werden Sie bei mir bleiben?«, fragte Franz.

»Das kann niemand sagen«, antwortete das Insekt. »Jetzt. Morgen noch, bis zum Ende der Woche. Für den Rest meines Lebens.«

»Sie können mich auch Franz nennen«, sagte Franz. Er bereitete sich darauf vor, sich in eine große Schüssel Ewige Suppe zu stürzen, indem er einen riesigen Löffel als Sprungbrett benutzte. Dann würde er zum nächsten Knödel schwimmen und ein Nickerchen halten. »Wie darf ich Sie denn nennen?«

»Du kennst meinen Namen«, sagte das Insekt mit einer Art Lächeln in der rauen, tiefen Stimme.

Kannte er ihn? Ja, das tat er.

»Das ist zu zufällig, zu passend«, sagte Franz, machte die Augen auf und sah, wie die Farbe des Zimmers rasch von Weiß zu Gelb zu Bernsteinfarben verblasste, während die Sonne ungehörig schnell unterging. »Ich kann dir nicht glauben.«

»Warum nicht?«

»Weil meine Schöpfung keine Wirklichkeit werden kann.«

Das Insekt ließ sich einen Moment Zeit mit seiner Antwort. Die Schatten wurden indes länger. »Vielleicht bist du ein besserer Schriftsteller, als du meinst.«

»Sei nicht albern«, sagte Franz.

»Vielleicht hast du mich auch gar nicht erschaffen«, sagte das Insekt. »Vielleicht habe ich dich erschaffen.«

Franz lauschte der Leere des Sanatoriums. Jedweder Lärm war vergangen, sodass leblose Stille den Raum um sein schmales Bett herum niederdrückte.

Noch einmal machte er die Augen zu. Er schwamm durch den warmen, duftenden Eintopf und dachte bereits an den Nachtisch.

»Du sagst sehr oft ›vielleicht‹«, sagte Franz. »›Vielleicht‹ ist ein bequemes sprachliches Ausweichen.«

»Ausweichen vor was?«

»Vor allem.«

»Vielleicht hast du recht«, sagte das Insekt. »Gute Nacht, Franz.«

»Gute Nacht, Gregor.«

KAPITEL 2

Ein unterhaltsamer Abend

Anfangs waren sie skeptisch, auch wenn »skeptisch« nun nicht das Wort ist, das sie benutzt hätten, denn im Grunde waren sie einfache Leute, nicht ungebildet, aber auch nicht mit einem sonderlich umfangreichen Wortschatz gesegnet. Das Wort, das sie benutzt hätten … nun, sie hätten kein Wort benutzt, sondern sie sagten Dinge wie: »Was zum Teufel ist ein Hängekünstler?«, und: »Was wird da gehängt? Tapeten?«, und: »Lass mich raten – das ist ein Künstler, der rumhängt.« Prinsky, der es schaffte, einen vernünftigeren Eindruck als die anderen zu machen, womöglich weil er selbigen bei dem Mädchen schinden wollte, das in der Wunderstraße wohnte und sich immer gleich drei Anisbonbons auf einmal in den Mund schob, äußerte sich wie folgt: »Vielleicht hängt seine Kunst höher.«

Das Mädchen, das in der Wunderstraße wohnte, war nicht beeindruckt. Vor allem, weil sie versuchte, die Aufmerksamkeit des hübschen Kassierers zu erlangen, dessen Namen so gar nicht zu ihm passte, dass niemand sich an ihn erinnern konnte.

Er hieß Herrmann Herbort, und einen hässlicheren Namen konnte man sich für einen so schönen Mann kaum vorstellen. Er begnügte sich jedoch mit ihm, weil es ihm an Erfindungsgeist mangelte, wenn es darum ging, sich Dinge auszudenken. Außerdem würde es komisch aussehen, wenn ein Bankangestellter mit einem angenommenen Namen herumlaufen und man es später herausfinden würde. Dann hätte er viel zu erklären. Und Herbort erklärte nicht gern, sondern ging viel lieber aus, um sich unterhalten zu lassen. Dann brauchte er nur auf seinem Platz zu sitzen, von Bier und Knackwurst etwas dösig, und sich von einem anderen menschlichen Wesen füttern zu lassen mit Gedanken, Ideen, Musik, Witzen, Schönheit, Spannung, Farbe, Tanz, Lustbarkeiten, Wundern …

Herbort war einer der besten Zuschauer Wiens.

Allerdings erlaubte es ihm sein Gehalt nicht, besonders majestätischer Kunst beizuwohnen. In der Oper wurde er zum Beispiel nie gesehen, nicht einmal eingeladen, denn seine Freunde und Kollegen gehörten alle seiner eigenen Schicht an (was bedeutete, dass sie eine Lohntüte davon entfernt waren, etwas verkaufen zu müssen, um den Lebensunterhalt zu bestreiten). Öfter als ihm zuzugeben lieb war, hatte man ihm nahegelegt, sich mithilfe seines schmerzhaft guten Aussehens eine herrschaftlichere Lebensweise zu verschaffen und sich eine mittelalte oder ältere Witwe mit verfügbarem Einkommen anzulachen – also mit anderen Worten, ein Gigolo zu werden – , doch der Gedanke war ihm zutiefst zuwider. Diesen Weg würde er nur einschlagen, wenn sich in zehn, fünfzehn Jahren seine Verhältnisse immer noch nicht gebessert hatten, vorausgesetzt, er würde dann immer noch so gut aussehen.

Bis dahin traf sich Herbort mit seinen Freunden, um abends in die Traumhalle zu gehen, eine der bescheideneren, doch hellen und halbwegs modernen Spielstätten in Wien. Von den vielen Varietés der Stadt hielt die Traumhalle als eines der wenigen, was sie versprach: Sie war ein Traum, und nicht nur irgendein Traum, sondern ein Traum von einer solchen Großartigkeit, dass sie einer jeden Vorstellung von Traum entsprach.

Herbort war es gewesen, der vom Hängekünstler gehört und seine Freunde dazu ermuntert hatte, die ganze Vorstellung hindurch auf ihren Plätzen zu bleiben. »Die letzten paar Wochen wurde von nichts anderem mehr gesprochen«, erklärte Herbort ihnen. »Nicht nur von den anderen bei der Bank, sondern auch von den Kunden.«

»Was sagen sie denn?«, fragte ein Freund.

»Dass man ihn sehen muss, um es zu glauben.«

»Was soll das heißen?«, fragte ein anderer.

