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'Ich war hin- und hergerissen, angezogen und abgestoßen. Von der Kraft und ja, der Poesie in den Bildern angezogen, abgestoßen vom Saft und der Härte, der Kälte der Situationen und der Kühle dieser Welt. Und doch, es ist Literatur, mag sie auch nicht von Schönheit strotzen und es ist Literatur, weil sie derb ist wie das Leben, kalt wie das Schicksal und immer wieder mit Momenten der Ruhe, des Friedens, des glücklichen Augenblickes, der die gnadenlose Welt ein wenig erhellen kann.'Alfred MierschWilli Thomczyk ist der Öffentlichkeit bekannt als Film- und Fernsehschauspieler. Ob als Camper Benno in der RTL-Serie DIE CAMPER oder Polier Horst in dem Kinofilm WAS NICHT PASST WIRD PASSEND GEMACHT immer überzeugt er als 'Mann aus dem Volk'. Kein Wunder ist er doch in einer oberschlesischen Bergarbeiterfamilie im Ruhrgebiet aufgewachsen und lebt immer noch dort.Nur wenige kennen Willi Thomczyk als Maler, Musiker und mit Literaturpreisen ausgezeichneten Dramatiker. Nun hat er seinen ersten Roman geschrieben.Kalischewski wie könnte es anders sein spielt im Ruhrgebiet der 60er Jahre in einer Zechenkolonie. Im Zentrum steht die Beziehung zwischen einem 17-jährigen Jungen und einem ausgedienten alten Bergmann. Eine Ode an die Freundschaft. Darüber hinaus eine andere Sicht auf den Niedergang der Bergarbeiterkultur.
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Seitenzahl: 190
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Willi Thomczyk
Kalischewski
Ode an die Freundschaft
Roman
Impressum
©NIBE Media ©Willi Thomczyk
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Coverbild: Klaus Riechmann (*1940; †2010)
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Inhaltsverzeichnis:
Allein mit Kalli in seinem Zimmer
Seemannsbraut, heißt die See
Dieser Bluthund
Frankenstein
Die Picklige
Huckleberry Finn
Auf der Orgelbühne
Kallis großer Vater
Nach der Messe im kleinen Wald
Das Hohelied Salamons
Der Wolfsjunge
Der Arschgucker
Der Ölige und Knute
Die Nacht war angebrochen
Die achtschwänzige Geißel
Nichts ist komischer als das Unglück
Kallis heilige Ulka
Frantek
Ein neorealistischer Film
So eine kleine Drecksau
Plötzlich Stille
Eine leuchtende Schlange
Die Braut mit den kaputten Zähnen
Wäre ich doch ein Stück Holz
Das russische Roulette
Der arme einsame Friedrich
Das Sterntalermädchen
Sturzflug
Eine kriminelle Vereinigung
Besuchstag
Smingus Dyingus
Pietreck und das Wurstbrot
Mensch Kalli, bin ich high
Der Arschkriecher ist ein Anarchist
Schulzwang
Der tätowierte Egon
Kleine Katastrophen
Kallis Marotte
Was bin ich nur für ein Rabe?
Schlafende und Liebende soll man nicht stören
Der olle Profittlich
Die Nacht liegt zwischen blauen Wimpern.
Der Bauer
Good Bye, Fuß! Wir sind der Blues!
Der Staubsaugervertreter
Das sind die Flöhe, mein Junge
Blutabnahme
Die Reisekiste
Der Balkenbieger
Die Wolken haben mich vergessen
Profittlichs Schwester
Der Klospiegel
Der Einlauf
Das Wunder von Bern
Am Arsch vorbei
Die Blätter der Erle
Alles schlief in Kallis Zimmer
Heute wie gestern
Träum ich, Kalli?
Die Rote und das Rudel
Tick. Tick. Tick.
Kalli und seine Witze
Anton, der sterbende Bergmann
Ja, ich bin sündig. Halleluja!
Das Leben ein Steinbruch
Ein Bergmann ohne Berg
Die Nacht greift nach mir
Der Doktor Baranowski
Wolkengucker
Walisko
Der Indianer und sein Sohn
Die Motte
Die Glücksbude
Die unmögliche Kette
Die Blätter
Der Führer ruft, mein Junge
Erinnerung an eine kalte Frikadelle
Die schönste Zigaretten meines Raucherlebens
Der Stollen
Kawumm!
