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Auf dem Eliteinternat Kalem ereignen sich seltsame Morde. In ihrem Ersten Fall tappen das Münchner Ermittlerteam Hauptkommissar Benjamin Vogtner und Kommissaranwärterin Vero Tannenberger lange im Dunkeln, bis sie schließlich einem fürchterlichen Geheimnis aus der Vergangenheit auf die Schliche kommen. Was hat es mit den Krähen auf sich? Was verbirgt sich hinter dem seltsamen Verhalten des Schulleiters? Die Schlinge schnürt sich immer enger und den Kommissaren bleibt nicht mehr genügend Zeit, denn Vogtners Sohn schwebt in großer Lebensgefahr.
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Seitenzahl: 171
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Unter dem Pseudonym Tristan Soviak veröffentlicht der 1983 in Mannheim geborene Autor Marco Boulanger spannungsgeladene und suspense Kurzgeschichten und Thriller. Mit seinem Erstlingswerk »KALEM -Schüler ohne Reue« startet er seine 1. Romanreihe um das Ermittlerteam Benjamin Vogtner und Vero Tannenberger. Zwei Kommissare aus München, die sich immer wieder mit hartnäckigen Fällen beschäftigen müssen. Lehnen Sie sich zurück und lassen Sie sich von Tristan Soviak beim Lesen eine Gänsehaut verpassen.
Für meine geliebten Eltern Rita und Wolfgang
Für meine Freunde
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
An einem der letzten Wintertage. Es regnete stark und der Wind war scharf wie eine Rasierklinge. An jenem Tag drang kaum ein Sonnenstrahl durch den zwielichtigen Grauschleier, der sich über die Wälder gelegt hatte. An diesem tristen Morgen rannte ein Junge um sein Leben.
Je tiefer er in den Wald eindrang und je dunkler die Bäume ihre Schatten warfen, desto tiefer rannte er in sein Verderben.
Der Junge rannte und rannte und spürte, wie dicht sie ihm auf den Fersen lagen. Von Todesangst getrieben kämpfte sich der Junge durch die Sträucher in Richtung Moor. Harte Äste schlugen ihm ins Gesicht die ihm mehrere Schnittwunden zufügten aus denen Blut rann. Seine Beine wurden schwerer und verkrampften sich.
Schließlich zwangen ihn die stechenden Muskelschmerzen in seinem rechten Bein sein Tempo zu verlangsamen. Er musste Humpeln. Seine Angst wurde stärker. Denn noch immer hörte er hinter sich seine Jäger jaulen und kreischen. Der Junge versuchte ein Versteck zu finden.
Doch das Moor erstreckte sich über eine so weite Fläche, die er nur über einen Holzweg überqueren konnte, bevor er in den Wäldern Schutz suchen könnte. Und seine Jäger saßen ihm im Nacken. Immer noch bot sich ihm keine Gelegenheit, sie abzuschütteln. Er wusste, wenn sie ihn zu fassen bekämen, dann würde das sein Ende bedeuten. Er musste schneller sein als sie.
Die Drohbriefe in den letzten Wochen hatten es ihm schon prophezeit. Er hatte sich kaum noch aus seinem Zimmer getraut, so hatten ihn die Drohungen eingeschüchtert. Das Herz des Jungen schmerzte durch das Laufen stechend in der Brust. Seine Verfolger hetzten ihn durch das Moor wie Wölfe ihre Beute. Ihr hyänenartiges Gelächter bohrte sich tief in sein Trommelfell.
Das Echo ihres gehetzten Atems schmetterte durch die Baumkronen. Es war klamm um ihn herum. Die faulen, aus dem Moor strömenden Gase, schmeckten schal und legten sich auf seine Zunge. Da entdeckte der Junge den schmalen Bretterweg, der durch das Moor führte.
Er war morsch und mit Moos bedeckt. Der Junge war kaum wenige Schritte auf dem Weg gegangen, da stolperte er plötzlich und fiel in die Treiberde. Er spürte, wie ihn der Schlamm langsam verschlang. Er kämpfte mit all seiner Kraft gegen die Schlammmasse an, doch sie zog den Jungen nach unten. Er versuchte sich mit den Händen an dem Holzweg festzuklammern.
