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Die neue Lieblings-Krimiserie um die Tiere des Waldes: mit Humor, Beobachtungsgabe und einem gelungenen Krimi-Plot. Weit weg von den Menschen, tief im Wald, schlummert ein Geheimnis: Hier befindet sich das Städtchen Shady Hollow. Elch und Maus, Eule und Bär leben hier Seite an Seite, harmonisch und zivilisiert … Ein bisschen zu harmonisch, findet die Reporterin und Füchsin Vera Vixen. Sie vermisst schon lange eine handfeste Schlagzeile. Da wird beim Umpflanzen eines Baums auf dem Apfelhain ein Skelett gefunden! Es sind die Überreste der Elchfrau Julia. Alle hatten geglaubt, sie hätte Shady Hollow und ihren Mann, den gutmütigen Elch Joe, vor langer Zeit verlassen und wäre nie zurückgekehrt. Offenbar wurde sie ermordet. Was ist ihr zugestoßen? Vera nimmt die Witterung auf. Sie muss es herausfinden! «Ein zauberhaftes Wald-Mord-Rätsel wie kein anderes!» Leonie Swann, Bestsellerautorin von «Glennkill»
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Seitenzahl: 299
Veröffentlichungsjahr: 2025
Juneau Black
Ein Waldtier-Krimi
Herbstlaub, Pumpkin Pie und Mord
Weit weg von den Menschen, tief im Wald, schlummert ein Geheimnis: Hier befindet sich das Städtchen Shady Hollow. Elch und Maus, Eule und Bär leben hier Seite an Seite, harmonisch und zivilisiert … Ein bisschen zu harmonisch, findet die Reporterin und Füchsin Vera Vixen. Sie vermisst schon lange eine handfeste Schlagzeile.
Da wird beim Umpflanzen eines Baums auf dem Apfelhain ein Skelett gefunden! Es sind die Überreste der Elchfrau Julia. Alle hatten geglaubt, sie hätte Shady Hollow und ihren Mann, den gutmütigen Elch Joe, vor langer Zeit verlassen und wäre nie zurückgekehrt. Offenbar wurde sie ermordet. Was ist ihr zugestoßen? Vera nimmt die Witterung auf. Sie muss es herausfinden!
«Ein zauberhaftes Wald-Mord-Rätsel wie kein anderes!» Leonie Swann, Bestsellerautorin von «Glennkill»
Juneau Black ist das Pseudonym der Autorinnen und Buchhändlerinnen Jocelyn Koehler und Sharon Nagel. Als ihr Chef ihnen vor einigen Jahren in der Buchhandlung von Milwaukee am Lake Michigan einen Korb voller Fingerpuppen überreichte, die sie auspreisen sollten, steckten sie sich die Puppen auf die Hände und erfanden Namen … und ihre Geschichten … und wenig später kam dazu ein Mord. «Shady Hollow» wurde ihr gemeinsames Debüt, das sofort viele Fans gewann. Heute arbeitet Sharon Nagel als Bibliothekarin, und Jocelyn Koehler ist Schriftstellerin in Philadelphia.
Die Autorin und Diplomübersetzerin Barbara Ostrop arbeitet seit 1993 als literarische Übersetzerin aus dem Englischen, Französischen und Niederländischen und zählt Liebes- und Familienromane, Spannung, Historisches und Jugendromane sowie Fantasy zu ihren Schwerpunkten. Im Zuge ihrer Tätigkeit hat sie mittlerweile über hundert Bücher ins Deutsche übertragen.
Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel «Cold Clay. A Shady Hollow Mystery» im Verlag Vintage Books/Penguin Random House, LLC, New York.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juli 2025
Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
«Cold Clay» Copyright © 2017 by Jocelyn Koehler and Sharon Nagel
Redaktion Nadia Al Kureischi
Karten Shady Hollow und Umgebung Perry De La Vega
Covergestaltung zero-media.net, München
Coverabbildung FinePic®, München
ISBN 978-3-644-01858-7
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Kalte Spur in Shady Hollow ist eine Geschichte über Waldtiere und spielt im Städtchen Shady Hollow. Hin und wieder wird der Leser vielleicht nachdenklich innehalten und sich fragen, welches Geheimnis der Größenverhältnisse es einer Maus und einem Elch gestattet, im selben Lokal zu verkehren, oder er könnte sich über den höflichen Umgang von Füchsen mit Kaninchen wundern, Tieren, die sonst oft entgegengesetzte Positionen im Spektrum von Jäger und Beute einnehmen. Und ein Skeptiker mit einem Auge fürs Detail könnte sich sogar fragen, warum eine Ratte einen Herrenausstatter aufsucht. Wir unsererseits bitten solche Skeptiker, sich ihre eigene Hutsammlung anzuschauen, bevor sie über die anderer Leute urteilen.
Wir rufen dem geneigten Leser in Erinnerung, dass dies ein fiktives Werk und die Ähnlichkeit der Protagonisten mit echten Geschöpfen nur nebensächlich ist. Falls es Ihnen aus der Verlegenheit hilft, schlagen wir vor, dass Sie sich die Figuren einfach als Menschen vorstellen, deren Charakterzüge an Tiere erinnern … und sind wir nicht alle schon einmal solchen Leuten begegnet?
Dies vorangestellt, laden wir Sie herzlich ein, nach Shady Hollow zurückzukehren.
Vera Vixen: Die schlaue Fuchsreporterin hat ein Näschen für Probleme und den Wunsch, die Wahrheit herauszufinden, wohin der Weg auch führt.
Chief Theodore Meade: Groß, stark und kämpferisch, wie sie sind, geben Bären ausgezeichnete Polizisten ab. Doch Chief Meade wirkt ungewöhnlich desinteressiert daran, seine Fälle zu lösen, wenn er stattdessen angeln gehen kann.
