Kalium - Thomas Herget - E-Book

Kalium E-Book

Thomas Herget

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Beschreibung

Sie leben von steigenden Aktienkursen und glorreichen Richtfest-Reden, für die einflussreiche New Yorker Baulöwen sie engagieren. Menschen am Rande des Nervenzusammenbruchs, in Form gehalten von schicker Designerware und künstlich beatmet von den Sprechblasen antrainierter Superhelden-Egos. Als zwei Paare im Lastenaufzug eines neuen Wolkenkratzers festsitzen, bleiben sie auch in der automatisierten Warteschleife nach der Beantwortung des Lebenssinns stecken. Der stählerne Käfig als Druckkammer, in dem die Luft zum Atmen zwar immer knapper wird, eine Phantasmagorie dafür umso surrealer oszillieren darf, je heftiger sich die Protagonisten in sie hinein imaginieren. Thomas Herget lässt ein Quartett hoch über den Straßen von Downtown Manhattan über sich selbst richten und in eine dampfende Crime-Soap an der mexikanischen Grenze hinabtauchen. Elaboriertes Kopfkino im Schatten der Pandemie als nie versiegende Quelle, der aufscheinenden Fratze des Todes das Wasser abzugraben? Weit gefehlt. In der Hermetik eines Betonschachts findet die Fiktion in Zeiten des Corona-Virus jetzt in exzessiven Demütigungsritualen und Selbstverstümmelungen ihre pervertierte Entsprechung. "Kalium" zeigt die seelischen Verwüstungen in digitalen Zeiten umso eindringlicher, weil sie mit dem Make-up der Lebenslüge ständig übertüncht werden. Das Hörspiel entstand nach der Vorlage von Hergets Theaterstück "Wir aßen sie roh".

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Seitenzahl: 96

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Kalium. Menschen auf dem Weg nach oben. Ein New Yorker Richtfest soll für zwei Frauen und zwei Männer nur ein weiterer Baustein in ihrer Karriereplanung werden. Doch bei der Auffahrt zum Dach bleibt plötzlich der Aufzug im Schacht des Wolkenkratzers stecken. Die metallene Box, in der sich die beiden ungleichen Paare eben noch mit anspielungsreichen Zynismen eindeckten und mit derben Frotzeleien die Zeit vertrieben, sie wird schnell zu einem albtraumhaften Käfig, den die vier im Angesicht des nahenden Todes als endzeitliche Bühne bespielen. Doch wo verliert sich in diesem Schaukampf verletzter Eitelkeiten die Realität? Und wo bildet sich in der wilden Fiktion aus dem Trauma des Verdrängens jetzt der Nukleus von Menschlichkeit heraus?

Thomas Herget lässt Upper Class People hoch über den Straßen von Downtown Manhattan über sich selbst richten und in eine dampfende Crime-Soap an der mexikanischen Grenze hinabtauchen. Doch hier wirkt der surreale Grusel, in den sich das todgeweihte Quartett immer lebhafter hineininszeniert, nur abstrakt läuternd. Die konkrete Darstellung der inneren Leere, die sich explizit in den skurrilen Machtansprüchen der beiden Frauen spiegelt, offenbart dabei die Vermeidungsstrategien aller Figuren, sich einer offenen Aussprache zu stellen. Die ständige Behauptung einer Moral, die hier nur als ein quasireligiöser Fetisch taugt, zeugt von der Perfidie dieser absurden Versuchsanordnung, Besitz- wie Rechtsansprüche über den Tod hinaus geltend zu machen.

„Kalium“ ist ein irrer Spaß und eine düstere Farce zugleich. Der Autor schrieb unter dem Eindruck des Corona-Schocks, ohne dabei den weltumspannenden Pandemie-Marathon explizit zu thematisieren oder zum Leitmotiv zu erheben. Entstanden ist ein allegorisches Hörspiel über die Einsamkeit von Menschen in digitalen Zeiten, ein Lehrstück über die Unmöglichkeit, in urbanen Zerstreuungswüsten so etwas wie Nähe zuzulassen. „Kalium“ entstand nach der Vorlage von Hergets Theaterstück „Wir aßen sie roh“.

Thomas Herget wurde 1964 in Frankfurt am Main geboren. Neben seinem Studium in Darmstadt publizierte er für Zeitungen im deutschsprachigen Raum. Es folgten literarische Förderpreise und Stipendien. Danach war er vorwiegend journalistisch tätig, schrieb unter anderem für taz, Frankfurter Rundschau und Passauer Neue Presse. Heute veröffentlicht er Film- und Theaterrezensionen und zeichnet für das Bühnen-Ressort eines Magazins verantwortlich. Seit einigen Jahren betätigt er sich erneut literarisch. Er lebt mit seiner Frau in Südwestdeutschland und in der Nähe von Kiel.

