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Liv Sievers

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Beschreibung

In der Kältekammer des Todes  Gleich zwei brutale Morde beschäftigen Kriminalkommissarin Vanessa Lux und ihren Kollegen Falk Wolff: Unter Bergen von Schnee wird im Harz ein Mann gefunden. Sein dürftig bekleideter Leichnam weist schwerste Misshandlungen auf. Einige Tage später wird in einem Schlachthof die Geschäftsführerin ermordet und furchtbar zugerichtet entdeckt. Die Opfer haben offensichtlich nicht das Geringste miteinander zu tun, genauso wenig wie die Tatorte. Oder vielleicht doch? Irgendetwas sagt Vanessa, dass es eine Verbindung zwischen den beiden Taten gibt ...

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Kältekammer

Die Autorin

LIV SIEVERS liebt es, die geheimsten Wünsche, Träume und Ängste ihrer Mitmenschen zu erforschen. Als Leiterin von Instituts- und Museumsbibliotheken hat sie nicht nur Zugang zum Wissen der Menschheit, sondern auch zu den Abgründen, aus denen dieses Wissen geschöpft wurde. Nach Stationen in Hannover, Köln und Washington, D. C. lebt und arbeitet Liv Sievers heute in Niedersachsen.Von Liv Sievers ist in unserem Hause erschienen:Lagerraum 113

Das Buch

Gleich zwei brutale Morde beschäftigen Kriminalkommissarin Vanessa Lux und ihren Kollegen Falk Wolff: Unter Bergen von Schnee wird im Harz ein Mann gefunden. Sein dürftig bekleideter Leichnam weist schwerste Misshandlungen auf. Einige Tage später wird in einem Schlachthof die Geschäftsführerin ermordet und furchtbar zugerichtet entdeckt. Die Opfer haben offensichtlich nicht das Geringste miteinander zu tun, genauso wenig wie die Tatorte. Oder vielleicht doch? Irgendetwas sagt Vanessa, dass es eine Verbindung zwischen den beiden Taten gibt ...

Liv Sievers

Kältekammer

Kriminalroman

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

ISBN 978-3-8437-2821-8© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®, MünchenAutorinnenfoto: privatE-Book-Konvertierung powered by pepyrus

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Prolog

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Cover

Titelseite

Inhalt

Prolog

Prolog

Angespannt wartete er auf das Geräusch des Schlüssels, das die Ankunft seines Entführers ankündigen würde. Eigentlich hätte er schon längst da sein müssen. Oder hatte ihn sein Zeitgefühl jetzt völlig verlassen? Er konnte nicht genau sagen, ob er seit einem Tag oder seit einer Woche in dieser Dunkelheit gefangen war. Jedenfalls kam es ihm ewig vor, unendlich lange Wartezeiten, gefolgt von schierer Panik. Konstantin hielt diese Ungewissheit nicht mehr aus. Sein Arzt hatte ihm gesagt, er solle wegen seines Bluthochdrucks möglichst jede Art von Stress vermeiden, und jetzt fragte er sich, ob er an einem Herzinfarkt sterben würde.

Er konnte nicht mal sagen, wie er hierhergekommen war. Gegen Mittag war er zu einer Wanderung im Nationalpark aufgebrochen. Die Sonne schien, und er hatte tatsächlich das Gefühl gehabt, ein wenig zu sich selbst zu finden. Das Leben auf der politischen Überholspur konnte ziemlich anstrengend sein. Hier interessierte sich niemand für ihn, und er konnte für ein paar Tage einfach nur er selbst sein. Auf einer Anhöhe hatte er angehalten und ein wenig verschnauft. Was dann passiert war, wusste er nicht mehr. Nur dass er unbestimmte Zeit später mit einem schmerzenden Schädel in dieser Hütte aufgewacht war; die Hände waren an einen Ring in der Wand gefesselt gewesen. Wahrscheinlich hatte der Entführer ihm einen Schlag auf den Kopf verpasst, was auch seine Kopfschmerzen erklären würde, und ihn dann hierhergeschleppt – wo auch immer hier war. Konstantin hatte nur noch seine Unterwäsche an, und es war kalt und zugig in der Hütte. Wie in einer verdammten Kältekammer!

