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Konzipiert ist dieser Band aus der Reihe ,Kultur - Herrschaft - Differenz' als Bilanz, Rückschau, Reflexion und Fortführung von Kakanien revisited als einem der erfolgreichsten kulturwissenschaftlichen Netzwerke, die mit großem internationalem Widerhall von Österreich aus initiiert wurden. Die Initiative, die Forschungsprojekte in Wien und Zagreb, internationale Symposien und Internet-Formate umfasst, basiert auf einigen Prämissen in Bezug auf die Habsburger Monarchie und deren Nachfolgestaaten, die in diesem Band noch einmal grundsätzlich und anhand exemplarischer Beispiele diskutiert werden sollen. Im Fokus steht ein geweiteter Begriff von Kultur, der um Medialität und Macht kreist und in dem das Verhältnis von Zentrum und Peripherie, das Paradigma der Ähnlichkeit sowie das kollektive Gedächtnis eine zentrale Rolle spielen. Weiters geht dieser Band der Frage nach den Gemeinsamkeiten und Unterschieden von Imperialität und Kolonialismus nach sowie der Methodologie der Kulturanalyse.
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Seitenzahl: 379
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Marijan Bobinac / Wolfgang Müller-Funk / Clemens Ruthner (Hrsg.)
Kakanien revisited – Rückblick und Ausblick
2000-2024
Coverfoto: Schloss Drosendorf NÖ © Sabine Müller-Funk
Dem Andenken an unsere Forschungspartner Anil Bhatti (1944-2023) und Heidemarie Uhl (1956-2023) gewidmet
Gedruckt mit Unterstützung der niederösterreichischen Landesregierung und des Zukunftsfonds der Republik Österreich
DOI: https://doi.org/10.24053/9783381124022
© 2024 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen
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Internet: www.narr.deeMail: [email protected]
ISSN 1862-2518
ISBN 978-3-381-12401-5 (Print)
ISBN 978-3-381-12403-9 (ePub)
Im Jahr 2000 fand das erste Symposion des sich konstituierenden Forschungsnetzwerks Kakanen revisited in der Grenzstadt Raabs an der Thaya im Nordosten Österreichs statt. Fünfzehn Kilometer davon entfernt blickten die Kakanier*innen 2022 im benachbarten Drosendorf, das übrigens in Franz Grillparzers Drama König Ottokars Glück und Ende zweimal Erwähnung findet, auf mehr als zwanzig Jahre transnationaler Zusammenarbeit zurück. Dass das Grillparzer-Stück nicht nur bei Claudio Magris als Grundstein für den „habsburgischen Mythos“ in der österreichischen Literatur gilt, sei hier nur angemerkt.
Der lange Atem von Kakanien revisited, das inzwischen als ein kaum zu vernachlässigender Beitrag zu den Central European Studies angesehen werden darf, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass der vorliegende Band in unserer Buchreihe Kultur-Herrschaft-Differenz die Nummer 30 trägt – wobei nicht alle Bände dieser Reihe im Rahmen unserer Forschung, sondern auch zu verwandten Themen erschienen sind. Dabei sind die Beiträge in der inzwischen nur mehr als Archiv zugänglichen digitalen Publikationsplattform Kakanien revisited noch gar nicht mit eingerechnet.
Kakanien revisited als der inoffizielle Titel von und Rahmen für insgesamt drei Forschungsprojekte ist mehr als nur eine launige Referenz an Robert Musil und das achte Kapitel seines Romans Der Mann ohne Eigenschaften, das eben diesen Titel trägt: Entfaltet doch der Autor hier, im Anschluss an seine früheren Aufsätze (Politik in Österreich, 1912; Politische Bekenntnisse eines jungen Mannes. Ein Fragment, 1913) einen überaus originellen Blickwinkel auf den durch die Habsburger Monarchie geprägten Raum in der Mitte Europas. Dabei verbindet sich die Diagnose einer retardierten Moderne, wie sie für Imperien des habsburgischen Typus charakteristisch ist, mit dem interessanten Befund, wonach die „Eigenschaftslosigkeit“ nicht bloß für den Protagonisten Ulrich, sondern eben auch für jene Monarchie gilt, die einmal mit großem K, einmal mit kleinem k und dann sogar mit einem großen und einem kleinen K. u. k. versehen wird, eben weil ihre Referenzen und Bezüge – kaiserlich-österreichisch, königlich-ungarisch, k. u. k gesamtstaatlich) unscharf sind. Mit dieser Unschärfe geriet der habsburgische Vielvölkerstaat unvermeidlich in Konflikt mit all jenen, die auf Identität und Eigenschaften pochen, Nationalisten, Ideologen und Erlöser. Hinter all diesen fixierenden Etiketten und Prädikationen wird indes jene Leere sichtbar, die in der Moderne zum gar nicht so heimlichen Movens avanciert. (Ob Kakanien, wie Joseph Roth, ein Freundfeind Musils, einmal geargwöhnt haben soll, eine exkrementale Anspielung enthält, soll hier offenbleiben.)
Damit leistet der Roman auch einen analytischen Beitrag zur Frage des Verhältnisses von pluri-identischen Imperien und mono-identischen ‚Völkern‘ bzw. Nationsprojekten. Gleichzeitig geraten in diesem Prozess die traditionellen Ordnungen ins Wanken, was der Roman anschaulich an jenen Menschen zeigt, die sich um die geplante sinnrettende und bedeutungsstiftende „Parallelaktion“ herum in Stellung bringen.
Kakanien revisited steht nun für eine ganz bestimmte Sichtweise dieses so heterogenen und doch zugleich auch grenzüberschreitenden Raums – eine Sichtweise, die sich im Anschluss an Denker wie Georg Simmel, Sigmund Freud, aber eben auch an Robert Musil als Ambivalenz bestimmen lässt. Diese geht über das reine Weder-Noch – Völkerkerker vs. vorweggenommene europäische Union – hinaus, auch wenn sie dieses voraussetzt. Ambivalenz meint also, dass Anziehung und Ablehnung, Liebe und Hass, Hoffnung und Zweifel auf merkwürdige und untrennbare Weise zusammenfallen. (Um diese Ambivalenz zu beschreiben, bedient sich Musils Roman der unmöglichen rhetorischen Figur, die Ja sagt und Nein meint. Und umgekehrt.)
So besehen ist der neue Blick auf die Monarchie, das revisiting, auch ein Wiedersehen alter Sichtweisen, die freilich lange Zeit nicht zum Zug gekommen sind. In gewisser Weise hat Musil einen wesentlichen Punkt herausgearbeitet, der in den meisten neueren Theorien über Nation und Nationsbildung ungeachtet aller Unterschiede von Belang ist: die Modernität der erfundenen Nation und ihrer identitätspolitischen Setzungen. Ebenso hat Musil deren bedenkliche Seiten aufgezeigt und zugleich das befriedete imperiale Selbstbild, das sich dem nationalistischen Symbolhaushalt entgegenstellt, kräftig ironisiert.