Für Elisha Graves Otis

Inhalt

Kalium

Synopsis

Kalium

Personen

AIDEN

ELLA, Aidens Frau

JACOB

CHARLOTTE, Jacobs Verlobte

Zeit und Ort

Heute. New York. In einem Aufzug.

Vor der Eingangstür eines Fahrstuhls, Erdgeschoss. Aiden mit Ella davor, etwas dahinter Jacob und Charlotte. Man hört sie atmen, räuspern. Glucksen. Jemand putzt sich die Nase. Im Hintergrund Baulärm. Den Geräuschen nach ist es ein mächtiges Gebäude. In der Ferne wird etwas eingerissen. Die Aufzugstüre öffnet sich mit einem Gong. Aiden und Ella treten ein, Jacob folgt. Blechern klingende Schritte. Charlotte verharrt.

JACOB nach draußen, zu Charlotte Was ist, hast du etwa wieder deinen Lippenstift vergessen? Liebes, so etwas wie in Franks Garage können wir nicht noch mal bringen. Den Trip geh ich nicht mit, Charlotte. Wir könnten unter Beobachtung stehen, ist dir das klar?

AIDEN zu Jacob Sie müssen Sie locken.

JACOB Was?

AIDEN Anfüttern, Mann! Sie müssen ihr etwas anbieten, das sie nicht ausschlagen kann. Putt-putt, einen Köder. Sie waren nie Fischen, hab ich recht? Kommen wohl aus ner Anwaltsfamilie, so ne reiche Bagage. Einen Jagdschein haben Sie wohl auch nicht? Typen wie Sie tragen keinen Revolver, das riech ich, die haben nicht mal nen Angelschein. Sie sind noch nicht lange zusammen, was?

ELLA dazwischen Aiden, sieh doch, sie hat Angst.

AIDEN Angst? Sie war in Franks Garage. Hast du nicht zugehört, Ella? Dreiundachtzig Stockwerke. Dreiundachtzig! Mensch, guck mal, wie die sich ziert, kratzt sich über die billigen Perlonstrümpfe. Sieht aus wie ne alte Jungfer vorm ersten Mal. Zu Jacob Wir waren übrigens auch bei Franks Eröffnung. Komisch, dass wir uns nicht über den Weg gelaufen sind, aber wir sind natürlich nicht ständig am Buffet entlang geschlichen. Typen wie Frank verschicken ihre Einladungen ja mittlerweile inflationär. Diese Influencer sind zu ner echten Plage geworden. Man muss sich nicht wundern, wenn der Kapitalmarkt total überhitzt. Ein Irrsinn, was denken Sie?

ELLA beruhigend Aiden, bitte.

Rhythmisches Auf- und Zuknallen der Aufzugstür, in deren Spalt sich Jacob gerade noch werfen konnte, um flehend auf Charlotte einzuwirken.

JACOB angestrengt Charlotte, ich bitte dich, wenn je der Augenblick für Selbstachtung gekommen ist, dann jetzt.

AIDEN trötend, von hinten Charlotte, hier spricht Aiden. Auch wenn Sie jetzt von Interessenkonflikten übermannt werden sollten, nehmen Sie bitte nicht die Treppe, die ist noch im Bau.

JACOB Sehen Sie nicht, dass Sie zittert? Schon mal was von Panikstörungen gehört?

Ächzen und Quietschen der schließhungrigen Schiebetür, gegen die sich ein malträtiert klingender Jacob mit seinem Hintern stemmt.

ELLA zu Jakob Hören Sie -

JACOB - Jacob -

ELLA - Gut, Jacob. Ich will nicht unhöflich klingen, schon gar nicht kaltherzig, aber wenn Ihre Frau -

JACOB - Verlobte. Wir sind verlobt -

ELLA - also, wenn ihre Verlobte unter einer psychischen Erkrankung leidet, dann sollte sie schnellstmöglich in ärztliche Behandlung und nicht auf diesen Empfang, der für den einen oder anderen von uns von großer Wichtigkeit werden könnte. Mitunter wirken sich kleinste Unpünktlichkeiten geschäftsschädigend aus. Ich betone: kleinste! Ich bin völlig damit einverstanden, wenn Sie meinen Mann für einen Grobian halten, sein Zynismus sollte Ihnen umgekehrt aber nicht den Vorwand liefern, die Insassen eines Aufzugs in Geiselhaft zu nehmen, indem Sie die an der Weiterfahrt hindern.