Beim ersten Mal hatte der Entführer nichts gesagt, ihn nur geringschätzig angesehen – jedenfalls war ihm das trotz der Skimaske so vorgekommen – und ihn dann allein gelassen. Konstantin konnte sich nicht entscheiden, was schlimmer war: die Wartezeiten oder die quälenden Minuten, wenn der Entführer zurückkam, ihm etwas Wasser gab und ihm sagte, er würde für seine Verfehlungen zur Rechenschaft gezogen. Welche Verfehlungen, verdammt noch mal? Er war Politiker, in seinem Leben wimmelte es davon! Immer wieder verlieh der Entführer seinen Erklärungen mit einem dicken Ast Nachdruck. Konstantins Rückseite war übersät von Blutergüssen, zumindest fühlte es sich so an.

Erneut lauschte Konstantin, doch außer dem Heulen des Winds war nichts zu hören. Inzwischen musste die Polizei längst über sein Verschwinden informiert sein, aber er bezweifelte, dass sie ihn hier fanden. Wie sollten sie auch, er hatte niemandem gesagt, wohin er fahren würde, und unter falschem Namen eingecheckt. Mittlerweile glaubte er auch nicht mehr daran, dass der Entführer ihn gehen ließe. Die ganze Zeit hatte er nichts zu essen bekommen, und er wurde immer schwächer. Auch zu trinken bekam er nur sporadisch, gerade so viel, dass er nicht verdurstete. Er hatte bereits versucht zu schreien, doch niemand war gekommen. Da sonst auch nichts zu hören war, vermutete er, dass die Hütte sehr abgelegen stand. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand vorbeikam und ihn hier entdeckte, war äußerst gering.

Nein, er musste sich selbst befreien, das lag ihm sowieso mehr, als einfach abzuwarten. Während der Wartezeiten hatte er stetig versucht, den metallenen Ring zu lockern. Noch einmal zog er daran, erst nur mit den Armen, dann legte er sein gesamtes Gewicht hinein. Das Verlangen, sich zu befreien und die Hütte zu verlassen, wurde immer stärker. Er musste hier weg sein, bevor sein Entführer zurückkam! Die Verzweiflung verlieh ihm enorme Kraft, und schließlich gab der Ring ein Stück nach. Immer wieder hängte Konstantin sich daran, bis seine Handgelenke aufgescheuert waren, aber das war ihm egal. Alles war egal, solange er sich endlich befreien konnte.

Mit einem Ruck brach die Befestigung aus der Wand, und Konstantin stürzte zu Boden. Schmerz schoss durch seinen Rücken und die Gliedmaßen, aber er ignorierte es. Wenn der Entführer ihn so fand, würde er ganz sicher dafür sorgen, dass Konstantin nie wieder fliehen konnte. Er musste schnell sein. Rasch kam er auf die Füße und taumelte. Ihm wurde schwarz vor Augen, und er musste sich an die Wand lehnen, um das Gleichgewicht zu halten. Offenbar war er noch schwächer als gedacht. Das machte ihm Angst. Noch nie hatte er sich so ausgeliefert gefühlt, so allein. Etwas klapperte draußen, und er wusste, dass seine Zeit ablief. Mühsam entledigte er sich mithilfe seiner Zähne der Fesseln und schleuderte den Ring von sich. Das scheppernde Geräusch ließ ihn erstarren. Als nichts passierte, atmete er erleichtert auf.

In der Hütte war es kalt, aber draußen im Wind würde es noch viel kälter sein. Doch sosehr er auch nach seiner Kleidung oder wenigstens einer Decke suchte, es gab nichts. Dann musste es so gehen. Sicher war er nicht allzu weit von einer Straße entfernt, sonst hätte sein Entführer ihn nie hierherbekommen, er war schließlich kein Leichtgewicht. Vielleicht konnte er ein Auto anhalten und sich so in Sicherheit bringen. Allein der Gedanke an die Wärme in einem Wagen ließ ihn erschaudern. Entschlossen ging er zur Tür und betätigte den Griff. Nichts passierte. Nein, verdammt! Verzweifelt lief er zu einem der Fenster und öffnete es. Ein hölzerner Laden schützte es. Es dauerte einen Moment, bis er den kleinen Haken entdeckte und der Fensterladen schließlich zur Seite schwang. Ja!

Die Begeisterung hielt nur an, bis der erste eiskalte Windstoß über seinen fast nackten Körper fuhr. Verdammt, es war noch kälter als gedacht. Konstantin biss die Zähne zusammen und kletterte aus dem Fenster. Seine nackten Füße trafen auf schneebedeckten Boden. Er würde es schaffen, schließlich gab es gar keine andere Option. Der Himmel wirkte grau. Entweder würde die Dämmerung bald einsetzen, oder es würde wieder anfangen zu schneien. Beides sagte ihm, dass er sich beeilen musste. Hektisch sah er sich um. Er befand sich mitten in einer Gruppe hoher Fichten, es war kein Pfad zu erkennen. Also blieb nur querfeldein. Er entschied sich für bergab.