Lobgesang auf die Kindheit
Mir fliegt alles zu
Mum, Mum, take me back
Gino und Jimi
Wieder keine Erleuchtung
Unter der grossen Buche
Die Spinnweben der Erinnerung
Rotwelsch
Von Arschlöchern zu Golflöchern
Jenseits von Gut und Böse
Meine kleine Nachtmusik
Aus. Aus. Aus. Das Spiel ist aus.
Opa Werner, Oma Erna und Mutters Schwester Olga
All die schönen Kinos
Das Krankenhaus der Zukunft
Vogelnests Rache
Der Kunstfurzer
Schlachttag
Pastor Sehler
Von Trostpflaster zu Trostpflaster
Noch 'ne Runde, Kalli
Der dicke Albert
Frühstück
Meine erste Jeanshose
Die fliehenden Wolken
Der kleine Buddha
Herbst
Oswald Kowalski
So viel Gelächter
In meiner Hand ein Stein
Zeit der Wundertüten
Nach dem Menschen, wie?
Tür zu, Affe tot.
Der schwarze Fleck
Ulkas Kartoffelsalat
Lattenjupp
Die Friedenstaube am Boden
Der lange Smiarowski
Eine Stinkmorchel, Herr Doktor
Endstation
Irrtum der Jugend
Das unerträgliche Es
Sackklopfen
Wieder Besuchstag
Von den Toten auferstanden
Gullivers Reisen
Unterm Rauchhimmel
Das Brot
Schön, wenn man so einen Kalli hat
Alles im Quadrat, Schwester
Kallis Pütt
Der Mond
Krebs auf Intensiv
Der Kopf - ein Universum
Kallis Mundharmonika
Als … als … als
Gute Butter
Mutter auf einer Sahnewolke
Hüte dich vor Hüten, mein Junge
Krähen fallen auf die Erde
Streit mit Kalli
Eisen am Himmel
Reise über Mutters Gesicht
Es war einmal ein kleiner Junge
Williams Christ
Ich. Viktor Kalischewski. Höllenhund.
Tod ist Licht ohne Moral
Stuhlgang
Mach mir eine Hühnersuppe, mein Sohn
Die Nacht des Huhns
Ich bin noch immer da, mein Junge
Anmerkungen
Anhang
Rezept für Hühnersuppe
Für meinen besten Freund,
dem es sicher recht ist, daß ich seinen Namen nicht erwähne,
ohne den dieses Buch nicht so geschrieben,
so wie mein Leben ohne ihn ein anderes wäre.
Wenn Geschichte machen soviel heißt wie sie ertragen,
ist die glanzlose Existenz der eigentliche Stoff der Geschichte.
Allein mit Kalli in seinem Zimmer
Allein mit Kalli in seinem Zimmer, am Fußende seines Bettes, einer trostlosen Zigarrenkiste. Er da drin, reglos in ein vergilbtes Laken gedrückt. Endstation seiner Reise. Von Acker zu Acker, ohne sich je davon gemacht zu haben. Schon die Kindheit im Schweiße ertränkt und die Jugend verbrannt auf den Feldern. Gefreiter Arsch! Geschundener Menschensohn. Nur, der hatte es so gewollt. Dreiunddreißig Jahre darauf hingearbeitet, dass man ihn ans Kreuz nagelt. Seht doch, wie er sich verbeugt da oben. Applaus der betenden Hände. Ende der Vorstellung.
Nicht so für Viktor Kalischewski. Ab als Gerippe an die Ostfront. In den Kessel mit unserem Kalli. Knochen auskochen. Doch Freund Hein lief Kalli nie über den Weg. Dabei hatte er sich so nach ihm gesehnt. Wie nach der ersten großen Liebe. Ja, der Tod hätte Kallis große Liebe sein können. Ihn von der Angst befreien, die traurigen Erinnerungen seines bis dahin kurzen Lebens vergessen lassen und seine gemarterte Seele erlösen können. Doch keine Liebe in Sicht.
