Und stillet den Zorn - Thomas Herget - E-Book

Und stillet den Zorn E-Book

Thomas Herget

0,0

Beschreibung

Weil man im Park auf eine alte Fliegerbombe gestoßen ist, sollen ausgerechnet die Bewohner eines Sterbehospizes evakuiert werden. Plötzlich wandelt sich der Ort würdevoller Abschiede zu einem seelenlosen Verschiebebahnhof für Todgeweihte auf der Flucht. Indem sie sich der grotesken Behördenanordnung widersetzen, gewähren uns Herr Schall und Frau Rauch kurze Momentaufnahmen des Wahnsinns, facettenreiche Sinnbilder für den ewigen Lebenshunger des Herzens inmitten der Entfremdung. Schall fickt Kinder und verspricht sich Erlösung in der Hölle, Rauch hat ihren sechzehnjährigen Sohn "abgetrieben" und Krebs im Endstadium. Das Hördrama "Und stillet den Zorn" entführt als absurd-beklemmende Vision in eine havelsche Welt, der die magischen Momente letzter Taten und Worte abhandengekommen sind. Dass sich Schall und Rauch am Ende in einem Akt zivilen Ungehorsams ihre private Nähe über das Mysterium der Imagination zurückholen, verdanken sie ihrer anarchischen Lust beim Erfinden utopischer Geschichten - und dieser irre Spaß kann hier getrost als eine lebensverlängernde Maßnahme verstanden werden. Das titelgebende Hörspiel wurde für diese Buchausgabe um zwei Kurzprosatexte des Autors ergänzt. "Mein Freund Muffin" und "Das Geheimnis der Wale" sind Shortstorys aus den Achtzigerjahren.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 73

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Und stillet den Zorn. Weil man im Park auf eine alte Fliegerbombe gestoßen ist, sollen ausgerechnet die Bewohner eines Sterbehospizes evakuiert werden. Plötzlich wandelt sich der Ort würdevoller Abschiede zu einem seelenlosen Verschiebebahnhof für Todgeweihte auf der Flucht. Indem sie sich der grotesken Behördenanordnung widersetzen, gewähren uns Herr Schall und Frau Rauch kurze Momentaufnahmen des Wahnsinns, facettenreiche Sinnbilder für den ewigen Lebenshunger des Herzens inmitten der Entfremdung. Schall fickt Kinder und verspricht sich Erlösung in der Hölle, Rauch hat ihren sechzehnjährigen Sohn „abgetrieben“ und Krebs im Endstadium. Das Hördrama entführt als absurd-beklemmende Vision in eine havelsche Welt, der die magischen Momente letzter Taten und Worte abhandengekommen sind. Dass sich Schall und Rauch am Ende in einem Akt zivilen Ungehorsams ihre private Nähe über das Mysterium der Imagination zurückholen, verdanken sie ihrer anarchischen Lust beim Erfinden utopischer Geschichten - und dieser irre Spaß kann hier getrost als eine lebensverlängernde Maßnahme verstanden werden.

Das titelgebende Hörspiel Und stillet den Zorn wurde für diese Buchausgabe um zwei Kurzprosatexte des Autors ergänzt. Mein Freund Muffin und Das Geheimnis der Wale sind Shortstorys aus den Achtzigerjahren.

Thomas Herget wurde 1964 in Frankfurt am Main geboren. Neben seinem Studium in Darmstadt publizierte er für Zeitungen im deutschsprachigen Raum. Es folgten literarische Förderpreise und Stipendien. Journalistische Tätigkeiten unter anderem für taz, Frankfurter Rundschau und Passauer Neue Presse. Heute verfasst er Film- und Theaterrezensionen, zeichnet für das Bühnen-Ressort eines Magazins verantwortlich und schreibt für Hörfunk und Theater. Er lebt in der Nähe von Kiel.

“Religion ist das, was die Armen davon abhält, die Reichen zu erschlagen“ Napoleon

Inhalt

Und stillet den Zorn

(Hörspiel)

Über das Hörspiel

Mein Freund Muffin

(Shortstory)

Das Geheimnis der Wale

(Shortstory)

