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Am Freitag vor einer Woche hat Kalle endlich sein Abschlusszeugnis erhalten. Nie mehr Schule, hat er sich geschworen! Doch was dann? Es gibt nichts, was er seiner übellaunigen Mutter antworten kann, wenn sie ihn mehrfach am Tag anzischt: »Mach was, mach irgendwas! Such dir eine Lehrstelle, geh jobben, aber sitz du nicht auch noch hier rum und lieg mir auf der Tasche.« Kalle weiß einfach nicht, was er werden will. Zudem hat er panische Angst, er könne sich womöglich für das Falsche entscheiden und es dann sein Leben lang bereuen. Dies ändert sich erst, als er Max kennenlernt und beginnt, seiner Intuition zu vertrauen.
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Seitenzahl: 350
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Für Marcell, Dorian und all die anderen
Prolog
Die Sache mit den Frauen
Juni 2017
April 2018
Mai 2018
Sich selbst nimmt man immer mit
Juni 2018
Juli 2018
Herbst 2018
März 2019
April 2019
Schatten der Vergangenheit
April 2019
Mai 2019
Juni 2019
Die Mutprobe
Juli 2019
August 2019
November 2019
Januar 2020
Februar 2020
März bis Juni 2020
Unter der Oberfläche
September 2020
Weihnachten 2020
Die letzten Tage des alten Jahres
Neujahr
Der erste Tag des neuen Jahres
Der zweite Tag des neuen Jahres
Der dritte Tag des neuen Jahres
Der Heimweg
Epilog
Als er die Tür öffnete, schlug ihm ein Schwall heißer Luft entgegen. Es roch nach Kiefernholz und Harz. In der Sauna war es düster, doch an der Außenwand der Hütte, direkt neben dem Fenster, brannte die Lampe.
Der kleine Ofen bullerte bereits behaglich. Vorsorglich schob er noch ein paar Holzscheite hinein, bevor er auf die höhergelegene Bank kletterte. Dort bedeckte er schützend sein Gesicht mit den Händen und wartete darauf, dass ihm der Schweiß aus den Poren trat. Wenn man schwitzte, brannte die heiße Luft nicht mehr auf der Haut. Als die ersten Tropfen an seinem Rücken herabliefen, seufzte er wohlig, legte sich auf das Handtuch und schloss die Augen. Im Wasserkessel über dem Saunaofen begann es leise zu blubbern.
Er musste wohl eine Weile geschlafen haben, denn als er wieder zu dem kleinen Fenster hinübersah, bemerkte er draußen ein zartes Glitzern und Flimmern. Es war den ganzen Tag über diesig gewesen, doch seit Einbruch der Dunkelheit fiel die Temperatur so schnell, dass die Luftfeuchtigkeit nun zu feinsten Eiskristallen erstarrte. Die sanken langsam herab und tanzten funkelnd im Lichtkegel der Laterne.
Im engen Vorraum der Sauna schlüpfte er in seine Schneestiefel, dann überquerte er vorsichtig den rutschigen Holzboden der Veranda, stieg die drei Stufen hinab und stapfte durch den Schnee bis zum Steg. Von dort ging er ein Stück auf das Eis hinaus, blieb stehen und atmete ein paarmal tief ein und langsam aus. Sein nackter, erhitzter Körper dampfte in der Kälte.
Es war eine helle Nacht, sehr kalt und sehr klar. Und es war still – so still, dass er meinte, die Stille hören zu können. Er hielt die Luft an und lauschte. Über ihm leuchteten unzählige Sterne und auf der anderen Seite des Sees stand der Vollmond, so riesig und tief, wie Kalle ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Er war von einem rosigen Strahlenkranz umgeben und aus seiner Mitte strömte eine unbeschreibliche Kraft. Kalle war, als wollte sie ihn zu sich ziehen. Als schickte der Mond sein Licht quer über die schimmernde Eisfläche des Sees und malte diesen hellen Lichtstreifen bis vor seine Füße, um ihm den Weg zu weisen.
Was für eine Nacht, dachte er und starrte den Mond an. Es war die Silvesternacht 2020, die Nacht seines einundzwanzigsten Geburtstags.
Er kam am 1. Januar 2000 um zwei Minuten nach Mitternacht zur Welt. Damit war er in dem kleinen Krankenhaus das erste Baby des neuen Jahrtausends – ein Umstand, der ihn bereits zu Beginn seines Lebens zu etwas Besonderem machte und von den Ärzten und Hebammen mit großem Hallo gefeiert wurde.
Die Welt, in die er geboren wurde, war eine bescheidene, hart und beständig wie die Steinkohle, die dort das Leben aller bestimmte. Seine Kindheit verbrachte er in einem dieser kleinen Zechenhäuser, die viele enge Zimmer und steile Treppen haben. Wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte er vom Schlafzimmerfenster der Großeltern den großen Förderturm sehen. Dort arbeiteten sein Vater und der Großvater unter Tage.
Er wusste also, wo die beiden hingingen, wenn sie das Haus verließen. Seine Mutter und die Großmutter waren eigentlich immer da.
Nach dem Kindergarten half er der Oma gerne im Gemüsegarten. Gemeinsam rupften sie das Unkraut heraus, sangen dabei und lachten. Danach setzten sie sich auf die Bank, die an der Hauswand in der Sonne stand. Dort legte seine Oma dann den Arm um ihn, erzählte Geschichten oder las ihm ein Bilderbuch vor. Wenn sie keine Zeit für ihn hatte, spielte er bis zum Abendessen mit den Kaninchen, die der Opa in den Ställen hinter dem Haus hielt. Er fütterte sie mit Löwenzahn, sah ihnen beim Fressen zu und streichelte ihr weiches Fell.
Am Anfang war noch alles gut gewesen. Da hatte er auch noch gerne mit seiner Mutter gekuschelt.
Jeden Morgen bürstete sie ihm zärtlich die Haare. Dabei summte sie vergnügt, und er hielt ganz still.
»Hundert Bürstenstriche«, erklärte sie ihm immer wieder. »Jeden Tag hundert Bürstenstriche. Das ist das Beste für die Haare!«
Nach dem Bürsten drehte sie seine langen, blonden Locken um ihre Finger und machte ihm verrückte Frisuren. Darüber vergaß sie öfter die Zeit, und es wurde zu spät, um noch in den Kindergarten zu gehen.
Seine Mutter hatte früher mal eine Friseurlehre begonnen, doch dann war sie mit ihm schwanger geworden. Das wusste er. Sie hatte es ihm oft genug erzählt.