Die nächste lebensverlängernde Maßnahme hieß Kriegsgefangenschaft, an die Kalli sich kaum noch erinnern kann, so gründlich muss ihm der Schrecken das Gehirn ausgeputzt haben. Auch wenn Conny ihn da rausholte, sah Kalli den Phönix nur kurz aufsteigen, denn schon begrub man ihn lebendig unter Tage. Glück auf! Aber nicht für Kalli. Der musste ran. Den Kriegsgewinnlern den Arsch vergolden. Und auf den Schultern der Bonzen wachte der Phönix über Recht und Ordnung. Ihr Recht und ihre Ordnung.
„Und morgen die ganze Welt“, flüsterte Kalli oft, wenn er am Fenster saß. Da sah er auf den Hinterhof mit den Ställen, sah etwas Himmel und eine morsche Erle. Die ganze Welt eben.
Draußen fielen die Blätter und ich vernahm die weinerliche Stimme von J. M.
„The Death of J. B.“
Noch war Kalli nicht drüben wie der gute J. B. Auch so eine arme Sau. Beide würden sich im Jenseits gut verstehen. Kalli mit seiner Mundharmonika und J. B. mit der Gitarre. Obwohl Kalli nie den Blues spielte auf seiner Mundorgel. Nur traurige Seemannslieder.
Seemannsbraut, heißt die See
„Seemannsbraut, heißt die See. Und nur ihr kannst du treu sein.“
Dabei ist Kalli nie zur See gefahren. Aber sie war seine Sehnsucht.
„Ich hab mir das noch mal überlegt, mein Junge. Wenn ich noch mal leben muss, dann nur auf See. Von Schiff zu Schiff und von Hafen zu Hafen.“
„Sterben muss man, Kalli, leben muss man nicht.“
Für einen siebzehnjährigen Bengel eine weise Erkenntnis. Eigentlich war es nur so ein Spruch und um Sprüche war ich nie verlegen.
Dieser Bluthund
„Herr Pastor, sind Sie besoffen, wenn Sie jeden Tag Wein in der Messe trinken?“
Schon hatte ich mir eine gefangen.
„Das ist das Blut Christi, Rotzlöffel!“
Das Lachen der Kinder verstummte augenblicklich, denn keines wollte sich auch so eine Ohrlasche einfangen. Dann auf die Knie, drei Vater unser und ein Ave-Maria obendrauf. Dabei stellte ich mir vor, dass der Pastor Blut trank – dieser Bluthund.
Frankenstein
Weiß nicht, wie lange ich da am Fußende stand. Starrte auf Kallis Kopf, der durch den Krebs gezeichnet immer kleiner geworden war. Ein Schrumpfkopf, den man in eine Hand nehmen konnte.
Sein eingefallenes Gesicht hatte nichts mehr von der gruseligen Hässlichkeit, denn Kalli sah aus wie eine Mischung aus Frankenstein und Glöckner von Notre Dame.
Schon als Kind musste er Hänseleien ertragen und später fürchtete man sich vor ihm. Für Kalli war das die Erklärung, warum er den Krieg überlebte.
„Mir ging jeder aus dem Weg, mein Junge. Die Soldaten, die Granaten und der Sensenmann.“
Nun strahlte sein Antlitz Milde und Demut aus, die Kalli im Herzen eigen waren. Eine wohltuende Stille umgab ihn, die auch mich ergriff. Und ich sah mein junges Leben an mir vorüberziehen. Als läge ich da selbst.
Die Picklige
Die Picklige. Zehn Jahre alt und ich zwölf. Lagen da im hohen Gras der Böschung und ich saugte an den Nippeln ihrer Brust, wegen der Milch, die da ja rauskommen musste. Hatte es doch bei Tante Olga gesehen, durchs Schlüsselloch, als sie sich die Milch abpumpte.
Ach, was ich so alles sah durch das Schlüsselloch.
„Runter mit der Rüstung!“
Dabei riss der Alte Mutter das Korsett vom Leib und nahm sie von hinten, wie ich es von den Kühen kannte. Nur die waren nicht stinkbesoffen. Und er schnaubte wie eine alte Lokomotive. Mutter kniete auf dem Stuhl über den Tisch gebeugt, schaute sich teilnahmslos das Testbild in der Glotze an. Ihre Brille, Engelsflügeln gleich, fiel ihr schließlich von der Nase, als es ihm kam. Und er verschwand schneller als er gekommen war. Runter in den Keller Bier holen. Mutter setzte sich ihre Engelsflügel auf und legte ihre Rüstung wieder an.
Hab alles gesehen durch das Schlüsselloch.