Einen kulturwissenschaftlichen Blick, der tendenziell schon in Musils Roman obwaltet, kann auch das methodische Besteck, dessen sich das Netzwerk Kakanien revisited bedient, schwerlich verleugnen: die Bezugnahme auf bestimmte Prämissen der britischen Cultural Studies, die Imperien- und Nation(alismu)sforschung, Postkolonialismus, die Dynamik von Zentrum und Peripherie, medientheoretische Überlegungen, die kritische Reflexion von Fremd- und Selbstbildern oder die Einbeziehung psychoanalytischer, narratologischer und semiotischer Perspektiven.
Im vorliegenden Sammelband werden nun die Ergebnisse des Symposiums präsentiert, das unter dem Titel Kakanien revisited. Rückblicke und Ausblicke auf Mitteleuropa vom 22. bis zum 24. April 2022 stattgefunden hat. Diese Drosendorfer Veranstaltung wurde von den Organisatoren als Bilanz, Rückschau, Reflexion und Fortführung des Projektes Kakanien revisited konzipiert, welches zu den erfolgreichsten kulturwissenschaftlichen Forschungsvorhaben gehört, die von Österreich aus initiiert wurden und einen großen internationalen Widerhall gefunden haben. Kakanien revisited begann als ein FWF-Forschungsprojekt sowie als ein vom österreichischen Wissenschaftsministerium finanziertes Internet-Pilotprojekt; es folgten zwei weitere von staatlichen funding agencies finanzierte Forschungsprojekte in Wien und Zagreb, an denen sich viele Human- und Sozialwissenschaftler*innen aus verschiedenen Herkunftsländern beteiligt haben. Parallel dazu liefen auch mehrere bilaterale Kooperationen zwischen Österreich auf der einen sowie Tschechien, Ungarn, Rumänien und Kroatien auf der anderen Seite. Hinzuzufügen wäre auch, dass Kakanien revisited zu zahlreichen Partnerschaften und Initiativen führte, die von den theoretischen und thematischen Fokussierungen der Forschungsgruppe beeinflusst worden sind; darüber hinaus hat es in den universitären Alltag vieler Länder Eingang gefunden.
Die seit der Gründungstagung in Raabs 2000 erschienenen Sammelbände und Monographien im Rahmen von Kakanien revisited kreisen jedenfalls um die kulturelle Beschaffenheit eines so faszinierenden Raumes, wie ihn eben jener mittlere Teil des Kontinents darstellt, in dem die Geschichte des 20. Jahrhunderts – Erster Weltkrieg, Zusammenbruch der Doppelmonarchie, Zwischenkriegszeit, Zweiter Weltkrieg, Genozide, Kalter Krieg der Systeme und der Zusammenbruch der totalitären Regime in Mittel- und Osteuropa – vielfältige Spuren hinterlassen haben. Auf diese post-kakanische Region trifft zu, was Jurij Lotman generell über den semiotischen Raum gesagt hat: dass er „sowohl ungleichmäßig und asymmetrisch als auch einheitlich und homogen“ ist.1
Kakanien revisited operiert bis heute grosso modo mit einem Konzept von Kultur, dass diese durch Phänomene wie Differenz und Macht gezeichnet sieht. Dabei spielen und spielten Begriffe wie ‚postimperial‘ und die Frage der Anwendbarkeit postkolonialer Ansätze eine maßgebliche Rolle in der Suche nach einem dritten Weg jenseits von historischer Nostalgie und der Fortschreibung national(istisch)er Identitäts- und Opferkonzepte. Ein ganz wichtiger Nebeneffekt ist, dass in diesem Versuch einer kulturellen Zusammenschau des post-kakanischen Raumes (Österreich und die „Nachfolgestaaten“) Korrespondenzen zwischen den einzelnen Literaturen und Kulturen zutage treten, die durch die Betrachtungsweise nationaler Literatur- und Kulturgeschichten oft verschüttet oder zumindest verschattet geblieben sind. Dies soll sich nun auch im Aufbau des vorliegenden Jubiläumsbandes spiegeln.
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Die erste Sektion des vorliegenden Buches stellt unter dem Titel Herrschaftsformen in Zentraleuropa die Habsburger Monarchie in den methodischen Rahmen der Imperienforschung. Dabei kommt auch die Bedeutung des Postimperialen zur Sprache.
In seinem Eröffnungsbeitrag vertritt PieterJudson (Florenz) die anregende These, dass der Übergang vom Imperium zu den Nationalstaaten in Zentraleuropa in vieler Hinsicht fließend sei: Die Nationen, deren Entstehungsprozess sich innerhalb des habsburgischen Vielvölkerreichs im 19. Jahrhundert vollzog, waren zwar nicht formal anerkannt, konnten aber ihre Existenz durch die Gründung ihrer wichtigsten Institutionen durchaus behaupten – ein Umstand, der die oft vorgetragene Annahme dementiere, die Donaumonarchie wäre ein „Völkerkerker“ gewesen. Auf der anderen Seite lasse sich nicht übersehen, dass die Nationalstaaten, die aus der Konkursmasse der k. u. k.-Monarchie hervorgegangen sind, viele Kennzeichen imperialer Praktiken behalten und daher wie eine Art ‚kleiner Imperien‘ ausgesehen haben: In der post-kakanischen Zeit lassen sich zwar, so Judson, einige wichtige Brüche, insbesondere in der binnenstaatlichen Beweglichkeit sowie im Wirtschafts- und Bildungssektor festhalten; weitaus bedeutender zeigen sich aber die Kontinuitäten zur imperialen Vergangenheit, etwa in den Bereichen von Jurisprudenz, Verwaltung und Militär, die einen funktionierenden Übergang zum neuen, nationalstaatlichen Rahmen ermöglichten. Die Machtkontinuität sollte daher, wie Judson an mehreren Beispielen zu zeigen sucht, viel mehr als Regel denn als Ausnahme angesehen werden. So seien etwa die Versprechen neuer Machthaber, die anvisierten Nationalstaaten auf demokratische Grundlagen zu stellen, am imperialen Charakter neuer staatlicher Gebilde, an der nationalen Differenz ihrer Bürger*innen und der damit zusammenhängenden Ungleichheit gescheitert. Judson kommt zum Schluss, dass eine begriffliche Unterscheidung zwischen Imperium und Nationalstaat unter nationalistischem Vorzeichen unmöglich sei; ihren heuristischen Wert könne sie vielmehr nur durch eine analytische Verwendung erhalten, bei der konkrete soziale, politische und kulturelle Praktiken berücksichtigt würden.