JACOB flehend Charlotte. Die tritt unvermittelt in den Aufzug, metallisches Klackern von Schuhabsätzen. Beide Frauen vorne am Eingang.

AIDEN Ahoi, wenn der Grobian die Fahrt jetzt starten dürfte?

Ein Knopf wird gedrückt. Schließen der Tür. Keinerlei Baulärm. Leises Rauschen während der Auffahrt, unterbrochen durch gelegentliches Klappern und Poltern. Charlotte nestelt aus ihrem Handtäschchen einen kleinen Spiegel und einen Lippenstift heraus. Man hört, wie sie sich die Lippen nachzieht und die schmatzend aufeinanderpresst. In der Hermetik dieses Käfigs werden in der Folgezeit selbst leise Geräusche deutlich wahrnehmbar sein.

ELLA Sie reden nicht gerne, Charlotte?

CHARLOTTE schweigt.

ELLA Bei mir war das ähnlich. Ein ständiges Auf und Ab. Ich nenne es: das große Schweigen vor den Wechseljahren. Darauf jetzt einen Tusch! Tärää!

CHARLOTTE schweigt.

ELLA Wenn Sie’s hinter sich haben, werden Sie das kostbarste Gut einer Frau noch schätzen lernen, Charlotte, ich darf Sie doch so nennen? Die Frau in den besten Jahren, pah, dass ich nicht lache. Ich pisse auf die besten Jahre, wenn von den Waffen einer Frau nur noch Worte übrigbleiben. Worte auf der Goldwaage, während die Messer langsam stumpf werden. Schauen Sie, ich zeig Ihnen was! Hastiges Raffen eines Blusenärmels. Sehen Sie das? Lauter Runzelfältchen, darunter labberiges Bindegewebe, nein, bitte sehen Sie genau hin! Kurze Pause. Sehen Sie diese Altersflecken am Unterarm? Ja? Damit fängt es an! Die Krähenfüße im Gesicht sind nicht das Problem, mein Drogist hat mysteriöse Tinkturen und rätselhafte Cremes gegen Pigmentierung auf Lager, aber der übrige Körper beginnt sich aufzulösen. Alles welkt. Es ist ein Zersetzungsprozess unter dem Mikroskop eines wachen Geistes. Eines Frauengeistes, hört her! Was ist, wollen Sie meinen Hintern sehen, Charlotte? Nein? Kommen Sie, ich zeig Ihnen meinen Arsch? Sehr kurze Pause. Okay, dann eben nicht. Es bleibt natürlich jedem freigestellt, sich mit der Zukunft auseinanderzusetzen. Als ich so alt war wie Sie, meine Liebste, bestand ich im Grunde nur aus Sinnen. Mein Körper eine einzige Muschi, ein teuflisch zuckender Muskel, triebhaft durchströmt von Blut, Schweiß und unerhörten sich jagenden Hormonen. Die fleischigen Schamlippen haben sich gespannt wie - wie ein Flitzebogen, meine Güte, fragen Sie mal Aiden. Zu Aiden, lauter Hör mal Aiden, wann sind wir denn Top of the World?

AIDEN Ich mach Alarm.

ELLA Dieser Mann ist ein Traum. Zu Aiden, lauter Ich liebe dich, Aiden.

AIDEN Ich liebe dich auch, Ella.

ELLA Da hören Sie’s. Der Kerl liebt mich, selbst wenn ich vor aller Welt verblühe. Der muss blind sein. Ich denke manchmal, ich habe einen Idioten geheiratet. Einen blinden Idioten. Charlotte, reden Sie sich bloß nicht ein, dass Sie einen Nobelpreisträger abkriegen werden.

CHARLOTTE Ich muss mich konzentrieren.

ELLA Auf was? Sie sprechen doch nicht. Kein Sterbenswörtchen, na ja, bis auf den Hinweis, dass Sie sich konzentrieren müssten. Die Kraft des Unausgesprochenen. Ist wohl ein Tick von Ihnen? Sie gehören hoffentlich nicht diesen Mormonen mit ihrer geweihten Unterwäsche an? Ich hatte mal so eine Phase, in der ich mir heilende Steine ins Bett gekippt habe, Herrgott nochmal, zu dem Zeitpunkt fing es auch an mit den Cremes. Ich gestehe Ihnen mal was: Ich glaube im Grunde auch, dass der Klimawandel eine Erfindung der Chinesen ist.