Nach dem Frisieren musterte sie ihn lächelnd, gab ihm schließlich einen Kuss und flüsterte: »Du siehst so süß aus, mein liebes, kleines Karlinchen.«
Eigentlich hieß er Karl-Heinz. Er mochte seinen Namen nicht. Karl-Heinz war wirklich ein bescheuerter Name. Wenn er ein Mädchen geworden wäre, hätte seine Mutter ihn Karla genannt, denn so hieß ihre Mutter. Heinz war der Name von Vaters Großvater. Er war der erste Bergmann in der Familie gewesen.
Seine Grundschullehrerin hatte ihn Kalle genannt, einfach Kalle. Sie war jung, hübsch und hatte fast so schöne, lange Haare wie seine Mutter. Kalle mochte seine Lehrerin, besonders, weil sie ihn selten aufrief und meist in Ruhe ließ. Kalle war ein stiller Junge; unsicher und schnell verlegen.
Trotzdem ging er gerne zur Schule – bis zu diesem schrecklichen Tag kurz vor Weihnachten. Er hatte sich endlich einmal getraut, etwas an die Tafel zu schreiben. Ausgerechnet in dem Moment, als er sich stolz umdrehte und zu seinem Platz gehen wollte, zeigte einer seiner Klassenkameraden auf ihn und rief laut und gemein: »Der Kalle sieht voll aus wie ein Mädchen!«
Danach wurde es erst einmal ganz still. Alle starrten ihn an und er merkte, dass er rot wurde. Darüber lachte dann die ganze Klasse so hysterisch und anhaltend, dass ihm die Tränen kamen. Dass er geweint hatte, war ihm heute noch peinlich. Seit diesem Vorfall war er für alle nur noch das Mädchen.
Wenn so etwas einmal in Umlauf ist, dann kriegst du das kaum noch gestoppt; dann bist du für die anderen immer noch das Mädchen, auch wenn du hundert Jahre alt wirst und bereits eine Glatze hast. Kalle jedenfalls wusste nicht, wie er sich dagegen hätte wehren können. Zwar gelang es ihm, sich nichts anmerken zu lassen, wenn die anderen Jungen ihm »Heul doch, du Mädchen!« hinterherriefen, aber ihr Spott quälte ihn. Ab diesem Zeitpunkt wachte er morgens vor der Schule immer häufiger mit dem Übelkeit erregenden Geschmack der Angst im Mund auf und kam mittags meist mit einem harten Klumpen aus heruntergeschlucktem Zorn im Magen wieder nach Hause.
Nach einem halben Jahr war er ganz kurz davor, seiner Mutter alles zu erzählen, obwohl er eigentlich nicht wollte, dass sie in die Schule ging und mit seiner Lehrerin sprach. Während er noch überlegte, wie er das Problem lösen könnte, nahm seine Mutter ihn beiseite.
»Du musst jetzt ganz besonders lieb zu deiner Mama sein und darfst ihr keine Sorgen machen«, beschwor sie ihn. »Du bekommst ein kleines Schwesterchen.« Also behielt er die Sache in der Schule erst einmal für sich.
Im November bekam er dann einen Bruder. Der brüllte viel und musste ständig herumgetragen werden. Folglich war die Mutter gestresst, hatte schlechte Laune und keine Zeit mehr für Kalle.
Das ganze vierte Schuljahr hoffte er, mit dem Wechsel zur Gesamtschule würde sich die Sache erledigen und er endlich seine Ruhe bekommen, doch er hatte kein Glück. Sein verhasster Spitzname war schon vor ihm da und wartete dort auf ihn.
Zu der Zeit hielt er es dann nicht mehr aus und erzählte der Oma von seinem Kummer. Sie knieten gerade nebeneinander im Gemüsebeet und gruben Möhren für das Abendessen aus. Zuerst machte die Oma ein komisches Gesicht und kniff die Lippen fest zusammen, so als wollte sie nichts dazu sagen. Doch dann erzählte sie ihm etwas Merkwürdiges, nämlich dass seine Mutter die ganze Schwangerschaft über von ihrer kleinen Karla gesprochen habe. Und als wäre eine solche Informationen für einen Zehnjährigen nicht schon verwirrend genug, schimpfte sie leise: »Außerdem habe ich ihr oft genug gesagt, dass sie das mit dem Friseurspielen lassen soll, aber sie hat ja nicht auf mich gehört! So etwas macht man einfach nicht! Das nimmt kein gutes Ende!«
Damals begriff Kalle noch nicht, was seine Oma damit meinte, doch der letzte Satz setzte sich in seinem Kopf fest und fraß sich wie ein Wurm durch seine Gedanken. Kalle fragte sich, ob die Hänseleien in der Schule jetzt schon das angekündigte schlimme Ende waren oder ob noch etwas viel Schlimmeres kommen würde. Und auch wenn er da keinen offensichtlichen Zusammenhang erkennen konnte - was dann kam, war schlimmer!
Zuerst erkrankte die Oma an Krebs. Ihr fröhliches Lachen und Singen verstummte und es wurde bedrückend ruhig im Haus.
Ein halbes Jahr später erfuhren die Bergleute, dass die Zeche demnächst stillgelegt werden sollte. Diese Nachricht breitete sich wie ein dunkler Schleier über ihrer aller Leben aus. Doch mehr noch als die drohende Arbeitslosigkeit des Vaters bekümmerte Kalle etwas anderes. Das gemütliche Haus, in dem sie wohnten, gehörte der Zeche und würde dann verkauft werden. Die Vorstellung, bald seine vertraute Umgebung verlassen zu müssen, ängstigte ihn. Zu allem Überfluss blieb er auch noch sitzen und musste die sechste Klasse wiederholen.
Drei lange Jahre lebte Kalle in Sorge und fragte sich ständig, was wohl als nächstes passieren würde. In dieser Zeit ernährte sich der Gedankenwurm von seinen Befürchtungen und gedieh prächtig.
2013 hatte der Vater dann seine Arbeit verloren und sie waren umzogen. Weit weg – in die Stadt, aus der die Mutter stammte. Ausgerechnet in die Siedlung, in der auch Großmutter Karla wohnte. Dort meldete seine Mutter Kalle auf ihrer alten Hauptschule an, ohne ihn vorher zu fragen oder ihm etwas zu sagen. Zu dieser Zeit traute Kalle ihr bereits nicht mehr. Dass er nun die Hauptschule besuchen sollte, empfand er als Bestrafung. Er fragte sich, was er falsch gemacht hatte, doch da war eine Stimme in seinem Kopf, die kannte bereits die Antwort. Nicht sein Sitzenbleiben war der Anlass für die Entscheidung der Mutter gewesen, meinte die Stimme, sondern die Tatsache, dass er mit seinen dreizehn Jahren nicht mehr süß und klein, anschmiegsam und gefügig war. Dass er sich ihr zunehmend entzog und sich nicht mehr alles gefallen ließ.