Seine Muskeln zuckten und er schnappte nach Luft. Er versuchte sich nicht zu bewegen und konzentrierte sich nur auf seine Kraft in seinen Armen. Er konnte sich langsam aus dem Schlamm herausziehen und als er fast weit genug draußen war um sein Bein aus der Schlammmasse zu befreien, trafen seine Jäger bei ihm ein und drückten ihn wieder zurück in den Schlamm bis sein Kopf versank und nichts mehr von ihm zu sehen war.
Sie reichten sich ihre mit Schlamm verschmierten Hände und vereitelten die brutale Tat mit ihrem Leitspruch.
»Tod den Schwachen, Tod den Feigen, Tod derer, die ihn verdienen«
Mit diesen Worten rannten sie über den Holzsteg aus dem Moor und zogen sich in die dichten Wälder zurück.
***
Zur gleichen Zeit verabschiedete sich Direktor Lindmann von einem neuen Schüler und dessen Vater und wies seine Sekretärin an, mit diesem die nötigen Formalitäten zu klären. Er winkte ihnen zum Abschied und schloss seine Tür hinter sich. Die ganze Woche über hatte es fast nur geregnet.
Heute stürmte es eisig. Teile des Moors hoben sich durch die schweren Wassermassen aus dem Boden und überschwemmten die angrenzenden Straßen. Die Feuerwehrmänner waren das halbe Wochenende damit beschäftigt, die Straßen abzusperren und Warnschilder aufzustellen.
Kalem lag nicht weit davon entfernt. Kaum ein Schüler blieb am Wochenende im Internat. Nur wenige, deren Eltern die halbe Welt umreisten und keine Zeit für ihre Kinder hatten. Beatrice, der gute Geist von Kalem, machte in der Küche oft Überstunden, backte Kuchen oder Kekse, um die Zurückgebliebenen aufzumuntern. Arne Neumann war einer von ihnen gewesen.
Seine Eltern durchkämmten die Wüste Gobi und suchten in Ausgrabungsstätten nach wertvollen Schätzen. Alte Tonscherben und Schmuckrelikte waren scheinbar wichtiger, als ihr fünfzehnjähriger Sohn, der mit jedem seiner Tage in Kalem zu kämpfen hatte.
Er lebte mit seinen literarischen Meisterwerken zurückgezogen im zweiten Stockwerk des Internats. Das zweite Bett im Zimmer war nicht belegt und so konnte er ungestört bis spät in die Nacht in den alten Schinken stöbern ohne von nervigen Schlafgeräuschen seines Zimmernachbars gestört zu werden.
Mit einem Tablett in der Hand, auf dem Milch und Kekse standen, stieg Beatrice die Treppen empor. Arnes Zimmer war das letzte von rechts. Alle anderen der Etage saßen zu Hause bei ihren Eltern vor dem Kamin oder beim Abendessen. Beatrice stand vor seiner Zimmertür. Sie klopfte kräftig an die Tür und wartete einen Moment ab. Dann öffnete sie und begrüßte ihn mit einem Strahlen im Gesicht.
»Guten Abend mein Schatz.«
Der Raum war leer. Sie knipste das Licht an und schaute in jedem Winkel nach, ob sich Arne im Zimmer befand. Doch er war nicht da. Beatrice stellte das Tablett auf seinem Schreibtisch ab und verließ verwundert den Raum.
Zurück in der Küche nahm sie ihren Mantel. Sie löschte das Licht aus und schloss die Hintertür, die zur Straße zum Moor führte. Ihre kräftige Person schwang sich auf ein klappriges Fahrrad und machte sich in der Dunkelheit auf den Weg nach Hause.
Beatrice hatte ein kleines Haus unten am See das sie sich zusammen mit ihrem Ehemann und den zwei Hunden Winston und Charles teilte. Sie hatte sich für Arne auf eine besondere Weise verantwortlich gefühlt. Ihre Sorgen um den Jungen nahmen jetzt zu. Wo war er bloß? Aber sie musste weiter, ihr Mann wartete.
Arne war ihr richtig ans Herz gewachsen. Beatrice hielt an, drehte sich kurz um und radelte dann weiter. Bei der Weggabelung, kurz vor den Absperrungen, bog sie rechts ab. Ihre Hände froren. Sie beeilte sich und trat schneller in die Pedale. Plötzlich zog sie in die Bremsen.
Sie hätte fast den großen Gegenstand vor ihr am Boden überrollt. Beatrice stieg ängstlich ab und näherte sich ihm langsam.