Wie sich die theoretischen Schwerpunkte der – ansonsten lose verbundenen – Forschungsgruppe Kakanien revisited seit dem Beginn der 2000er Jahre von einem ursprünglich überwiegend postkolonialen zu einem zunehmend postimperial orientierten Ansatz verlagerten, was die jeweiligen Herangehensweisen charakterisierte und wie sie sich in der Forschungsarbeit fruchtbar miteinander kombinieren ließen, sucht Marijan Bobinac (Zagreb) in seinem Beitrag zu skizzieren. Während das postkoloniale Deutungsmuster seinen Fokus auf Differenzen setze und dabei namentlich asymmetrische Machtverhältnisse zwischen Zentren und Peripherien sowie deren jeweiligen Ausdrucksformen und Realisierungen in den Vordergrund rücke, wenden postimperiale Studien ihr besonderes Augenmerk den Formen der Integration zu. Aus der postimperialen Frageperspektive, die repräsentativ durch die new imperial history vertreten werde, erscheinen nämlich Herrschaftsgebilde wie die Donaumonarchie nicht nur als Orte der Ungleichheit und Unterdrückung von Individuen und Kollektiven, sondern auch als Schauplatz kreativer kultureller Interaktionen und Produktionen. Mit diesem analytischen Instrumentarium gehe, so Bobinac, die Forschungsgruppe Kakanien revisited an verschiedene Kulturprodukte und -praxen des Habsburger Reiches und seiner Nachfolgestaaten heran, um Aufschluss darüber zu gewinnen, wie nationale Homogenisierungsprozesse und imperiale Geltungsansprüche nebeneinander funktionierten und welche Nachwirkungen sie in der postimperialen Zeit hatten.
Mit dem Schwerpunkt einer semiotisch informierten Betrachtung traditioneller Imperien betritt dann der zweite Abschnitt unseres Sammelbandes (Semiose von Imperien) methodisches Neuland.
Wie es heute, vor dem Hintergrund des Angriffskrieges, den das imperiale Russland gegen die Ukraine führt, um die Aktualität von Denkpositionen Juri Lotmans stehe, überprüft in ihrem Beitrag Susanne Frank (Berlin). Im Mittelpunkt ihrer Analyse figuriert die Frage, inwiefern sich Lotmans Modell der Semiosphäre – wie etwa von Albrecht Koschorke suggeriert – als konvergent mit den modernen Imperientheorien zeigt: Semiosphären wie auch Imperien entstehen durch „Überwindung des Raumwiderstands“, wobei „es semiotisch um Übersetzerketten und den dadurch bedingten informationellen Verschleiß“ gehe, „imperialpolitisch“ wiederum „um Logistik und Machtrelais auf den Verkehrswegen, die die Distanz zwischen Zentrum und Peripherie überwinden“. Aufschlussreich ist, dass sich Lotmans Begriff der Grenze als Kontaktzone, die für imperiale Herrschaftsräume charakteristisch ist, vom nationalstaatlichen Grenzbegriff als Trennlinie abhebe. Frank erinnert daran, dass Lotman das zaristische Russland und dessen Übergang zur Sowjetunion in seinen kulturhistorischen Studien nicht hinsichtlich imperialer Strukturen untersuchte; dennoch, wie sie hinzufügt, ließen sich sehr wohl auch „Modifikations- und Anwendungsmöglichkeiten von Lotmans Ansatz auf imperiale Kontexte“ festhalten. Der späte Lotman, so Frank, habe erkannt, dass sich für Russland, das historisch von einem bipolaren Kulturmodell gekennzeichnet war, mit dem Zerfall der Sowjetunion die Chance ergeben habe, diese imperiale Binärität zu überwinden und eine semiotische Dynamik zwischen Zentrum und Peripherie zuzulassen – und damit eine europäische Kultur zu werden. Es ist nach Frank kein Zufall, dass sich Lotmans Hoffnung im Russland Putins nicht erfüllen könne: „Das Imperium erträgt keine peripheren Semiosen und muss sie mit aller Macht bekämpfen.“
Nach Lotman’schen Konzepten greift in seiner Analyse der Semiose im (post-)imperialen habsburgischen Kontext auch Wolfgang Müller-Funk (Wien). Vor dem theoretischen Hintergrund des Semiotischen – die die Peripherie normierende Selbstbeschreibung des Zentrums sowie die Grenze – lässt er „das Netzwerk Kakanien revisited und seine einzelnen Forschungsprojekte in Wien und Zagreb Revue passieren“, deren Ergebnisse – wie er mit Nachdruck zeigt – das nationalistische Narrativ vom zwangsläufigen Verfall der Donaumonarchie ins Wanken bringe. Mit dem „semiotische[n], an Lotman geschulte[n] Blick“ auf die Habsburger Monarchie nach dem Ausgleich 1867 ergebe sich – so Müller-Funk – ein kakanisches Kulturmodell, dessen Charakteristika folgendermaßen beschrieben werden können: „die verhaltene Expansionskraft“, „die Pluralität semiotischer Mikroräume“, die „Existenz anderer Zentren“, die selbst normierende Instanzen werden, sowie das schwache Gesamtzentrum Wien, das die österreichische Reichshälfte zwar als Nationalitätenstaat entwarf, sein normierendes Zentrum aber selbst im Deutschen Reich suchte – genauso wie die zweite Habsburger-Metropole Budapest, die Ungarn am Vorbild Deutschlands als Nationalstaat konzipierte. Indem die meistens national definierten urbanen Zentren in Konkurrenz zueinander standen, könnte die Doppelmonarchie nach Müller-Funk als ein Konglomerat unterschiedlicher, sich überlappender semiotischer Sphären verstanden werden – als ein Musil’sches „Reich (in) der Mitte“ zwischen Fortschritt und Rückständigkeit, und als „peripheres Zentrum“ in Europa.