In der Nacht vor seinem ersten Tag an der Hauptschule schloss Kalle sich im Bad ein und rasierte heimlich seine Haare an den Seiten und im Nacken ab. Den restlichen breiten Streifen seiner wilden, langen Locken bürstete er straff zurück und band ihn am Hinterkopf mit einem Haargummi zusammen. Zufrieden stellte er fest, dass er mit der neuen Frisur älter aussah, härter, so als hätte er gerade mit dem abrasierten Haar auch seine Kindheit in den Müll geworfen. Beim Frühstück rastete seine Mutter dann aus, und Kalle war erstaunt darüber, wie sehr er ihre ohnmächtige Wut genoss.
Die Hauptschule hatte Kalle von Anfang an nicht gemocht. Sie befand sich in einem heruntergekommenen, düsteren Gebäude am Rande der Siedlung. Die Klassenzimmer waren kahl und ungemütlich, auf dem Schulhof war es dreckig und die Toiletten stanken.
Den Unterrichtsstoff bewältigte Kalle ohne jede Mühe, denn das Lernniveau war niedrig. Den Wechsel zur Hauptschule empfand er als sozialen Abstieg, und da er nun schon einmal ganz unten angekommen war, sah er auch keine Notwendigkeit mehr, sich noch anzustrengen. Also investierte er seine gesamte Energie lieber in den Fußballverein, dem er beigetreten war. Hier stieg er schnell auf, seine sportlichen Erfolge taten ihm gut und er wurde selbstsicherer. Auch den Lehrern gegenüber trat er nun selbstbewusster auf.
Anfänglich hatte Kalle erstaunt beobachtet, wie viel sich seine Mitschüler an der Hauptschule herausnahmen und wie unfreundlich manche Lehrer dort waren. Insgesamt war der Umgangston – verglichen mit seiner alten Gesamtschule – ein recht rauer. Ärger für Fehlverhalten bekam man eher selten. Es war die ideale Umgebung für Kalle, um sich erst einmal ausgiebig für die erlittene Schmach der vergangenen Jahre zu rächen. Nach einem halben Jahr hatte er sich Respekt verschafft. Nun traute sich keiner mehr, ihn zu ärgern oder schlecht über ihn zu reden. Kalle war zu einem gefürchteten Schüler geworden.
Am Freitag vor einer Woche hatte er endlich sein Abschlusszeugnis erhalten. Nie mehr Schule, hatte er sich geschworen! Doch was dann? Es gab nichts, was er seiner übellaunigen Mutter antworten konnte, wenn sie ihn mehrfach am Tag anzischte: »Mach was, mach irgendwas! Such dir eine Lehrstelle, geh jobben, aber sitz du nicht auch noch hier rum und lieg mir auf der Tasche.«
Er wusste einfach nicht, was er werden wollte. Zudem hatte er panische Angst, er könne sich womöglich für das Falsche entscheiden und es dann sein Leben lang bereuen. Mit dreizehn hatte er davon geträumt, Profifußballer zu werden – doch daraus würde wohl nichts werden. Zumindest war der Fußballverein das Einzige, was seinem Leben im Moment etwas Halt gab und ihm ein paar unbeschwerte Momente bescherte.
Mittlerweile machte sich eine lähmende Ratlosigkeit in ihm breit. Also hing er den ganzen Tag zu Hause herum, und seine Mutter machte ihm ständig Druck, dabei war seine Entlassungsfeier gerade mal zehn Tage her. Der heutige Tag war besonders schlimm gewesen.
»Wenn du volljährig wirst, schmeiß ich dich raus! Dann kannst du sehn, wie du klarkommst«, hatte sie gebrüllt.
»Mach doch!«, hatte er zurückgeschrien und sich drohend vor ihr aufgebaut. Dass sein Vater nur betreten zu Boden gesehen und geschwiegen hatte, empfand er als Verrat. Schließlich machte der doch auch nichts, saß seit vier Jahren in seinem alten Sessel und rauchte.
Nun lag er im Bett und grübelte. Im anderen Bett schnarchte sein kleiner Bruder. Der hatte mittlerweile jeden Baby-Bonus verloren, wurde im November neun, war nervig, frech und eine echte Plage. Kalle kam es vor, als würde ihr gemeinsames Zimmer täglich kleiner und enger. Zwar pisste sein Bruder nicht mehr ins Bett, nahm jedoch beständig zu, was seine Nähe nicht angenehmer machte. Seine Mitschüler nannten ihn Klößchen, doch das störte Paul nicht.
Kalle hatte mehrfach versucht, mit seinen Eltern über gesunde Ernährung zu sprechen, ohne jeden Erfolg. Seine Mutter stand regelmäßig bei der Tafel an, um die Süßigkeitenschublade aufzufüllen. Diese diente ihr als Druckmittel, um Paul einigermaßen unter Kontrolle zu halten. Erschwerend kam hinzu, dass beide Eltern nicht wirklich kochen konnten, denn darum hatte sich früher immer die Oma gekümmert. Der Vater hatte ihm einmal erklärt, frisch zu kochen wäre deutlich teurer als Dosenkost, Nudeln mit Ketchup und Butterbrote, und außerdem bekämen sie ja auch noch das Schulessen.
So blieb alles beim Alten. Paul wurde immer dicker und schnarchte.
Vielleicht sollte ich Koch werden, dachte Kalle in seiner Verzweiflung. Was für eine Scheißidee!
In der Wohnung wurde es still, die Eltern waren zu Bett gegangen. Es war kurz vor elf und ein warmer Sommerabend.
Was will ich hier eigentlich noch, fragte er sich.
Leise stand er auf, schlüpfte in seine Kleidung und packte ein paar Sachen in den Rucksack. Auf Socken schlich er durch den Flur und zog vorsichtig die Wohnungstür hinter sich zu.
Nun sollte man meinen, es sei keine Heldentat, in einer schönen Sommernacht von zu Hause wegzulaufen, besonders wenn man in einem halben Jahr achtzehn wird und noch ein gültiges Schülerticket in der Tasche hat. Tatsächlich war es auch keine Angst, die sein Zwerchfell vibrieren ließ, sondern eine seltsame Erregung und die unerklärliche Gewissheit, dass er auf etwas Bedeutsames zusteuerte, wenn er sich nur bewegte.