Ihre blauen Augen erstarrten vor Entsetzen, als sie den leblosen Körper vorfand. Sie schrie um Hilfe, obwohl ihr bewusst war, dass jede Hilfe zu spät kam. Beatrice weinte entsetzlich. Sie setzte sich auf ihr Fahrrad und trat schnell in die Pedale.
Auf dem Polizeirevier im Ort nahmen die gelangweilten Beamten einen kleinen Abendsnack ein und unterhielten sich angeregt.
Beatrice kam kreischend die Eingangstür reingestürmt und war unablässig am weinen. Die beiden Polizisten zuckten zusammen. Frank Ebers warf dabei sein belegtes Brot in die Luft. Er versuchte es noch abzufangen, musste aber zuschauen, wie es vor ihm auf den Boden klatschte.
»Helfen Sie mir bitte. Helfen Sie mir.«
Beatrice war verzweifelt. Stammelte wirres Zeug, so dass weder Frank Ebers noch Thomas Frankens, Franks jüngerer Kollege, ihr gedanklich sofort folgen konnten. In der nebelumschlungenen Nacht brachen sie schließlich gemeinsam auf, um Beatrice Leichenfund nachzugehen.
Beatrice saß auf dem Rücksitz, lehnte an der Fensterscheibe und schaute ins Leere. Ihr war kalt. Die Scheiben des kleinen Fiats beschlugen. Der Wagen tingelte durch die Gassen über die Landstraße bis zum Moor. Die Scheinwerfer katapultierten wackelnde Lichtstrahlen durch die nebelige Nacht.
»Da vorne ist es!«
Beatrice zeigte mit dem Finger durch die Windschutzscheibe in Richtung des Fundorts.
Sie stiegen aus. Thomas öffnete den Kofferraum und holte eine Taschenlampe heraus. Alles geschah fast in Zeitlupe.
Die Polizeibeamten schienen ihrer Aufgabe nicht gewachsen zu sein. In den letzten zehn Jahren, die sie in diesem trostlosen Städtchen verbrachten, war der aufregendste Fall eine vermisste Frau gewesen, die, wie sich später herausstellte, ihren Ehemann ohne Grund verlassen hatte und ohne ihm eine Nachricht zu hinterlassen.
Doch diese Situation jetzt war weitaus prekärer.
»Frank, komm her und sieh dir das doch bitte mal an.«
Der Leichnam war von dem sumpfigen Moorwasser aufgequollen. Beatrice blieb am Auto stehen und kehrte ihnen den Rücken zu.
Sie schluchzte und trocknete sich mit einem Taschentuch die Tränen. Sie ertrug den Anblick nicht noch ein zweites Mal. Thomas hielt sich die Hand vor den Mund und versuchte sich nicht zu übergeben.
»Frank, das ist ja schrecklich!«
»Unvorstellbar, wie jemand so etwas tun kann«, antwortete Frank, dem es nicht viel anders erging wie seinem Kollegen.
»Mach du bitte Fotos von der Leiche und dem Tatort und dann fahren wir zurück in die Stadt und alarmieren die Spurensicherung.«
Irgendjemand beobachtete sie aus der Ferne.
Ein Busch bewegte sich, als der Fiat den Fundort verließ. Eine muskulöse Person im Regenmantel trat zu der Leiche – packte den leblosen Körper an den Füßen und schleifte ihn weg.
***
Beatrice Bruch setzte sich auf die Bank neben der Eingangstür und wartete auf den Kaffee, den ihr Thomas in der Küche zubereitete. Frank kramte derweil eine alte Schreibmaschine aus einem kleinen Rollladenschrank und spannte ein Formular ein.
»Mit Milch und Zucker?« fragte Thomas, der mit drei Bechern Kaffee hereinspaziert kam.
»Nur mit Milch bitte. Danke sehr,« sagte Beatrice und nahm die heiße Tasse entgegen. Sie pustete hinein und nahm vorsichtig kleiner Schlucke.
»Madame, wenn sie noch einen Moment brauchen, dann warten wir noch, ansonsten würden wir jetzt mit der Befragung beginnen.«
Frank schaute sie an und beobachtete ihre Mundwinkel, die sich langsam öffneten. Beatrice war bereit und nickte dem Polizisten zu.