Huckleberry Finn
Noch war Kalli bei mir, auch wenn ich seinen Atem nicht wahrnahm. Denn ich konnte ihn riechen. Ja, ich roch Kalli und war mir sicher, dass er nicht tot sein konnte. Dieser Geruch war mein Zuhause. Roch ich Kalli, fühlte ich mich geborgen. So wie ein Kind seine Mutter gerne roch, egal wie andere ihren Geruch empfanden.
Kallis Ausdünstungen waren ein Gemisch aus saurem Schweiß, Batavia Tabak und dem süßlichen Geruch seiner Maispfeife. Vielleicht rührt daher auch meine Vorliebe für süßsaure Speisen beim Chinesen.
Morgens, mittags und abends stopfte Kalli seine Maispfeife und dampfte vor sich hin, wie Huckleberry Finn in seiner Tonne. Wenn er mir dann abends aus dem Buch vorlas, verwandelte ich mich in Tom Sawyer, der den Geschichten von Huck lauschte. Mutter war die gute Tante Polly und der böse Indianer Joe natürlich mein Alter. Aber eigentlich war ich auch Huckleberry Finn. Vor allem, wenn ich allein am Kanal war, der für mich zum Mississippi wurde. Saß da auf den dicken Steinen am Ufer, in der Hand das Buch und musste oft daran denken, dass Mark Twain wörtlich übersetzt heißt: Das Wasser ist tief genug.
Auf der Orgelbühne
Auf der Orgelbühne. Rechts der Küster, links der Pubertätssklave. Zwischen uns Hunderte von Orgelpfeifen. Der Küster intonierte:
"Vom Himmel hoch, da komm ich her."
Und ich hatte einen stehen bis Jerusalem. Unter mir, vor dem Altar kniend in Reih und ohne Glied, das weibliche Klientel. Durch ihre Rücken sah ich ins Paradies. Herrscharen von Schlitzen mit und ohne Haare. Brüste aller Klassen. Engel allesamt.
Ich atmete mit den Orgelpfeifen und ergoss mich glückselig mit dem Schlussakkord auf den Holzboden der Orgelbühne.
Kallis großer Vater
Nie habe ich Kalli richtig rauchen gesehen.
„Ist kein Platz mehr inne Staublunge für Herrn Batavia“, sagte er nur, wenn ich mich über seine Dampfpfeife lustig machte.
„Jau, Kalli, aber für dich ist bei uns immer Platz.“
Gut, dass Vater ihn zu uns genommen hatte. Konnte meinen Alten nie leiden, diesen Dummproleten. Aber dass er Kalli in die Familie aufnahm, als ich in die Schule kam und Kalli mein Opa wurde, dafür werde ich ihm ewig dankbar sein.
Kalli, mein Großvater! Mein großer Vater!
Nach der Messe im kleinen Wald
Nach der Messe im kleinen Wald. Winterblau der Himmel und eine kalte Sonne, einsam, kurz vor dem Untergang. Das Laub leichenstarr am Boden, vom Herbst vergessen, träumt von der Auferstehung.
Das Hohelied Salamons
Wie oft ich zu Kalli ins Bett kroch als Steppke. Vor allem im Winter. Gab ja nur den Herd in der Küche und den kleinen Wohnzimmerofen. Auch wenn die Türen offenstanden, damit die Wärme sich verteilen konnte, in Kallis Zimmer war das Fenster voller Eisblumen. Aber Kalli war Kälte gewöhnt, und mit der Zeit gewöhnte ich mich auch an sie.
Noch heute reiße ich das Fenster auf, wenn es mir zu warm im Zimmer ist. Die Betschwestern hier habe ich schon wahnsinnig gemacht mit meinem Lüftungstick.
„Sie holen sich noch den Tod.“
„Den muss ich nicht erst holen, Schwester.
Der kommt ganz von allein.“
„Wohl wahr“, sagt die Haubentaucherin und spendet mir Trost aus der Bibel. Ich schalte auf Durchzug und stelle mir vor, dass sie in mein Bett kriecht. Das wäre wahrhaftig ein Trost. Vielleicht würde sogar ein Wunder geschehen. Die wundersame Verwandlung einer Bettdecke zu einem Zelt.