»Ich weiß es nicht«, sagte Herbort, und das stimmte auch. »Ich verstehe es so, dass das, was er macht … nun ja … unbeschreiblich ist.«

»Er erhängt sich«, sagte eine. Es war die große Blonde von der Verliebten Stockente, wo sie dadurch eine gewisse Berühmtheit erlangt hatte, dass sie acht Säufern neun volle Bierkrüge servieren konnte, ohne einen Tropfen zu verschütten. »Mehr macht er nicht«, sagte sie. »Hängt sich auf. Das ist kein Geheimnis.«

»An einem Seil?«, fragte jemand.

»Das nehme ich an«, sagte sie. »Wenn er einen Wurststrang genommen hätte, hätten wir davon gehört. Das wäre mal ein Spaß!«

Prinsky riss seinen stieren, beunruhigenden Blick von dem Mädchen los, das in der Wunderstraße wohnte, und sagte: »Das tut er nicht. Das kann er gar nicht.«

Sie bemühten sich, auf Prinsky einzugehen.

»Er kann was nicht?«, fragten sie.

»Sich aufhängen«, sagte Prinsky. »Wenn er sich wirklich erhängen würde, nun, dann wäre er die Sensation einer einzigen Vorstellung. Aber er tritt nun schon seit drei Wochen hier auf.« Er sah zu dem Mädchen hinüber, das in der Wunderstraße wohnte, um zu sehen, ob ihm sein praktischer Verstand aufgefallen war. Sie schob sich exakt drei Anisbonbons in den Mund und schlich sich an Herbort heran, der ihr Kommen gehört und sich davongemacht hatte.

»Ich glaube nicht, dass es so einfach ist«, sagte Herbort. »Mir wurde versichert, dass dieser Mann … nun, seine Vorstellung … sie ist … mehr als nur ein Trick, sie ist …«

Er sah von ihnen allen weg. Sie waren so einfach, dachte er, so stumpfsinnig. Was sie nicht verstanden, war für sie ein Witz. Und nichts war es wert, ausgesprochen zu werden, wenn es nicht einen Lacher hervorrief.

»Die Vorstellung geht gleich los«, sagte jemand, und sie gingen hinein.

Herbort folgte ihnen nicht gleich, sondern wartete an der Seite und sah nicht in das glitzernde Foyer der Traumhalle, sondern an die Decke desselben. Das Mädchen, das in der Wunderstraße wohnte, blieb neben ihm stehen.

»Stimmt was nicht, Herrmann?«, fragte sie.

»Alles bestens«, sagte er und gab die Antwort, die er immer dann gab, wenn eigentlich genau das Gegenteil der Fall war. »Sag mir noch einmal deinen Namen«, bat er sie, »denn es ist so ermüdend, immerzu von dir als das Mädchen zu denken, das in der Wunderstraße wohnt, oder als das Mädchen, das nach Lakritze riecht.«

»Denkst du so über mich?«, fragte sie. »Ich wusste gar nicht, dass du überhaupt an mich denkst.«

»Ich denke von dir auch als Prinskys Innamorata.«

»Was ist eine Innamorata?«

»Es bedeutet Liebchen, Freundin«, sagte er. »Schätzchen.«

»Das bin ich aber nicht«, sagte sie. »Nicht von ihm – und auch von sonst keinem.«

»Erzähl das Prinsky.«

»Das sollte nicht nötig sein. Ich achte doch gar nicht auf ihn. Warum er das bloß nicht kapiert …«

Er schob seinen Arm bei ihr unter. »Lass uns hineingehen. Wenn du so nett wärst, dich neben mich zu setzen, stünden meine Chancen besser, deinen Namen zu lernen.«

»Ich heiße Hannah«, sagte sie, gewärmt von seiner Aufmerksamkeit. »Und ich wohne nicht mehr in der Wunderstraße. Wenn du mir versprichst, dass du mich nach der Vorstellung nach Hause begleitest, zeige ich dir meine neue Adresse.«

»Und machst Prinsky eifersüchtig?«

»Hänsle mich nicht. Er ist so lästig. Ich wünschte, er würde nicht immer mitkommen.«

»Aber dann hätte ich keinen Rivalen«, sagte er.

»Jetzt hänselst du mich wirklich«, sagte Hannah, lächelte aber mit erhitzten roten Backen.

Hänselte er sie?, fragte sich Herbort. Vielleicht schon, und er schämte sich ein wenig. Sie gingen hinein, suchten ihre Plätze – ganz weit außen in der Reihe, am gegenüberliegenden Ende von Prinsky, dessen Miene sich finster umwölkte, als er die beiden zusammen hereinkommen sah – und überließen sich der wohligen Spannung, der Verheißung der nahenden Vorstellung.

Vom ersten Akkord an, den das bescheidene Orchester der Traumhalle anschlug, verspürte Herbort trotz der fröhlichen Musik und des schäbigen Putzes seiner Umgebung eine Schwere im Saal. Als hätte sich ein dünner, nüchterner, bernsteinfarbener Vorhang an diesem Mittwochabend auf Wiens vergnügungslustige Arbeiterklasse herabgesenkt. Er konnte sich das Gefühl nicht erklären – lag es daran, dass er sehen würde, wie sich ein Mann erhängte?

Er sagte sich, dass er sich vor dem letzten Akt jederzeit entschuldigen konnte, sollte die innere Düsternis unerträglich werden.

Nach dem Orchesterstück wurden dem Publikum verschiedene Nummern dargeboten, die allesamt krampfhaft bemüht waren, den altbewährten Klischees neue Wendungen und Variationen zu entlocken: Der italienische Tenor (der ungefähr so italienisch war wie eine Sachertorte) sang Lieder aus Spanien. Die beliebte Komödiantin (beliebt seit der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg) hatte sich einen Pagenschnitt zugelegt und ließ ein einigermaßen amüsantes, beinahe derbes Minitheaterstück in vier Szenen vom Stapel, unterstützt von einer Truppe von Schauspielern, von denen jeder höchstens fünf Zeilen Text abbekommen hatte. Die Drei Dierkop Schwestern stellten sich als vier heraus, was die Frage aufwarf, ob sie sich irgendwann einmal verzählt hatten oder schlicht eine Kollegin kannten, die Arbeit brauchte – doch das Quartett sang gekonnt vierstimmig und klang wie ein Schwarm Hornissen. Die Komiker bemühten sich verzweifelt und fiebrig um Lacher und wirkten so, als wären sie dankbar für jedes versprengte Kichern, das man ihnen gewährte, obschon sie die Sahnetorten klug einzusetzen wussten. (»Was für eine Verschwendung von gutem Essen«, flüsterte Hannah ihm zu.) Die Fliegenden Orkane brachten die Herkulestat zustande, trotz ihrer bedenklichen Pummeligkeit auf der Bühne herumzuhüpfen, -zupurzeln und -zufliegen.