Deputy Orville Braun: Der große Braunbär bildet die härter arbeitende Hälfte der Polizeimannschaft von Shady Hollow. Er hält sich streng an die Buchstaben des Gesetzes. Doch sein Alphabet hat große Lücken.
SW Stein: Das stets auf einer Zigarre herumkauende Stinktier ist der Herausgeber des Shady Hollow Herald. SW («Alles schwarz auf weiß») liebt gute Schlagzeilen.
Lenore Lee: Eine nachtschwarze Rabendame. Die Besitzerin der Buchhandlung Nimmermehr liebt Krimis.
Joe Elkin: Dieser warmherzige Gigant von einem Elch führt das Café des Städtchens – Treffpunkt der Einheimischen. Wenn es ein Gerücht gibt, hat Joe ganz sicher davon gehört, doch diesmal ist er selbst Gegenstand des Klatsches.
Joe Elkin junior: Joes einziger Sohn und sein ganzer Stolz. Doch seine Kindheit war weniger sonnig, als man es sich wünschen würde.
Julia Elkin: Joes Frau ließ ihn vor Jahren sitzen, ganz Shady Hollow hat nie wieder von ihr gehört.
Octavia Grey: Die eindrucksvolle Nerzdame ist die neueste Einwohnerin der Stadt. Sie kennt sich mit der Etikette aus und versteht sich darauf, anderen den Kopf zu verdrehen.
Gladys Honeysuckle: Als umtriebige Klatschbase gibt es nichts, was Gladys nicht weiß. Sie hasst es, wenn jemand sie mit einem saftigen Detail aussticht.
Sun Li: Der Pandabär führt den Bambushain, ein Restaurant mit ungewöhnlichen vegetarischen Gerichten, für die man sterben könnte.
Howard Chitters: Früher einmal ein bescheidener Buchhalter und jetzt de facto der Chef der Sägemühle. Chitters ist ein Musterbeispiel dafür, wie ein Mord den Alltagstrott aufbrechen kann.
Esmeralda von Beaverpelt: Die Tochter der einst reichsten Familie der Stadt ist inzwischen eine hart arbeitende Kellnerin im Café. Esme kann gut rechnen und noch besser mit Geld umgehen.
Anastasia von Beaverpelt: Esmes snobistische Schwester hat sich noch immer nicht auf die veränderten Umstände der Familie eingestellt. Und jeder im Städtchen weiß es.
Edith von Beaverpelt: Witwe, Sägemühlenbesitzerin und Philanthropin. Edith liebt ihre Töchter und hasst Skandale.
Barry Greenfield: Ein altgedienter Reporter des Herald. Dieser alte Hase hat schon alles gesehen und erinnert sich auch an alles.
Lefty: Als Kleinkrimineller lebt der maskierte Waschbär im dunkelsten Teil von Shady Hollow. Er hat ein Herz aus Gold (nur dürfen Sie ihn nicht fragen, woher er es hat).
Ambrosius Heidegger: Professor der Philosophie und ganz allgemein ein Alleswisser. Die Eule ist das klügste Tier im Wald und sorgt dafür, dass keiner das je vergisst.
Wie man schon aus dem Namen schließen kann, liegt Shady Hollow tief im Wald in einem breiten Tal zwischen zwei Bergen. Womit man wohl weniger rechnet, ist die Tatsache, dass die Bewohner des Städtchens ausnahmslos Tiere sind und vielen verschiedenen Arten mit unterschiedlichem Charakter angehören. Wie aber kann es sein, dass ein Kaninchen Seite an Seite mit einem Fuchs lebt und arbeitet? Oder warum lesen ein Spatz und ein Bär dieselbe Zeitung? Oder praktischer gefragt, wo arbeiten das Kaninchen und der Fuchs und welche Schlagzeile steht auf Seite eins der Zeitung?
Das sind Fragen, wie Journalisten sie stellen. In ihrem Bau fragte Vera Vixen sich tatsächlich gerade, wie die Schlagzeile der nächsten Ausgabe des Shady Hollow Herald lauten würde und ob sie eine bessere Titelgeschichte finden könnte. Sie liebte die kleine Stadt, doch die war normalerweise nicht gerade der aufregendste Ort der Welt. Noch eine weitere Schlagzeile wie Der Strand des Mirror Lake schließt früher oder Die besten Wanderwege in den herbstlichen Wäldern könnte sie womöglich nicht ertragen. Das waren keine Aufmacher, die Lust auf mehr machten.
«Es muss doch heute irgendwas geben, worüber zu schreiben sich lohnt», brummte sie. «Ich muss es nur finden.»
Als sie ihr gemütliches Zuhause verließ, nahm sie einen Wollschal vom Haken bei der Tür und warf ihn sich über die Schultern, zufrieden mit dem Kontrast, den das tiefe Waldgrün zu ihrem dichten roten Pelz bildete. Sie rückte die Nickelbrille auf ihrer Nase zurecht, setzte ihren Filzhut ein bisschen schiefer auf, damit sie mehr nach Reporterin aussah, und trat nach draußen, um den Tag zu begrüßen.
Frühmorgens war es jetzt im Herbst schon recht kühl, und oft glitt in der Nacht der Nebel in die Stadt, schlängelte sich durch die stillen Straßen und legte sich um die Bäume im Park. Frühaufsteher mussten sich zähen grauen Schleiern stellen, die die Details der Welt verbargen und Shady Hollow so wirken ließen, als wäre es ein Traum seiner selbst. Doch bald würde die Sonne über den Berggrat in der Ferne steigen und den Nebel wegbrennen, bis die letzten zerfetzten Schleier sich in den Wald flüchteten. Dann würde das Leben in der Stadt erwachen, die Tiere würden aus ihren Häusern oder Bauen kommen und zur Arbeit gehen oder auf der Straße flanieren. Heute verhielt sich der Nebel ausgesprochen pittoresk, und Vera sog lächelnd die kühle Luft ein. Trotz der Ruhe empfand sie einen Anflug von Erregung, wie nur ein Herbstmorgen ihn bietet. Etwas in der frischen Luft und das goldene Laub der Bäume sagten Veränderungen voraus. Aber welche Art von Veränderungen? Tja, das war die Frage.