Mit zusammengebissenen Zähnen lief er los. Etwas bohrte sich in seine Fußsohle, und er zuckte zusammen. Ein Zweig peitschte ihm ins Gesicht, ein anderer riss an seinem Unterhemd. Es schien, als hätte sich die Natur gegen ihn verschworen. Unsinn, er war es nur nicht gewohnt, abseits der Wege unterwegs zu sein. Bald würde er auf einen Pfad treffen und leichter vorwärtskommen. Nach einiger Zeit merkte er die Schmerzen kaum noch, die seinen gesamten Körper einnahmen. Schneeflocken landeten kalt auf seiner Haut, aber auch sie fühlte er nicht mehr. Seine Zehen und Finger schmerzten erst, doch irgendwann spürte er auch sie nicht mehr.

Der Schneefall wurde immer heftiger, Konstantin konnte kaum noch die Hand vor Augen sehen, geschweige denn einen Weg erkennen. Möglicherweise verfehlte er einen um wenige Meter. Aber er konnte auch nicht stehen bleiben und warten, bis der Schneesturm vorüber war, denn bis dahin wäre er erfroren. Er hatte die Arme um den Oberkörper geschlungen, aber auch das half nicht gegen die Kälte. Inzwischen taumelte er nur noch. Immer tiefer sanken seine Füße in den Schnee. Nur sein Wille hielt ihn noch aufrecht. Der Entführer durfte nicht gewinnen! Konstantin würde nach Hause kommen und dann dafür sorgen, dass dieses Arschloch für den Rest seines Lebens eingesperrt würde. Dieser Gedanke half ihm einige Meter weiter.

Plötzlich gaben seine Beine nach, und er fiel in den Schnee. Wenigstens war die Landung weich, wie eine zärtliche Umarmung. Wie von selbst schlossen sich seine Augen, und er sank in einen traumähnlichen Zustand. Das Heulen des Winds riss ihn wieder heraus, und Konstantin versuchte, erneut auf die Beine zu kommen. Egal, was passierte, er durfte nicht das Bewusstsein verlieren. Schlaf wäre der sichere Tod. Mühsam stolperte er vorwärts, doch es gab keine rettenden Lichter. Immer mehr seiner Sinne versagten, er konnte nichts mehr sehen, in seinen Ohren rauschte es. Erneut landete er im Schnee. Nein, er musste …!

1

Kerstin Lange hob das Gesicht zur Sonne und atmete ein. Auch wenn die eiskalte Luft leicht in ihrer Lunge brannte, genoss sie jeden Augenblick. Sie liebte den Winter, wenn er kalt und schneereich war, was leider viel zu selten vorkam. Aber wenn es so weit war, schnappte sie sich ihre Schneeschuhe und fuhr in höhere Regionen, um durch den Pulverschnee zu stapfen. Zur Not nahm sie auch hartgefrorenen oder leicht matschigen Schnee, aber so machte es am meisten Spaß. Bei jedem langen Schritt rieselte der Schnee vom Schuh und beschwerte ihn nicht zusätzlich. Noch perfekter war es, wenn es in etwa zwanzig Zentimetern Tiefe eine harte Schicht Altschnee gab, aber sie würde sich nicht beschweren. Die Bedingungen heute waren traumhaft.

»Willst du da weiter die Sonne anbeten, oder gehen wir? Ich will heute noch oben ankommen.«

Die Stimme ihres Mannes riss sie aus ihren Gedanken. Sie senkte den Blick und zwinkerte, bis sie ihn deutlicher sehen konnte. Matthias grinste sie an. Glücklicherweise hielt er sich genauso gern draußen auf wie sie und teilte ihre Faszination für Schnee. Ein dicker Schal bedeckte Hals und Kinn, ein Zugeständnis an den scharfen Wind auf der Ebene. Der Schnee glitzerte, als hätte jemand Diamanten darauf verstreut, fast tat es in den Augen weh.

»Wir haben genug Zeit, lass es uns genießen, solange es geht.« Leider war bereits ein Wetterumschwung angekündigt, der den schönen Schnee in wenigen Tagen schmelzen lassen würde.

