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Tom Kaja wurde wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Es war nicht nur ein Mord, den er begangen hatte, auch nicht zwei. Seine Liste war lang, und immer waren es Kinder. Kaja wusste, dass diese Mauern ihn nicht aufhalten konnten. Denn er hatte da draußen noch etwas zu erledigen, eine Rechnung zu begleichen.
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Seitenzahl: 157
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Es war ein warmer Tag im Juni. Die Sonnenstrahlen drangen durch die Gitterstäbe und brachten helles Licht in seine Zelle. Es wurde Sommer. Er blickte von seinem kleinen Metalltisch auf und starrte durch das vergitterte Fenster.
Wie schön es jetzt wäre, da draußen zu sein, mit Frau und Kind durch die Felder zu spazieren und die Sonne zu genießen. Das Leben da draußen war hart und stressig, aber es hatte einen Sinn und es war im Gegensatz zu dem Leben hier drin ein Spaziergang.
Zwei Jahre war er nun schon hier, nicht direkt hier in dieser Zelle, aber seit zwei Jahren hockte er wie ein Tier in einem Käfig. Langsam gewöhnte er sich an den Gefängnisalltag. Langsam wusste er, wem er vertrauen konnte und wem nicht.
„Du wirst hier ein Außenseiter sein“, hörte er seinen Anwalt sagen, „Straftäter wie du stehen in der Knasthierarchie ganz weit unten. Sie werden dir den Arsch aufreißen und mit dir den Boden wischen!“
Er machte eine Pause und holte dann weiter aus. „Und weißt du, was sie noch mehr hassen? Sie hassen Typen wie dich. Typen, die sich anziehen, als seien sie ein Hollywoodstar der über den roten Teppich läuft, und Typen, die meinen, intelligenter zu sein als der Rest.“
Damals fing er an zu lachen, als sein Anwalt diese Worte von sich gab. Er fing an zu lachen, so wie er immer zu lachen anfing, wenn jemand etwas sagte, auf das er keine Antwort wusste. Heute wusste er, dass er recht gehabt hatte. Obwohl das mit dem Hollywoodstar eine maßlose Übertreibung war. Denn was war an einer Jeans und einem Hemd auszusetzen? Doch hier im Knast galt alles, was über eine Jogginghose und ein Achselhemd hinausging, als overdressed. Die drei Monate Untersuchungshaft waren schlimm, es verging nicht ein Tag, an dem er nicht bespuckt, geschlagen oder gestoßen wurde. Er hätte sich wehren können, hatte aber immer auf eine Entlassung aus der U-Haft gehofft. Mit dem Wechsel in eine andere Vollzugsanstalt besserte sich das Ganze. Hier saßen die Langzeithäftlinge, einige lebenslang. Ein paar, ihn eingeschlossen, mit anschließender Sicherheitsverwahrung. Hier gab es zwar auch Gewalt und Übergriffe, doch gingen sich hier die meisten eher aus dem Weg. Für ihn fiel das Los dennoch nicht gut aus. Sein Anwalt, Dr. Robert Posch, hatte recht behalten. Vergewaltiger, Pädophile und Kindermörder wie er standen unter den Ratten an letzter Stelle. Die meiste Zeit verbrachte er in seiner Einzelzelle, die er sich liebevoll eingerichtet hatte. Er besaß nicht viel, da waren dieser kleine Tisch am Fenster und der blaue Klappstuhl davor. Auf dem Tisch lagen ein Stapel Papier und ein Bleistift. Daneben stand ein kleines Kofferradio mit einer Digitaluhr. Sein Bett stand in der Ecke nahe beim Fenster, damit er auch von da hinausschauen konnte. An der gegenüberliegenden Wand hing ein alter Fernseher. Darunter befand sich ein kleiner Schrank, wo er CDs und seine Kleidung verstaute und etwas was ihm sehr wichtig war: sein Fotoalbum. Mit Bildern von seiner Tochter, ihrer Mutter und seinen Autos. Das Highlight war eine separate Toilette mit Waschbecken. Das hatte er Posch zu verdanken. Er sorgte schon vor Haftantritt dafür, dass seinem Mandanten eine Zelle zustand, die seinen Anforderungen gerecht wurde.