Was, fragte sich Herbort, trieb sie nur dazu, mit einer solchen Vehemenz zu spielen? Als stünde nicht ihr Auskommen, sondern ihr Leben auf dem Spiel.

Schließlich war es Zeit für die letzte Nummer des Abends, wegen der alle gekommen waren, auch wenn es keiner zugeben mochte.

Das Orchester verstummte. Der Dirigent legte seinen Taktstock auf das Pult, und die Musiker drehten ihre Lampen herunter.

In der Traumhalle wurde es vollkommen finster, als sollten sie alle in einen Abgrund geworfen werden. Herbort merkte, dass es nun zu spät war, um die Vorstellung zu verlassen, und selbst wenn er es versucht hätte, hätte er nicht gesehen, wohin er überhaupt trat.

Ein kräftiger kalter Luftzug fegte ins Theater, das ganze Publikum fröstelte, obwohl es sich in dem normalerweise kühlen Gebäude wegen der Sommerhitze den ganzen Abend über stickig und warm angefühlt hatte.

Niemand bewegte sich. Niemand sagte etwas. Es war durchaus möglich, dass niemand atmete.

Der Vorhang öffnete sich, dahinter eine Wand aus Licht.

Nachdem sich die Augen an die plötzliche Helligkeit gewöhnt hatten, bot sich ihnen ein einfaches Bühnenbild in knallbunten Farben: Gelb und Rosa, Himmelblau und Froschgrün. Links stand auf einem Eichentisch ein bereits seit zehn Jahren aus der Mode gekommenes Parlophon-Grammophon, dessen Messingtrichter eine große blendende Blüte im Lichtergefunkel der Bühne darstellte. Den größten Teil der Bühne nahm rechts ein unheimliches Gebilde ein, das man in dieser Größe und Nüchternheit noch nie gesehen hatte: ein gewaltiger Galgen, beinahe so hoch, wie es die Bühne gerade noch gestattete. Zu seinen Füßen stand ein einfacher Korbstuhl.

Schwarz, streng und ohne Strick ragte der Galgen in die Höhe.

Da trat ein Mann auf.

Er war hochgewachsen und kräftig, sein Gesicht machte einen gesunden, wohlgenährten Eindruck.

Er trug einen braunen Leinenanzug, sportlich, sommerlich, maßgeschneidert auf seine kräftige Statur.

Seine großen Hände zierten feine braune Kalbslederhandschuhe.

Er lächelte ins Publikum.

Seine haselnussbraunen Augen funkelten.

Er fing an zu reden.

KAPITEL 3

Eine Bestätigung

Franz Kafka erwachte aus einem Traum und ging davon aus, dass das, was sich real angefühlt hatte, ebenfalls ein Traum gewesen war, doch er irrte sich und wusste nicht recht, wie er damit umgehen sollte.

Denn neben dem Fenster saß Gregor und las im Mondlicht einen Stapel Blätter quer.

»Dann habe ich es mir also nicht eingebildet«, sagte Franz.

»Hä?«, fragte Gregor.

»Ich meine«, sagte Franz, »du bist wahrscheinlich immer noch Einbildung, aber anscheinend bilde ich mir dich fortwährend ein.«

»Was immer du sagst.«

Franz gähnte. »Tja«, sagte er, »das ist immerhin mal was anderes, dass Dinge gleich bleiben zwischen einem Erwachen und dem nächsten. Wenn das nun auf dich zutrifft, umso besser, denn nach dir kann mich nichts mehr überraschen. Wie spät ist es?«

»Mittwoch wird bald dem Donnerstag weichen.«

Franz lauschte einen Moment lang der Stille. »Ich habe nicht …«

»Warte eine Sekunde«, sagte Gregor.

Die Uhr unten am Kierlinger Rathaus schlug Mitternacht.

»Ist jemand zu mir reingekommen?«, fragte Franz, nachdem das Geläut zu Ende war.

»Keine Ahnung«, sagte Gregor. »Ich war nicht die ganze Zeit hier, während du geschlafen hast.«

»Und ich dachte, man hätte dich gesandt, um über mich zu wachen.«

»Du meine Güte, nein. Ich bin nur zurückgekommen, weil mir langweilig war. Und die Welt da draußen ist … nun, das muss ich dir ja nicht erzählen.«

»Ein schreckenerregender Ort?«

»Unter anderem. Ein Misthaufen vor allem.«

»Ich dachte, du …« Doch Franz zensierte sich selbst.

Gregor seufzte. »Du dachtest, ich würde mich nicht an Misthaufen stören?«, fragte er. »Du hast immer schnell irgendwelche abfälligen Bemerkungen über meine Art parat, was?«

»Ich entschuldige mich.«

»Schon gut«, sagte Gregor und setzte sich rittlings auf den Papierstapel.

»Was liest du da?«

»Eine Geschichte von dir.«

»Von mir?«

»Die lag drüben auf dem Tisch.«

»Oh, ich habe ganz vergessen, dass ich an etwas geschrieben habe. Die letzte Woche war ich in erster Linie mit Sterben beschäftigt gewesen. Welche denn?«

»Über diesen Kerl, der zum Broterwerb hungert. Seltsames Zeug.«

»Gefällt sie dir?«

»Man kann die Zeit damit totschlagen.«

Franz dachte an seinen lieben Freund Max. Wären die Dinge wie geplant gelaufen, dann wäre Max vorbeigekommen, hätte die Geschichte mitgenommen und sie verbrannt, zusammen mit allen anderen Fragmenten, mit denen Franz sich abgemüht und die er zurückgelassen hatte. Denn Max gehörte zu der Sorte Freund, die alles taten, um was man sie bat. Und ehe das Sprechen für ihn unmöglich geworden war, hatte Franz ihn darum gebeten. Nun fragte sich Franz, ob er Max in seinem jetzigen Zustand immer noch dazu bringen konnte, seine Werke zu verbrennen.