»Das hatte ich vor.« Er deutete den Hügel hinauf. »Aber von oben und möglichst, ohne andere Menschen zu treffen.«

Die Wahrscheinlichkeit war relativ gering, da sie abseits der Wanderwege oder Loipen unterwegs waren. Etwas, das im Nationalpark Harz strengstens verboten war. Aber was sollte man tun, wenn alle guten Wege entweder gespurt oder völlig zertrampelt waren? Da blieb es ihnen nur, auszuweichen und sich einen eigenen Pfad zu bahnen, was im tiefen Schnee völlig umweltschonend möglich war. Trotzdem sah sie sich von Zeit zu Zeit um, ob nicht unerwartet ein Ranger neben ihnen aus dem Gebüsch sprang. Kerstin musste über sich selbst lachen. Sie packte ihre Stöcke fester und stapfte los.

Vor ein paar Tagen hatte es einen richtigen Sturm gegeben, der an zwei Tagen massenhaft Schnee gebracht hatte, in windbedingten Ansammlungen lag er deutlich über einen Meter hoch. Da er noch nicht zusammengepresst war, konnte es passieren, dass sie unvermutet in ein Loch traten und bis zur Hüfte darin einsanken. Deshalb passte Kerstin auf, wohin sie ihren Schneeschuh stellte. Einfacher war es, wenn Matthias vor ihr ging und sie in seinen Spuren folgen konnte.

Stille umgab sie, alles schien in der Kälte schockerstarrt zu sein. Die wenigen Bäume versanken fast in dem weißen Pulver auf ihren Ästen. Die Nadeln waren von weißem Glitzer überzogen. Kerstin zog ihr Handy heraus und machte ein Foto von der Winterlandschaft. Schnell steckte sie es wieder ein und lief weiter. Ihr Atem verließ in dichten Dampfwolken ihren Mund, ihre Nasenspitze wurde langsam taub. Sie hob den Stock, und ein Schneehaufen landete an Matthias’ Rücken. Ups.

Ihr Mann blieb stehen und drehte ihr langsam das Gesicht zu. Er zog die Augenbrauen hoch. »Bisschen übermütig, was?«

Sie versuchte es mit einem Lächeln. »Nur ein Versehen.«

»Ja, ja, wer’s glaubt.« Drohend kam er auf sie zu.

Kerstin musste lachen. »Ehrlich, das war keine Absicht.« Langsam ging sie rückwärts, während er immer näher kam. Schließlich gab sie auf und rannte los, den Hügel hinunter. Wenn sie die Metallzacken vorne anhob, konnte sie bergab sogar ein kleines Stück gleiten.

»Glaubst du wirklich, du könntest mir entkommen?« Ein Lachen schwang in Matthias’ Stimme mit.

»Ich kann es versuchen.« Und wenn er sie einfing, würde sie das Beste daraus machen.

Ihr Herz klopfte schneller, ihr Atem kam stoßweise. Unvermittelt brach ihr Fuß durch die Schneedecke, und sie steckte bis zur Hüfte im Schnee. Mist! Kerstin stützte sich auf ihre Unterarme und versuchte, ihren Fuß aus dem Loch zu ziehen, doch er steckte fest. Wahrscheinlich hatte er sich unter einem Baumstamm oder einer Wurzel verkeilt.

Matthias hockte sich neben sie und legte seine Hand auf ihren Rücken. »Alles in Ordnung?«

»Ja, ich kriege nur den Schneeschuh nicht mehr raus.« Noch einmal zog sie, doch es rührte sich nichts. Langsam bekam sie einen Krampf im anderen Bein, das nicht mit eingesackt war. Wie ein Käfer auf dem Rücken lag sie im Schnee und konnte sich nicht eigenständig befreien, weil das Loch zu eng war, um die Bindung des Schneeschuhs zu lösen.

»Warte, ich hole dich da raus.« Mit dem Handschuh erweiterte Matthias den Schacht, in dem ihr Bein gefangen war.

Wieder versuchte sie, ihren Fuß anzuheben. »Ich glaube, ich hänge irgendwo fest.«

Die Kälte drang durch ihre Winterhose, und Kerstin unterdrückte ein Zittern. Glücklicherweise war bestes Wetter, und vor allem war sie nicht allein. Matthias buddelte tiefer, und sie spürte, wie sich ihr Schuh ein wenig bewegte.