Manchmal, wenn Krawall in der Luft lag, schloss er sich in seiner Zelle ein, denn auch wenn er sich aus allen Konflikten heraushielt, war er ein potenzielles Opfer.
„Früher oder später wissen sie, warum du hier einsitzt, Tommy, und dann sieht es schlecht für dich aus.“
Er hasste es, wenn Posch ihn Tommy nannte. Posch wusste das und war amüsiert darüber, als er in seine wütenden blauen Augen blickte. „Tommy, Tommy, Tommy, wie kann man in so jungen Jahren schon so viel Scheiße am dampfen haben?“
Als die Polizei ihn verhaftet hatte, war er gerade mal dreißig Jahre alt. Bis dahin schien sein Leben für alle in Ordnung gewesen zu sein. Niemand hätte gedacht, dass er jemals für solch ein schweres Verbrechen schuldig gesprochen werden würde. Sein Lebenslauf war perfekt. Mit achtzehn Jahren schloss er sein Abitur mit einer 1,0 ab. Studierte und gründete mit einundzwanzig Jahren ein Unternehmen für die Herstellung von Spielwaren, welches nur zwei Jahre später auf dem Weltmarkt seinen Platz fand und großen Spielzeugherstellern Konkurrenz machte. Sein Unternehmen machte Millionenumsätze und seine Aufträge wurden immer größer. Er verliebte sich, kaufte ein Haus, in dem er und seine Freundin wohnten. Sein Leben war perfekt, bis zu diesem Tag, der alles veränderte.
Er freute sich nach einer Woche auf Geschäftsreise endlich wieder zu Hause zu sein, seine Liebste in den Arm zu nehmen, sie zu küssen und zu lieben. Morgen würde sein fünfundzwanzigster Geburtstag sein, diesen wollte er groß feiern. Er gab Gas. Es war ein milder Novemberabend und die Dämmerung begann in die Nacht überzugehen. Er fuhr die Landstraße entlang und gab noch mehr Gas, er war schnell, zu schnell. Gerade als er um die Kurve biegen wollte, hörte er ein lautes Scheppern, dann ein Ruckeln.
„Fuck!“, hörte er sich sagen, „Fuck! Fuck! Fuck!“
Er stieg auf die Bremse. Die Reifen quietschten und es begann nach Gummi zu stinken, als er stand. Er schnallte sich ab, öffnete die Fahrertür, stieg aus dem Wagen und ging um ihn herum. Die Schürze auf der rechten Seite hatten einen Kratzer, was hatte er mitgenommen? Da sah er es, ein schwarz-graues Mountainbike lag verbogen auf der Straße. Die Räder drehten sich noch. Ehe er es sich genauer ansehen konnte, vernahm er ein Schluchzen. Er entfernte sich vom Auto und ging ein paar Meter die Straße entlang. Da es bereits dunkel war, nutzte er sein Handy als Taschenlampe. Und dort lag er, ein Junge von circa zwölf Jahren.
Er winselte vor sich hin. „Ich kann nicht aufstehen. Mir tut alles weh“.
„Verdammte Scheiße!“ Er wusste nicht was er jetzt in solch einer Situation tun sollte, denn er war noch nie in solch einer Situation gewesen. Panik überkam ihm. Sollte er einfach wieder einsteigen und davonfahren? Aber dann würde man ihn finden. Man würde den Jungen und das Fahrrad finden. Man würde den Kratzer an seinem Auto entdecken und der Junge würde sich mit Sicherheit an ihn erinnern, an den Typen mit den blonden Haaren und blauen Augen, der ihn mit einem roten Ford Mustang überfahren hatte. Nein, er konnte den Jungen hier nicht liegen lassen.