Von der These ausgehend, dass sich kulturelle Epochen und Genres „ästhetischen und medienhistorischen ebenso wie ideengeschichtlichen und sozioökonomischen Konstellationen“ verdanken, versucht Clemens Ruthner (Dublin) mit Berufung auf Edward Saids Buch Culture and Imperialism, den „Zusammenhang von Literatur und Imperium“ – bzw. der postimperialen Situation – in Bezug auf die Habsburger Monarchie weiterzudenken. Für die Veranschaulichung seiner – wie er betont: skizzenhaften – Thesen wählt er einige markante Stationen in der literarischen Produktion der Donaumonarchie und ihrer Nachfolgestaaten in der zweiten Hälfte des 19. und im frühen 20. Jahrhundert aus. Im 19. Jahrhundert ließen sich für die imperiale Legitimierungsfunktion, so Ruthner, insbesondere der Realismus mit seinen unterschiedlichen narrativen Genres (im k. u. k.-Kontext verweist er auf Autoren wie Adalbert Stifter, Ferdinand von Saar und Mór Jokai) sowie das historische Drama mit Franz Grillparzer als seinem markantesten Vertreter heranziehen. In der in habsburgischen Ländern besonders ertragreichen literarischen Produktion der Zeit um 1900 sieht der Verfasser wichtige Formen der anti-imperialen Kritik, so z. B. in der kakanischen Abart des Naturalismus (Philipp Langmann, Ivan Cankar) und namentlich im Modernismus der Jahrhundertwende, wobei hier der deutschsprachigen Frühmoderne (Arthur Schnitzler, Rainer Maria Rilke) auch die nicht-deutschsprachige Produktion von Autoren wie Jaroslav Hašek oder Miroslav Krleža gegenübergestellt wird. Als ein besonderes, epochenübergreifendes Werkkorpus betrachtet Ruthner die vom Magris’schen ‚habsburgischen Mythos‘ geprägte literarische Produktion, die sich vor 1918 weitgehend auf „dem supranationalen (Ver-)Einigungsmantra des Imperiums“ gründet, danach aber „nostalgische Züge einer retrospektiven Utopie“ annimmt.
Jan Budňák (Brünn) geht in seinem Beitrag von Ludwig Winders Roman Die rasende Rotationsmaschine (1917) aus, um auf soziale und kulturelle Erosionsprozesse im habsburgischen Imperium während des Weltkriegs am Beispiel eines skrupellosen Medienmoguls hinzuweisen. Die Praktiken „des Chefredakteurs und Alleinherrschers“ Glaser werden vom Verfasser „als ein Angriff gegen das späthabsburgische bürgerliche Subjektkonzept“ analysiert, das im Roman abwertend als der österreichische „prächtige Mensch“ bezeichnet wird und sich weitgehend mit dem bürgerlichen „hybriden Subjekt“ (Andreas Reckwitz) bzw. der „bürgerlichen Denk- und Lebensform“ (Panajotis Kondylis) deckt. Dabei speise sich – wie Budňák bemerkt – „das postimperiale Moment des Romans gleichermaßen aus radikal modernen (Technik, Kapital, fragmentiertes Subjekt, Krise der Repräsentation) und aus zutiefst vormodernen Quellen (jüdische Mystik, ländliche Peripherie).“
Im Anschluss daran enthält der dritte Abschnitt unseres Bandes Fallstudien zum Nachleben von Zentrum und Peripherie – ein Thema, das das Kakanien revisited von Anfang an beschäftigt und bestimmt hat. Welchen Stellenwert nun die postimperiale Konstellation – verstanden als „eine spezifische Möglichkeit der literarischen Aushandlung verschiedener nationaler und transnationaler Identitätskonstruktionen“ – in der Gegenwartsliteratur habe, sucht in ihrem Beitrag Milka Car (Zagreb) in Augenschein zu nehmen. Die unterschiedlichen Formen der Literarizität werden von der Autorin anhand theoretischer Entwürfe wie Hybridität sowie Zentrum und Peripherie analysiert, um den Entstehungsbedingungen und Funktionen der Gegenwartsliteratur auf die Spur zu kommen. Die literarischen Repräsentationen werden dabei nicht nur ausschließlich aus der nationalliterarischen Perspektive, die auf der Fiktion einer kulturellen Einheit beruhe, sondern auch im Lichte der Globalisierungs- und Migrationsprozesse untersucht.
Dass die postimperiale Landschaft Kakaniens nicht nur zu politisch-kulturellen, sondern auch zu popkulturellen Analysen einlädt, zeigt der Beitrag von Vahidin Preljević (Sarajevo), der in der eigentümlichen musikalischen New-Wave-Kultur im Jugoslawien der 1970er und 1980er Jahre das Konzept einer künstlerischen ‚Balkanisierung‘ auszuloten sucht. Das seinerseits sehr populäre gesamtjugoslawische Phänomen stellt der Verfasser auch in den Kontext älterer Balkan-Diskurse, etwa des avantgardistischen Entwurfs des Zenitismus aus den 1920er Jahren – eine Konstellation, die aufschlussreiche Verbindungslinien zwischen stereotypen zentraleuropäischen Balkan-Vorstellungen und modernen, grundsätzlich ironisch-subversiven künstlerischen Konzepten offenlegt.
Anknüpfend an die These Oskar Jászis von den südöstlichen habsburgischen Territorien als „inneren Kolonien“ Wiens und Budapests sowie an Homi Bhabhas Konzept der „liminalen Spannungen“ nimmt Gábor Schein (Budapest) „dehumanisierende Diskursformen“ in der literarischen Thematisierung der „kolonialen Peripherie“ in den Blick und sucht dieses „koloniale Erbe der Donaumonarchie“ am Beispiel des Romans Das Schutzgebiet Sinistra (1992, dt. 1994) des ungarischen Schriftstellers Ádám Bodor darzustellen. Es zeige sich, so Schein, „dass der Roman die Sprache der Dehumanisation durchästhetisiert“, d. h. „die Ambivalenz der kolonialen Entmenschlichung sichtbar macht“, für die „eine eigenartige Paradoxie des Ironischen und des Nostalgischen, des Erotischen und des Dystopischen charakteristisch“ sei. In einem solchen Umfeld „gehen die Naturbilder und die Darstellungen der Macht in einander ironisch auf“; es könne „keine Heimat“ sein und „nur sehr wenige“ könnten es „lebendig verlassen“.
Der Fokus des letzten thematischen Blocks, Habsburg und (Mittel-)Europa, liegt dann, wie schon der Titel nahelegt, auf der europäischen Dimension des ‚unmöglichen‘ Reiches in der Mitte des Halbkontinents.