„Sehen Sie, jetzt lächeln Sie.“
Und die Haubentaucherin lächelt auch, gradezu verführerisch. Ich schließe die Augen und höre sie das Hohelied Salomons singen:
„Stark wie der Tod ist die Liebe, die Leidenschaft ist hart wie die Unterwelt.“
Oh, Wunder, schon meldet sich meine Unterwelt, zieht die Haubentaucherin zu sich hinab und jubiliert:
„Dein Schoß ist ein rundes Becken, Würzwein mangle ihm nicht.“
Und so weiter – das Lied der Lieder im Duett. Ach, was für eine Genesung.
„Das Bett beziehen wir morgen frisch.“
„Das wird es wohl nötig haben, Schwester.“
Sie schüttelt den Kopf und entfliegt. Und mit ihr mein Hohelied.
Der Wolfsjunge
Ob Kalli überhaupt mal eine Frau hatte, so richtig mit rein und raus oder wenigstens mal mit anfassen? Ich glaube nicht. War auch nie Thema. Kalli war eben Kalli. Ganz allein und ohne Weiberloch. Hässliche Menschen haben es eben schwer im Leben. Hässliches will man nicht sehen, wo doch die Schönheit regiert.
„Ich hab mir das noch mal überlegt, mein Junge. Das Schöne kann man nicht sehen, das Schöne kann man nur fühlen. Und denk immer daran, mein Junge, das Hässliche sollst du ehren.“
Dann erzählte Kalli mir Geschichten von hässlichen Kreaturen. Zwerg Nase, der Elefantenmensch, Frankenstein, das hässliche Entlein. Beschrieb sie mir so eindrücklich, dass ich sie direkt vor mir sehen konnte und Kallis Zimmer sich in ein Panoptikum verwandelte. Am Ende jeder Geschichte hatte ich Mitleid mit diesen Kreaturen, fühlte mich gar zu ihnen hingezogen.
Und als Kalli mir vom Wolfsjungen erzählte, war es um mich geschehen. Seine abschreckende Erscheinung, seine Wildheit und Einsamkeit nahmen mich so gefangen, dass ich den jungen Adonis im Spiegel nicht mehr ertragen konnte. Ich wollte sein wie er, hässlich und unerträglich. Ein wilder, einsamer Wolfsjunge.
So verwandelte ich mich. Ich ließ meine Haare wachsen, schnitt mir nicht mehr die Finger- und Fußnägel, kannte keine Zahnbürste und keinen Kamm mehr. Waschen und Baden wurden mir zuwider. Das Badezimmer sah mich nur noch, wenn ich aufs Klo musste. Den Hintern wischte ich mir zwar noch ab, aber ein Blatt Papier musste reichen. Die Unterwäsche und Klamotten wechselte ich nur, wenn Mutter mich dazu zwang. Gebügelte Hemden und Hosen, frische Taschentücher, blank geputzte Schuhe waren mir ein Gräuel. Und wenn es sich mal nicht verhindern ließ saubere Sachen anzuziehen, war das Dreckigmachen ein Kinderspiel für mich. Bis Mutter es schließlich aufgab mich immer wieder sauber rauszuputzen. Den Alten scherte es nicht, lief ja selber rum wie Karl Arsch auf der Rennbahn. Schimpfte mich nur Gammler und schüttete sich mit Bier zu.
Aber was soll ich sagen, ich konnte aussehen wie der Wolfsjunge mit meinen langen verfilzten Haaren und den dreckigen Klamotten, eine hässliche Fresse ziehen wie Mr. Hyde, stinken wie eine Jauchegrube, fressen wie ein Schwein, rülpsen, furzen, den Hosenstall offen lassen, unflätige Reden halten – ich konnte machen was ich wollte. Kaum einer mied meine Gegenwart. Ganz im Gegenteil. Ich genoss die Aufmerksamkeit aller. Bei den Lehrern und sonstigen Erwachsenen natürlich als abschreckendes Beispiel. Aber meine Schulkameraden und Freunde fanden es toll. Von wegen einsamer Wolf.
Ich kam mir vor wie in einem überfüllten Zoo, aber ohne Käfig. Ein Zoo, der nur für mich da war. Jeder wollte mir nahe sein und sogar die, die mich früher links liegen ließen, interessierten sich für mich. Was die Mädchen anging, die hatten es besonders auf mich abgesehen. Ich erweckte in ihnen wohl abartige Träume, die sie bisher kaum zu träumen wagten. Aber das Schlimmste war, dass schon bald einige mir nacheiferten. Es dauerte nicht lange, bis alle auf den Laufsteg wollten.