Zwar hatte er für die nächste Zeit nur einen vagen Plan - morgen würde er einen Freund aus dem Fußballverein anrufen und fragen, ob er ein paar Tage bei ihm wohnen könne –, doch heute würde er im Wald übernachten! Er konnte es nicht erklären, aber es zog ihn in eine bestimmte Richtung. Sein Ziel war ein Waldstück in der Nähe des Museums, das sie einmal mit der Schule besucht hatten. Oberhalb der Wildgehege mit den Bisons gab es eine Aussichtsplattform. Dort wollte er die Nacht verbringen, dem Schnauben der mächtigen Tiere lauschen und den Sonnenaufgang über dem Tal beobachten. Diese Vorstellung jagte einen angenehmen Schauder über seine Haut und ihm wurde klar, wie arm an Abenteuern sein Leben war.
Er nahm den letzten Bus. Dem Busfahrer hielt er sein Ticket nur kurz hin, in der Hoffnung, dieser würde nicht so genau hinsehen, da es nur bis zur Hälfte der Strecke gültig war. Der Mann musterte ihn misstrauisch. Der Bus war fast leer. Vorsorglich stellte er sich schlafend als rettende Ausrede, sollte man ihn beim Schwarzfahren erwischen. Doch sein Plan ging nicht auf. An der Zahlgrenze forderte ihn der Busfahrer auf, auszusteigen.
Nun stand er irgendwo an einer einsamen, unbeleuchteten Schnellstraße an einer Bushaltestelle, an der kein Bus mehr fuhr. Es war fast Mitternacht, und sowohl nach Hause als auch zu seinem Ziel war es viel zu weit zum Laufen. Er überlegte kurz, jemand anzurufen, doch keiner seiner Kumpel hatte einen Führerschein.
An einer Abzweigung leuchtete im Mondlicht ein Straßenschild. Darauf stand ein Name, der eine landschaftlich schön gelegene Gegend vermuten ließ. Also bog er links ab und ging eine Weile an der unbebauten, auf beiden Seiten von merkwürdigen Sandbergen gesäumten Straße entlang. Es wirkte, als wäre er in ein Industriegebiet gelangt, und er wollte schon umkehren, als die Straße einen scharfen Rechtsknick machte und den Blick auf eine Siedlung freigab.
Nun ist es so, dass sich hinter den schönsten Straßennamen oft die schlimmsten Wohngegenden verbergen. Das wusste Kalle zwar noch nicht, aber Sozialwohnungen erkannte er auf den ersten Blick. Dies war ein sozialer Brennpunkt von riesigem Ausmaß, viel größer, heruntergekommener und abgelegener als da, wo seine Familie lebte. Hier nachts herumzulaufen war gefährlich und hatte so gar nichts mit dem Abenteuer gemein, das er sich vorgestellt hatte. Trotzdem ging er weiter, dicht an einer blühenden Hecke entlang. Die kleinen, weißen Blüten leuchteten in der Dunkelheit und ein schwerer, süßer Duft lag in der Luft.
Rechts der Straße führte eine Böschung zu einem kleinen Flüsschen hinab. Im Dunkeln konnte er am Ufer schemenhaft ein paar Gestalten ausmachen, die sich lallend und lautstark unterhielten. Einer der Typen rief etwas zu ihm herauf. Schnell ging er weiter und irrte durch die Wohnblocks, bis er zu mehreren verkommenen Hochhäusern gelangte, hinter denen sich ein Spielplatz befand. Vielleicht gab es ja in einem der Spielhäuser die Möglichkeit, unterzuschlüpfen, bis es wieder hell wurde und die ersten Busse fuhren.
Er machte ein geräumiges Holzhäuschen in Form einer kleinen Ritterburg aus, das in der Nähe einiger Büsche lag, und ging darauf zu. Hierher drang kaum Licht, da die Laternen in der Nähe alle nicht funktionierten. Jemand musste sie ausgetreten haben. Er näherte sich vorsichtig dem Eingang der Hütte und war nicht sonderlich überrascht, als ihm ein Arm den Zutritt versperrte. Ein Junge steckte den Kopf aus dem Fensterloch und wollte wissen, ob er die Sachen hätte.
»Welche Sachen?«, fragte er zurück.
»Hast du Kippen?«
»Nein, ich rauche nicht!« Schweigen. »Ich bin Fußballer«, fügte er erklärend hinzu.
»Und was willst du dann hier?«
»Pennen«, meinte er knapp, »bin aus dem Bus geflogen und jetzt fährt keiner mehr.«
Im schwachen Dämmerlicht konnte er ein breites Grinsen auf dem Gesicht des Anderen ausmachen.
»Komm rein.« Die Stimme klang jetzt freundlicher.
Er quetschte sich durch den engen Eingang und setzte sich auf die freie Bank. Die anderen beiden Bänke waren mit vier Jugendlichen besetzt. Der Typ, der ihn hereingebeten hatte, zündete sich eine Zigarette an. Die Flamme des Feuerzeugs erleuchtete kurz ein junges Gesicht, vielleicht fünfzehn, maximal sechzehn Jahre alt. Die anderen waren noch jünger. Diese Typen stellten keine wirkliche Gefahr für ihn dar. Er entspannte sich etwas, blieb jedoch misstrauisch und wollte sich nicht zum Schlafen hinlegen, denn in seinem Rucksack befanden sich unter anderem sein Handy, das Ticket mit seiner Adresse, sein Hausschlüssel und zwanzig Euro.
Der rauchende Junge zog an der Zigarette und musterte ihn im Schein der Glut. »Wir müssen noch auf jemand warten, danach sind wir weg und du kannst dich lang machen.«
Es war mittlerweile bestimmt schon ein Uhr. Mussten diese Kinder nicht ins Bett? Es war doch noch Schule bis Ende der Woche! Vermisste sie keiner zu Hause?
Als hätte der Anführer der Truppe seine Gedanken gelesen, erklärte er ungefragt: »Unsere Eltern sind arbeiten. Putzkolonne. Die kommen erst morgens nach Hause. Und die Mutter von den beiden arbeitet in der Kneipe.«
»Seid ihr morgens nicht zu müde für die Schule, wenn ihr so lange hier rumhängt?« Das klang irgendwie unangemessen fürsorglich.