Bei seinen Überlegungen zum Begriff der „kulturellen/historischen Nostalgie“ aus imagologischer Perspektive geht Davor Dukić (Zagreb) wie schon Ruthner von den Thesen Claudio Magris‘ im weit verbreiteten Buch Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur (1963, dt. 1966) aus. Dukić schlägt eine deskriptive Definition des Begriffes vor, „wonach die ‚imagotypische Nostalgie‘ eine Variante des imagotypischen Zeitraums in der Funktion des Selbstbildes, ein Ausdruck eskapistischer, kritischer oder subversiver Unzufriedenheit mit dem aktuellen Stand der Dinge“, implizit auch eine „kontrafaktische Sehnsucht nach einem vergangenen Zeitraum bzw. nach einigen Attributen dieses Zeitraums“ sei. In diesem Zusammenhang stellt sich der Verfasser die Frage, ob sich nicht auch Musils Der Mann ohne Eigenschaften trotz seines grundsätzlich ironisch-kritischen Grundtons als ein k. u. k.-nostalgisches Werk lesen lasse; er kommt zum Schluss, dass Musil von Magris zu Recht zu den Mitbegründern des ‚habsburgischen Mythos‘ in der Literatur zwischen den Weltkriegen gezählt werde. Dukić konkludiert, dass Magris mit seinem Erstlingsbuch „eine solide imagologische Studie zum österreichischen Zwischenkriegs-Selbstbild“ vorgelegt habe.
Ebenso rückt Aleš Urválek (Brünn) drei folgenreiche Europa-Konzeptionen der unmittelbaren postimperialen Zeit in den Mittelpunkt seines Beitrags, wobei er Tomáš Garrigue Masaryks Buch Das neue Europa (1918) vor dem Hintergrund des „Kulturbund“-Projekts von Karl Anton Rohan und der paneuropäischen Bestrebungen von Richard Coudenhove-Kalergi zu durchleuchten versucht. Da ihm die Kategorien demokratisch und nicht-demokratisch für seine Analyse „unzureichend“ erscheinen, wählt Urválek „eine post-imperiale Perspektive“, mit der sich „das Ausmaß an Übereinstimmung und Differenz als auch eine Beschreibung von Kontinuität und Diskontinuität zu imperialen Zeiten und imperialen Techniken besser“ erfassen lasse. Von einer Präzisierung der Europa-Vision Masaryks ausgehend, sucht der Verfasser „verschiedene Transformationen imperialer und postimperialer Semantiken“ in den beiden darauffolgenden europäischen Konzeptionen aufzuzeigen.
Abgeschlossen wird unser Sammelband in Sektion IV von zwei essayistischen Beiträgen, dem ersten aus der Feder des ukrainischen Germanisten und Publizisten Juri Prochasko, der zweite vorgelegt vom kroatischen Schriftsteller und Kulturwissenschaftler Nikola Petković. In beiden Essays, mit denen sich auch der thematische Kreis des Bandes schließen soll, wird eines der zentralen Themen des Projektes Kakanien revisited wieder aufgegriffen und variiert.
Im Rahmen unseres Forschungsnetzwerks – und namentlich in seinen Anfängen um die Jahrtausendwende – stand nämlich die ‚Mitteleuropa-Frage‘ wiederholt zur Diskussion; mit der Zeit begann sie aber Ermüdungserscheinungen zu zeigen und wurde schließlich von Betrachtungen über die postkolonialen und postimperialen Implikationen der habsburgischen Vergangenheit in den Hintergrund gedrängt. Man besann sich dieses Komplexes zwar gelegentlich, seine Erörterung schien aber im Wesentlichen ausgeschöpft zu sein. Die geopolitischen Verwerfungen der letzten Jahre, die nicht nur eine immer tiefere Kluft zwischen liberalen Demokratien und autoritär regierten Staatsgebilden, sondern auch das Aufkommen neuer-alter imperialer Machtstrukturen deutlich werden ließen, haben aufs Neue auch den Blick für die Mitteleuropa-Thematik geschärft. Spätestens mit der Aggression des neurussischen Imperiums auf die souveräne Ukraine – und damit auch auf den östlichen Rand des zentraleuropäischen Raums – bekam die Frage eine neue Aktualität. Die nachdrückliche Entgegensetzung Mitteleuropas gegen die Sowjetunion, die ostmitteleuropäische Intellektuelle in den 1980er Jahren, allen voran Milan Kundera in seinem berühmten Essay Un occident kidnappé ou la tragédie de l'Europe centrale (1983), postuliert haben, erschien nicht mehr als veraltetes Gedankengut des Kalten Kriegs, obsolet geworden durch die Erweiterung der EU, sondern als food for thought angesichts der geopolitischen Repositionierung der baltischen Länder und der Ukraine sowie der neoimperialen Gewalt, die diese auslöste.
Eine Art Vorgeschichte zur Entstehung von Kunderas Animosität gegen die sowjetisch-russische „koloniale Präsenz in Mitteleuropa“ (so Czesław Miłosz) bringt der Essay von Nikola Petković (Rijeka). Der Autor geht von Joseph Brodskys niederschmetternder Kritik an Kunderas Mitteleuropa-Thesen aus dem Jahr 1983 aus, die wiederum von mehreren namhaften Autor*innen, allen voran von Susan Sontag als eine „entsetzlich imperialistische und unmoralische Position“ zurückgewiesen wurde. Eine weitere Verschärfung – wie Petković berichtet – erfuhr diese Polemik bei der west-östlichen Schriftstellerkonferenz in Lissabon 1988, als sich die russischen Teilnehmer*innen weigerten, auf die von den Verfechtern der Mitteleuropa-Idee aufgeworfene Frage nach der militärischen Präsenz der Sowjetunion in Ostmitteleuropa einzugehen, und stattdessen eine substanzlose Debatte über ewige ästhetische Grundsätze in den Vordergrund zu rücken suchten. Ihr Schweigen, spitzt Petković seine These zu, gleiche „der Sicht hypothetischer Bösewichte“: Indem sie sich weigerten, „ihre Gedanken zu dekolonisieren“, haben die sowjetischen Vertreter ihre „Kollaboration mit dem Kolonisator“ bekräftigt. Den Autoren wie György Konrád und Danilo Kiš, die selbst wichtige Beiträge zur Mitteleuropa-Diskussion geliefert haben, sei es hingegen gelungen, die Problematik des mitteleuropäischen Kolonialismus und Postkolonialismus überzeugend der Weltöffentlichkeit zu präsentieren. Die Lissabon-Konferenz sollte daher, so Petkovićs Fazit, „als Meilenstein für jede künftige Analyse Mitteleuropas aus kolonialer und postkolonialer Sicht betrachtet werden“.
