Kalt genug für Schnee - Jessica Au - E-Book + Hörbuch

Kalt genug für Schnee Hörbuch

Jessica Au

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Beschreibung

Eine Mutter und eine Tochter reisen – die eine aus Hongkong, die andere aus Melbourne – nach Tokio. Einfühlsam stellt die Tochter ein Programm für die beiden zusammen, das über die Annäherung an Kunst und Natur auch zu einer neuerlichen Annäherung der beiden führen soll. Sie flanieren entlang der Kanäle, essen in dampfenden Garküchen, besichtigen Galerien, Gärten und Tempelanlagen. Doch die ersehnte Vertrautheit will sich nicht einstellen, scheint ihnen immer wieder zu entwischen, und die Ungewissheit überwiegt: Wer spricht hier wirklich – nicht vielleicht doch nur die Tochter? Was verbirgt sich hinter all dem Unausgesprochenen dieser sonderbar entrückten Reise?

In einer fremden Stadt wollen eine Tochter und eine Mutter sich einander nähern und suchen nach einer gemeinsamen Sprache. Mit Kalt genug für Schnee ist Jessica Au ein strahlend schöner, ein eleganter und eindringlicher Roman über die Betrachtung von Welt, über versuchte Nähe und Unzulänglichkeit gelungen.

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Zeit:3 Std. 21 min

Sprecher:Marie Bierstedt

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Cover for EPUB

Titel

Jessica Au

Kalt genug für Schnee

Roman

Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit

Suhrkamp Verlag

Impressum

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Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel Cold Enough for Snow bei Giramondo Publishing Company, Sydney.This project has been assisted by the Australian Government through the Australia Council, its arts funding and advisory body.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2022.

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2022© Jessica Au, 2022

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Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg, unter Verwendung des Originalumschlags von Janet Hansen

eISBN 978-3-518-77383-3

www.suhrkamp.de

Widmung

Für Oliver

Kalt genug für Schnee

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Als wir das Hotel verließen

Dank

Informationen zum Buch

Als wir das Hotel verließen

Als wir das Hotel verließen, fiel ein leichter feiner Regen, wie im Oktober in Tokio bisweilen üblich. Ich sagte, es sei nicht weit – wir müssten nur bis zum Bahnhof gehen, demselben Bahnhof, an dem wir gestern angekommen waren, und dann zwei Züge nehmen und ein paar kleine Straßen entlanglaufen, bis wir das Museum erreichten. Ich holte meinen Regenschirm heraus, spannte ihn auf und zog den Reißverschluss an meiner Jacke zu. Es war früher Morgen und die Straße voller Menschen, die zumeist vom Bahnhof kamen und nicht, wie wir, ihm entgegenstrebten. Meine Mutter blieb die ganze Zeit dicht bei mir, als befürchtete sie, vom Strom der Menge mitgerissen zu werden, sodass wir uns, einmal getrennt, nicht mehr finden, sondern immer weiter voneinander entfernen würden. Der Regen war sanft und gleichmäßig. Er ließ eine dünne Wasserschicht auf dem Boden zurück, der nicht geteert war, sondern aus vielen kleinen quadratischen Fliesen bestand, wenn man nur genau hinsah.

Am Abend zuvor waren wir angekommen. Mein Flug war eine Stunde vor dem meiner Mutter gelandet, und ich wartete am Flughafen auf sie. Da ich zum Lesen zu müde war, holte ich mein Gepäck ab und besorgte uns zwei Tickets für einen Expresszug sowie eine Flasche Wasser und Bargeld aus dem Automaten. Ich überlegte, was wir noch brauchen könnten – Tee vielleicht oder etwas zu essen, aber ich war mir nicht sicher, wie sie sich nach der Landung fühlen würde. Als sie aus dem Gate kam, erkannte ich sie trotz der Entfernung augenblicklich an ihrer Haltung oder ihrem Gang, ohne dass ich ihr Gesicht deutlich sehen konnte. Während sie näher kam, fiel mir auf, dass sie sich noch immer sorgfältig kleidete: eine braune Bluse mit Perlmuttknöpfen, maßgeschneiderte Hose und dezenter Jadeschmuck. So war es seit jeher gewesen. Ihre Kleidung war nicht teuer, aber mit Bedacht auf Schnitt, Passform und die subtile Kombination von Texturen ausgewählt. Sie erinnerte an eine gut gekleidete Frau aus einem Film von vor zwanzig oder dreißig Jahren, altmodisch und zugleich elegant. Mir fiel auch auf, dass sie einen großen Koffer bei sich hatte, denselben Koffer, den ich noch aus unserer Kindheit kannte. Sie hatte ihn auf dem Schrank in ihrem Zimmer aufbewahrt, wo er, meist unbenutzt, drohend auf uns herabblickte und nur für die wenigen Kurzreisen zurück nach Hongkong heruntergeholt wurde, etwa als ihr Vater starb und dann ihr Bruder. Selbst jetzt hatte er kaum eine Schramme und wirkte fast wie neu.