»Kein Arzt hat sich blicken lassen, nehme ich an«, sagte Franz. »Niemand ist gekommen, um mir eine Gesundheitsbescheinigung auszustellen?«

»Nicht einmal, um dir die Rechnung in die Hand zu drücken. Schlaf weiter, und morgen … nun ja, heute … kannst du dich um die Zukunft sorgen.«

»Was willst du damit sagen?«

»Was will ich womit sagen?«

»Die Zukunft. Das klingt bedrohlich.«

»Sei doch nicht so paranoid. Träum weiter.«

»Woher weißt du, dass ich geträumt habe?«

»Aufs Geratewohl geraten. Von was hast du geträumt?«

Franz versuchte seinen Traum zu bergen. Bruchstücke davon trieben an die Oberfläche. »Musik«, sagte er.

»Welches Lied?«

Und da hörte Franz es wieder, von einer Jazzband gespielt, die so klang, als spielte sie am Ende eines langen Korridors und wäre mit einer nassen Wolldecke zugedeckt. »Etwas ganz Lächerliches … Ev’rybody Shimmies Now. Hast du das mal gehört?«

»Klar«, sagte Gregor.

»Wirklich?«

»Ich komme in der Welt herum.«

Franz schloss die Augen. »Von allen Liedern, die mir wieder einfallen wollen, ausgerechnet das. Und es klingt, als wolle es entkommen. Mir gefällt es nicht. Nicht nur, weil es billig ist, sondern weil … ich weiß auch nicht … es hat so etwas Verzweifeltes an sich …«

»Wenn du weiterschläfst, ändert sich das Lied vielleicht.«

»Wenn ich wach bleibe, muss ich mich vielleicht mit gar keiner Musik abgeben.«

»Tja, dann, bleib auf«, sagte Gregor.

Doch Franz schnarchte bereits wieder.

KAPITEL 4

Ein Nachtstück

Wir sehen verschiedene Leute auf ihrem Weg nach sonst wo. Es ist spät am Abend, und in den Straßen und Gassen Wiens hallt es immer noch laut von Musik und Menschen, Erstere jazzig, Letztere ein wenig benommen und schweigend, denn viele von ihnen haben gerade erst ein Varieté verlassen und Dinge gesehen, die sie nicht hätten sehen sollen.

Wir sehen einen Jungen von zwölf Jahren die Hand seiner Mutter gefasst halten, eine Hand, die er, seit er neun Jahre alt war, nicht mehr gehalten hat, denn er hat alles getan, um nicht mehr Muttersöhnchen genannt zu werden. Wir sehen seine Mutter, die von seiner Berührung aus etwas herausgerissen wird, was man nur als bedrückte Träumerei bezeichnen kann. Dem Jungen läuft die Nase, doch das merkt er nicht. Die Mutter nimmt ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und wischt ihm den Rotz weg. Ihre Blicke begegnen sich nicht.

Wir sehen einen jungen Mann vor dem Varieté herumlungern, die Hände hinterm Rücken, so schaut er langsam die Straße auf und ab. Um ihn herum wuseln Leute. Seine Miene könnte entweder diejenige eines Menschen sein, dessen Vorstellungen von Leben und Kunst und Ehrgeiz auf einen Streich brutal zunichtegemacht wurden, oder von einem, der sich gerade überlegt, ob er zu Fuß gehen oder ein Taxi heranwinken soll. Er hat seine Mappe und seine Mütze vergessen.

Wir sehen eine alte Frau vorbeigehen. Sie betrachtet die Straße, scheint es aber nicht aus irgendeinem bestimmten Grund zu tun. Sie lässt ihr Programmheft fallen. Sie bleibt stehen. Sie fängt an zu schluchzen. Sie nimmt die Hände vors Gesicht und schluchzt weiter, stumm, während andere an ihr vorbeigehen.

Wir sehen einen ziemlich unscheinbaren jungen Mann mit in die Taschen gesteckten Händen nach Hause stapfen. Er bleibt stehen, als aus einem Wirtshaus schallendes Gelächter heraushallt, und er betrachtet das helle gelbe Licht im offenen Eingang. Er sollte etwas trinken. Er musste etwas trinken. Denn zum Teufel mit all den Kerlen, die größer waren und besser aussahen und deren Gebaren einem Seidenband glich. Nein, zum Teufel mit all den anderen, die sich wegen dieser Goldmenschen zum Affen machten. Nein, zum Teufel mit allen. Mit ihr. Mit ihm. Mit ihnen.

Wir sehen ein junges Paar Arm in Arm dahinschlendern, sie von ihm bezaubert, und er galant, aber distanziert. Sie bleiben vor einem ehrenwerten, aber maroden Gebäude stehen. Alle Fenster nach vorn sind geöffnet, um die Luft der Sommernacht hereinzulassen. Die junge Frau sagt zu dem jungen Mann: »In der Wunderstraße war es netter, aber mehr kann ich mir momentan nicht leisten. Wenigstens ist es sauber.«

Wir sehen einen großen, kräftigen Mann mit einem hellbraunen Anzug aus dem Bühneneingang kommen. Er ist außer Atem, als hätte er pressiert oder etwas Gewaltiges gehoben. Er lächelt den fünf schwarzhaarigen Männern zu, die auf ihn warten.

»Danke, dass ihr gewartet habt. Habt ihr Hunger?«, fragt er.

Die fünf Männer schauen sich an. »Lädtst du ein, Henker?«, fragt einer.

Henker lacht. »Wenn ihr wollt«, sagt er.

Der Kleinste von ihnen sagt: »Mir ist nach etwas zu trinken.«

Seinen Brüdern ist offenbar auch nach etwas zu trinken.

»Dann kommt«, sagt Henker und führt sie aus der Seitengasse auf die Straße hinaus. »Die erste Runde geht auf mich, dann müsst ihr selber zahlen. Ihr wart heute Abend übrigens wirklich bemerkenswert. Habt ihr noch mal geprobt?«

Die Männer grunzen.

Der Größte von ihnen mustert Henker eingehend.

Der Zweitgrößte stößt den anderen mit dem Ellbogen an und macht ein Gesicht, als wolle er sagen: Schau ihn nicht so an.

Der Größte schaut weg.

Eine breite Gestalt in einem schwarzen Mantel und einem Hut tritt aus einer Tür und rempelt Henker an, der zu Boden stürzt. Der Kerl grummelt etwas, was sich wie eine Entschuldigung anhört, und hilft Henker auf die Beine. Er will den Schmutz von Henker wischen, doch der verscheucht ihn.

»Alles gut«, sagt Henker. »Passen Sie einfach besser auf, wo Sie hingehen.«

Die schwarze Gestalt tippt sich zum Abschied an den Hut und hastet die Straße entlang.