In seinem in unseren Band aufgenommenen Essay berichtet dann der Literaturwissenschaftler und Autor Jurko Prochasko (Lemberg) von der Schockwirkung, die auf ihn und gleichgesinnte Ukrainer die um ein Jahrzehnt verspätete Rezeption der Mitteleuropa-Diskussion der 1980er Jahre hatte, verursacht insbesondere durch die Exklusion ehemals habsburgischer, stark mitteleuropäisch geprägter Regionen wie Galizien oder Bukowina: „In Kunderas Auffassung von uns“ wiederholte sich – so Prochasko – „genau dasselbe, was er dem Westen in Bezug auf sich selbst vorwarf und übelnahm: er zählte uns nicht zu Europa, zu keinem Europa dazu, und er gab uns einem Reich als hoffnungslos preis – dem sowjetischen“. Vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine erinnert Prochasko daher an die Doppelidentität seiner Heimatregion Galizien, an deren gleichzeitig „altösterreichische“ und die „neuukrainische“ Eigenart. Doppelt kodiert waren übrigens auch – woran Prochasko ebenso erinnert –die meisten Menschen der Donaumonarchie: Sie alle waren „Teile der habsburgischen Zivilisation und Träger je ihrer partikulären und Nationalideen“, eine „Kombination von imperialer Erfahrung und nationalen Bestrebungen“, die seiner Meinung nach auch „die Grundlage für die Entstehung Mitteleuropas“ war. Die ukrainischen Ereignisse der letzten Jahre brächten, so Prochasko, auch ein erweitertes Verständnis des Mitteleuropa-Konzeptes mit sich – ein Umstand, der auch die Ukraine „zu Mitteleuropa hat werden lassen: die Revolution der Würde“. Gerade die Annahme aller „klassischen, großen mitteleuropäischen Tugenden“ (Identität, Pluralität, Solidarität, Freiheit, Liberalität, Antiimperialität, etc.) habe die Ukraine an (Mittel-)Europa angenähert, was nicht unwesentlich auch das „letzte Imperium“ zu einem brutalen Aggressionskrieg provoziert habe – der immer wieder thematisierte zeitgeschichtliche Hintergrund der Tagung in Drosendorf 2022. Mit ihrem entschlossenen Widerstand – so Prochasko abschließend – sei die Ukraine „jetzt Mitte Europas in jeder Hinsicht“ geworden.
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Für das Zustandekommen dieses Buches sei jedenfalls unseren Geldgebern – dem Amt der Niederösterreichischen Landesregierung und dem Zukunftsfonds der Republik Österreich – herzlich gedankt, ebenso wie der Stadtgemeinde Drosendorf für die unentgeltliche Überlassung der Tagungsräume sowie Bernhard Heiller (Wien) und Raleigh Whitinger (Edmonton) für ihr Lektorat. Die Herausgeber des vorliegenden Kakanien-Jubiläumsbandes wünschen eine inspirierende Lektüre dieser Rück-, Zusammen- und vielleicht auch Vorschau, insofern sich hier für uns, unsere Netzwerk-Partner*innen, aber gerne auch interessierte Dritte künftige Arbeitsvorhaben abzeichnen. Gewidmet ist diese Publikation dem Andenken an Anil Bhatti (1944-2023) und Heidemarie Uhl (1956-2023), die wir nicht nur in diesem Kontext vermissen.
When the Habsburg Monarchy collapsed at the end of 1918, the societies over which it had ruled became sites of a massive political and ideological rejection of this empire. Subsequent historians have analyzed it in the context of the allegedly successful nation states that replaced it. More than a century later, we can see how this rejection of empire (and of everything for which it stood) has failed in many respects. A transnational Kakanien is still very much with us today. Would this apparent contradiction make better sense if we abandoned the belief that everything changed at the end of 1918? What might we learn if today’s nation-state histories could re-think and re-claim their societies’ roles in their own imperial pasts? This essay explores questions of continuity across the 1918 divide to argue for a different approach to the history of the region. An approach that recognizes significant continuities could render visible many dynamics and people that national historical traditions have hidden for too long. It might also help us to re-think how we use categories such as ‘empire’ and ‘nation state’ as analytic tools.
The Viennese internet platform Kakanien revisited (founded in 2001) and the eponymous research group that emerged in this context, including a variety of scholarly activities such as conferences and publication, have set in motion a new dynamic in the study of the adjacent, often overlapping topics of Central Europe and the Habsburg Monarchy. The success of this network has been associated with its efforts to reinterpret cultural symbolization processes that were constitutive for the specific power structures of the multiethnic Habsburg empire and its successor states. Equally important in this context was the ambivalence inscribed in the project, recognizable even in the name Kakanien revisited, promising a new approach to the Habsburg complex in a Musilian, ironically critical sense. This essay attempts to show how the theoretical focus of the – otherwise loosely connected – research group has, over the last twenty years, shifted from predominantly postcolonial to postimperial approaches.
This essay revisits Juri Lotman’s cultural semiotics from the perspective of 2022, when Russia’s full-scale war of aggression against Ukraine began to shake Europe and the world. It re-reads Lotman’s theory of ‘binary cultures’ and ‘explosion’ as the mechanism of dynamics inherent to this type of empire. This re-reading leads to the hypothesis that Lotman’s hope – as expressed at the end of his Culture and Explosion (1992, transl. 2009) – that, with Perestroika and the dissolution of the Soviet Union, Russia had overcome its binarisms, its arbitrary rule and its violent and unpredictable upheavals to join the European cultural type of continuous development, was premature. Putin’s policy, which operates with a rhetoric of tradition and continuity of values, actually breaks with the dynamics achieved at the end of the last century and re-establishes the binary mechanism of explosion. Otherwise, Lotman’s cultural semiotics proves to be an effective instrument of diagnosis.
This essay applies Juri Lotman’s cultural theory to show that the Habsburg monarchy’s complex rule and its aftermath can be understood as a semiotic space. It applies essential concepts such as centre and periphery, heterogeneity and asymmetry. It also focusses on the centres paralleling Vienna, such as Prague and Budapest. In their complex semiotic structure, these cities resemble the central metropole not only in terms of their limited power of expansion, but also with regard to the fact that they house parallel semiotic worlds. Surrounded by invisible borders, their communication with and translation of the official centre is limited to the bare essentials. This reinforces phenomena such as non-simultaneity and competition, not least in the field of the arts. The competing centres behave in the same way that Lotman describes the periphery. Their modernist and avant-garde movements exhibit a resistance to the standardising power of the weak overall centre, Vienna, and often refer to the centres of other, extraterritorial semiotic spaces such as Paris, Moscow, and Berlin.
The common sense in literary studies has it that epochs and genres owe as much to aesthetic questions and the surrounding history of ideas as they do to socio-economic constellations. But what role does the tension between empire, its opposing nationalisms and the resulting so-called successor states play in Central Europe in the late nineteenth and early twentieth century (Hobsbawm’s “Age of Empire”)? This essay considers the connection between literature and empire – or the post-imperial situation – specifically in relation to the Habsburg monarchy along the lines developed by Edward Said in his influential Culture and Imperialism (1993), also including the “Habsburg myth” postulated by Claudio Magris (1966).