„Hilf mir, bitte, hilf mir!“ Der Junge hörte nicht auf zu winseln, und dies machte ihn sehr nervös, er musste nachdenken und dazu musste der Junge mit diesem Gewinsel aufhören.
„Okay Tom, bleib cool.“ Er atmete tief ein. Dann beugte er sich über den Jungen, legte seine Hand um seinen Hals und drückte zu. Die einzige Gegenwehr, die er verspürte, war eine schwache Bewegung mit dem Kopf. Wahrscheinlich hatte sich der Junge sämtliche Wirbel gebrochen und war am gesamten Körper gelähmt. Er drückte fester zu und schließlich bewegte sich der Junge gar nicht mehr, er war tot. „O mein Gott, Tom, du hast ihn umgebracht!“
Er hatte immer noch ein Problem, er musste die Leiche und das Fahrrad loswerden. Er ging zurück zum Wagen und öffnete den Kofferraum seines roten Ford Mustangs. Er nahm eine Decke heraus, ging damit zurück und wickelte den Jungen darin ein. Er trug ihm zum Auto und legte ihn in den Kofferraum, dann schloss er ihn. Das Fahrrad hob er auf und brachte es in das kleine Waldstück neben der Landstraße. Die Räder hatten aufgehört, sich zu drehen. Dort im Wald versteckte er es unter Ästen und Gestrüpp. Man würde es finden, aber das war sein geringeres Problem. Er musste die Leiche loswerden. Er setzte sich in sein Auto und fuhr los. Er wusste nicht wohin, aber er wusste, er müsse eine Lösung finden. Sollte er sie vergraben? Nein, was wäre, wenn jemand die Leiche wieder ausgrübe? Und überhaupt, er hatte nichts dabei, womit er ein Loch hätte graben können. Und was wäre, wenn ihn jemand sah? Wie sollte man sich rechtfertigen, wenn man mitten in der Nacht im Wald ein Loch grub? Ihm kam eine Idee. Was wäre, wenn er die Leiche in kleine Teile teilte und die einzelnen Stücke an unterschiedlichen Stellen verteilen würde? Dann würde vielleicht ein Fuß oder eine Hand ausgegraben werden, aber niemals würde man die komplette Leiche finden und niemand würde ihm das anhängen, man würde eher einen kranken Psychopathen suchen. Ihm fiel noch etwas ein. Als er klein war, hatten seine Eltern eine Hütte im Wald, wo sie immer die Wochenenden verbracht hatten. Sein Vater war Jäger, und er hatte neben der Hütte sein Schlachthaus stehen. Das Schlachthaus war nur ein kleiner Verschlag aus Lehm und Holz. Darin befanden sich eine Schlachtbank, eine Knochensäge, Messer und eine Kühltruhe, um das Fleisch frisch zu halten.
Seit seinem sechsten Lebensjahr war er nicht mehr dort gewesen. Aber wenn niemand die Hütte abgerissen hatte, dann müsste es sie noch geben und er wusste noch genau, wo sie stand. Er fuhr ein ganzes Stück in die entgegengesetzte Richtung, aus der er gekommen war. Dann bog er links ab, folgte einer zweispurigen Straße, die vor dem Ortseingangsschild einspurig wurde. Vor dem Schild ging eine kleine asphaltierte Straße nach rechts ab. Dieser folgte er gute fünfhundert Meter, dann bog er nach links auf einen Feldweg ab, der ihn direkt in den Wald führte. Der Weg wurde immer unebener, es hatte die letzten Tage geregt und der Waldboden war regelrecht aufgeweicht worden. Er quälte sich durch den Schlamm, der immer tiefer zu werden schien. Sein Auto grub sich vorwärts und begann immer heftiger zu schlingern. Die Reifen wühlten den Boden auf, der sich als braun-schwarzer Schlamm am roten Lack des Wagens festsetzte. Sein Auto glich einem Marienkäfer, der auf dem Rücken lag und versuchte, wieder auf die Füße zu kommen. Es schien aussichtslos. Je weiter er fuhr desto weniger fanden die Räder Halt. Er würde sich festfahren, wenn er weiterzukommen versuchte. Er hielt den Wagen an, es konnte nicht mehr weit sein. Er stieg aus, öffnete den Kofferraum, nahm den in die Decke eingehüllten Jungen und setze seinen Weg zu Fuß fort. Der Weg kam ihn endlos lang vor. Der Junge in seinen Armen schien immer schwerer zu werden. Er brauchte eine Pause. Nein, er musste weiter, es musste hier irgendwo sein.