Sie schnürte den Weg entlang zum Stadtzentrum, wo die Zeitungsredaktion lag. Als sie eine Kreuzung überquerte, fiel ihr ein aufgeregtes Treiben am anderen Ende der Elm Street ins Auge. Sie blieb stehen, um genauer hinzuschauen. Vor einem leer stehenden Gebäude parkte ein großer Planwagen. Frettchen eilten hin und her, luden Kisten und Koffer aus dem Wagen und trugen sie ins Gebäude, in dessen schmalem Eingang sie einander ausweichen mussten.
Veras Interesse war geweckt. Das Haus war schon länger zu vermieten gewesen, und das leere Büro im Erdgeschoss wirkte in der ansonsten geschäftigen Straße ziemlich düster. Vera wusste, dass das Obergeschoss sehr groß war, aber sie war nie dort drin gewesen. Jemand musste das Haus gemietet haben, ein Neuzugang in Shady Hollow. Ein Einheimischer hätte sonst längst schon davon erzählt.
«Entschuldigung», rief Vera den Frettchen zu, die aber nicht von ihrer Arbeit aufblickten. «Entschuldigung!» Sie trabte näher und blieb unmittelbar vor dem Treiben stehen.
Ein Frettchen hielt endlich inne und sah sie alarmiert an. «Hallo, ja, was ist? Wir haben nichts zerbrochen! Ehrenwort! Wir geben eine Nichts-zerbricht-Garantie.»
«Ich möchte lediglich wissen, wer hier einzieht», erklärte Vera.
Das Frettchen schüttelte seinen dunklen Kopf. «Das kann ich Ihnen nicht sagen, tut mir leid! Wir transportieren nur die Fracht.»
«Aber wer bezahlt Sie denn? Das wissen Sie doch bestimmt», sagte sie. «Wo kommt die Fracht denn her?»
«Die Ladung wurde flussaufwärts verschifft, Ma’am», antwortete das Frettchen und bedeutete mit einem Achselzucken, dass es wirklich vollkommen ahnungslos war. «Bezahlt wurde bar. Tut mir leid! Pass auf die Lampe auf!» Diesen Befehl schrie es einem anderen Frettchen zu, das so aussah, als würde es gleich eine schicke mundgeblasene Lampe fallen lassen. Veras Gesprächspartner rannte los, um das Objekt davor zu retten, in tausend Scherben auf dem Boden zu zerbrechen.
Vera verstand den Wink und stellte den Arbeitern keine weiteren Fragen. Gern hätte sie noch ein wenig verweilt und sich die Sachen angeschaut, um daraus auf die Identität des Neulings zu schließen, doch sie musste los, in die Redaktion. Sie wollte unbedingt wissen, ob sie Gladys Honeysuckle, die Klatschbase der Stadt, ausgestochen hatte. Und so eilte sie weiter.
Was würde der neue Einwohner oder die neue Einwohnerin nach Shady Hollow mitbringen? Vera hatte gelernt, dass man selbst in einem kleinen Städtchen niemals vor Überraschungen sicher war. Auch wenn die derzeitigen faden Schlagzeilen sie nervten, hatte sie keinerlei Bedürfnis, noch einmal so etwas wie die bestürzenden Ereignisse des Sommers durchzumachen, als sie dem Tod nur knapp entronnen war. Noch nie zuvor hatten die Leute von Shady Hollow etwas so Schreckliches erlebt: nicht nur einen, sondern gleich zwei Morde! Sogar die Sägemühle – der größte Arbeitgeber der Stadt und der Lebensnerv der einheimischen Wirtschaft – stand geraume Zeit still deswegen. Das hatte es noch nie gegeben. Vera war ein wenig zu eifrig hinter der Mordstory her gewesen, und sie hatte Glück, dass sie noch am Leben war und sich über die derzeitige Nachrichtenflaute ärgern konnte.
Sie blieb stehen, als sie eine Ausgabe der heutigen Zeitung auf einer Vortreppe liegen sah. «Für den Strand von Mirror Lake ist der Sommer vorbei», las sie laut. «Hab ich’s doch gesagt.»
Gleich darauf seufzte sie. Sie sollte froh sein. Das Leben verlief wieder normal, zumindest hatte es den Anschein. Die Tiere gingen ihren üblichen Beschäftigungen nach, und der Tratsch und Klatsch kreiste um Alltagsdinge. Lieber Gemecker über die neuesten Tapeten der Nachbarn als Schreckensnachrichten über Mord und Untreue.
«Ist alles in Ordnung, Miss Vixen?», ertönte hinter ihr eine tiefe Stimme.
Vera drehte sich um und entdeckte Deputy Orville Braun. Sie musste den Kopf heben, weil der Braunbär so viel größer war als sie. In seiner Uniform und mit der Polizeimütze auf dem Kopf sah er sehr professionell aus, allerdings wirkte das freundliche Funkeln in seinen Augen so gar nicht polizeigemäß.
Sie lächelte ihn an. «Mich plagt nichts als ein wenig Langeweile.»
«Langeweile? Ich habe gehört, dass Kaffee und Frühstücksbrötchen ein Gegenmittel sind», erwiderte Orville. «Es wäre mir eine Ehre, wenn du mir in Joes Kaffeekanne Gesellschaft leisten würdest. Ich geleite dich sicher dorthin», fügte er hinzu.