»… und seien Sie nicht so auffällig«, sagt Henker. Nur einer der fünf Brüder hört ihn, fragt aber nicht, was er damit meint.

Wir sehen zwei Frauen die Straße einer Wohngegend entlangeilen.

Eine bleibt stehen und stützt sich auf die andere.

»Mich zwickt was ganz arg«, sagt sie und öffnet die Schnürsenkel ihres Stiefels.

Sie stehen unter einer Laterne.

Der anderen Frau ist es zu spät, und die Straße ist ihr zu verlassen.

Sie wünscht sich, ihre Freundin würde sich beeilen.

Sie wünscht sich, ihre Freundin würde sich bessere Stiefel kaufen.

Sie senkt den Blick und sieht ihre beiden pummeligen Schatten.

Sie sieht den speergeraden Schatten der Laterne.

Mit dem Blick folgt sie dem Schatten, der bis über die Straße geht.

Dort sieht sie eine zweite Laterne.

Sie sieht einen Mann, der an ihr lehnt, seine Mütze verdeckt die Augen. Er schaut zu Boden.

Sie lässt ihre Freundin die Stiefel knüpfen und geht über die Straße zu dem Mann.

»Warm heute Abend«, begrüßt sie ihn. »Ich kenne ein kühles Örtchen, falls Sie Interesse haben.«

Er schaut nicht auf. Oder macht auch nur die leiseste Bewegung.

»Sie brauchen nicht so schüchtern sein bei mir«, sagt sie.

Sie berührt ihn am Arm.

Er bricht zu ihren Füßen zusammen.

Seine Mütze fällt herunter.

Sie sieht seinen starren Blick, sein dunkles Gesicht und seine heraushängende Zunge.

Sie schreit.

KAPITEL 5

Eine Wiederbelebung

Das Massaker war zu Ende. Es war rasch und erbarmungslos vonstattengegangen.

Es war nichts mehr übrig.

Der Kaffee war heiß und einladend gewesen, und der Zucker und die Sahne hatten gereicht, bis er den letzten Tropfen aus der Kanne gegossen hatte.

Der Saft – Orangen oder Grapefruit, er hatte ihn zu schnell hinuntergestürzt, um es sagen zu können – war frisch und ohne Fruchtfleisch gewesen.

Die Käse waren ein Geschenk des Himmels gewesen – der süße, buttrige Obatzde und der salzige, scharfe Weislacker. Wo hatte Gregor diese Delikatessen nur aufgetrieben?

Sowohl das gebratene Ei als auch das gekochte Ei waren genau richtig weich gewesen, das Müsli (zwei Schüsseln!) hatte überhaupt nicht wie Sägemehl geschmeckt, und der Joghurt, den er hineingerührt hatte, war weder zu sauer noch zu flüssig gewesen.

Die Brote – die Brote! – hatten warm geduftet, Vollkornbrot, Hörnchen, Laugenstangen, das täglich Brot im Überfluss, dazu süße Butter, gelber Honig und zwei Sorten Marmelade, Himbeere-Minze und Quitte.

Und die ausgezeichneten Wurst- und Fleischwaren würde er nie vergessen: Schlackwurst und frischer Bauernschinken in dicken Scheiben, dazu ein großer Berg Leberwurst.

Der einzige Hinweis darauf, dass es einmal etwas zu essen gegeben hatte, war das leere Geschirr auf dem Tisch, alles blank geschleckt.

Franz war ein neuer Mensch.

Und kaum war er fertig, befürchtete er, seine empfindliche Verdauung endgültig ruiniert zu haben. Für seine Völlerei würde er bezahlen, für seine Schlemmerei, er, der von Rechts wegen ein steifer Leichnam im Keller des Sanatoriums sein sollte, eine Leiche, die darauf wartete, dass sie von ihrer Familie abgeholt wurde.

»Als ob die kommen würden«, sagte Franz und schämte sich dafür, dass er es gesagt hatte. Seine Schwestern würden kommen. Wenn nicht beide, dann wenigstens eine von ihnen, vielleicht würden sie Streichhölzer ziehen …

Nein, er wollte nicht schlecht von seinen Schwestern denken, dazu hatte er kein Recht.

Sein Vater jedoch … Es hatte keinen Zweck, einen Gedanken an ihn zu verschwenden.

Franz wollte sich die angenehme Nachwirkung eines so bedeutsamen Mahls nicht verderben.

Gregor hatte ihn mit dem Frühstück geweckt (das für drei Frühstücke gereicht hätte!), mit dem köstlichen Duft und seinem höflichen, rasselnden Hüsteln. Dann hatte er gesagt: »Ich frühstücke woanders. Meine … Essgewohnheiten sollte ich besser niemanden sehen lassen. Du wirst es mir noch danken.« Dann war er verschwunden. Franz war sich nicht sicher, ob er sich tatsächlich in Luft aufgelöst hatte oder ob er aus dem Zimmer gekrabbelt war, während Franz sich mit einer derartigen Inbrunst auf seine Mahlzeit gestürzt hatte, dass eine Herde unzufriedener Elefanten durchs Zimmer hätte walzen können, ohne dass Franz hätte sagen können, in welche Richtung.

Bis zum Rand mit schwerem Essen angefüllt und ohne sichtbare Gesellschaft (ob nun menschlich oder nicht), fand sich Franz zum ersten Mal, seit er herausgefunden hatte, dass er nicht tot war, in einem Dilemma.

Was sollte er jetzt tun?

Er konnte sich nicht erinnern, wann er sich das letzte Mal vom Bett erhoben hatte, und trotz seiner Verdauungsmüdigkeit hatte er bestimmt keine Lust, wieder ins Bett zu gehen. Aber was dann?

Der Gang. Einen Blick aus seinem Zimmer hinaus. Vielleicht würde er einen anderen Patienten oder jemanden von der Belegschaft sichten. Er wollte es wagen.

Er ging zum Schrank, um seinen Morgenmantel zu holen, und als er ihn anzog, erblickte er sich in dem Spiegel, der an der Innenseite der Schranktür angebracht war.

Er sah aus wie ein Toter. Ein Toter, der gerade gut zu essen bekommen hatte, aber trotz allem ein Toter.

Normalerweise (aber wann war er das letzte Mal wirklich »normal« gewesen?) war er eher hochgewachsen und hager, hatte hohe Wangenknochen, etwas abstehende Ohren, ein kräftiges Kinn und einen Schmollmund, durch die Auszehrung der letzten Wochen allerdings …

»Schmollmund.«

Dora hatte von seinem »Schmollmund« gesprochen.