Über die Kurzgeschichten

Und stillet den Zorn

Personen

SIE, Rauch

ER, Schall

FRAU VON SCHMUTZ

EIN FEUERWEHRMANN

FRAUENSTIMME EINER BANDANSAGE

MANN MIT MEGAFON

Soundschleifen, Geräusche und weitere Stimmen

Zeit, Ort und Anmerkungen

Heute. Im Wartezimmer zur Hölle. Oder bei ihr und ihm daheim. Vielleicht in einer Telefonsexagentur, der beim Relaunch ihrer Webpräsenz alle Drähte durchgebrannt sind. In jedem Fall: herabsetzende Geschäftspraktiken. Vielleicht also doch im Hörspielstudio einer Landesrundfunkanstalt? Oder in den Räumlichkeiten eines Unternehmens, das sein Geld mit der Überstellung von sehr schlechten Menschen verdient? Und wie sieht es mit dem Großraumbüro in einem überlasteten Amt aus? Die Vermutung würde die distinguierte Stimme von Frau von Schmutz, die anfangs noch vom Belobigungsstreben einer behördlichen Tätigkeit getragen scheint, erklären. Für eine geraume Zeit könnte dieses Hördrama überall spielen. Bis die räumliche Verortung in einem Sterbehospiz als gesichert gelten darf, verlaufen die Grenzen zwischen privatem Inszenierungswillen, beruflicher Profilierungssucht und den Tücken bei der Ausgestaltung der letzten Lebenstage ausgesprochen fließend. ‚Er‘ und ‚Sie‘, das sind Schall und Rauch. Keiner der Personen soll deklamieren oder vorgeben, dass das Gesagte nur der Zerstreuung in einem improvisierten Rollenspiel oder als lebensverlängernde Maßnahme zu dienen habe. Alles könnte wahr sein, weil am Ende des irdischen Daseins alles wahrhaftig erscheint. Das hereinbrechende Evakuierungsszenario darf als tumber Überwältigungsversuch mit Tschingderassabum aufgefasst werden, die übrigen Dialoge sollten ihren Charakter aus der subversiven Spielfreude der Figuren entwickeln. Bei allem surrealen Sprachwitz dürfen Eindrücke von Ironie oder Satire nur entstehen, wenn die sich aus dem Text selbst ergeben. Ausflüge ins absurde Theater dürfen nie „irreal“ ausfranzen, sondern an den behaupteten, also möglicherweise realen Biografien des Personals entlanglaufen. Immer sind es konkrete Wünsche, die zum Ausdruck kommen. Ich denke mir die meisten Szenen von einer großen Intimität, die Stimmen treten ganz nah heran, klingen, als ab jemand einem etwas ins Ohr sagen würde.

Telefonklingeln. Sie räuspert sich, während ein Headset aufgesetzt und der Anruf entgegengenommen wird.

SIE Ja?

Schweigen.

SIE nachdrücklich Hallo?

Schweigen.

SIE Warten Sie, ich mach mal den Lautsprecher an. Macht es. Wenn Sie nicht reden, dann muss ich mir den Bienenkorb auch nicht über den Kopf stülpen.

Schweigen. Das Headset wird abgesetzt. Leises Hüsteln aus dem Lautsprecher.

SIE besorgt Sie können doch sprechen? Oder haben Sie einen Sprachfehler?

Man hört aus dem Lautsprecher, wie leere Flaschen und Gläser abgeräumt werden. Geräusche wie bei einer kleineren Entsorgungsaktion aus der Küche. Erneutes Hüsteln und Krächzen, ein gedämpftes Schluchzen. Eine Flasche wird entkorkt. Der Mann, nachfolgend ‚Er‘ genannt, schnieft noch einmal.

ER Ich - Er stockt.

SIE Ja?

ER Ich ficke Kinder.

SIE Das sagen sie jetzt alle. Haben wir schon Frühling?

ER Mai.

SIE Das sehen Sie‘s. Der Sterbemonat. Erschrocken, über sich selbst. Also nein, verstehen tu ich’s nicht.

ER Ich gebe mich ihnen hin.

SIE Da sind Sie hier falsch. Mit dieser Hingabe. Warten Sie, ich verbinde Sie mal mit dem Fegefeuer, das ist die neutrale Anlaufstelle.

ER Fegefeuer? Wollen Sie mich umbringen?

SIE Dort wird man Ihnen helfen. Sie drückt irgendwelche Tasten. Ein Klingelzeichen, dann die Fahrstuhlmusik in einer Warteschleife. Sie wollen doch, dass man Ihnen hilft?

ER Eigentlich -

SIE - Sehen Sie.

ER Eigentlich hatte ich mich bereits arrangiert. Mit dem Schlimmsten.

SIE Sie meinen: einen Pakt.

ER Ein Agreement unter Jämmerlichen.

SIE Sie bedauernswerter Tropf. Warten Sie, bis Sie Ihren ersten Termin hatten.

ER Es schwitzt sich raus, meinen Sie?

Sie schweigt. Beide lauschen der Warteschleifenmusik, die nicht enden will.