Der andere machte zwei schnalzende Geräusche mit der Zunge und schüttelte energisch den Kopf: »Sehn wir dann morgen früh. Lohnt sich eh nicht!« Er lachte bitter auf und schaute auf sein Handy. »Jungs, halb zwei. Ab nach Hause, eure Alte kommt gleich!«
Die zwei von der hinteren Bank drängten sich an ihnen vorbei zum Ausgang. Einer von ihnen roch streng. Kalle, der den Geruch sofort erkannte, drehte peinlich berührt den Kopf zur Seite. Sein Gegenüber hatte seine Reaktion beobachtet, beugte sich zu ihm vor und flüsterte: »Der kann da nichts für. Deren Mutter verprügelt die ziemlich heftig.«
Kalle nickte. »Hat mein Bruder früher auch immer gemacht, wenn unsere Eltern sich angeschrien haben.«
Der Junge hielt Kalle die Hand hin. »Juri. Und du?«
»Kalle«, antwortete Kalle und drückte eine überraschend zarte Hand.
Juri sah erneut auf sein Handy. »Wenn der Typ in einer halben Stunde nicht da ist, hauen wir ab. Kannst bei uns pennen. Das ist sicherer«, und als Kalle zögerte, »Mein Vater ist im Moment nicht da und meine Mutter sagt nichts!«
Sie schwiegen eine Weile. Juris Bruder hatte sich mit angezogenen Beinen auf die hintere Bank gequetscht und war eingeschlafen. Juri entzündete seine letzte Zigarette. Die Flamme des Feuerzeugs verlieh ihrer Zweisamkeit etwas Intimes. Plötzlich sah er Kalle direkt an. Seine Augen waren so dunkel, dass man die Pupillen nicht erkennen konnte, und in ihnen brannte ein eigenartiges Feuer. Dann senkte er den Blick und ließ das Licht erlöschen. Jetzt saßen sie wieder im Dunkeln und hingen ihren Gedanken nach.
»Im September werde ich vierzehn, dann muss mein Bruder das hier machen«, sagte Juri unvermittelt.
Kalle starrte entsetzt in die Dunkelheit und fragte sich, wie alt der jüngere Bruder war und was er dann machen musste. Da knirschte der Kies und Schritte näherten sich der Hütte. Jemand schlug zwei Mal mit der flachen Hand auf das Dach und Juri schlüpfte aus dem Versteck. Kalle hörte, wie er sich mit einem Mann in einer Sprache unterhielt, die er nicht verstand. Dann entfernten sich die Schritte und Juri steckte den Kopf in die Hütte.
»Auf!«, raunte er barsch. »Wir gehen.«
Er steuerte auf das erste Hochhaus zu, auf dem Rücken trug er jetzt einen Rucksack. Sein jüngerer Bruder stolperte schlaftrunken hinter ihm her.
Die große Eingangstür des Hochhauses schloss nicht mehr richtig, auf den meisten Namensschildern standen keine Namen und die fahle Flurbeleuchtung flackerte ständig. Da der Aufzug nicht funktionierte, stiegen sie die Treppen in den fünften Stock hinauf und gingen den Flur entlang. Vor den Wohnungen lagen überall Schuhe und stinkende Mülltüten.
Juri schloss die Wohnungstür auf und winkte Kalle mit einer großspurigen Geste herein. Fast unmittelbar standen sie in einem Raum, der wohl so etwas wie eine Wohnküche war. Auf der linken Seite sah man hinter einer halbhohen Wand eine Küchenzeile. In der Mitte des Raumes befand sich ein runder Tisch mit vier Stühlen, darüber hing eine altmodische Lampe. Ihr schwaches Licht verlor sich in den rotbraun gemusterten Tapeten. In der rechten Ecke stand ein zweisitziges, braunes Cordsofa, an der gegenüberliegenden Wand ein alter Fernseher.
Juri deutete auf einen der Stühle und ging in die Küche. Er kramte zwischen schmutzigem Geschirr und benutzten Töpfen herum und spülte zwei Gläser. Dann nahm er eine Flasche aus dem Kühlschrank, füllte jedes Glas einen Fingerbreit und schüttete die Reste aus einer Chipstüte in eine Glasschale. Sein Bruder war mit dem geheimnisvollen Rucksack im hinteren Teil der Wohnung verschwunden. Die Wanduhr zeigte halb drei.
Juri stellte die Gläser und die Schale mit den Chips auf den Tisch, setzte sich Kalle gegenüber und hob sein Glas. Es wäre unhöflich gewesen, abzulehnen, also nippte Kalle und schnappte reflexartig nach Luft.
Der Junge lachte auf. »Selbstgemacht!«, erklärte er stolz.
»Ich trinke sonst nicht«, gestand Kalle.
»Sportler.« Juri nickte. »Musst das nicht austrinken.«
Etwas an diesem Jungen irritierte Kalle. Er nahm eine paar Chips aus der Schale und bat um ein Glas Wasser. So verschaffte er sich die Gelegenheit, den anderen unbemerkt zu beobachten. Juri war mit seinen schwarzen Augen, den zurückgekämmten, mit viel Haargel gestylten, dunklen Locken und seinen katzenhaften Bewegungen ein auffallend attraktiver Junge. In seinem gefakten Gucci-T-Shirt, dem passenden Gürtel und der engen, schwarzen Jeans hatte er etwas von einem kleinen Poser, und doch wirkte er, bei Licht besehen, noch sehr jung und verletzlich. Damit war er genau die Art Junge, die manche ältere Männer auf dumme Ideen brachte. Kalle erinnerte sich an mehrere unangenehme und verstörende Begegnungen, als er so elf, zwölf Jahre alt gewesen war. Jemand sollte auf diesen Jungen aufpassen!
»Wo ist dein Vater?«, fragte er.
Juri kehrte mit dem gewünschten Wasserglas aus der Küche zurück, sah an Kalle vorbei und zuckte mit den Schultern.
»Du kannst auf dem Sofa schlafen. Meine Mutter kommt erst um kurz nach sieben. Die Busse fahren ab fünf Uhr wieder. Ich geh jetzt pennen.«
»Ich müsste noch mal eben ins Bad!« Kalle überlegte kurz, ob er seinen Rucksack mitnehmen sollte, der am Boden lag.
Juri war sein Blick nicht entgangen. »Ey Alter, entspann dich! Ich beklau dich schon nicht. Du bist mein Gast!«
Da wurde Kalle klar, was ihn an diesem Jungen so verwirrt hatte: Dieses halbe Kind war mit seinen dreizehn Jahren in die Rolle des Hausherrn geschlüpft. Da war keiner, der auf ihn aufpasste; keiner, der ihn beschützte!