Die Eiche, da war die alte Eiche, sie musste über neunhundert Jahre alt sein, denn ihr Stamm war so dick, dass man drei Erwachsene gebraucht hätte, um sie mit den Händen zu umfassen. Zu ihren Füßen lagen Tesso, ein schwarzer Labrador, und Dobby, ein Mischling aus Schäferhund und Husky, begraben. Tesso und Dobby, das waren seine Buddys, seine besten Freunde, seine Beschützer gewesen. Jedes Mal, wenn er in seinem Bett lag und nicht schlafen konnte, weil die Äste der Tanne an sein Fenster klopften, beschützten sie ihn. Da draußen, das war kein Klopfen der Äste. Es war das Kratzen der großen Tatzen mit den langen scharfen Krallen des Werwolfes, der da draußen lauerte. Ein großes, schweres Tier, das aufrecht ging wie ein Mensch mit gelben Augen die im Dunklen funkelten und nach ihm gierten. Gleich würde er das Fenster zerschlagen und eindringen. Er würde ihn mit seinen langen Krallen einfach aufspießen und ihm den Kopf abbeißen. Keiner würde es merken, denn es würde so schnell gehen, dass er nicht schreien könnte. Niemand würde ihn hören und zur Hilfe eilen. Aber Tesso und Dobby waren da, sie würden ihn beschützen, den Werwolf vertreiben. Er liebte die beiden. Zwei Wochen nachdem Tesso verstorben war, starb auch Dobby, aus Kummer um seinen Freund. Tom erinnerte sich genau daran, wie sein Vater aus einer alten Holzkiste einen Sarg gebaut hatte. Seine Mutter hatte aus roten Saum das Polster genäht. Tom hatte eine Dose Hundefutter hineingelegt, als Stärkung für den Weg. Dobby war neben Tesso bestattet worden, und auch wie Tesso hatte Dobby einen Grabstein bekommen, mit Namen darauf. Weder Dobbys noch Tessos Grabstein lagen noch da. Sicherlich hatte sie irgendjemand mitgenommen. Wer und warum, das war jetzt auch egal, hier gab es ein Problem und das musste gelöst werden.
Die Eiche war noch da und auch die Hütte stand noch. Genau gegenüber der alten Eiche, wie er es in Erinnerung gehabt hatte. Das Tor zur Einfahrt war rostig und stand einen Spalt offen. Die Einfahrt war überwuchert, er musste aufpassen, wo er hintrat. Im Carport, welcher mittlerweile schon zerfallen war, stand der alte Pickup, mit dem sein Vater immer zur Jagd gefahren war und einige Stunden später ein geschossenes Wild auf die Ladefläche gelegt hatte. Zwar glich das Rot eher einem verblichenen Orange, aber er stand noch genauso da wie ihn sein Vater damals, am letzten Tag, den sie hier verbrachten, abgestellt hatte. Neben dem Carport führte eine Treppe zur Veranda des Hauses. Er stieg die Treppe hinauf, den toten Jungen immer noch im Arm, ging er zur Tür. Sie war abgeschlossen.