SIE enerviert Die arbeiten wirklich alle am Anschlag. Nach dem Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche wissen die Kolleginnen nicht mehr, wo ihnen der Kopf steht. Sämtliche Betbrüder wurden ursprünglich in den Himmel durchgewunken. Bis Gott den Schwindel bemerkte und einen Riegel vorschob.

ER Hören Sie, ich möchte keinesfalls mit diesen Pfaffen ins Fegefeuer. Nicht einmal im Wartezimmer möchte ich denen begegnen.

SIE Wer will das schon? Es ist bloß so: Jeder Raubmörder hält sich mittlerweile für was Besseres als diese -

ER Rosettenhengste.

SIE Deshalb haben wir ja den Bearbeitungsstau, ein Gedränge wie auf dem Flughafen von Kabul, es ist zum Junge-Hunde-Kriegen: Verzögerungen, Einsprüche, Vergleiche! - Durch den Soundteppich dringt das Knacken der Telefonleitung, danach ist nur die Frauenstimme der Bandansage zu hören -

FRAUENSTIMME Leider sind im Augenblick alle Leitungen belegt. Bitte hinterlassen Sie nach dem Signalton eine Nachricht mit Ihrem Namen und Ihrer Telefonnummer. Wir rufen Sie baldmöglichst zurück. Wir wünschen Ihnen einen schönen Tag.

Anschließender Signalton.

SIE Da hören Sie’s. So geht das die letzten Wochen.

ER Kann man die nicht umleiten? Es muss ja nicht gleich der Himmel sein.

SIE Na, Sie sind mir vielleicht ein Schlawiner. Wo wollen Sie die denn parken? Nach solchen Verfehlungen? Neulich erst hagelte es wieder Proteste, weil das Jüngste Gericht Gnade vor Recht ergehen ließ. Der Böll unterzeichnet die Petitionen bereits wie Blankoschecks. Neulich hat ihm der alten Pius beim Wolkenreiten gerade wieder die Vorfahrt genommen. Alte Nazi-Päpste gegen progressive Friedensmarschierer, schon mal von gehört? Das sind hochsensible Kollegen, kann ich Ihnen sagen, die haben den Gulag überlebt und sprechen gleich bei den Stiftungen vor, die sie lobbyieren. Der Augstein und der Springer kriegen sich vor Lachen kaum mehr ein. Der Augstein soll endgültig dem Fusel verfallen sein, und der Springer hat vom ersten Tag an einen Aufnahmestopp von jungen Palästinensern durchgedrückt, weil er beim Genozid an den Juden um seine himmlische Ruhe fürchtet. Ich erzähl Ihnen das hier mal vertraulich, Off the Record sozusagen, aber Sie müssen mir schon versprechen, dass Sie sich nicht verplappern, wenn sie oben angekommen sind.

ER Oben?

SIE Dann eben unten. Meinetwegen unten. Alles eine Frage der Perspektive, wenn Sie sich mal auf den Kopf stellen wollen. Haben Sie gewusst, dass sich der Grass und der Reich-Ranicki versöhnt haben?

ER Ausgeschlossen.

SIE Der Grass soll über einer ukrainischen Fortsetzung der „Blechtrommel“ brüten, und der Reich-Ranicki hat versprochen, den Roman über den grünen Klee zu loben. Ungelesen. Schon um dem Walser eins auszuwischen.

ER Aber der Walser lebt doch noch!

SIE Das sagen Sie.

ER Das sagt sein Verlag.

SIE Er hat hier Besuchsrecht, worüber ich nicht reden darf. Mehr tot als lebendig sozusagen. Als Grenzgänger ist er gewissermaßen sein eigener Geist. Muss ich Ihnen das erklären? Nein, muss ich nicht. Ich weiß auch nicht, warum ich uferlose Interna ausplaudern sollte. Haben Sie nicht gesagt, dass Sie Kinder ficken? Hinterher bekommt man doch nur wieder einen Strick daraus gedreht, wenn man zu gastfreundlich wird. Oder Knüppel zwischen die Beine geworfen. Weil man keine zwanzig mehr ist. Oder den Dienst nach Vorschrift im Grunde als reine Quotenerfüllung empfindet. Tun Ihnen die Kinder, die Sie da ficken, eigentlich leid? Ich frag nicht aus Interesse, Ihre Beweggründe sind mir im Grunde schnurzpiepegal, aber mein Chef fordert pausenlos externe Unterlagen an. Wegen des Missbrauchs. Können Sie sich ja denken.

ER Ich pflücke sie mir. Erst den einen, den nächs