Kalle folgte Juri in den hinteren Teil der Wohnung. Der enge Flur wurde schwach von einer nackten Glühbirne erleuchtet, die an einem zusammengeknoteten Kabel von der Decke hing. Die Tapeten waren abgerissen worden, so dass die Wände nun von übriggebliebenen, farbigen Papierfetzen übersät waren. Sie erinnerten Kalle an das Fell eines räudigen Tieres.
»Wenn wieder Geld da ist, wird das alles neu tapeziert!«, erklärte sein Gastgeber und wies nach links. »Hier schlafen mein Bruder und ich.«
Die Zimmertür stand offen. Auch hier waren die Tapeten sehr laienhaft entfernt worden. Der Raum wirkte kahl, obwohl zwei Metallbetten darin standen. Auf dem Boden verstreut stapelten sich Unmengen getragener Kleidung. Der kleine, weiße Stoffkleiderschrank, der mitten im Raum stand, war leer. In einem der Betten lag Juris Bruder und schlief in seinen Sachen. Schuhe und Jacke hatte er vor dem Bett auf den Boden geworfen. Dass die Betten nicht bezogen waren, traf Kalle mitten ins Herz.
Juri zeigte ihm das Bad, klopfte ihm auf die Schulter und zog die Schlafzimmertür hinter sich zu.
Das Bad war braun gekachelt, relativ aufgeräumt, aber lange nicht geputzt worden. Es roch wie in der Schultoilette. Angewidert pinkelte Kalle im Stehen und wusch sich anschließend Hände und Gesicht, verzichtete aber vorsichtshalber darauf, eins der Handtücher zu benutzen. Vor dem Spiegel standen diverse teure Kosmetika. Juri klaute offensichtlich mit Geschmack.
Leise ging er zurück in den Wohnraum, nahm seinen Rucksack und setzte sich damit auf das Sofa. Es war alt und durchgesessen. Er holte sein Handy heraus und stellte den Wecker auf halb sieben. Dreieinhalb Stunden Schlaf mussten reichen! Dann zog er seine Schuhe aus und steckte sein Handy zurück in den Rucksack, den er als Kopfkissen benutzte. Vorsichtshalber. Das Sofa war so kurz, dass er sich nicht ausstrecken konnte, und eine Decke gab es nicht. Also zog er seine Jacke aus und deckte sich not dürftig damit zu.
Kalle erwachte davon, dass ihn jemand sanft an der Schulter berührte. Erschrocken riss er die Augen auf und blickte einer Frau direkt ins Gesicht. Sie lächelte ihn freundlich an.
»Freund von Juri?«, fragte sie in gebrochenem Deutsch. »Willst du Kaffee?«
Ihre Stimme war so zart und harmonisch wie ihr Gesicht. Er stotterte etwas davon, dass er den letzten Bus verpasst und Juri ihn eingeladen habe, hier zu schlafen, entschuldigte sich wortreich und versprach, gleich zu verschwinden. Sie lächelte zaghaft und deutete einladend auf den Tisch mit den Stühlen in der Mitte des Raumes. Genau diese Geste hatte Kalle heute Nacht schon bei ihrem Sohn gesehen. Dann ging sie in die Küche, um die Kaffeemaschine in Gang zu setzten. Kalle schlüpfte in seine Schuhe, nahm seinen Rucksack und verschwand im Bad. Die Zimmertür der Jungs war noch geschlossen. Als er mit gewaschenem Gesicht, geputzten Zähnen und gekämmtem Haar wieder in den Wohnraum trat, war der Tisch abgewischt und mit vier Tassen und Tellern gedeckt. Die Kaffeemaschine gurgelte und Juris Mutter stellte Brot, Margarine, Nusscreme und Schmierkäse auf den Tisch. Dann verschwand sie im hinteren Teil der Wohnung. Er hörte, wie sie leise an die Tür ihrer Söhne klopfte.
Kalle setzte sich an den Tisch und wartete. Um halb acht kehrte die Frau zurück, schüttete ihm Kaffee in seine Tasse und bot ihm Milch und Zucker an.
Sie muss doch ungefähr so alt sein wie meine Mutter, dachte Kalle, aber sie sieht viel jünger aus.
Juris Mutter war klein, zierlich und sehr hübsch. Ihre Augen waren heller als die ihres Sohnes und von einem warmen Goldbraun, so wie ihr Haar, das sich sorgfältig frisiert in einer großen Welle nach außen wölbte und bis zu ihren Schultern reichte. Kalle musste an die rosa Lockenwickler denken, die er im Bad gesehen hatte. Das war ihm jetzt irgendwie peinlich und erstaunt stellte er fest, dass ihn diese Frau verlegen machte. Trotzdem war es schwer, nicht hinzusehen. Heimlich betrachtete er sie, während sie ihr Butterbrot dünn mit Schmierkäse bestrich. Ihre Nägel waren sorgfältig manikürt und hellrosa lackiert.
Wie macht sie das nur, fragte er sich. Sie lebt in diesem Drecksloch und sieht trotzdem so gepflegt aus.
Überraschend hob sie den Blick und sah ihm direkt in die Augen. Er verpasste den Moment, rechtzeitig wegzusehen und merkte, dass er rot wurde.
»Essen«, sagte sie mit ihrer sanften Stimme und schob ihm das Brot hin. Dann wollte sie wissen, ob er Juri aus der Schule kenne. Er verneinte, erzählte ihr, er hätte seit einer Woche seinen Schulabschluss und würde jetzt Arbeit suchen. Da stand sie auf, holte einen kleinen Schreibblock und einen Kugelschreiber aus der Küche und notierte etwas. Kalle hatte in seinem Leben noch nie so eine schöne Handschrift gesehen. Sie war vollständig ebenmäßig, eine Schreibschrift, so weich, harmonisch und zart wie die Schreibende selbst.
»Adresse von meiner Arbeit«, sie reichte ihm den Zettel. »Suchen immer Leute!«
Er nahm den Zettel und betrachtete ihn verwirrt. Auf welcher Schule lernte man, so perfekt zu schreiben? Zwischen seine Gedanken tröpfelten ihre Informationen über die Putzfirma: Mindestlohn, Abfahrt zwanzig Uhr, Büroräume. Er hatte sicher nicht vor, Reinigungskraft zu werden, bedankte sich jedoch höflich für ihre Hilfsbereitschaft und steckte den Zettel in seine Hosentasche.
»Kommt Juri nicht?«, fragte er, um vom Thema abzulenken.