Anfang des Jahres hatte ich sie gefragt, ob sie mit mir nach Japan reisen würde. Wir lebten nicht mehr in derselben Stadt und waren als Erwachsene so gut wie nie zusammen verreist, doch allmählich – und aus Gründen, die ich noch nicht benennen konnte – hatte ich das Gefühl, dass es wichtig war. Am Anfang hatte sie sich gesträubt, aber ich drängte sie, und irgendwann stimmte sie zu, nicht unbedingt mit vielen Worten, sondern durch stetig nachlassenden Protest oder leichtes Zögern am Telefon, und allein mit diesen Reaktionen signalisierte sie mir, dass sie letztlich mitkommen würde. Japan hatte ich gewählt, weil ich, im Gegensatz zu ihr, schon einmal dort gewesen war, und ich dachte, die Erkundung eines anderen asiatischen Landes könnte ihr vielleicht gefallen. Außerdem stellte ich mir vor, dass wir dort beide Fremde und somit gleichberechtigt wären. Für den Herbst hatte ich mich entschieden, weil er immer schon unsere liebste Jahreszeit war. Die Gärten und Parks wären dann am schönsten: Nachsaison, alles fast verblüht. Allerdings hatte ich nicht damit gerechnet, dass es noch Taifune geben könnte. Die Wetterberichte hatten bereits mehrere Warnungen ausgegeben, und seit unserer Ankunft hatte es ununterbrochen geregnet.

Am Bahnhof gab ich meiner Mutter ihre Metrokarte, und wir passierten das Drehkreuz. Drinnen suchte ich unsere Zuglinie und den Bahnsteig, versuchte, die von mir am Abend zuvor auf der Karte vorgenommenen Markierungen den Namen und Farben zuzuordnen. Schließlich entdeckte ich die richtige Verbindung. Auf dem Boden des Bahnsteigs zeigten Symbole an, wo man sich zum Einsteigen anstellen sollte. Wir reihten uns gehorsam ein, und nach wenigen Minuten kam der Zug. In der Nähe der Tür gab es einen freien Einzelplatz, und ich bedeutete ihr, sich zu setzen, während ich neben ihr stand und zusah, wie die Bahnhöfe an uns vorbeizogen. Die Stadt war grau, nichts als Beton, düster im Regen und nicht ganz fremd. Ich erkannte Umrisse – Gebäude, Straßenüberführungen, Bahnübergänge –, doch in den Details und Materialien waren sie alle leicht unterschiedlich, und diese kleinen, aber bedeutsamen Veränderungen beschäftigten mich zunehmend. Nach etwa zwanzig Minuten wechselten wir zu einer kleineren Linie in einen weniger vollen Zug, in dem ich neben ihr sitzen und verfolgen konnte, wie die hohen Gebäude niedriger wurden, bis wir die Vororte erreichten und sie zu Einfamilienhäusern wurden, mit weißen Wänden, flachen Dächern und Kleinwagen in den Einfahrten. Mir ging durch den Sinn, dass ich das letzte Mal mit Laurie hier gewesen war und immer mal wieder an meine Mutter gedacht hatte. Und jetzt war ich mit ihr hier und dachte immer mal wieder an ihn, daran, wie wir von morgens bis lange nach Einbruch der Dunkelheit durch die Stadt gehetzt waren, uns alles angesehen und in uns aufgesaugt hatten. Während jener Reise schien es, als wären wir wieder Kinder, verrückt und aufgeregt, ständig am Reden und Lachen, stets hungrig nach mehr. Damals hatte ich gedacht, wie gern ich doch einiges davon mit meiner Mutter erleben würde, und sei es noch so wenig. Danach hatte ich angefangen, Japanisch zu lernen, als hätte ich unbewusst schon diese Reise geplant.

Unser Ausgang lag diesmal an einer ruhigen Straße in einem grünen Viertel. Die meisten Häuser standen fast an der Straße, aber die Leute hatten in den schmalen Raum dazwischen kleine Pflanzgefäße mit Pfingstrosen und Bonsais gestellt. In meiner Kindheit hatten auch wir einen Bonsai gehabt, in einem weißen viereckigen Topf mit winzigen Füßen. Ich glaube nicht, dass meine Mutter ihn gekauft hatte, es war also vermutlich ein Geschenk, das wir sehr lange hegten und pflegten. Ich erinnerte mich, dass ich ihn als Kind aus irgendeinem Grund nicht mochte. Vielleicht weil ich fand, dass er unnatürlich und einsam aussah, dieser sehr kleinteilige, zierliche Baum, der fast einer Illustration glich und ganz allein wuchs, dabei sah er doch aus, als gehörte er in einen Wald.