Matthias’ Arm steckte bereits bis zur Schulter im Schnee. »Jetzt?«

Ihr Fuß ließ sich etwas anheben, aber noch immer steckte der Schneeschuh fest. »Kannst du die Bindung lösen? Ich glaube, es geht besser, wenn mein Fuß nicht mehr drinsteckt.«

Sie hörte ein leises Knacken, und nachdem auch der hintere Riemen gelockert war, gelang es ihr, den Fuß langsam herauszuziehen. Sie drehte sich im Schnee herum, bis sie sich hinsetzen konnte. Rasch klopfte Kerstin den Schnee von den Beinen und ihrer Jacke. Sie wagte es nicht, aufzustehen, aus Angst, noch einmal einzubrechen. Ohne Schneeschuh würde sie hier bei jedem Schritt hüfttief versinken. »Bekommst du ihn raus?«

Matthias brummte etwas Unverständliches. »Da ist irgendwas, an dem sich der Schneeschuh verhakt hat. Wahrscheinlich ein Ast oder so.« Er beugte sich in das Loch und schaufelte mit beiden Händen Schnee heraus. Wieder packte er den Schneeschuh und zog daran. Ein Stück bewegte er sich, dann blieb er wieder stecken. Matthias schüttelte den Kopf. »Du hast dir echt das beste Loch ausgesucht, das es hier gibt.«

»Hättest du mich nicht verfolgt, wäre das nicht passiert! Und ich habe noch keinen Röntgenblick, um zu sehen, was unter dem Schnee liegt.«

»Ja, ja, schon gut.« Mit den Fingern fuhr er die Ränder des Schuhs ab. »Irgendwo muss doch …« Ein Knacken ertönte, dann zog Matthias mit einem Schwung den Schneeschuh heraus. Irgendetwas Dunkles klebte an der Unterseite. Matthias legte ihn zur Seite und blickte noch einmal in das Loch. »Was zum …?« Sein gesamter Körper erstarrte, dann krabbelte er plötzlich rückwärts.

Besorgt blickte Kerstin in sein plötzlich kalkweißes Gesicht. »Was hast du?«

Da er nicht in der Lage schien, ihr zu antworten, beugte Kerstin sich über das Loch und versuchte, etwas zu erkennen. Sie sah nur aufgewühlten Schnee und Dreck, nichts, was die seltsame Reaktion ihres Mannes erklärte. Es dauerte einen Moment, bis sich ihre Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten. Halb verdeckt von Schnee sah sie plötzlich mehr von dem Stoff. Er hatte sich rötlich gefärbt. Sie ließ ihren Blick nach links wandern, eine seltsam glatte Fläche entlang, die in einem Vorsprung endete. Und darauf entdeckte sie dunkle Stoppeln und … Zähne. Der Mund stand weit offen, als hätte er versucht, zu schreien oder nach Atem zu ringen. O Gott!

2

Kriminalkommissarin Vanessa Lux blickte auf die Schneemassen am Rand der Straße und fragte sich nicht zum ersten Mal, was zum Teufel sie hier eigentlich tat. Sie war gerade dabei gewesen, die Akten eines abgeschlossenen Falls zu sortieren, als ihr Chef Reiner Kordel ins Büro kam. In den letzten Monaten hatte sie den Leiter des Zentralen Kriminaldienstes gut genug kennengelernt, um zu erkennen, wann ihm etwas nicht gefiel. Genau so ein Gesicht hatte er gezogen, als er berichtete, dass Staatsanwalt Winter sie angefordert hatte, in einem Todesfall zu ermitteln. An sich war das nichts Ungewöhnliches, der Ort allerdings schon: Der Nationalpark Harz lag normalerweise nicht im Zuständigkeitsbereich des ZKD Hannover.

Sie wusste nur, dass es sich bei dem Toten um den hannoverschen Lokalpolitiker Konstantin Pohlmann handelte und er abseits der Wege im Nationalpark aufgefunden worden war. Laut Kordel würden die Kollegen vor Ort sie genauer ins Bild setzen. Vermutlich würden sie dabei vor Freude in die Hände klatschen, weil sich jemand aus Hannover in ihren Fall einmischte. Noch war nicht geklärt, ob es sich um einen natürlichen Tod handelte, aber Winter hätte sie vermutlich nicht hingeschickt, wenn es so wäre. In Hannover warteten genug Fälle auf sie, die noch bearbeitet werden mussten. Bisher gab es noch keinen Ersatz für ihren verstorbenen Kollegen Dirk Hanke, und damit hatte jeder von ihnen mehr als genug zu tun.

Aus diesem Grund war sie auch allein auf dem Weg in die Wildnis, ihr Kollege Falk Wolff war anderweitig unterwegs. Vermutlich hätte sie einen der anderen im Team fragen können, aber sie wollte sich erst einmal ein Bild von der Lage machen. Mit einem tiefen Seufzer öffnete sie die Autotür und setzte ihren Fuß auf die festgefahrene Schneedecke. In den letzten Tagen hatte es so viel geschneit wie seit Jahren nicht mehr, und die Winterdienste waren immer noch dabei, das Chaos zu beseitigen, das der Schneesturm angerichtet hatte. Selbst in Hannover hatte es geschneit, und das sollte etwas heißen.