«Zweifellos», gab Vera mit einem Lachen zurück, und dann gingen sie gemeinsam los und überquerten die Straße. Nicht, dass im beliebtesten Café der Stadt irgendeine Gefahr gelauert hätte. Aber Orville zeigte sich sehr besorgt um Veras Sicherheit, seit er vor nicht allzu langer Zeit geholfen hatte, ihr das Leben zu retten. Er begleitete sie häufig von der Arbeit nach Hause, sorgte dafür, dass sie während der Genesungszeit gut aß, oder schenkte ihr Blumen, um sie aufzumuntern … Doch vielleicht kam das auch alles daher, dass sie begonnen hatten, miteinander auszugehen. Obwohl es nicht mehr als ein gelegentlicher Restaurantbesuch am Abend mit anschließendem Spaziergang war, musste Vera zugeben, dass ihre Gefühle für Orville täglich stärker wurden.
Sie gingen die Sache langsam an, aber Vera freute sich stets auf die Ausgehabende. Es machte riesigen Spaß, sich für jemanden in Schale zu werfen, und die Aussicht munterte sie die ganze Woche auf. Inzwischen schaute sie sich auch nicht mehr ständig nach jemandem um, der sie bedrohen könnte.
Als sie zur Kaffeekanne an der Ecke Main Street und Walnut Street kamen, hielt Orville die Tür für sie auf.
Sie trat ein und winkte Joe zu, der hinter der Theke stand.
«Schau mal einer an, wer da ist», sagte der Besitzer. Joe war ein riesiger, warmherziger Elch, der für jeden Besucher ein Lächeln übrighatte. «Miss Vixen mit niemand anderem als unserem wackeren Deputy.»
«Wir sind uns gerade auf der Straße begegnet», erklärte Vera rasch, weil es noch recht früh am Tag war.
«Und wahrscheinlich hattet ihr beide ein bisschen Appetit.» Joe deutete mit dem riesigen Kopf auf einen Tisch und lud sie ein, sich zu setzen.
Vera folgte der Aufforderung, und Orville nahm ihr gegenüber Platz. Sie ignorierten die anderen Frühstücksgäste entschlossen, denen natürlich nicht entgangen sein konnte, dass sich zwischen den beiden eine Liebesgeschichte anbahnte.
Erst als Joe zwei Becher und eine Kaffeekanne brachte, schaute Vera sich im Café nach den anderen Gästen um. Garantiert würde niemand glauben, dass sie einander zufällig über den Weg gelaufen waren. In Shady Hollow würde sich sofort das Gerücht über eine Verabredung verbreiten. Jawohl, die Einwohner brauchten neuen Stoff für Klatschgeschichten. Vera wollte definitiv nicht, dass ausgerechnet über Orville und sie selbst geredet wurde, aber sie konnte nicht viel dagegen unternehmen.
«Und auch noch zwei Frühstücksbrötchen, bitte», bestellte Orville. «Die mit den Pekannüssen.»
«Kommt sofort, Deputy!» Joe salutierte scherzhaft und trottete davon.
«Nun … Deputy», sagte Vera. Sie verhielt sich so, als würden sie einander kaum kennen, was albern war, aber sich spontan ergab. Die ständige Kontrolle durch die Mitbürger war einer der Nachteile des Kleinstadtlebens. In einer Großstadt wäre es niemandem aufgefallen, wenn Orville und sie täglich miteinander ausgegangen wären, doch hier, in Shady Hollow, entging den Leuten nichts. «Bestimmt gefällt es dir, dass derzeit Ruhe herrscht.»
«Richtig genießen kann ich es nicht.» Orville warf einen Blick aus dem Fenster auf die Straße, wo immer mehr Passanten auf dem Weg zur Arbeit oder zur Schule waren. «Der Chief ist weg, und jemand muss sich um den laufenden Betrieb kümmern. Viel ist allerdings nicht zu tun. Ich wusste, dass ich die Wache verlassen konnte, um schnell einen Happen zu essen. Für Verbrechen ist es noch zu früh am Morgen! Wenn auch nicht zu früh zum Angeln», fügte er nur mit einer Spur von Verärgerung hinzu.
Vera schluckte die Bemerkung hinunter, dass der Chief ja ständig die Arbeit fürs Angeln liegen ließ, und lächelte ihren Begleiter an. Wenn Orville die Illusion aufrechterhalten wollte, dass Chief Meade die Polizeiwache leitete, wer war sie dann, dem zu widersprechen? In der Stadt war die Situation ein offenes Geheimnis. Trotzdem wunderte sie sich über Orvilles Geduld. Sie hatte noch nicht den Mut gefasst, ihn zu fragen, warum er sich mit Chief Meades halbherzigen Bemühungen abfand.
Die bestellten Frühstücksbrötchen wurden serviert, und Vera vergaß ihren Gedankengang eine Weile, während sie das wunderbar klebrige Gebäck auseinanderzupfte und es sich schmecken ließ.
«Weißt du irgendwas über den neuen Mieter in der Elm Street?», fragte sie, nachdem sie sich das Toffee von den Pfoten geleckt hatte. «Heute Morgen habe ich die Umzugsleute gesehen.»
Orville schüttelte den Kopf. «Vor ein paar Wochen ist mir aufgefallen, dass das Zu-vermieten-Schild aus dem Fenster verschwunden war, aber ich dachte, Mr. Blakely hätte die Suche vielleicht für den Rest des Jahres aufgegeben. Jedenfalls ist es eine gute Nachricht, dass jemand einzieht. Das Gebäude ist zu groß und zugig, um leer zu stehen, und dadurch wirkte die ganze Straße zu ruhig.»
Vera wusste, dass Orville einen ausschließlich an Sicherheitsaspekten orientierten Blick auf die Angelegenheiten der Stadt hatte, und ein leer stehendes Gebäude wirkte immer ein wenig gefährdet.
«Dort ist viel Platz», stimmte sie zu. «Welches Geschäft wohl dort eröffnen wird?»