Wir kamen an einem Gebäude mit einer Wand aus Glasbausteinen vorbei und einem weiteren mit einer pilzfarbenen Fassade. Vor uns fegte eine Frau Laub von der Straße und packte es in einen Sack. Ich unterhielt mich eine Weile mit meiner Mutter über ihre neue Wohnung, die ich noch nicht kannte. Sie war vor Kurzem aus unserem alten Haus in ein kleineres in den äußeren Vororten gezogen, näher bei meiner Schwester und damit auch näher bei ihren Enkeln. Ich fragte sie, ob es ihr dort gefalle, ob es die richtigen Geschäfte gäbe, mit den Lebensmitteln, die sie mochte, ob ihre Freundinnen in der Nähe lebten. Sie erwiderte, dass die Vögel am Morgen sehr laut seien. Anfangs habe sie geglaubt, es wären schreiende Kinder, und sie sei nach draußen gegangen, um nachzusehen, ob alles in Ordnung sei. Dann habe sie festgestellt, dass der Lärm von Vögeln kam, aber als sie in den Bäumen nach ihnen suchte, habe sie keine entdeckt. Dort draußen gäbe es große bebaute Flächen, Autobahnen. Man könne endlos gehen, ohne irgendwem zu begegnen, obwohl man von Häusern umgeben war.

Wir näherten uns einem Park, und ich warf einen Blick auf die Karte auf meinem Handy. Ich schlug meiner Mutter vor, durch den Park zu gehen, die Entfernung zum Museum sei ungefähr dieselbe. Irgendwo unterwegs hatte es aufgehört zu regnen, wir schlossen unsere Schirme. Der Park war weitläufig, mit einem dunklen Blätterdach und gewundenen Wegen. So hatte ich mir Parks in meiner Kindheit vorgestellt, baumreich und schummrig und feucht, eine Welt in einer Welt. Wir kamen an einem leeren Spielplatz vorbei, mit einer Rutsche mit blauen Metallkanten, auf der noch große, dicke Regentropfen lagen. Eine Reihe von Bächen schlängelten sich zwischen den Bäumen hindurch, kreuzten, trennten und kreuzten sich wieder. Flache Steine durchbrachen das Wasser wie winzige Schluchten oder Berge, und hier und da waren schmale kleine Brücken, wie man sie von Postkarten oder Reisebildern aus dem Osten kennt.

Vor meiner Abreise hatte ich eine neue Kamera gekauft, eine Nikon. Digital, aber dennoch mit drei Rädchen und einem Glassucher sowie einem kleinen Objektiv, das man zum Einstellen der Blende drehen konnte. Sie erinnerte mich an die Kamera, mit der mein Onkel während seiner Jungend in Hongkong Familienfotos gemacht hatte. Meine Mutter besaß noch einige dieser Bilder. Als Kind hatte ich sie mir oft angesehen und den dazugehörigen Geschichten gelauscht, fasziniert von den gelegentlich sichtbaren farbigen Sprenkeln, die sich darin verfingen, wie ein Tropfen Öl in Wasser, und ein Loch in die Oberfläche brannten. Für mich strahlten die Fotos eine altertümliche Eleganz aus, meine Mutter und mein Onkel, die fast wie ein normales Ehepaar posierten, sie sitzend, in einem gemusterten Kleid, das Haar auf eine bestimmte Weise frisiert, er hinter ihrer Schulter stehend, im Hintergrund die schwülheißen Straßen und der Himmel von Hongkong. Nach einiger Zeit vergaß ich diese Fotos und entdeckte sie erst Jahre später wieder, als meine Schwester und ich die Wohnung meiner Mutter räumten, in einer Schuhschachtel voll gelber Briefumschläge und kleiner Alben.

Ich holte meine neue Kamera heraus, stellte die Belichtung ein und ließ mein Auge zum Sucher gleiten. Meine Mutter spürte die veränderte Entfernung zwischen uns und drehte sich um. Als sie mich sah, nahm sie sofort eine Standardpose ein: Füße zusammen, Rücken gerade, Hände verschränkt. Ist das gut so, fragte sie mich, oder soll ich mich näher an den Baum stellen? Eigentlich hatte ich etwas Ungestelltes einfangen wollen, ihr normales Gesicht, wenn sie allein mit ihren Gedanken war, aber ich sagte, es sei gut so, und machte das Foto. Sie fragte, ob sie eins von mir machen solle, aber ich lehnte ab und sagte, wir sollten lieber weitergehen.