Passend zum Wetter hatte sie ihre dickste Kleidung an und kam sich vor wie der Marshmallow Man. Glücklicherweise hatte sie sich vor ein paar Jahren fellgefütterte Winterstiefel gekauft, die ihr jetzt hoffentlich gute Dienste leisten würden. Vanessa stieg aus dem Auto und rutschte prompt mit dem Fuß weg. Gerade noch rechtzeitig hielt sie sich am Türrahmen fest und damit auf den Beinen. Mit einem stummen Fluch ging sie vorsichtig zu dem mit dunklem Schiefer verkleideten Gebäude, in dem die Polizei von Sankt Andreasberg untergebracht war. Es wirkte reichlich trostlos, wenn sie ehrlich war, trotz der vom Himmel strahlenden Sonne.

Vanessa öffnete die Tür, klopfte den Schnee von Schuhen und Hose und betrat dann die Polizeistation. Der Wachhabende sah ihr neugierig entgegen und lächelte zögernd.

Sosehr sie auch versuchte, professionell zu wirken, in ihrer derzeitigen Aufmachung gelang ihr das nicht. »Guten Tag, mein Name ist Lux. Ich wurde aus Hannover angefordert wegen des Toten im Nationalpark.«

Die Miene des Polizisten verschloss sich sofort. »Ah, Sie sind das. Hätte ich mir denken können. Mein Vorgesetzter hat gesagt, wir sollen Sie zum Fundort bringen. Ich habe zwar keine Ahnung, was das bringen soll, aber so sind die Befehle.« Peters stand auf der Brusttasche seiner Uniform.

Vanessa versuchte, weiterhin freundlich zu bleiben. »Das wäre nett, vielen Dank.«

»Kleinen Moment, ich hole meinen Kollegen.« Er verschwand durch eine Tür im hinteren Bereich, und Vanessa blieb allein zurück.

»Das lief ja wunderbar.« Als sie merkte, dass sie laut geredet hatte, presste sie die Lippen zusammen. Ungeduldig tappte sie mit dem Stiefel auf den Boden und fluchte, als sie feststellte, dass sich bereits der erste Schneerand auf dem Leder abzeichnete. Noch nie hatte sie nachvollziehen können, was andere Leute am Winter fanden. Es war ständig kalt, dunkel und allgemein sehr ungemütlich.

Während sie noch die Pinnwand mit einigen grundlegenden Informationen betrachtete, öffnete sich die rückwärtige Tür, und ein weiterer Polizist betrat den Raum. Dieser war deutlich jünger und wirkte noch nicht so verkniffen.

Er gab ihr die Hand. »Fabian Weller. Ich fahre Sie zum Fundort der Leiche.«

»Vanessa Lux. Danke, das ist nett.«

Weller blickte an ihr hinunter und runzelte die Stirn. »Haben Sie Schneeschuhe?«

»Reichen die Stiefel nicht?«

»Nicht da, wo wir hinmüssen. Kein Problem, wir halten beim Skiverleih, da haben sie auch Schneeschuhe.«

»Okay.« Vanessa klang skeptisch, aber sie konnte nichts dagegen tun. Sie glaubte nicht, dass sie in der Lage sein würde, mit irgendwelchen geflochtenen Trapper-John-Schuhen irgendwo hinzukommen. Zu schade, dass Winter nicht Falk angefordert hatte. Wer weiß, vielleicht hätte er sogar Spaß an so einem Ausflug gehabt.

Der Polizist lachte. »Nun gucken Sie nicht so ängstlich, es ist noch niemand beim Schneeschuhlaufen umgekommen.«

»Auch der Tote nicht?«

Sofort wurde Weller wieder ernst. »Äh, das weiß ich gar nicht. Sie sind noch dabei, ihn ganz vorsichtig freizulegen.«

Immerhin war er noch am Fundort, dann würde sich die Plackerei wenigstens lohnen. »Gehen wir, ich möchte nur ungern im Dunkeln noch irgendwo in der Wildnis herumlaufen.«

»Natürlich.« Weller öffnete die Tür und bedeutete ihr, durchzugehen. »Wir fahren so weit wie möglich mit einem Schneemobil und gehen das restliche Stück zu Fuß.«

Vanessa nickte lediglich. Kein Grund, ihm zu sagen, dass sie das rein gar nicht beruhigte. Weller war freundlich und schien sich nicht an ihrer Anwesenheit zu stören, deshalb bemühte sie sich, ihn nicht sofort zu verärgern.