„Verdammt!“, sagte er. Er setze den Jungen auf die Schaukel, die auf der Veranda neben der Tür stand. Er lief die Treppe hinunter zum Carport. Die Axt lag noch da und war noch intakt. Er nahm sie, rannte zurück, stolperte die Treppe hinauf und stürzte. Er stieß einen lautlosen Schrei aus, denn er hatte sich sein Knie aufgeschlagen. Er stand auf, sprang die letzten Stufen hoch, stürmte zur Tür und schlug zwei-, dreimal mit der Axt gegen die Tür, bis das Schloss nachgab und aufsprang. Er stand in der Stube mit dem Tisch und der Holzbank. In der Ecke das kleine Sofa, das modrig roch. Das Dach der Hütte war undicht und es hatte über die Jahre hineingeregnet. Er ging rechts zur Tür, die zum kleinen Korridor führte. Am Ende des Korridors befand sich die Küche. Ihr gegenüber das Badezimmer. Es war einfach und schlicht eingerichtet. Toilette, Waschbecken und hinten in der rechten Ecke war eine Duschbrause an der Wand befestigt.
Wenn er duschte und eine Spinne auf seinen Fuß krabbelte, dann nahm er den Duschkopf und zielte auf die Spinne. Es bereitete ihm einen Heidenspaß zu sehen, wie die Spinne versuchte, dem Wasser zu entkommen, bis sie den Abfluss hinuntergespült worden war.
Hinter der Tür, neben der Küche, befand sich das Zimmer seiner Eltern und daneben lag sein Zimmer. Er wollte einen Blick hineinwerfen, doch dann erinnerte er sich, warum er hier war. Er drehte sich zum Stromkasten um, der sich direkt an der Wand zum Wohnzimmer befand. An dieser Stelle war alles trocken. Er glaubte zwar nicht an einen Erfolg, legte aber doch den Schalter um und war überrascht, dass sich noch Strom auf der Leitung befand. Das Licht ging an. Niemand hatte die Leitungen gekappt und es war, als hätte man erst gestern das Licht ausgeschaltet. Er ging die Tür zur Veranda hinaus, die Axt immer noch in der Hand. Er packte den Jungen am Arm und schleifte ihn nur noch über den Boden. Die Decke rutschte vom Körper. Tom nahm sie und legte sie sich über die Schulter. Er war nun am Schlachthaus. Auch hier war die Tür verschlossen, und er öffnete auch sie auf die gleiche Weise wie die Tür zur Hütte.
Er legte Axt und Decke beiseite und warf den Jungen auf die Schlachtbank. „Du lässt mir keine andere Wahl“, sprach er den Toten an. „Warum musstest du auch gegen mein Auto fahren?“
Er brauchte jetzt eine Zigarette. Er war kein Raucher, aber immer wenn er nervös war, griff er zur Zigarette. Und er war gerade sehr nervös. Er hasste Situationen, die er nicht planen konnte, und dass er nun hier stand, mit dem Jungen auf der Bank, war nicht Teil seines Plans. Er starrte den Toten an, immer noch fassungslos und ein wenig verwirrt. Er musste ihn ausziehen. Ja, bevor er die Säge benutzen konnte, musste er ihn ausziehen. Sanft, ohne ihm wehtun zu wollen, zog er erst Jacke, Pullover, dann Schuhe und Hose aus. Bei der Unterhose geriet er ins Stocken, aber auch die musste weg. Es war alles andere als würdevoll und er verspürte jetzt etwas wie Trauer. Er steckte den Stromstecker der Säge in die Steckdose, auch sie funktionierte. Er hob sie an und schaltete sie wieder aus. Er schaltete sie wieder an und wieder aus. Nein, er konnte das nicht tun. Eine Stimme sagte ihm, er solle es tun, eine andere flehte ihn an, es zu lassen.
„Oh mein Gott!",stieß er hervor. Er brauchte jetzt eine Zigarette, bevor er durchdrehte. Wo waren sie? Er hatte sie im Auto vergessen.
Tue es. Nein. Tue es! Nein! Tue es! Verdammte Scheiße, nein!