In den Wochen vor der Reise hatte ich viele Stunden mit der Suche nach verschiedenen Sehenswürdigkeiten verbracht – Schreine, Waldparks, Galerien, die wenigen alten Nachkriegshäuser – und ständig überlegt, was sie vielleicht gern sehen würde. Ich hatte einen Ordner auf meinem Laptop angelegt, mit Adressen, Beschreibungen und Öffnungszeiten, vieles hinzugefügt und wieder gelöscht, mich um ein ausgewogenes Programm bemüht, weil ich das Beste aus unserer gemeinsamen Zeit herausholen wollte. Das Museum war die Empfehlung einer Freundin. Es befand sich in einem großen Vorkriegshaus, erbaut von einem berühmten Bildhauer. Im Internet hatte ich viel darüber gelesen und freute mich schon darauf. Ich warf einen Blick auf mein Handy und sagte, wenn wir hier abbiegen würden, kämen wir bald zu der Straße, in der sich das Museum befand. Während wir weitergingen, erzählte ich meiner Mutter ein wenig von dem, was sie erwartete, achtete aber darauf, nicht zu viele Details zu verraten, damit es noch etwas zu entdecken gab.

Wir kamen an einer Schule vorbei, es war gerade Pause. Die Schüler trugen kleine farbige Mützen, die vielleicht auf ihr Alter oder ihre Klasse verwiesen, und spielten laut und unbeschwert. Das Schulgelände war sauber, die Spielgeräte glänzten, und mehrere Lehrer standen herum und beobachteten gelassen ihre Schützlinge. Ich fragte mich, ob meine Mutter wohl auch an die katholische Schule dachte, in der sie uns angemeldet hatte, nicht unbedingt um der guten Erziehung willen, sondern wegen der karierten Wollröcke und blauen Bibeln, all den Erfahrungen und Dingen, die man ihr beigebracht hatte zu bedenken und die sie sich für sich selbst gewünscht hätte. Nach ein paar Jahren dort erhielten meine Schwester und ich Stipendien und blieben bis zum Ende der Highschool, machten unseren Abschluss und studierten: meine Schwester Medizin, ich englische Literatur.

Am Museumseingang befand sich eine Wand, wo man seinen Schirm festhaken konnte, vermutlich um keine Wasserspuren in dem alten Haus zu hinterlassen. Ich nahm den Schirm meiner Mutter, schüttelte ihn kurz aus, hakte ihren und meinen nebeneinander und steckte die kleinen Schlüssel ein, damit wir sie später wieder holen konnten. Im Innern, hinter den Schiebetüren, war ein ausgewiesener Platz zum Ausziehen der Schuhe, mit zwei Holzhockern und einem Korb voll brauner Slipper. Während ich mich mit meinen Stiefeln abmühte, streifte meine Mutter die ihren ab, als hätte sie ihr ganzes Leben in Japan verbracht, und stellte sie ordentlich nebeneinander, mit den Zehen zur Straße hin, der Richtung, in der sie später hinausgehen würde. Sie trug weiße Socken mit blitzsauberen Sohlen, wie frisch gefallener Schnee. Früher hatten auch wir unsere Schuhe an der Türschwelle ausgezogen. Ich erinnerte mich noch, wie schockiert ich war, als ich irgendwann nach der Schule mit einer Freundin zu ihr nach Hause ging und im Garten barfuß herumrennen durfte. Ihre Mutter hatte den Rasensprenger aufgedreht, und anfangs tat der Boden an den Füßen weh, aber dann wurde er weich und feucht, und das Gras war tatsächlich warm von der Sonne.

Ich zog ein Paar Slipper an und ging zum Zahlen an den Schalter. Die Frau dort nahm meine Scheine entgegen und gab mir ein paar Münzen zusammen mit zwei Eintrittskarten und zwei auf wunderschönem weißem Papier gedruckte Broschüren zurück. Sie erklärte, dass im Augenblick zwei Ausstellungen liefen: im Untergeschoss Werke aus China und der koreanischen Halbinsel, oben Stoffe und Textilien von einer berühmten Künstlerin. Ich dankte ihr, nahm die Broschüren, wandte mich meiner Mutter zu und erzählte es ihr aufgeregt; dabei dachte ich an ihre sorgfältige Kleidung und dass sie unsere Sachen immer perfekt ausgebessert und geändert hatte, als wir klein waren. Ich schlug vor, dass wir uns die Exponate getrennt ansahen, damit wir uns für bestimmte Stücke so viel Zeit nehmen konnten, wie wir wollten, fügte aber hinzu, dass wir uns immer im Auge haben und nicht weit voneinander entfernt sein würden. Angesichts ihrer Angst im Bahnhof befürchtete ich, dass sie dennoch in meiner Nähe sein wollte, doch der Raum mit seinen luftigen Durchgängen schien sie zu beruhigen, denn sie ging pflichtschuldig weiter, die aufgeschlagene Broschüre in den Händen, als wollte sie gleich darin lesen.