»Ich bin bereit Wachtmeister! Wir können anfangen.«
Frank fing an und tippte die ersten Worte mit der Schreibmaschine in die freien Felder vor ihm auf dem Formular.
»Löhnsbach, den 13. März 2017 - Augenzeugenbericht von Beatrice ...«
Das Farbband der Schreibmaschine druckte nicht mehr richtig. Frank musste fest auf die Tasten drücken.
»Ähm, Madame, entschuldigen sie bitte. Wie war doch gleich ihr Name?« fragte Frank von der Tastenklopferei genervt. Mit ganz leiser Stimme kroch es aus ihr heraus.
»Bruch. Beatrice Bruch, geborene Heilmann.«
Frank tippte weiter.
»...von Beatrice Bruch«
Dann fuhr er mit der Befragung fort.
»Sie kennen also den toten Jungen näher?«
»Ja, das tue ich. Er heißt Arne Neumann und ist Schüler im Internat Kalem das direkt am Moor angrenzt. Das ist auch meine Arbeitsstelle. Ich bin dort die Hausdame und Köchin. An den Wochenenden und in den Ferien blieb er meistens im Internat, weil seine Eltern kaum Zeit für ihn hatten. So kümmerte ich mich ab und an um den Jungen.«
Beatrice fiel es sichtlich schwer, ihre Trauer zu verbergen und sie konnte kaum klare Worte fassen. Ihre Stimme zitterte und sie machte kleine Pausen zwischen den Sätzen. Sie schnäuzte fest in ein gebrauchtes Taschentuch und dann erzählte sie weiter.
»Ich habe heute Kekse gebacken und wollte Arne ein paar mit einem Glas Milch hoch aufs Zimmer bringen. Als ich das Zimmer betrat, war es leer. Ich stellte sie auf seinen Schreibtisch und machte mich auf den Nachhauseweg. Denn es war schon spät und ich fahre ungern im Dunkeln nach Hause. Den Rest kennen sie ja bereits!«
Frank tippte eifrig in die Tasten der alten Schreibmaschine. Fünf nach elf endete das Verhör mit Beatrices Unterschrift und sie konnte das Polizeirevier wieder verlassen.
»Madame, soll ich sie nach Hause fahren?« fragte Frank, der schnell das Papier in einen Umschlag steckte und seine Jacke schnappte.
Beatrice lächelte und verabschiedete sich mit den Worten, dass es nicht nötig sei und sie alleine klar käme. Thomas stand vor dem Revier, rieb sich seine kalten Hände und wartete bis das hintere Licht ihres Fahrrads im Dunkeln verschwand. Frank kam nach und rief seinem Kollegen noch etwas zu.
»Morgen benachrichtigen wir das KK12 in München. Die müssen uns unbedingt bei dem Mordfall helfen. Den Bürgermeister müssen wir auch alarmieren und die Leiche als vermisst melden?«
»Alles klar. Ich komme morgen früher und mach mich gleich dran. Schönen Abend Frank.«
»Danke Thomas dir auch.«
Thomas winkte ihm zu, schwang sich auf sein Motorrad und fuhr davon. Frank machte sich ebenfalls auf den Heimweg, nachdem er das kleine Polizeirevier abgeschlossen hatte.
Wenige Minuten später schlug Beatrice ihre Haustür hinter sich zu und rannte ins Wohnzimmer wo sie verzweifelt nach einer Zigarette suchte. Sie riss sämtliche Schubladen auf, bis ihr eine Schachtel entgegen rutschte. Beatrice inhalierte den Rauch so tief wie sie nur konnte.
Mit jedem Zug den sie machte, schien alles zu schwinden, sich in Luft aufzulösen und fern von ihr zu sein. Die kalte Glut verteilte sich auf dem Teppichläufer.
Nichts kümmerte sie mehr. Nicht mal ihre Hunde Winston und Charlie, die hungrig um sie herum scharwenzelten, oder ihr Mann, der auf dem Sofa schlief. Beatrices ereilten Erinnerungen. Bilder von Arne. Wütend schmiss sie die Schachtel mit den Zigaretten in die Ecke und ging ins Bett.
Sie hoffte am nächsten Morgen aufzuwachen und festzustellen das alles nur ein böser Alptraum gewesen war der ihr an den Nerven zerrte.
Doch kaum dass sich ihre Augenlider geschlossen hatten, quälten sie die schrecklichen Bilder erneut. Sie hatte immer das verzerrte Gesicht und den kalten Blick vor Augen.