»Ich habe keinen Schmollmund«, erinnerte er sich gesagt zu haben, als sie das geäußert hatte.

Darauf hatte sie eine andere Bezeichnung gewählt, aber er hatte immer noch mit ihr darüber gestritten und behauptet, dass er so etwas nicht habe.

Und er hatte geschmollt.

Dora.

Nach dem Hunger spürte Franz nun den nächsten Schmerz: Sehnsucht.

Die Sehnsucht, die er nach Dora empfand, spornte ihn reichlich an, während er sich den Morgenmantel um die Bohnenstangenhüfte band. Er musste ein Telefon suchen. Er legte die Hand auf den Türknauf.

»Sei vorsichtig«, sagte hinter ihm eine trockene Stimme.

Franz drehte sich um. Gregor war wieder erschienen und räumte den Tisch ab.

»Vorsichtig wegen was?«, fragte Franz.

»Allem«, sagte Gregor und stapelte das Frühstücksgeschirr auf das Tablett, »aber vor allem, wenn du dich zeigst.« Er deckte das Tablett mit der Serviette zu und schob es unters Bett.

»Lass das nicht unter dem Bett«, sagte Franz. »Willst du, dass es hier bald wimmelt von …« Er brach ab. Gregor ließ die Läden hoch.

»Ungeziefer?«, fragte Gregor. »Zu spät.«

»Ich muss mich bei Dora melden«, sagte Franz.

»Vielleicht kommt sie von alleine.«

»Woher soll sie denn wissen, dass ich noch lebe?«

»Woher soll sie wissen, dass es anders ist? Du warst ja nie tot.«

»Aber ich war kurz davor.«

»Wir sind alle kurz davor.«

»Du weißt, wie ich es meine«, sagte Franz. Er rümpfte die Nase. »Bist du das oder ich?«, fragte er.

»Bestimmt wir beide«, sagte Gregor. »Wann hast du das letzte Mal gebadet?«

Franz konnte sich nicht erinnern. »Also ein Grund mehr, aus dem Zimmer herauszukommen.« Er drehte den Knauf und hätte sich fast den Arm ausgekugelt.

Abgeschlossen.

»Es ist abgeschlossen«, sagte er.

»Ich weiß«, sagte Gregor und summte, während er das Bett machte.

»Warum?«, fragte Franz. »Warum haben sie mich hier eingeschlossen?«

»Womöglich haben sie dich gar nicht eingeschlossen, sondern du hast sie ausgeschlossen.«

»Weshalb sollte ich das tun?«

»Keine Ahnung.«

»Könnte schon sein«, sagte Franz und rüttelte ein paar Mal vergeblich am Türknauf. »Heute bist du ziemlich undurchschaubar und nervig.« Er hämmerte gegen die Tür. Es war, als hämmerte er gegen eine Ziegelwand, und die Hand tat ihm weg. Deshalb zog er sich zum Stuhl zurück und setzte sich.

»Wo ist der Schlüssel?«, fragte er.

Gregor klopfte ein Kissen auf. »Schau mich nicht so an, ich habe ihn nicht.«

»Wie bist du raus und rein gekommen?«

»Lass einem Insekt seine Geheimnisse.«

Franz unterdrückte den Drang, den Tisch umzutreten, und riss sich zusammen. Er fragte sich, woher diese plötzlichen, heftigen Gefühlsausbrüche und sein Appetit kamen. Dass er das riesige Frühstück derart hinuntergeschlungen hatte, war ja noch begreiflich, da er seit Monaten kaum einen Happen feste Nahrung zu sich genommen hatte, aber er konnte sich keinen Reim auf die urwüchsige Lust machen, die er verspürte, wenn er sich an Dora erinnerte, oder auf den momentanen bestialischen Drang, Gregor wie den Käfer, der er war, zu zerquetschen.

Das sah ihm gar nicht gleich. Überhaupt nicht.

»Du wirst dich daran gewöhnen«, sagte Gregor.

»Das gefällt mir nicht.«

»Ich habe nicht gesagt, dass es dir gefallen wird, ich habe gesagt, dass du dich daran gewöhnen wirst.«

Franz stand auf und ging im Zimmer auf und ab. »Dann bin ich jetzt also in der Hölle, richtig?«, fragte er. »Ist es das? Ich habe keine Schwindsucht mehr und genug zu essen, aber ich bin in einem Zimmer gefangen mit einem riesigen … was bist du eigentlich genau? Eine Schabe? Ein Käfer? Und sag mir jetzt bloß nicht, dass ich das wissen müsste, weil ich dich erfunden habe …«

»Ich war mal Geschäftsreisender«, sagte Gregor, »falls das hilft, aber … nun, du hast ja gemeint, ich soll dir keine Sachen sagen, die du eh schon weißt …«

Jemand klopfte an die Tür.

»Aber jetzt im Moment solltest du wissen«, sagte Gregor, »dass andere Leute mich vielleicht sehen können, vielleicht auch nicht.«

»Du meinst, das weißt du nicht?«

Das Klopfen hielt an.

»Mir wäre es lieber, du würdest dich irren, wenn du meinst, ich wäre für andere sichtbar«, sagte Gregor etwas leiser. »Ich meine, ich könnte auch gehen, falls dir das angenehmer ist, aber ich kann mein Erscheinen und Verschwinden nicht notwendigerweise kontrollieren, deshalb solltest du am besten nicht mit mir reden, als wäre ich für andere sichtbar, wenn du mich noch sehen kannst, während andere zugegen sind, denn wenn sie mich nicht sehen können, halten sie dich für verrückt.«

»Aber das bin ich doch«, sagte Franz. »Ich bin ganz eindeutig verrückt.«

Das Klopfen wurde energischer.

»Jedenfalls«, sagte Gregor, »besteht keine Veranlassung zu sinnloser Komödie. Sprich mich einfach nicht an, selbst wenn ich etwas zu dir sage.«

»Warum flüsterst du denn?«

»Ich weiß es nicht.«

Franz wandte sich zur Tür um und rief: »Es tut mir schrecklich leid, aber die Tür ist verschlossen, und ich habe keinen Schlüssel.«

Das Klopfen brach ab, der Knauf drehte sich, und die Tür ging auf.

Der Mann, der hereinkam, lächelte Franz an und sagte: »Auf Sie habe ich gewartet.«

KAPITEL 6

Ein Besucher

Der Mann, der ganz geschäftig hereinmarschierte, redete ohne Unterbrechung.