«Schau dir die Protokolle der Ratsversammlungen an. Alle Geschäftseröffnungen müssen registriert und vom Stadtrat genehmigt werden.» Orville war lange genug Polizist in Shady Hollow, um die Regeln zu kennen.
Vera ärgerte sich über ihre eigene Wissenslücke. «Wenn die Genehmigung erteilt wurde, warum hat der Stadtrat das dann nicht verlautbart?»
«Oh, es gibt ein dreimonatiges Zeitfenster», erklärte Orville. «Es verschafft den Neuen die Gelegenheit, ihr Geschäft zum Laufen zu bringen. Um dem Stadtrat zu zeigen, dass die Geschäftsidee funktioniert. Oder eben nicht. So oder so ist die Abstimmung keine Überraschung.»
«Ah.» Schon fühlte sie sich ein wenig besser.
In diesem Moment kam Joe und stellte zwei Schalen warme Apfelsoße auf den Tisch. «Das geht aufs Haus. Besser kann man einen Herbstmorgen gar nicht beginnen», sagte er mit seiner rauen Bassstimme.
Entzückt sog Vera den duftenden Dampf ein. «Ah, das ist toll.» Sie griff nach einem Löffel und wusste bereits, dass sie ein perfekt gewürztes Gericht erwartete. Beim Geschmack der Äpfel und der warmen Noten von Zimt und Nelken seufzte sie glücklich. «Frisch zubereitet. Das schmecke ich.»
«Die ersten Früchte der Saison», erwiderte Joe. «Aber bald gibt es mehr. Timothy sagte, der größte Teil der Ernte wird gerade erst reif. Oben in Cold Clay werden sie diese Woche viel zu tun haben.»
Die Kaninchenfamilie Leveritt bewirtschaftete die Obstplantage Cold Clay seit Generationen. Und die Obstplantagen und Beerenfelder lieferten seit vielen Jahren erstklassige Produkte. Vera hoffte, dass es noch Jahrzehnte so weitergehen würde.
«Tim hat mir gesagt, dass er dieses Jahr zusätzliche Pflücker eingestellt hat», fuhr Joe fort. «Dass er diese neuen Sorten gepflanzt hat, zahlt sich aus. Er macht gute Geschäfte und ist bestimmt sehr zufrieden mit seinem Obst.»
Später würde Vera sich Joes Worte mit einem Schaudern in Erinnerung rufen, denn die Obstplantage würde bald eine äußerst unerwartete und unwillkommene Ernte hervorbringen.
Die Besitzer der Obstplantage Cold Clay nahmen ihre Arbeit ernst, und die Anlage brachte vom Frühling bis zum ersten Schneefall ausgezeichnete Produkte hervor. Früh im Jahr leuchteten hier massenhaft dicke Beeren. Im Hochsommer reiften Früchte wie Pfirsiche und Birnen heran und wurden im Ofen zu süßen Köstlichkeiten verbacken. Der Herbst jedoch … nun, das war die Erntezeit der Äpfel. Prachtvolle Äpfel. Rot, grün und gelb! Süßlich sauer, knackig und saftig.
Der Herbst war in der Obstplantage Cold Clay die arbeitsreichste Zeit.
An diesem Tag mit kühlem, frischem Wind, an dem die Luft nach Äpfeln duftete, versammelte sich eine Mannschaft von rund zwanzig Apfelpflückern zum Einsatz. Es war eine angenehme Arbeit, die sehr beliebt war – den ganzen Tag war man draußen in der strahlenden Sonne, statt drinnen in einem Büro zu arbeiten. Die meisten Kaninchen freuten sich auf die Zeit, in der sie mit etwas, was ihnen ohnehin Spaß machte, ein wenig zusätzliches Geld verdienen konnten.
Wie schon seit Jahren hatte Timothy Leveritt auch in diesem Herbst wieder die Aufsicht über die Ernte. Er traf fast alle anfallenden Entscheidungen über Personal, Neuanpflanzungen oder Kundenlieferungen. Tatsächlich befand sich die Obstplantage aber im Gemeinschaftsbesitz aller Kaninchen, die dort arbeiteten. Nur wenige von ihnen hatten das Glück, das ganze Jahr über in Cold Clay tätig sein zu können, da Obst definitiv ein Saisongeschäft war.
«Schön, machen wir uns an die Arbeit!» Timothy deutete auf einen Stapel Flechtkörbe, die für die Ernte verwendet wurden, und dann auf die betreffenden Baumreihen. «Ich möchte, dass die Hälfte von euch die Reihe mit dem Newton Red und die andere Hälfte den Sunset erntet. Das Team, das bis zum Mittag die meisten Körbe gefüllt hat, bekommt einen Bonus!»
Während die Pflücker nach den Körben griffen, sagte Timothy zu zwei Kaninchen, die ihm am nächsten standen: «Peter und Ralph, ihr bekommt eine Sonderaufgabe. Dieser Baum am Ende der Sunset-Reihe muss raus. Er ist nie so gut gediehen wie die anderen, und dieses Jahr war es schlechter denn je. Schaufeln und Hacken liegen neben dem Stamm. Dann pflanzen wir an dieser Stelle gleich einen neuen.»
Peter und Ralph nickten und gingen zum Ende der Reihe, vorbei an den Bäumen, deren Äste und Zweige schwer mit Äpfeln behangen waren. Die Schale der hübschen Äpfel changierte in ihrem Farbton zwischen Rot und einem rosigen Orangeton, diesem Umstand verdankte der Sunset seinen Namen.
«Auf den ersten Apfel-Pie freue ich mich schon riesig», bemerkte Ralph im Gehen. «Ich erinnere mich noch daran, wie Tim die Setzlinge gepflanzt hat. Wie lange ist das jetzt her? Zehn oder elf Jahre? Von Sunset-Äpfeln hatte damals noch nie jemand gehört. Jetzt aber sind sie unsere Spitzensorte.»