Sie versuchte sich die letzten Worte, die letzten Bewegungen von Arne ins Gedächtnis zu rufen doch der grausame Anblick überschattete alles. Gegen zwei Uhr nachts fand sie endlich ihren Schlaf. Winston und Charlie kamen auf leisen Pfoten in ihr Schlafzimmer und legten sich neben ihr ans Bett.
Direktor Lindmann biss gerade in sein Marmeladenbrötchen, als ihn seine Ehefrau zurück ins Haus rief. Sie stand am Telefon und hatte den Hörer in der Hand. Lindmann gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange und hielt sich dabei den Hörer an die rechte Ohrmuschel. An der anderen Leitung meldete sich Thomas Frankens und teilte Lindmann die Nachricht über den Tod von Arne Neumann mit. Lindmann verstummte. Er wurde kreidebleich.
»Sie haben es getan!« flüsterte er und legte den Hörer beiseite.
»Was ist denn Schatz?« fragte seine Frau und folgte ihm auf die Terrasse. Eigentlich war es um diese Jahreszeit viel zu kalt um draußen zu frühstücken. Die herrliche Aussicht auf den Starnberger See im Winter war es ihnen wert. Hilde blieb im Türrahmen stehen und beobachtete ihren Mann der fassungslos ins Leere starrte.
»Was ist den passiert, Georg, das dich so aus der Fassung bringt?«
»Arne Neumann, ein Schüler von mir wurde gestern tot aufgefunden!«
»Das ist ja grauenvoll, Georg!« sagte seine Frau. Hilde wurde es schummrig zumute. Sie musste sich setzten. Beide schwiegen sich an. Ein Rotkehlchen flog an ihren Tisch und stibitzte einige Brotkrümel für ihre Jungen, die im Baum gegenüber nach Futter riefen. Lindmann kaute an seinen Fingernägeln. Dann brach er sein Schweigen.
»Ich muss nach Kalem Hilde, das lässt mir sonst keine Ruhe!«
Lindmann rückte seinen Stuhl nach hinten stand auf und lief ins Haus. Hilde räumte schnell das Geschirr ab während ihr Mann seine Aktentasche packte. Zwanzig Minuten später verließ sein silberfarbener Mercedes die Einfahrt vor ihrem Haus. Lindmann raste über die Autobahn.
Sein Puls lag bei 180. Lindmanns Frau saß ängstlich daneben und schaute ihn mit großen Augen an. Sie hielt sich mit der Hand am Griff über der Fensterscheibe fest. Jeder Wagen der ihm in die Quere kam, schnitt er und fuhr im Slalom über die Autobahn. Hilde bat ihren Mann, den Fuß etwas vom Gaspedal zu nehmen.
Ihr zu liebe verlangsamte er das Tempo. Er berührte mit den Fingern ihr Knie und fuhr langsam weiter. Auf der Ablage vibrierte sein Mobiltelefon. Hilde drückte die grüne Taste ging ran. Lindmanns Stellvertreter, Professor Martin Bluhm, meldete sich zu Wort.
Ihr Ehemann riss ihr grob das Telefon aus der Hand.
»Professor Bluhm, sind sie das? Hören sie, wir sind bereits unterwegs und treffen voraussichtlich in 45 Minuten in Kalem ein. Haben sie schon die Eltern von Arne Neumann erreicht? War die Polizei schon bei ihnen?«
Lindmann redete kreuz und quer und ließ seinem Kollegen kaum die Gelegenheit für Antworten.
Er stellte eine Frage nach der anderen. Professor Bluhm, in seinem Arbeitszimmer stehend, legte genervt den Hörer auf und verließ den Raum voller ausgestopfter Fasanen, Hasen und Mardern. Haufenweise Bücher lagen im ganzen Raum verteilt oder übereinander auf kleinen Stapeln. Er fand kaum die Tastatur für seinen Computer. Bluhm entsprach genau dem Klischee eines zerstreuten Professors.
Helles graues Haar, Nickelbrille und ein weißer Schnauzer. Er wurde von den Schülern oft Einsteins Enkel genannt, wenn sie über ihn sprachen. Er lief die Treppe ins Foyer hinunter und ging in die Aula in der bereits alle Lehrer in Grüppchen ungeduldig auf ihn warteten.