Ludwig Winder’s first novel, Die rasende Rotationsmaschine (1917) is the “novel of a career”, namely the life story of the journalist and editor-in-chief Dr Theodor Glaser, who runs Die Zeitung, an ambitious newspaper project in Vienna between 1900 and 1915. This essay analyses the novel’s depiction of the failure of this initially modern, liberal and capitalist-oriented enterprise and its autocratic boss – who comes from the periphery of the monarchy (Brody, Galicia) – as an attack on the late Habsburg bourgeois concept of the subject, which is pejoratively referred to in the novel as the Austrian “magnificent man”; this coincides with the bourgeois “hybrid subject” (Andreas Reckwitz) or the “bourgeois way of thinking and living” (Panajotis Kondylis). In this respect, Glaser’s anti-humanist management contains a post-imperial moment that counteracts the practices of bourgeois subjects in the monarchy in the years shortly before and after 1914. Remarkably, Glaser’s attack on them is fed equally from radically modern sources (technology, capital, fragmented subject, crisis of representation) and from genuinely pre-modern ones (Jewish mysticism, rural periphery).
In the textual world of the West, the term ‘the Balkans’ is used to denote not only the image of a land of ‘pure barbarism’, but also the recoding of that negative stereotype. Those imaginary Balkans then still appear as a place of raw vitality and masculinity, but as a counter-image to the ‘decadent’ West. Much the same occurs in Yugoslav discourses in the arts and sciences, where, since the 1920s, there have been efforts to give the ‘Balkans’ a positive significance. This tendency, which is also reflected in pop culture, has a clearly post-imperial and occasionally imperial character. This essay attempts to reconstruct the main features of this tendency as it evolves from the founding of the Yugoslav state around 1920 to its demise in the late 1980s.
The paradigm of national literature is becoming increasingly fragile. Attempts to define the post-imperial constellation in contemporary literature must take into account the complex repercussions of globalization as well as transnational migration processes. The long-influential notion of the ‘national’ can no longer be regarded as the primary characteristic of contemporary literature. Rather, post-imperial narrative should be considered as the possibility of negotiating different national and transnational constructions of identity. Related to this are the following questions: What forms of literariness can be attributed to the centre/periphery constellation? How are literary spaces of experience modelled in this dynamic and relational field? In this essay’s attempt to answer these questions, hybridity functions as the concept central to the understanding of postmodern and postnational forms of representation that consistently evade monocultural attributions and situate contemporary literature between the poles of peripheralization and centralization; this also questions traditional concepts of literary studies such as canon and national literature.
Ádám Bodor’s novel, The Sinistra Zone, is set on the border of Romania and Ukraine during the early 1990s. It describes a landscape profoundly shaped by dehumanizing colonial approaches that prevailed during the Austro-Hungarian monarchy’s administration of the South-Eastern and Eastern part of the Empire, and later, during the second part of the twentieth century, in the way the West discussed the Eastern borders of Europe. While Bodor’s prose is profoundly influenced by those colonial discourses, he redefines and elevates the language of dehumanization to an art form. This results in a prose in which the horrific and the erotic constantly clash and transmute into each other; the sources of both are physical. Thus, as the long-standing tradition of colonialist discourse is translated into playful literature, it can be unravelled, revealing its underlying ambivalence.
This essay attempts to define the concept of ‘cultural/historical nostalgia’ from an imagological perspective. It focuses on Claudio Magris’ The Habsburg Myth in Modern Austrian Literature (1963), which is compared in some respects to three recent books that investigate images of the Habsburg Monarchy (Schmidt-Dengler 2002; Kożuchowski 2013; Moos 2016). This leads to a descriptive definition according to which ‘imagotypical nostalgia’ is a variant of the imagotypical period functioning as a self-image, an expression of escapist, critical or subversive dissatisfaction with the current state of affairs, and an implicit counterfactual longing for a past period, i.e. for some attributes of that period. The essay concludes that Magris wrote a solid imagological study of the Austrian self-image during the interwar period, at the time when imagology was founded.
This essay attempts a comparative interpretation of three European projects of the interwar period, namely Thomas G. Masaryk’s New Europe (1918), Karl Anton Rohan’s ‘Kulturbund’ (1922) and his journal European Review (1925–1944), and, as a contrasting foil to those projects, the pan-European endeavours of Richard von Coudenhove Kalergi. In contrast to the previous, analytically insufficient distinction between democratic and non-democratic, which would merely contrast these projects, this essay chooses a post-imperial perspective that allows for a better grasp of the degrees of coincidence and difference, as well as for a description of continuity and discontinuity with respect to imperial times and techniques. It aims both to refine the interpretation of Masaryk’s aspirations for a new Europe after 1918 and to point out the various transformations of imperial and postimperial semantics in the chosen European concepts, especially in the interwar period.
This essay’s point of departure is Joseph Brodsky’s devastating criticism of Milan Kundera's 1983 claim of a ‘kidnapped’ Central Europe, which in turn was rejected by several authors – above all Susan Sontag – as an ‘appallingly imperialist and immoral position’. It recalls how this polemic was further exacerbated at the West-East Writers’ Conference in Lisbon in 1988, where the Russian participants refused to address the question of the Soviet Union's military presence in East-Central Europe raised by the advocates of the Mitteleuropa idea; instead, they sought to focus on an irrelevant debate about eternal aesthetic principles. Their silence, this essay points out, resembles the view of hypothetical villains, suggesting that, by refusing to ‘decolonize their thoughts’, the Soviet literary representatives reaffirmed their ‘collaboration with the colonizer’. In contrast, authors such as György Konrád and Danilo Kiš, who themselves made important contributions to the concept of ‘Central Europe’, succeeded in convincingly presenting the problems of Central European colonialism and post-colonialism to the world public. The essay closes by proposing that the Lisbon conference should be seen ‘as a milestone for any future analysis of Central Europe from a colonial and post-colonial perspective’.
In this essay, the Ukrainian author reviews the numerous and heterogeneous forms and manifestations of the concept of ‘Central Europe’ (Mitteleuropa) as an idea, myth and suggestive fantasy over the past forty years of his life. He surveys the development from Galician nostalgia to the political and pragmatic design of the affiliation of former Habsburg territories of today’s Ukraine, and on to the notion of Central Europe as stand-in, guarantor, signpost and roadmap in the EU integration process after the fall of the Soviet Union, thus as a normative ideal of the domestic and foreign policy development of an envisioned new Ukraine. It also recalls transnational proposals, such as the notion of Central Europe as a mediator between the increasingly alienated West and the increasingly neo-imperial ambitions of Russia, and it looks at internal European designs, which focused on alienation, radicalization or extremism within the new EU, or which saw the centre of Europe as a mediator between the Old and New Europe, and thus between the right and left extremes within Europe itself. After the Ukrainian emancipatory revolutions of the 2000s – which the author sees as a direct expression of ‘Central Europe’ and which were largely ignored by many European societies – and after the war unleashed by Russia against a Ukraine that had become Central European, the author tends to deterritorialize the concept of Central Europe: i.e, to see it only as a spiritual state freed from any local attributions. Accordingly, Central Europe can emerge wherever there are adherents to this view, and anyone who is willing to see Europe as their intellectual and political centre can become a Central European.