Peter nickte zustimmend. Er war ein eher wortkarger Zeitgenosse und hatte Ralphs Bemerkung nichts hinzuzufügen. Im gesprenkelten Baumschatten war es angenehm, und das genügte ihm.
Leider würde dieser bestimmte Tag weniger erfreulich enden, als er begonnen hatte.
Beide Kaninchen nahmen eine Schaufel und gruben die Wurzeln des Apfelbaums auf. Der Boden war hier hart, da das Ende der Reihe weniger gut gepflegt war als andere Teile der Apfelplantage. Sie machten gute Fortschritte und stießen nach einer halben Stunde auf eine Art Grube, die den großen Wurzelballen des Apfelbaums umschloss. Weil ihnen in der Sonne heiß wurde, machten sie eine Pause.
«Was würde ich jetzt für ein Glas kühlen Apfelmost geben», sagte Ralph.
Peter nickte eifrig, seufzte und griff wieder zu seiner Schaufel. Als er mit dem Schaufelblatt auf etwas Hartes stieß, hielt er jedoch unvermittelt in der Arbeit inne. Ein Blick zeigte ihm, dass da etwas Weißes im Boden lag. Er bückte sich und wischte die Erde weg. Dies hier war weder eine Baumwurzel noch ein Stein. Es war …
«Ist das ein Knochen?», fragte Ralph, der Peters Bemühungen bemerkt hatte.
«Ich glaub schon.» Peter wischte noch mehr Erde weg. «Und zwar ein ziemlich großer.» Er streckte den Kopf aus der Grube und schaute sich um. Alle anderen Arbeiter befanden sich immer noch am anderen Ende der Reihe, stiegen Leitern hinauf, legten Äpfel in Körbe und gingen unverdrossen ihrer Arbeit nach.
Ralph verfolgte den Umriss der Knochen, die sich in der Erde abzeichneten, und begann, an einem Ende zu graben. Auch sein Schaufelblatt stieß gegen etwas, und kurz darauf deckte er einen weiteren bleichen Knochen auf. Mit beunruhigter Stimme sagte er: «Wir holen jetzt besser mal Leveritt her. Er soll sich das anschauen und dann jemanden losschicken, der die Polizei ruft.»
Nach dem Frühstück waren Orville und Vera gerade auf die Straße getreten, als ein verstört aussehendes Kaninchen auf sie zurannte.
«Deputy! Deputy!» Keuchend blieb das Kaninchen vor ihnen stehen.
«Was ist los?», fragte Orville und schaute in die Richtung, aus der das Tier kam.
«Sie müssen sich das anschauen, Sir. Oben in der Obstplantage. Mir nach, bitte!»
Vera spitzte die Ohren. Sie ahnte eine Story. «Ich komme mit.»
«Wir wissen noch nicht einmal, was passiert ist», erwiderte Orville. «Es könnte gefährlich werden.»
«Na ja, mit einem Deputy an meiner Seite ist es mit Sicherheit weniger gefährlich», konterte Vera, lächelte und ging los.
Auf dem Weg zur Obstplantage Cold Clay – der Bote war ihnen bereits vorausgerannt – spekulierten sie darüber, warum Orville wohl gerufen worden war.
«Das Kaninchen klang ganz fassungslos», bemerkte Vera. «Sie müssen etwas Schlimmes gefunden haben, sonst würden sie nicht die Polizei rufen.»
«Oder sie versuchen einfach nur, Unannehmlichkeiten vorzubeugen», erwiderte Orville. «Vielleicht sind sie in der Obstplantage auf einen betrunkenen Landstreicher gestoßen – das ist schon ein- oder zweimal vorgekommen. Könnte auch sein, dass einer der Arbeiter einem anderen die Lunchbox geklaut hat.»
Doch Vera bezweifelte, dass die Antwort so einfach sein würde. Die Panik in den Augen des Kaninchens legte etwas Schlimmeres nahe.
«Worum auch immer es sich handelt, Vera, vergiss nicht, dass ich derjenige bin, der gerufen wurde. Du kannst alles aus der Ferne beobachten, aber misch dich nicht ein. Verstanden?»
«Natürlich!» Vera nickte nachdrücklich. Sie war zu klug, um Orville auf die Zehen zu treten, wenn er arbeitete. Sie hasste es ja selbst, wenn andere das bei ihr machten.
Als die beiden auf der Obstplantage ankamen, herrschte dort Aufruhr. Die Apfelpflücker standen in Gruppen zusammen und zogen an ihren Ohren, wie Kaninchen es eben machen, wenn sie aufgeregt sind. Sie tuschelten miteinander und zeigten auf einen Haufen ausgehobener Erde. Vera erkannte Timothy Leveritt, der sofort zu ihnen eilte.
«Hallo, Deputy», sagte er zu Orville, doch sein Blick sprang zwischen dem Bären und Vera hin und her. «Könnten Sie bitte hier herantreten?» Er deutete auf das Loch und den Erdhaufen daneben.
Orville und Vera traten näher und schauten ins Erdloch – auf das ungewöhnlich große Skelett, das Ralph geduldig mit einer Kelle und einem Handfeger weiter freilegte.
«Das ist nicht gut», knurrte Orville.
Erneut begannen die Umstehenden, miteinander zu tuscheln. Timothy setzte dem Gemurmel mit einem raschen Befehl ein Ende. «Ralph, am besten hörst du jetzt auf zu graben und trittst von den, äh, Knochen zurück. Lass den Deputy den Fund untersuchen. Alle anderen, zurück an die Arbeit. Die Äpfel pflücken sich nicht von alleine.»