„Oh mein Gott, Tom du drehst durch!“ Sein Atem wurde schneller, er schnappte nach Luft, dann rannte er hinaus. Wieder nahm er sein Handy als Taschenlampe. Er wollte zum Carport rennen, als er wieder stürzte. Diesmal war es eine Baumwurzel, er stürzte und schlug mit seiner Lippe auf einer Betonplatte auf. Blut floss an seinem Kinn herunter, er wischte es sich weg. Sein Bein, welches er sich zuvor aufgeschlagen hatte, schmerzte jetzt. Halb humpelnd, halb rennend, lief er auf den Carport zu, das Handy immer noch in der Hand, suchte er nach einem Spaten. Er fand einen. Mit dem Spaten in der rechten und dem Handy in der linken Hand humpelte er dorthin, wo früher einmal ein Beet gewesen war. Er stach den Spaten in die Erde und grub ein Loch. Es war mühselig. Schweiß brach aus den Poren seiner Haut. Er schwitze mehr vor Angst als vor körperlicher Anstrengung. Es war dunkel, aber er hatte Angst gesehen zu werden, denn das Licht der Hütte konnte den einen oder anderen anziehen. Gott allein weiß, wer sich nachts im Wald aufhält. Als er das Loch groß genug fand, ließ er den Spaten fallen. Er kroch jetzt mehr als dass er ging. Die Schmerzen wurden immer schlimmer. Er erreichte den Jungen, packte ihn an beiden Armen und zog ihn über den Boden. Klatschnass vor Schweiß und voller Dreck rollte er ihn in das Loch. Die Kleidung des Jungen fehlte, er hatte sie fast vergessen, also kroch er zurück, um sie zu holen und zu begraben. Mit letzten Kräften schaufelte er das Loch zu und kehrte mit Spaten und Handy zum Schlachthaus zurück. Er ließ den Spaten fallen, nahm die Decke und quälte sich zum Haus. Tom hatte das Gefühl, dass der Weg doppelt so lang war. Endlich erreichte er die Veranda, er kämpfte sich zum Stromkasten und schaltete den Strom ab. Absolute Dunkelheit. Die einzige Lichtquelle, die ihm blieb, war sein Handy. Er wusste nicht mehr, wie er es zum Wagen geschafft hatte, aber er hatte es geschafft. Er öffnete die Tür, legte die Decke auf den Fahrersitz, damit seine vom Schlamm verdreckte Kleidung seinen Sitz nicht versaute. Völlig erschöpft, ohne die Situation richtig verstanden zu haben, fuhr er nach Hause, dabei schien er gleich zwei Zigaretten nahezu zu inhalieren.
Das Hoftor öffnete automatisch. Er passierte es und fuhr in die Garage, in der ein blauer Cayman und ein weißes Ford-Mustang-Cabriolet standen. Tom stellte den Motor ab, stieg aus und öffnete den Kofferraum des Cayman, der Marlene gehörte. Er hatte den Zweitschlüssel des Porsche immer bei sich. Marlene hatte im Kofferraum stets eine Rolle Müllbeutel, er riss sich einen Beutel von der Rolle und zog seine Kleidung aus – er konnte so schmutzig nicht das Haus betreten –, packte sie in den Beutel und legte diesen in sein Auto. Dann schloss er beide Autos ab. Barfuß, mit aufgeschlagenem Knie, dicker Lippe und nur mit einer Unterhose bekleidet ging er ins Haus. Im Haus war alles dunkel. Marlene musste schon schlafen. Er wollte gerade die Treppe zum Schlafzimmer hochgehen, als ihm einfiel, dass er sich gar nicht gewaschen hatte. Er musste aussehen wie ein Schwein, das sich im Dreck gesuhlt hatte. Er ging in das untere Badezimmer, schaltete das Licht ein und schloss die Tür hinter sich. Ein Blick in den Spiegel verriet, wie furchtbar er aussah. Die Lippe war so aufgeschwollen, dass sie der Lippe eines Boxers ähnelte, dem im Ring von seinem Gegner stark zugesetzt worden war. Sein Gesicht war voller Dreck und unter seinen Fingernägeln klebte getrocknete Erde. Er sah aus wie jemand, der im Dschungelcamp an einer Quest teilnahm, bei der man im Schlamm nach Gegenständen suchen musste.