Im Skiverleih nahmen sie nicht nur Schneeschuhe mit – die zu ihrer Überraschung aus Plastik bestanden und gar nicht wie erwartet aussahen –, sondern auch noch Schuhüberzieher aus Kunststoff, die verhindern sollten, dass ihre Stiefel durchweichten. Als Letztes bekam sie noch Gamaschen, damit ihre Hose vor dem tiefen Schnee geschützt war. So ausgestattet, stiegen sie wieder in Wellers Jeep, der auf den nur mit Split gestreuten Straßen überraschend gut manövrierte. Während der Fahrt versuchte sie, noch ein wenig in der erschreckend dünnen Akte zu lesen, die Kordel ihr gegeben hatte, doch mehr als einige grundlegende Informationen über den Toten und die Auffindesituation stand nicht darin. Enttäuscht klappte Vanessa sie wieder zu.

»Wissen Sie, wer den Toten gefunden hat und wie?«

Weller blickte weiter konzentriert auf die Straße, während er ihr antwortete. »Ein Pärchen, das mit Schneeschuhen illegal mitten durch die geschützten Bereiche im Park gelaufen ist. Hätten sie den Mann nicht gefunden, wäre er vielleicht für immer dort verschwunden. Es ist kein Weg in der Nähe und auch kein Jägerstand. Nach der Schneeschmelze hätten Tiere ihn sicher gefunden, und seine Knochen wären nach und nach verteilt worden.«

Vanessa schnitt eine Grimasse bei der Vorstellung. »Also freuen wir uns über die illegalen Schneewanderer.«

Weller grinste. »Wir ja, die Parkverwaltung nicht. Erst recht nicht, weil jetzt so viele Leute durch das Gebiet laufen. Wenn sie gekonnt hätten, hätten sie die Leiche vermutlich lieber wieder eingegraben.«

Vanessa konnte es sich lebhaft vorstellen. »Das Paar hat also nach dem Fund die Polizei gerufen?«

»Sie sind erst den Berg runter, da oben ist kein Handyempfang.«

»Stehen sie für eine Befragung zur Verfügung?«

»Ja, allerdings in Sankt Andreasberg. Sie waren sehr schockiert. Es war einfach Pech, dass sie genau an der Stelle durch den Schnee gebrochen sind.«

Verständlich, niemand würde solch eine Entdeckung einfach so wegstecken. »Gut, ich möchte mit ihnen reden, wenn ich den Fundort besichtigt habe.«

»Alles klar.«

Während der restlichen Fahrt hing Vanessa ihren Gedanken nach. An einem Wanderparkplatz stiegen sie auf ein Schneemobil um und fuhren in das abgesperrte Gebiet. Wenn Vanessa die Schneemassen schon in der Stadt beängstigend gefunden hatte, waren sie hier noch gewaltiger. Durch den Sturm waren meterhohe Schneewehen aufgetürmt worden, die Äste der wenigen noch vom Borkenkäfer verschonten Fichten drohten unter der Last abzubrechen. Vanessas Magen sackte ab, als sie in eine Wehe fuhren und wieder hinausschossen. Sie krallte sich an Wellers Jacke fest, der offenbar ganz in seinem Element war. Sollte sie diese Tortur überstehen, würde sie sich beim nächsten Mal weigern, solch einen Fall zu übernehmen; schließlich gab es genug andere Kommissare im Team. Aber sie hatte keine Wahl gehabt, nachdem der Staatsanwalt sie namentlich angefordert hatte.

Endlich wurde die Höllenmaschine langsamer und hielt schließlich an einem mit Holzbalken umzäunten Platz an, an dem sich mehrere Menschen tummelten. Unter anderem konnte sie die Uniformen von Parkrangern erkennen. Einer von ihnen, ein hochgewachsener Mann in den Fünfzigern, kam direkt auf sie zu.

»Es ist unglaublich, was Sie hier veranstalten, Sie stören die Winterruhe der Tiere! Wissen Sie, was es bedeutet, wenn sie in dieser Zeit gestresst werden? Es ist durch den heftigen Wintereinbruch sowieso schon schwierig genug für sie, überhaupt noch Nahrung zu finden.«

»Guten Tag, ich bin Kriminalkommissarin Lux. Und wer sind Sie?«

»Oliver Harms, Leiter des Nationalparks Harz. Es ist ein Skandal, was hier getrieben wird.«

Vanessa hob die Augenbrauen. »Wollen Sie die Leiche lieber dort liegen lassen, bis sie im Sommer auftaut und zu verwesen beginnt?«