Das Team entfernte sich, allerdings langsam und im Pulk, als wollten die Kaninchen nichts versäumen. Sie kehrten zu den Erntebäumen zurück, doch keines nahm die Arbeit wieder auf. Vielmehr beobachteten sie den Ort der grausigen Entdeckung aus sicherer Entfernung. Im leichten Wind wehte das Gebrabbel ihrer Mutmaßungen zu Orville und Vera herüber. Die Füchsin blickte zum tiefblau leuchtenden Himmel auf, über den kleine Schäfchenwölkchen trieben. Es war wirklich ein zu schöner Tag für ein so trauriges Ereignis.
Orville stieg in das Loch hinunter und besah sich die freigelegten Gebeine genauer.
«Was meinst du?», rief Vera. Es juckte sie in den Zehen, ebenfalls hinunterzuspringen, doch sie wusste, dass Orville unwirsch reagieren würde, wenn sie ihm auf die Pelle rückte.
Der Bär blickte zu ihr auf. «Das wird eine Weile dauern. Ich sollte jemanden kommen lassen, der sich das Skelett anschaut.»
«Was war es denn? Was für ein Tier, meine ich?»
«Kann ich nicht sagen. Ein großes Tier. Vielleicht ein Bär», fügte er schaudernd hinzu. «Was immer es war, die Leiche hat hier lange gelegen. Das Skelett ist alt.»
«Das ist also … gut?» Wenn in oder um Shady Hollow ein großes Tier verschwunden wäre, hätte jeder davon gehört. Es erschien also einleuchtend, dass die Gebeine schon eine Weile hier ruhten. Aber wieso waren sie überhaupt hier und nicht beispielsweise auf dem Friedhof?
«Vera, würdest du Tim darum bitten, einen Boten zu Dr. Breitkopf zu schicken? Er ist heute zum Glück in der Stadt.»
Vera entfernte sich vom Fundort und begab sich zu Timothy Leveritt. Der rief sofort eine seiner Arbeiterinnen zu sich, eine schlanke braune Kaninchendame namens Dahlia, und gab ihr den Auftrag, dem Gerichtsmediziner Bescheid zu geben.
«Sagen Sie ihr, sie soll sofort wieder zurückkommen», fügte Vera hinzu. «Vom Doktor abgesehen, soll sie mit niemandem in der Stadt sprechen. Versuchen Sie, auch Ihre restlichen Arbeiter hier zu halten. Bestimmt will Deputy Orville mit allen reden.» Tatsächlich wollte Vera vermeiden, dass sich die Nachricht von der Entdeckung herumsprach, bevor sie wenigstens einen kurzen Artikel darüber verfasst hatte. Sie schlug eine neue Seite in ihrem Notizbuch auf und hielt ihre Eindrücke vom Fundort fest.
Orvilles erster Schritt bestand darin, das Loch mit einem Seil abzusperren, das ein Arbeiter ihm brachte. Überall wimmelten Kaninchen herum, und er wollte nicht, dass eines von ihnen Hinweise zerstörte.
«Vielleicht ist das Tier an einer natürlichen Ursache gestorben, und ein Angehöriger hat es aus unbekanntem Grund hier vergraben», schlug Vera vor, die wieder an den Rand des großen Lochs getreten war. Ein großer Schädel war teilweise freigelegt worden. Sie blinzelte, konnte aber nicht sagen, welches Tier das einmal gewesen sein könnte.
«Möglich.» Orville klang geistesabwesend. «Vermutungen bringen erst etwas, wenn wir mehr Hinweise haben. Das steht eindeutig im Großen Buch der Polizeiarbeit.» Das Buch, von dem Orville sprach, war ein großer, mit Eselsohren versehener Band, der im Regal der Polizeiwache stand und meist nur in Krisenzeiten konsultiert wurde.
«Was hat es zum Auffinden von Gebeinen zu sagen?», fragte sie.
«Man soll sie erst einmal nicht anrühren.» Orville blickte zu ihr auf. «Was darin über den Umgang mit neugierigen Reporterinnen steht, habe ich vergessen. Wie wäre es, wenn du dich vom Fundort entfernst, Vera? Bitte. Das hier ist wahrscheinlich nur ein altes Skelett, das schon seit Jahrzehnten hier ruht.»
Mit einem Schnauben zog Vera sich in den Schatten eines Apfelbaums auf der anderen Seite der Baumreihe zurück. Im Gegensatz zum Polizeibären hoffte sie, dass die Story sich als ein wenig interessanter erweisen würde und es sich nicht nur um alte, nicht identifizierbare Knochen handelte. Bei dem Gedanken an das Potenzial der Artikel, die sie schreiben könnte, spürte sie einen Anflug von Erregung. Sie war keine Ärztin, aber sie hatte Augen im Kopf, und sie war sich ziemlich sicher, vor ihrer Verbannung gesehen zu haben, dass der Schädel beschädigt war.
Die Sonne stieg höher, und der Tag wurde wärmer. Vera interviewte alle Arbeiter, an die sie herankam, und notierte deren Reaktionen auf den Fund in ihrem Büchlein.
Als Dr. Breitkopf eintraf, trat unter den Pflückern erneut Unruhe ein. Die lange kupferfarbene Schlange war äußerst intelligent und hatte einen Blick, der die meisten Tiere nervös machte. Zwar war Dr. Breitkopf für seine ausgezeichnete Arbeit bekannt und mit Sicherheit ein zivilisierter Schlangenmann, doch etwas an ihm wirkte ein wenig abstoßend. Nach Veras Meinung lag es daran, dass der Gesichtsausdruck von Schlangen etwas Verstörendes hatte. Man konnte nie sagen, ob diese Tiere glücklich waren, wütend oder … hungrig.
«Esss hießßß, man brauche mich.» Dr. Breitkopf schlängelte durch die Wiese auf den Deputy zu, der unmittelbar neben dem Grab stand.
«Wir haben Gebeine gefunden. Gebeine von einem sehr großen Tier.» Orville deutete auf das Loch. «Ich muss alles wissen, was Sie mir darüber sagen können.»