»Sie schauen außerordentlich gut aus«, sagte er, »für jemanden, der schon so lange wie Sie an einem solchen Ort ist, was natürlich heißt, nicht so lange wie andere, aber ganz gewiss auch nicht so kurz wie manche, wenn Sie wissen, was ich meine, und wenn nicht: Ich meine die hoffnungslosen Fälle, diejenigen, die hier in der Kiste hinausgehen, wenn ich mich diesbezüglich einmal so unfein ausdrücken darf, und das tue ich recht häufig. Sie sind nicht angezogen. Bin ich zu früh? Manchmal bin ich zu früh. Ich bemühe mich, pünktlich zu sein, aber da ich immer1 so sehr darauf achte, pünktlich zu sein, bin ich oft früher da, als es gesellschaftlich vertretbar ist, aber das hier ist ja kein Freundschaftsbesuch, auch wenn ich generell versuche, sehr freundschaftlich – freundlich? – zu sein. Wenn Sie gerade beim Anziehen sind, ignorieren Sie mich einfach, ich drehe mich um, auch wenn ich schon alles gesehen habe, freilich nicht von Ihnen, aber Sie wissen, was ich meine, mich bringt nichts in Verlegenheit, noch sollte Ihnen meine Gegenwart peinlich sein, denn wir haben so viel zu besprechen, so viele Einzelheiten zu klären. Das ist ein sehr angenehmes Zimmer, sehr angenehm, und auch noch ganz oben, ich war ja noch nie selber hier, weder als Besucher noch als Patient, toi, toi, toi, ist das Holz? Es ist Holz. Und was für ein schönes. Wenn Sie einen Sommeranzug haben, würde ich Ihnen dazu raten, draußen ist eine Gluthitze, aber ich presche zu sehr voran, Sie kennen mich ja noch gar nicht, woher auch? Hier, meine Karte.« Der Mann zog eine Karte hervor und reichte sie Franz. In geprägten schwarzen Buchstaben stand auf glattem cremefarbenem Grund zu lesen:

BEIDE

Inspektor

»Sie lesen die Rückseite«, sagte Beide.

Franz drehte die Karte um. Auf der Vorderseite standen in geprägten cremefarbenen Buchstaben auf glänzend schwarzem Hintergrund die Worte:

Inspektor

BEIDE

Franz betrachtete den Besitzer der Karte einen Moment lang.

Er war ein aufgeweckter junger Mann, dessen Züge etwas knabenhaft Weiches hatten. Die tiefblauen Augen blickten vergnügt, die Wimpern waren lang. Er trug eine Uniform, die Franz nicht kannte; die roten Paspeln am priesterlichen Kragen und an den schmalen Aufschlägen hoben sich vom schwarzen Stoff ab. Beherrscht wurde die Erscheinung jedoch von einem langen schwarzen Umhang, der an seinen rot gepaspelten Schulterstücken festgesteckt war und zu der eleganten schwarzen, fesch auf dem Kopf sitzenden Mütze passte.

»Inspektor von was?«, fragte Franz.

»Von allem Möglichen«, sagte Beide. »Aber vor allem Verbrechen – Sie können die Karte behalten – , denn so weit ist es gekommen, aber wenn Sie mich fragen, dann war die Welt seit jeher verbrecherisch, und letztlich habe ich deswegen etwas zu tun, habe ich etwas zu tun …«

»Sind Sie von der hiesigen Polizei, oder …?«

»Ich komme viel herum, so viel steht fest«, sagte Beide, während er den Schrank aufmachte, »hier und dort und überall, denn Verbrechen gibt es überall, oder sollte ich lieber sagen: das Böse? Tja, Böse ist ein eher faules Wort für all das, was in der Welt schlecht läuft, finden Sie nicht auch, genau wie das Wort schlecht, würde ich meinen, aber unsere Sprache ist so begrenzt, man muss mit den geläufigen Worten zurechtkommen, so gut es geht … Ich sehe, Sie haben einen Sommeranzug, ausgezeichnet, und Sie haben … Ah, die Hemden sind ja alle ganz weiß, tja, da ist man ja schnell eingekleidet, ich meine, weiße Hemden passen ja zu allem, und dieser Schlips würde sich gut mit dem Anzug machen, nun, was ist mit Schuhen? Oder tragen Sie Stiefel?«

Das Ganze hörte sich ungefähr so an, als lausche man einem Hobbymusiker, der sich auf der Flöte warm spielte, jedoch auf einer kräftigen, penetranten Flöte, die einen krassen Gegensatz zu Gregors Stimme bildete.

Er wandte sich nach Gregor um in der Annahme, er sei wieder verschwunden, doch er war noch da, stand in der hintersten Ecke und winkte ihm mit einem Beinchen zu.

»Denk dran, dass du nicht mit mir sprichst«, sagte Gregor. »Außerdem weiß ich sowieso nicht, was das alles soll.«

Franz richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Beide, der vor ihm stand und ihm Anzug und Hemd hinhielt.

»Stimmt etwas nicht?«, fragte Beide.

»Ich glaube, Sie haben sich im Zimmer geirrt«, sagte Franz und gab ihm die Karte zurück.

Beide legte die Kleidungsstücke auf das Bett und nahm die Karte. »Kafka, Franz, aus Prag. Vierzig Jahre alt«, sagte er. »Obwohl ich Sie auf dreißig, höchstens fünfunddreißig schätzen würde.«

»Ja. Ich bin Kafka.«

»Ich weiß. Das waren keine Fragen. Sind Sie sicher, dass Sie die Karte nicht behalten wollen? Die könnte mal ganz praktisch sein. Als Lesezeichen vielleicht, wenn Sie etwas lesen und das Buch schnell weglegen müssen, weil es an der Tür klingelt. Oder als Bierdeckel?«

»Was wollen Sie?«, fragte Franz.