Sie senkte betreten den Blick. Über ihren langen, sorgfältig getuschten Wimpern hatte sie einen dünnen, braunen Lidstrich gezogen. – Nein, Juri kam wohl nicht! Während sie die Nacht über arbeitete, lungerten ihre Söhne draußen herum, machten irgendwelchen Mist und mutierten zu Kleinkriminellen. Am nächsten Tag weigerten sie sich dann aufzustehen, schwänzten die Schule und sie schrieb ihnen wahrscheinlich in ihrer schönen Handschrift eine Entschuldigung.
Ein bedrückendes Schweigen senkte sich über den Frühstückstisch. Die großen, braunen Augen der Frau waren plötzlich unendlich traurig. Sie hat aufgegeben, dachte Kalle. Sie ist von irgendwo hergekommen, aus einem Land, in dem man Wert auf Gastfreundschaft, ein gepflegtes Äu-ßeres und eine ordentliche Handschrift legt. Sie ist sicher in der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Deutschland gekommen. Und jetzt das! Jetzt sitzt sie fest, hier in diesem Elend. Der Mann ist weg, die Söhne machen Ärger und sie weiß nicht mehr, was sie tun soll. Sie tat ihm unendlich leid! Etwas in ihm wollte helfen, schützen, befreien. Etwas in ihm wollte sie trösten und sagen: Das wird schon wieder. Aber er wusste, das wäre gelogen.
Langsam stand er auf, murmelte ein Dankeschön und dass er jetzt gehen müsse. Dann nahm er seinen Rucksack und die Jacke. Die Frau reagierte nicht. Sie saß schweigend am Tisch, starrte ins Leere und sah sehr, sehr müde aus. Leise verließ er die Wohnung.
Seine Mutter riss die Wohnungstür auf, bevor er aufschlie-ßen konnte. Sie hatte rote Flecken im Gesicht und im Ausschnitt. Die bekam sie immer, wenn sie sich über etwas aufregte. Es verwirrte ihn, sie hier anzutreffen, denn eigentlich war sie um diese Zeit bereits weg. Sie ging regelmäßig putzen oder machte Leuten die Haare. Etwas, über das Kalle nicht reden durfte, denn seine Mutter arbeitete schwarz und hatte ständig Sorge, dass man sie erwischte.
»Schläft der Herr jetzt außer Haus?«, giftete sie ihn an. Wortlos ging er an ihr vorbei in sein Zimmer.
»Dann kann ich ja jetzt gehen, der Herr ist ja wieder da!«, rief sie im Flur. Kurz danach fiel die Wohnungstür geräuschvoll ins Schloss und er atmete befreit aus.
Sein Abenteuer hatte gerade einmal elf Stunden gedauert, doch er sah sich im Zimmer um, als wäre er Wochen nicht hier gewesen. Das Hellblau der Wände wirkte beruhigend. Er und sein Bruder hatten die Farbe vor zwei Jahren gemeinsam ausgesucht und dem Vater beim Streichen geholfen. Über dem Bett seines Bruders hing das alte Superman-Poster und auf dem Regalbrett standen Pauls geliebte Superman-Figuren. Alles war blitzsauber, seine Mutter war der reinste Putzteufel. Das hatte ihn bisher genervt, jetzt sah er es mit anderen Augen.
Er hörte die schweren Schritte des Vaters auf dem Flur, dann standen sie sich gegenüber. Sein Vater sah ihn lange an, seine Augen glänzten feucht. Endlich schloss er ihn in die Arme und drückte ihn fest an seinen massigen Körper.
»Mach das nie wieder!« Es klang fast wie eine Entschuldigung. »Willst du was frühstücken?«
»Nein, danke«, sagte Kalle. »Ich möchte nur ein wenig schlafen.«
Er nahm ein frisches, ordentlich gefaltetes T-Shirt aus dem Kleiderschrank und ging ins Bad, duschte lange und wusch seine Haare zwei Mal. Das Shampoo war billig, roch aber lecker und war garantiert nicht geklaut. Er zog frische Wäsche an, kämmte sein langes Haar und wischte anschließend mit dem bereitliegenden Putzlappen durchs Waschbecken. Zum Abschluss suchte er ein neues Versteck für Pauls Quietscheentchen – eine seiner täglichen Neckereien.
Danach ging er zurück ins Kinderzimmer und legte sich ins Bett. Das war am Samstag frisch bezogen worden und fühlte sich glatt und sauber an. Wie konnte man nur in einem nicht bezogenen Bett schlafen? Wie konnte man in einer so verwahrlosten Wohnung leben? Wie konnte man angesichts einer solchen Hoffnungslosigkeit weitermachen? Er hatte immer geglaubt, bei ihnen zu Hause wäre es schlimm.
Schlimmer geht’s immer, dröhnte die Stimme von Großmutter Karla in seinem Kopf. Er mochte seine Großmutter und ihre dummen Sprüche nicht, doch dieser schien leider wahr zu sein.
Am Schrank klebte ein Foto von seiner Fußballmannschaft. Es war das letzte, was er sah, bevor er einschlief.
Im Traum blickte ihn Juris Mutter lange mit ihren großen, traurigen Augen an. Hinter ihr sah er in ein Dorf, durch das alte Menschen liefen; sehr langsam und auf ihre Stöcke gestützt. Sie trugen fremdartige Trachten und ihre kleinen Holzhäuser waren mit Schnitzereien verziert und bunt bemalt. Eine alte Frau mit faltigem Gesicht und einem bunten Kopftuch streckte ihm flehend ihre geöffnete Hand entgegen und flüsterte: »Bitte helfen!«
Da erwachte er schweißgebadet.
Neben ihm saß sein kleiner Bruder und starrte ihn sorgenvoll an.
»Wo warst du?« Pauls Stimme schwankte zwischen Vorwurf und Angst.
Kalle wischte sich mit der Hand über das verschwitzte Gesicht. »Bei Peter Pan und den verlorenen Jungs.«
Paul riss die Augen auf. »Du verarschst mich?« Pause. »Gibt’s die wirklich?«
»Irgendwie schon«, antwortete Kalle ernst. »Ist aber nicht lustig!«
»Und Wendy?«, fragte der Kleine hoffnungsvoll.
Kalle sah Juris Mutter vor sich, wie sie den Tisch deckte.
»Ja«, sagte er schlicht, »aber es geht ihr nicht gut!«
Dann drehte er sich im Bett um und starrte die Wand an. Paul, der den Kummer seines großen Bruders spürte, zog liebevoll die Bettdecke hoch und klopfte ihm beruhigend mit seiner kleinen, dicken Hand auf die Schulter. Dann verließ er das Kinderzimmer und schloss leise die Tür.