Die Arbeit von Kakanien revisited hat das Feld der Österreich-Studien weltweit verändert, indem das informelle Netzwerk eine Reihe kreativer neuer Fragestellungen und Ansätze in die historische und kulturwissenschaftliche Forschung zum habsburgischen Mitteleuropa einbrachte. Diese neuen Zugangsweisen hinterfragten viele im Fachgebiet vorherrschende Denkmuster und ließen die meisten von ihnen weit hinter sich. Sie überwanden die Grenzen zwischen den nationalen Schulen und internationalisierten die Erforschung jenes Raumes und seiner Zeit. So hielt Kakanien revisited unter anderem der Geschichte der Habsburger Monarchie in Zentraleuropa einen postkolonialen Spiegel vor und veröffentlichte einige der innovativsten Arbeiten zur Kultur und Geschichte dieses Reiches und seiner Hinterlassenschaften.
Um letztere geht es auch mir. In diesem Sinne sollen sich die folgenden Überlegungen auf das seltsame Beharrungsvermögen des Imperiums konzentrieren, das sich über das gesamte Thema legt und von uns immer wieder verlangt, dass wir „Kakanien“ neu betrachten: War doch dieses Reich in vielerlei Hinsicht ein Ort, an dem wichtige kulturelle, politische, soziale und wirtschaftliche Praktiken des Imperiums florierten. Es war auch der Ort dessen, was ich als ‚kaiserliche Innovation‘ bezeichnen würde, sogar als radikale Innovation, trotz des scheinbar konservativen Charakters jenes Sozialgefüges. Die Bürger Kakaniens praktizierten auch verschiedene Formen des ‚informellen Imperiums‘ auf der ganzen Welt und in Südosteuropa.1
Als die Monarchie Ende 1918 offiziell verschwand, wurden die Gebiete und Gesellschaften, über die es geherrscht hatte, zu Schauplätzen einer massiven politischen und ideologischen Ablehnung des Imperiums und all dessen, was mit ihm in Verbindung gebracht werden konnte. Für viele Historiker nach 1918 bedeutete dies, dass es auf den Müllhaufen der Irrelevanz oder seltsamen Kuriosität verbannt war und nur im Kontext der erfolgreichen Nationen, die es ersetzten, analysiert wurde. Es bedurfte mutiger Initiativen wie Kakanien revisited, um den Charakter und die Bedeutung der post/imperialen Kulturen zu erforschen, die aufgrund jener historischen Ablehnung verloren gegangen waren oder einfach ignoriert wurden.
Mehr als ein Jahrhundert später können wir im Rückblick sehen, dass diese Verdrängung des Imperiums und all dessen, wofür es angeblich stand, in vielerlei Hinsicht gescheitert ist. Trotz der lautstarken Behauptungen der politischen Ideologen und Historiker der Nachfolgestaaten haben das Reich und die mit ihm verbundenen Ideen überlebt und wurden für spätere Wissenschaftler sogar zu Verkörperungen oder Symbolen für entscheidende Elemente der Kulturen der Region. Dazu gehörte für viele Wissenschaftler die bekannte Vorstellung, dass Kakanien als ‚Laboratorium der Moderne‘ gedient hatte.2 Für andere war es ein Ort, an dem sie genau die Art von kultureller Vermischung und Hybridität untersuchten, die die Wortführer des Nationalismus zu verbannen hofften.3 Es war also klar, dass Kakanien revisited werden musste – und zwar mehrfach.
Andererseits war die lautstarke Ablehnung des Kaiserreichs nach 1918 auf ihre Weise erfolgreich. So wurde die ethnische Nation – wenn auch nicht die Demokratie – zum unbestrittenen Maßstab für politische Staatlichkeit in der Region, von der Gründung der Nachfolgestaaten zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis zum Zerfall Jugoslawiens und der Tschechoslowakei an dessen Ende. Nationalistische Ideologen taten alles in ihrer Macht Stehende, um die Geschichte der Habsburger Monarchie als untauglich und den Erfordernissen der historischen Epoche unangemessen neu zu erzählen. Sie tun dies auch heute noch. Ihre nachdrückliche Ablehnung des Imperiums und ihre Neuinterpretation dessen, was es gewesen war, machten 1918 zu einer unüberbrückbaren Lücke in der Geschichte.
Das Imperium konnte vielleicht durch nostalgische Sehnsüchte als verlorene „Welt von gestern“ wiederentdeckt werden. Aber das Reich und seine Kulturen können und sollen nicht neu erschaffen werden. Die Welt von gestern wurde entschieden abgelehnt, denn sie hatte den Welten von heute und morgen wenig oder nichts zu sagen. Nach Ende Oktober oder Anfang November 1918 (bezeichnenderweise haben wir kein definitives Datum) gehörte das Empire plötzlich zu einer mythischen Welt, die endgültig geendet hatte. Diesem Mythos zufolge war die Welt für immer radikal verändert worden.
Es sind die Historiker und vor allem Journalisten, die gerne diesen chronologischen Brüchen wie jenem von 1918 große Bedeutung beimessen. Diese Zäsuren helfen uns nämlich, die Dinge zu ordnen und Erzählungen zu erstellen, die leicht verständlich sind. Geschichte bedeutet Veränderung im Lauf der Zeit, und wir sagen gerne: „Nichts war mehr so, wie es einmal war.“ Aber wenn sich die Welt damals tatsächlich verändert zu haben schien, so hatte dies meiner Ansicht nach viel mehr mit den radikalen und radikalisierenden sozialen Veränderungen und dem Leid zu tun, die der Erste Weltkrieg mit sich brachte – und nicht mit dem Zusammenbruch des Kaiserreichs. Im Vergleich zu der Herausforderung, Hunger, Krankheit und militärische Gewalt zu überleben, erscheint das letztgenannte Ereignis fast trivial – wie es den meisten Menschen, die all dies erlebt haben, vorgekommen sein muss. Selbst wenn man die tiefgreifenden Veränderungen der Lebensweise, der sozialen Organisation, der geschlechtsspezifischen Erwartungen oder des Verhältnisses zur Technologie berücksichtigt, die der Krieg mit sich brachte,4