CHARLOTTE Ich muss mich konzentrieren.

ELLA Ach ja, sagt das ihr Therapeut? Ihr Angstpanikattackengeistheiler?

CHARLOTTE Konzentration ist gut.

ELLA Sie haben eine ausgewachsene Agoraphobie, Kleines. Platzangst.

CHARLOTTE Reden tut gut.

ELLA Aber Sie reden nicht.

CHARLOTTE In einer Stunde.

ELLA In einer Stunde rede ich. Ich rede, Sie hören zu, kapiert? Wie bei Franks Richtfest. Hat Sie nicht groß interessiert, schon klar, Sie mussten ja wie ein Schwarm Heuschrecken über das Buffet herfallen.

JACOB Sie war erkältet, sie hütete das Bett. Ich lud mir ein halbes Dutzend Frischkäsebällchen und zwei Datteln im Speckmantel aufs Tellerchen. Das schlechte Gewissen.

ELLA Was?

JACOB Ein Katarrh.

ELLA Kommen Sie, gerade eben haben Sie noch gesagt, sie hätte ihren Lippenstift vergessen. Schon verdrängt?

JACOB Eine eitrige Schleimhautentzündung. Das mit dem Lippenstift muss ich durcheinander gebracht haben, aus Sorge um Ella. So sind wir Männer. Wir werden ja ständig angefragt, tja, da kann das Immunsystem schnell schlappmachen. Jedenfalls hat man jemand anderes gebeten, die Rede zu halten. Frank ist in diesen Dingen sehr pragmatisch.

AIDEN Frank hat bezahlt.

ELLA zu Aiden, zischelnd Halts Maul!

JACOB zu Aiden Sehr richtig, Mann!

ELLA zu Jacob Sagen Sie mir, wo auf diesen Planeten nicht bezahlt wird? Wir sind alle Sklaven des globalen Handels, der Mensch ist im Grunde seines Herzens eine einzige Einzahlungsausschüttungsmaschine. Ich sag Ihnen jetzt was, Jacob. Ich bin gewissermaßen froh, auf der richtigen Seite zu stehen. Auf der Seite der Glanzes, der Glanz des Guten. Ach, kennen Sie nicht? Leute wie Sie bereiten mir jedenfalls kein schlechtes Gewissen. Nicht mehr. Ich scheiß auf Ihre Datteln-im-Speckmantel-Moral!

CHARLOTTE Darf ich mich jetzt konzentrieren?

ELLA Ich scheiß drauf! Aiden, reib der Kleinen doch mal die Bestätigungs-Mail unter die Nase, damit die sich ihre verfickte Rede aus dem Kopf schlagen kann. Du hast sie doch ausgedruckt?

AIDEN Sicher, Ella, sicher. Man hört ihn die Taschen seines Anzugs durchsuchen.

ELLA Franks Garage, das war mein Durchbruch. Hey Ella, grölten sie noch Monate später über die belebten Straßen, willst du nicht die Rede zu unserem Richtfest halten? Ella, wir lieben dich! Das haben sie skandiert. Here she comes: The Queen of Richtfest! So stand es auf den Bannern und Flaggen, die sie stolz über ihre Köpfe hinweg schwenkten, hoch droben auf den Dächern der Stadt, die niemals schläft. Die kunstsinnigen jüdischen Makler von den Hudson Yards. Die kiffenden Millionärs-Kinder aus den Gründerhöllen, weiter drunten an den Piers des Hudson River. Das ganze schlitzäugige Geschmeiß aus Downtown Manhattan. Wuschig vor Anbetungswut waren die alle. Aber ich hab sie abprallen lassen, alright? Denn ein wirklicher Star macht sich rar. Er verschießt sein Pulver nicht in alle Richtungen, selbst wenn seine ledrige Haut langsam unter einem Cremepanzer modert. Er bündelt seinen Genius und setzt diesen zielgerichtet für hehre Zwecke ein. Die Handwerker waren mir immer die liebsten Zuhörer, aber hallo, da könnt ihr einen drauf lassen! Der Anblick der Maurer und Zimmerer vorm Stehpult jagt mir noch heute wohlige Schauer über den Rücken. Von der Sonne gebrutzeltes Muskelfleisch unter taillierten Signalwesten, o lala, das lässt die Frau von Welt erbeben! Kurze Pause Was ist, Charlotte, Sie wirken so verkapselt?

CHARLOTTE Ein Blitzen in den Augen.