Sie waren noch im Unklaren und wunderten sich über das von ihm spontan einberufene Treffen.
»Was ist denn so wichtig Martin, dass du uns unbedingt sprechen musst?« fragte ihn Sportlehrer Horn, der genervt in der ersten Reihe saß und seine Arme verschränkte.
»Direktor Lindmann wird bald hier eintreffen Jens, dann wird sich alles aufklären!« antwortete Bluhm, der den Unmut seiner Kollegen zu spüren bekam.
***
Um dieser Zeit war im Kriminalkommissariat K12 in München nicht viel Betrieb. Hauptkommissar Vogtner warf in seinem Büro eine Kopfschmerztablette ein und trank einen kräftigen Schluck lauwarmen Kaffee.
Er war seit vier Uhr früh auf den Beinen. Eine Männerleiche am Ufer vom Speichersee hatte ihn aus dem Schlaf gerissen. Jede Menge Fotos und Zeugenaussagen lagen wahllos auf seinem Schreibtisch. Es klopfte an der Tür und Marie, die blonde Praktikantin, kam herein.
»Was verschafft mir die Ehre?« witzelte Vogtner und lächelte sie dabei an.
»Ich hab hier ein Fax aus Löhnsbach für sie.
Herr Birkner meinte, dass es sie vielleicht interessieren könnte.«
Marie reichte ihm das Blatt Papier und machte wieder die Tür hinter sich zu.
Irritiert sagte er leise Danke. Vogtner las das Fax zu Ende und ließ alles stehen und liegen. Einen Augenblick später stand er im Büro seines Vorgesetzten Birkner. Vogtner wedelte mit dem Papier vor Birkners Nase herum.
»Setz dich, Ben.«
»In drei Stunden kann ich in Löhnsbach sein.
Gib mir Vero mit und morgen hast du einen vollständigen Bericht auf dem Tisch liegen.«
Birkner schüttelte Ben die Hand und gab ihm sein OK.
»Ich habe jedoch noch eine Bedingung, Ben.
Du fährst nur, wenn jemand deinen Mordfall am See übernimmt. Einverstanden?«
»Einverstanden, Boss!«
Birkner schüttelte Vogtner erneut die Hand.
Vogtner brauchte nicht lange zu suchen, um den Fall abzugeben. Es gab genug Kollegen in seiner Abteilung, die scharf auf eine Beförderung waren und schon eifrig in den Startlöchern standen. Vogtner lief durch die Flure und klopfte an die Bürotüren und binnen weniger Minuten lag der Mordfall nicht mehr in seinem Zuständigkeitsbereich.
Wieder in seinem Büro angelangt packte er seine Aktentasche zusammen und hinterließ sein gewohntes Chaos auf seinem Schreibtisch.
»Ihr Männer lernt es wohl nie oder?« sagte Vero, die sich an seine Bürotür lehnte und genüsslich in einen Apfel biss.
»Ihr Frauen könnt auch nur stänkern, was?« konterte Vogtner lässig zurück.
»Lass uns gleich los fahren, Vero. Ich muss nämlich vorher noch kurz zu meinem Sohn nach Hause und einige Kleinigkeiten klären.«
»Ach stimmt ja, heute kommt dein Sohn Jannik. Wie willst du ihm das eigentlich beibringen?«
»Wenn ich das nur wüsste. Ich überleg mir das unterwegs.«
Sie gingen zügig den Gang entlang zum Auto und fuhren los. Seine Exfrau wohnte an der Isar.
Vor zwei Jahren durfte er es auch noch sein Zuhause nennen bis sie den Schlussstrich zog und ihn mit allen seinen persönlichen Sachen vor die Tür setzte. Nie wird er die schönen Stunden vor dem Kamin vergessen. Er Saxophon spielend und sie sich auf dem Sofa räkelnd. Ihr schlanker Körper folgte dem Rhythmus, wie die knisternden Flammen im Kamin.
»Ben. Beeen, aufwachen.«
Vogtner riss gerade noch das Lenkrad zur Seite und verhinderte eine Kollision mit der blauen Ente vor ihnen. Die Autos auf der Gegenfahrbahn hupten. Eine alte Frau am Straßenrand fuchtelte mit ihrem Regenschirm und zeigte ihm den Vogel.
»Was ist denn nur los mit dir?« fragte Vero zornig und fasste sich vor Schreck auf ihren Brustkorb.