Der Schlangenmann nickte bestätigend, erwiderte aber nichts. Unter dem Seil, das allen Nichtzuständigen den Zugang zum Bereich versperrte, schlüpfte er mühelos hindurch – kein Problem für eine Schlange – und näherte sich dem Skelett. Vera gab ihrem Verlangen nach, das Geschehen zu verfolgen, und schob sich ein Stück näher heran.
Dr. Breitkopf glitt über mehrere freigelegte Knochen hinweg, legte den Schwanz an, schlang ihn um sie herum und maß so ihre Größe und Dicke. Während dieser Arbeit gab er leise zischelnde Geräusche von sich. «Ja, interesssant, und außßßßergewöhnlich.» Als er zum Schädel gelangte, schob er den Schwanz in eine der beiden Augenhöhlen, hob ihn als Ganzes in die Höhe und betrachtete ihn mit seinen schwarzen, niemals blinzelnden Augen.
Nach einer sorgfältigen Untersuchung legte der Gerichtsmediziner den Schädel sanft ab und kehrte zu Orville zurück.
«Was war es? Ein Bär?»
Dr. Breitkopf wiegte sich von einer Seite zur anderen. «Nein. Dasss Ergebnisss der Größßßenprüfung issst eindeutig. Im Wald gibt esss nur ein einzzzigesss Geschöpf, dasss einen größßßeren Oberschenkelknochen hat alsss der mächtige Braunbär. Und diesssesss Tier issst der Elch.»
«Ein Elch?» Orville schaute sowohl verblüfft als auch erleichtert Kein Tier sah sein unausweichliches Schicksal gern so unverhüllt vor Augen. «Wie lange liegt sein Tod zurück?»
Dr. Breitkopf stieß einen sanft zischelnden Seufzer aus. «Jahre. Genaueresss kann ich Ihnen sssagen, wenn ich im Labor ein paar Tessstsss an den Knochen durchgeführt habe. Zur Todesssursssache äußßßere ich mich erssst, wenn ich allesss sssorgfältiger untersssucht habe.»
Über diese Aussage war Vera nicht erstaunt. Dr. Breitkopf machte seine Arbeit gut und vermied es, Mutmaßungen anzustellen, bis er alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft hatte.
Orville bedankte sich beim Gerichtsmediziner, dass er so schnell gekommen war, und wandte sich dann Vera zu.
«Sieht so aus, als müsste ich die Knochen ins Labor des Doktors bringen lassen. Es könnte eine Weile dauern, bis wir mehr wissen. Vermutlich wirst du noch vor dem Abend einen Artikel verfassen?»
«Es ist eine Nachricht, selbst wenn wir die Einzelheiten noch nicht kennen», antwortete Vera. «Und jetzt tippe ich das hier mal besser. Bis später, Orville.»
Vera beschloss, dass sie am Fundort zumindest vorläufig alles erfahren hatte, was möglich war. Also begab sie sich ins Städtchen zurück. Doch statt auf direktem Weg in die Redaktion zu gehen, machte sie einen kurzen Umweg über die Buchhandlung Nimmermehr, wo ihre beste Freundin Lenore fast immer anzutreffen war.
Die Buchhandlung befand sich in einem Gebäude, das höher war als alle Häuser rundum – tatsächlich war es ein umgewidmeter Getreidespeicher. Zwar stand dieser inzwischen an der Hauptkreuzung von Shady Hollow, doch einstmals bei seiner Erbauung war diese Ecke noch plattes Land gewesen, wie man sagte. In dem hohen, schmalen Bau hatte man während der Wintermonate Getreide gelagert. Schließlich wurde es jedoch nicht mehr für diesen Zweck gebraucht.
Da sich die Stadt inzwischen ausgebreitet hatte, stand der Speicher plötzlich mitten im Zentrum, während sich die landwirtschaftlich genutzte Fläche weiter nach draußen verlagert hatte. Zum Abreißen war das Gebäude jedoch zu groß, und so stand es viele Jahre lang einfach nur da, ein Symbol der Vergangenheit, und wurde allmählich baufällig. Der Schandfleck verärgerte einige Einwohner, doch erst der Blick aus der Vogelperspektive enthüllte das wahre Potenzial der Lokalität. Die Sicht von oben hatte Lenore Lee gezeigt, was sie mit dem Gebäude anfangen konnte. Nach Monaten der Restaurierung verkündete sie die Eröffnung ihres Ladens Nimmermehr, der ersten Buchhandlung von Shady Hollow.
Die Höhe des Gebäudes nutzte sie zu ihrem Vorteil: Jedes Stockwerk war einem eigenen Literaturbereich gewidmet – Belletristik, Geschichte, Philosophie und mehr. Die Bücher säumten die Außenwände, und das Zentrum des Gebäudes war ein Lichthof, sodass das Stöbern in den Regalen sich so anfühlte, als ginge man von einem Balkon zum nächsten wie durch eine Galerie. Ein Kunde konnte sich in der Geschichtsabteilung übers Geländer beugen und sehen, wer auf dem Balkon gegenüber in den Memoiren blätterte.
Die Buchhandlung hatte im Städtchen eine Leerstelle ausgefüllt, und Lenore hatte reichlich zu tun.
Beim Betreten des Ladens stieß Vera einen tiefen Seufzer aus. Er war eine Oase der Ruhe, denn im Moment waren kaum Kunden da. Manche Stadttiere nutzten erst ihre Mittagspause, um ein wenig in den Büchern zu blättern.
Die Rabendame Lenore hatte das fröhliche Klingeln der Türglocke gehört und ließ sich aus dem obersten Geschoss herabgleiten, wo sie das Inventar der Philosophieabteilung aufgenommen hatte. Sie hatte ihren Laden nämlich so eingerichtet, dass sie alle Geschosse per Flügelschlag erreichen konnte. (Für die ungeflügelten Kunden gab es eine Treppe.)