»Eine Million Sachen«, sagte Beide und rauschte weiter durchs Zimmer, »aber, bitte, wollen Sie sich nicht anziehen? Nicht, dass Sie mit dem Morgenmantel nicht präsentabel wären, es ist nur … ach, machen Sie doch, wie Sie möchten, ich will ja, dass es Ihnen bequem ist, denn das, was ich Ihnen gleich sagen werde, könnte etwas unbequem für Sie sein, auf indirekte Weise, auch wenn es Sie tiefgreifender betreffen könnte, Sie bis ins Mark erschüttern könnte, wenn Sie so wollen, und damit meine ich, dass das, was ich Ihnen erzählen werde, für Sie so grausig sein könnte, dass … aber ich muss mich beeilen, es gibt so viele Fakten, und mit Fakten meine ich Charakteristika der Situation oder Situationen, denn inzwischen sind es ja so viele, aber ich hoffe, Sie werden erkennen, dass sie alle miteinander zusammenhängen, und die Verbindung zwischen ihnen, Herr Kafka, diese Verbindung wird, so hoffe ich, Ihnen gestatten zu erkennen, dass, falls möglich, Hoffnung besteht, alles zu einem hübschen kleinen Päckchen zusammenzuschnüren, sodass wir handeln können.«

Franz setzte sich benommen hin. Er hatte Beide nur zu einem Teil folgen können, doch hatte er das Gefühl, dass eine Kraft ihn dazu zwang, diesem eigentümlichen kleinen Mann ungeachtet der Angst, die ihn beschlich, seine Aufmerksamkeit zu schenken.

»Na gut«, sagte Franz.

»Erst Hose, oder erst Socken und Schuhe?«, fragte Beide.

»Wie bitte?«

»Ihre Gewohnheit«, sagte Beide. »Manche ziehen erst Socken und Schuhe an und ziehen die Hose dann darüber.«

»Weshalb sollte man das tun?«

»Falls es brennt.«

»Erst das Hemd«, sagte Franz und schüttelte seine Benommenheit ab, und Beide reichte es ihm.

»Interessant«, sagte Beide. »Sehr interessant. Sehr eigen. Den Rest überlasse ich Ihnen. Also, fangen wir an. Der Anfang stellt einen immer wieder vor ein Rätsel, finden Sie nicht auch?«

»Fangen Sie vorn an«, schlug Franz vor, während er sich anzog. Er konnte dem Mann den Gefallen ja mal tun, und vielleicht war die Geschichte, die er zu erzählen hatte, sogar ganz unterhaltsam.

»Ausgezeichnet«, sagte Beide mit strahlenden Augen. »Wusste ich doch, dass ich zum Richtigen gekommen bin. Na gut. Der Anfang. Der eigentliche Anfang, so ist meine Überzeugung, geht dem Anfang voraus, auf den ich mich beziehen werde, denn ich gehe davon aus, dass diese Sache ihre Wurzeln tief in Geschichten und Verhältnissen hat, die jenseits unserer Kenntnis oder unserer Zugriffsmöglichkeiten liegen. Doch wenn es um die Frage geht, weshalb ich hier bin, nun, bei Ihnen, und eine so köstliche einseitige Unterhaltung führe, dann fängt der Anfang vor zwei Monaten an, und zwar mit dem Mord an mehreren Personen.«

Beide hielt inne, um Luft zu holen und seine Worte wirken zu lassen.

KAPITEL 7

Immer dieselbe Totenleier

»Morde?«, fragte Franz.

»Ja. Und zwar am zehnten April.«

Das Datum kitzelte Franz’ Erinnerung aus irgendeinem Grund. »Reden Sie weiter.«

»Am zehnten April«, sagte Beide, »wurde die Leiche von Ulla Stach, einundzwanzig Jahre alt, in ihrer Wohnung in Rannersdorf gefunden. Fräulein Stach wurde am Morgen von ihrer Mutter entdeckt. Die Todeszeit wurde auf etwa zwischen Mitternacht und ein Uhr morgens ermittelt. Kennen Sie Rannersdorf?«

»Das könnte ich jetzt nicht behaupten.«

»Es gehört zu Schwechat. Kennen Sie sich in Schwechat aus?«

Franz zögerte. »Warum fragen Sie das?«

Beide lächelte. »Ich möchte herausfinden, ob Sie sich auskennen. Der Ort ist, wie ich glaube, wichtig.«

Franz zog seine Strümpfe an. »Ja«, sagte er. »Ich kenne Schwechat. Es liegt südlich von Wien, glaube ich. Der Fluss fließt durch. Ich habe einmal einen Ausflug dorthin gemacht. Auf dem Wasser. Wir – die Leute, mit denen ich den Ausflug gemacht habe, und ich – sind mittags in einer Gaststätte eingekehrt. Viel mehr weiß ich nicht darüber. Schien ganz nett zu sein.«

»So ist es«, sagte Beide, »und vielen Dank, dass Sie mir mehr Informationen gegeben haben als nötig, Sie geben einen ausgezeichneten Verdächtigen ab.«

Franz, mit dem Schuh in der Hand, stockte. »Ist es das?«, fragte er. »Sie verdächtigen mich, diese junge Dame ermordet zu haben?«

»Verdächtiger zu sein ist keine Schande. Nun bitte, Sie reagieren etwas vorschnell«, sagte Beide und lachte. »Warten Sie. Haben Sie etwas Geduld. Ich habe ja kaum angefangen.«

»Sie machen mich nervös.«

»Das ist nicht meine Absicht. Vielmehr glaube ich, dass meine Haltung und mein Benehmen äußerst angenehm sind.«

»Genau das macht mich nervös.«

»Fahren wir fort: Ulla Stach, tot. Die Obduktion besagt, dass sie erdrosselt wurde. Und nicht einfach nur erdrosselt, stellen Sie sich vor, sondern mit einem dicken Seil erdrosselt. Gar mit einer Henkerschlinge, wie der Gerichtsmediziner meinte, der, wie mir gesagt wurde, aufgrund seiner Arbeit im Gefängnis in jungen Jahren mit derlei Dingen einige Erfahrung hat.«

»Das Mädchen hat sich erhängt. Selbstmord. Hat sie eine Nachricht zurückgelassen, in der sie Gründe nennt, weshalb sie so etwas Schreckliches getan hat?«

»Ach, ich wusste doch, dass Sie so reagieren würden. Sie stellen hervorragende Fragen«, sagte Beide und konnte seine Freude kaum verbergen.

»Ich habe nur eine Frage gestellt«, sagte Franz und knüpfte sich die Schuhe.

»Das haben Sie. Ach. Nun, denn. Selbstmord. Wenn das der Fall wäre, dann hätte man sie am Seil hängend gefunden.«

»Ich nehme an, dass das nicht der Fall war.«

»Sie treffen den Nagel auf den Kopf. Und doch gab es Hinweise darauf, dass ein Strick benutzt wurde, nicht nur an ihrem Hals, sondern auch an dem breiten Balken in ihrem Zimmer, unter dem sie gefunden wurde. Und um Ihre Frage zu beantworten: nein. Sie hat keine Nachricht hinterlassen.«

»Machen Sie weiter. Mir ist so, als hätten Sie von Morden gesprochen, im Plural.«