Als schließlich keiner mehr vom anderen zu unterscheiden war, plante ich meinen Selbstmord. Ich ging zum Frisör, stutzte mir die Nägel, lernte wieder mit Zahnbürste und Kamm umzugehen, wechselte täglich die Unterwäsche.
Und dann ging ich ins Wasser. Mutter weinte vor Glück.
Der Arschgucker
Sie machen sich zu viele Gedanken. Sie sollten mehr schlafen. Schlaf ist gesund.“
Was weiß der Arschgucker schon? Kein größerer Wucherer als der Schlaf, er stiehlt uns das halbe Leben, denke ich mir, während er der Haubentaucherin ein Schlafmittel für mich anweist. Er meint es sicher gut mit mir. Aber es ist auch gut für ihn. Ich rede ihm wohl zu wirres Zeug. Das kostet Zeit. Unbezahlte Zeit für diesen jungen Halbgott, der nur Allerwerteste vor Augen hat, die ihm seinen Lebensunterhalt sichern. Und sie halten auch das Maul, kein Wort kommt aus ihnen raus, höchstens mal ein Furz.
„Wissen Sie, was ich so faszinierend finde, Herr Doktor? Sie schauen der Menschheit nicht nur in den Arsch, Sie kriechen auch hinein. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes ein Arschkriecher. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, aber Sie durchforsten unsere Gedärme wie Arbeiter die Abwasserkanäle unserer Stadt. Lernt man da die Menschen nicht von einer ganz anderen Seite kennen?“
Der arme Mann lächelt gequält und schaut mich an, als habe er es mit einem Irren zu tun, den er gleich in die psychiatrische Abteilung überweisen wird. Warum soll nur er von mir leben?
Die Haubentaucherin ist inzwischen abgetaucht. Auch der Arschgucker beendet seine Visite mit einem mitleidigen Blick und den Worten:
„Ich werde mir das mal durch den Kopf gehen lassen.“
Ach, jetzt ist ihm der Kopf doch wieder recht. Er soll sich das mal lieber durch den Arsch gehen lassen – der Arschkriecher.
Der Ölige und Knute
Es dunkelte draußen und nur die kleine Nachttischlampe spendete spärliches Licht. Sie erinnerte mich an die Öllampe in der Kirche. Das so genannte ewige Licht. Bis dieses Wunder eine banale Erklärung fand, als wir Ministranten sahen, dass der Küster, den wir den Öligen nannten, regelmäßig die Ewigkeit mit Öl versorgte. Den Spitznamen hatte er weg, weil er Waldemar Öhler hieß und man sich in der Gemeinde flüsterte, dass er vom anderen Ufer sei. Aber keiner hätte gewagt es offen auszusprechen, obwohl er den Prototyp eines Schwulen abgab, mit seinen blonden Haaren, in die er kiloweise Fett schmierte, so dass sein Haupt aussah wie ein glänzender Helm. Auch sang er mit so hoher Stimme die Kirchenlieder, dass die Männer oft die ersten Noten nicht mitsangen, weil sie dachten, sie seien nur für den Frauenchor bestimmt. Und stolzierte er in seinem hautengen Küsterkostüm zum Altar hoch, meinte man, die Bardot wäre unter uns.
Keine Frage, dass er uns Jungen besonders zugetan war. Nie ließ er es sich nehmen, uns die Ministrantenkluft anzuziehen und legte besonderen Wert auf den korrekten Sitz der gesegneten Kostüme. Zupfte so lange an uns rum und streichelte den Stoff mit seinen weichen Händen immer wieder glatt, bis man rot vor Scham wurde. Auch vor dem dicken Pastor machte er nicht halt.
„Hochwürden sehen heute mal wieder besonders elegant aus.“
Und dieser hochwürdig Schwangere ließ es sich dann auch nicht nehmen, eitel vor den Spiegel zu treten, mit eingezogenem Bauch das Kreuz zu schlagen, bevor er an Gottes Tresen sich dem Wein ergab.