Ein warmer Lichtstrahl fiel durch das Fenster direkt auf seine linke Hand und holte ihn in die Realität zurück. Kalle hielt das Gesicht der Sonne entgegen, die zwischen zwei dunklen Wolken hervor kam, und blinzelte. In Gedanken war er gerade wieder einmal bei Juris Mutter in ihrem Drecksloch von einer Wohnung gewesen. Nun erinnerte er sich auch, dass er in der letzten Nacht von ihr geträumt hatte. Diesen Traum hatte er oft, obwohl ihre Begegnung nun schon neun Monate zurücklag. Er trug den Zettel, den sie ihm gegeben hatte, immer noch in seiner Brieftasche, wie eine beständige Warnung, eine liebevolle Ermahnung, einen mütterlichen Rat, es besser zu machen. Nach ihrer Begegnung hatte er sich dafür entschieden, noch einmal zur Schule zu gehen und seine Mittlere Reife zu machen. Im Nachhinein war es eine gute Entscheidung gewesen.
Der Lehrer, dem Kalles Unaufmerksamkeit und sein gequälter Gesichtsausdruck aufgefallen war, kam zu ihm herüber und fragte leise, um die anderen nicht bei der Arbeit zu stören: »Ist Ihnen nicht gut? Wollen Sie einen Moment an die frische Luft?«
Kalle zögerte, doch dann begriff er die Chance, die sich ihm gerade bot. Er nickte, nahm seine Tasche, flüsterte dem Lehrer ein »Mir ist schlecht, ich glaube ich gehe besser nach Hause« zu und verließ eilig das Klassenzimmer. Frei, für heute frei! Er schloss sein Fahrrad auf und schob es vom Gelände des Berufskollegs. In diesem Moment brach die Sonne mit aller Macht durch die Wolken.
Langsam und mit Genuss fuhr er durch die Stadt in Richtung Wald. Hier führte ein schmaler Weg an einem Flüsschen entlang. Der Himmel war nun wolkenlos und von einem strahlenden Blau, die Frühlingssonne hatte bereits viel Kraft und die jungen Blätter der Bäume waren von einem zarten, frischen Grün. Ein Wetter zum Helden zeugen, hatte die Oma immer dazu gesagt.
Er lachte auf. Warum nicht? Er hatte gerade einen freien Nachmittag geschenkt bekommen und sonst nichts zu tun.
Gut gelaunte Spaziergänger mit ihren Hunden kamen ihm entgegen und grüßten freundlich. In den Bäumen sangen die Vögel. Er fuhr die vertraute Strecke bis zum Waldrand. Nun musste er zu Fuß weiter, da der Weg sehr schmal und uneben wurde. Er lehnte sein Rad an einen Baum, schloss es ab und trat in das Dunkel der Tannen. Es war still; nur eine Amsel raschelte im Unterholz. In der Ferne hämmerte ein Specht gegen einen Baumstamm. Langsam ging er weiter, der Waldboden unter seinen Füßen federte und es roch nach Harz. Kalle liebte den Wald. Hier konnte er frei atmen. Hier war es friedlich.
Er schlenderte bis zu seinem Lieblingsplatz, setzte sich auf einen Baumstumpf und hing seinen Gedanken nach. Wie er so dasaß, den Kopf im Nacken, das Gesicht mit halb geschlossenen Augen der Sonne zugewandt, lösten sich alle Schatten aus seinem Kopf und verdampften im Sonnenschein. Da hörte er in einiger Entfernung eine leise Frauenstimme ein Lied singen. Kalle, der selbst gerne sang, lauschte und nun fiel ihm wieder ein, wie er als kleiner Junge neben der Oma auf der Bank im Garten gesessen und mit ihr gesungen hatte. Damals hatte die Oma immer den Arm um ihn gelegt und ihn fest an sich gedrückt.
Neugierig geworden stand Kalle auf und ging zielstrebig auf die Stimme zu. Der Gesang musste von der Lichtung kommen, und tatsächlich: Mitten auf der Wiese saß ein Mädchen auf einem umgestürzten Baumstamm in der Sonne und sang. Sie war vielleicht fünfzehn Jahre alt, klein und zierlich. Ihre Figur versteckte sie unter einem unförmigen, graubraunen Pullover, das dunkelblonde Haar war kurz geschnitten und stand ihr wirr und wild um den Kopf. Sie saß mit dem Rücken zu ihm und war so mit ihrer Singerei beschäftigt, dass sie ihn nicht bemerkte. Kalle blieb still stehen, unschlüssig, was er tun sollte. Also wartete er einfach ab und beobachtete, was geschah.
Was macht die hier, fragte er sich. Hat die keine Angst so allein im Wald?
Da fiel ihm plötzlich das alberne Lied von den Räubern wieder ein, das die Oma ihm immer vorgesungen hatte. Es handelte von einem schönen jungen Mädchen, das alleine im Wald spazieren ging und dort den Sohn des Försters traf. Er musste an das denken, was die beiden dann im Wald gemacht hatten. So, wie er hier gerade in den Büschen stand und zu dem Mädchen hinüber starrte, war diese Vorstellung schon ziemlich schräg. Ein Lachen kroch in ihm hoch und je länger er versuchte, es zu unterdrücken, umso stärker kitzelte es ihn. Schließlich prustete er los.
Das Mädchen schreckte auf, drehte sich um und sah ihn überrascht an.
»Worüber lachst du?« Es klang angriffslustig.
»Nicht über dich«, beeilte er sich zu versichern. »Mir ist gerade ein Lied eingefallen, das ist lustig.«
Sie starrte ihn an, ernst, ohne jedes Lächeln, und schwieg unangenehm lange. Endlich nickte sie und klopfte neben sich auf den Baumstamm.
»Na dann lass mal hören, wenn’s so lustig ist!«
Also ging er zu ihr hinüber und setzte sich. Er hatte lange nicht gesungen, war etwas verlegen und räusperte sich umständlich. Zuerst sang er leise und verhalten, doch schon bei der zweiten Strophe gewann seine Stimme ihre alte Kraft und Fröhlichkeit zurück. Das Mädchen wippte zur Melodie mit dem Kopf und stimmte in den Refrain mit ein.
»Denn im Wald, da sind die Räuber, halli hallo, die Räuber ...«
Die vorletzte Strophe, in der der Sohn des Försters das Mädel verführte, übersprang Kalle vorsichtshalber und kam gleich zum moralischen Ende des Liedes.
»Siehste«, sagte er danach grinsend, »deshalb gehst du besser nicht alleine in den Wald!«
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