Einmal haben wir Männeken Piss – ich hatte ihn so getauft, weil er eine Blasenschwäche hatte – den Messwein hingehalten. Als der hochwürdige Fettarsch dann in der heiligen Messe den heiligen Kelch ansetzte und einen tiefen heiligen Schluck nahm, platzten wir fast vor Schadenfreude. Ich konnte schließlich nicht an mich halten, prustete los und kotzte auf die Altarstufen. Mit Freudentränen in den Augen schleppten meine Kameraden mich in die Sakristei. Dort fielen wir uns in die Arme und "weinten" gemeinsam.
Das Ganze hatte natürlich ein Nachspiel. Aber das war uns schnuppe, denn seitdem stellten wir uns immer vor, dass der Bluthund Pisse trank, von wegen Wein oder das Blut Christi. Dieser Schläger vor Gott dem Herrn, mit bürgerlichem Namen Martin Klute, den ich mehr hasste als meinen Alten. Da lag es nahe, dass ich ihm den richtigen Spitznamen verpasste. Aus Klute machte ich Knute, die er für uns war. Der Ölige und Knute. Nomen est Omen.
Die Nacht war angebrochen
Die Nacht war angebrochen. Die Schatten im Zimmer – schwarze Löcher, in denen alles verschwand. Von Kalli war nur noch die Hälfte da. Ein Strichmännchen in einer halben Zigarrenkiste.
Mutter war ins Zimmer gekommen, doch ich bemerkte sie nicht, da ich mit all meinen Sinnen bei Kalli war. Sein Federbett hatte mich verschluckt wie eine Leinwand. Zurückgeblieben nur mein Schatten am Boden. War eingetaucht in Kallis Leben, das sich vermischte mit meiner Kindheit und Jugendzeit. Dazwischen immer wieder sein eingefallenes Gesicht. Ein Schnitt, ein Atemholen. So von Bild zu Bild, getrieben von Neugier, Angst und Lust. Konnte bald nicht mehr unterscheiden zwischen mir und Kalli. Alle Menschen, auch wir beide, erschienen mir wie Gespenster.
Erst jetzt verstehe ich was Kalli meinte, wenn er von den Gespenstern der Zukunft sprach. Denn was war, was wir getan, eilt uns voraus und kommt uns aus der Ferne als Gespenst entgegen.
„Willst du nicht schlafen gehen?“
Mein Schatten hatte mich wieder und ich schaute mich um. Aber Mutter war nicht mehr da. Nur ihr Schatten, wie ein Gespenst.
Die achtschwänzige Geißel
Kalli konnte ich alles erzählen. Alle meine Sünden und sogar als es mir zum ersten Mal kam. Weiß nicht, ob ich da zwölf oder dreizehn war. Weiß nur, dass die ersten Schauer meines Unterleibes ausgelöst wurden durch die Angst vor den Schlägen meines Alten.
Es war an einem heißen Sommertag spät abends. Da es noch hell war, hatte ich beim Bolzen die Zeit vergessen und wusste, was mich zu Hause erwartete. Schläge ohne Ende, denn Kalli war nicht da an diesen Abend, um meinen Alten zu bändigen. Also rannte ich los, wie einer, der um sein Leben läuft, die Angst im Nacken. Angst vor der guten Rechten meines Alten und der eigens für mich angefertigten Geißel, die im Schrank versteckt auf ihren Einsatz wartete. Eines Tages brachte er sie mit von der Morgenschicht und präsentierte sie mir mit den Worten:
„Hier, riech mal dran!“
Vier Elektrokabel, doppelt genommen, umwickelt von Klebeband mit einer Handschlaufe. Eine handwerklich saubere Arbeit, die sich sehen lassen konnte. Ich rannte also was Herz, Lunge und Beine hergaben. Dabei spürte ich ein Kribbeln in meinem Geschlecht, als kitzelte mich jemand dort. Doch zum Lachen war mir nicht zumute. Es war ein eigenartiger, noch nie empfundener Reiz. Instinktiv grub sich meine rechte Hand in die Hosentasche und massierte dort meinen Bibi, der nun wohl erwachsen werden wollte. Ich knetete ihn durch wie einen Kaugummi, rannte schneller und immer schneller und die Angst rannte mit. Ich sah die achtschwänzige Geißel vor mir, hörte den Alten schreien:
„Warum gehorchst du mir nicht?“
Hörte Mutter in der Küche weinen und hörte mich selber schon heulend nach Luft schnappen.