Harms sah aus, als hätte er in eine Zitrone gebissen. »Das habe ich nicht gesagt. Aber der Tote hätte auch mit weniger Aufwand geborgen werden können.«

»Da wir nicht wissen, ob er Opfer einer Straftat geworden oder eines natürlichen Todes gestorben ist, muss dieser Aufwand betrieben werden. Eine einfache Bergung würde mögliche Spuren zunichtemachen, die auf den Täter deuten könnten. Sie wollen doch wohl nicht, dass ein Mörder hier frei herumläuft, oder?«

»Natürlich nicht! Aber …«

»Dann ist es ja gut.« Vanessa drehte sich zu ihrem Begleiter um. »Wie weit ist es noch, Weller?«

Der grinste sie an. »Noch ein ganzes Stück. Wir steigen auf Schneeschuhe um. Ab hier kommen wir nur noch so weiter. Das Schneemobil ist zu schwer und würde sich auf dem unebenen Boden festfahren.«

Weller holte die Schneeschuhe heraus und warf sie vor ihr auf den Boden. »Einfach mit den Füßen ganz rein, ich schließe dann die Bindung.«

Vorsichtig stellte Vanessa sich auf die Schneeschuhe und sackte sofort einige Zentimeter ein. Rasch hielt sie sich an Weller fest. »Entschuldigung.«

»Kein Problem. Warten Sie, ich gebe Ihnen gleich die Stöcke, dann stehen Sie sicherer.« Er zog sie auseinander und stellte die richtige Höhe ein, bevor er sie ihr reichte. Weller bückte sich und schloss ihre Schneeschuhe. »Gehen Sie mal ein paar Schritte, um das Gefühl dafür zu bekommen, während ich meine anziehe.«

Erst etwas wackelig, dann immer sicherer stapfte sie durch den Schnee. Anscheinend war das doch nicht so schwer wie befürchtet.

Innerhalb kürzester Zeit stand Weller neben ihr. »Am besten folgen Sie mir in meiner Spur, das ist nicht so anstrengend.«

»Gern.« Sie machte ein paar Schritte und hoffte, dass sie nicht ebenfalls in den Schneemassen versank.

3

Am Ende war es doch nicht ganz so einfach, wie es ihr anfangs vorgekommen war. Einmal war sie zur Seite gestürzt, glücklicherweise aber nur in weichem Schnee gelandet. Außer Atem kamen sie eine halbe Stunde später an der Fundstelle an. Sie hatte recht gehabt: Bergauf war Schneeschuhlaufen doch recht anstrengend, wenn man nicht geübt war. Glücklicherweise waren die Spuren durch die anderen Polizeikräfte bereits so in den Schnee gepresst, dass sie darauf ohne größeres Einsinken laufen konnten. Wie musste es für die beiden Touristen gewesen sein, die sich durch den Tiefschnee gepflügt hatten?

Vanessa bedankte sich bei Weller, der ihr den ermittelnden Kommissar gezeigt hatte, und wandte sich dann an diesen. »Guten Tag, Vanessa Lux vom ZKD Hannover. Sie sind hier zuständig?«

Der Mann richtete sich auf und drehte sich zu ihr um. Die kurzen roten Haare und Sommersprossen gaben ihm ein freundliches Aussehen, das von seiner düsteren Miene durchbrochen wurde. »Ja. Hauptkommissar Malte Blum aus Goslar.« Er gab ihr nicht die Hand, was ihr ganz recht war, denn ihre Finger waren in den dünnen Handschuhenfast erfroren. »Ich verstehe allerdings nicht ganz, was Sie hier wollen. Wir haben die Lage im Griff, und Hannover ist hier nicht zuständig.«

Damit hatte er völlig recht. »Der Staatsanwalt schickt mich, da es sich bei dem Toten um eine wichtige Persönlichkeit handelt, die in Hannover lebte. Soweit ich weiß, ist es mit Ihrer Dienststelle abgesprochen, dass ich an dem Fall mitarbeite.«

Blum verzog den Mund. »So scheint es wohl.«

»Kann ich mir die Leiche ansehen? Ist sie noch von Schnee begraben?«

Blum machte eine einladende Bewegung zum Toten hin. Der Bereich darum war mit Flatterband markiert, vermutlich um zu verhindern, dass jemand zu nah herantrat und dabei Spuren zerstörte oder den Schnee ins Rutschen brachte. Umsichtig näherte sie sich dem Fundort.

»Wir haben vorsichtig sämtliche Schichten Schnee da­rüber abgetragen und natürlich nach Spuren untersucht, aber das ist schwierig bei den Verhältnissen. Es ist Pulverschnee, und es war tagelang sehr windig bis stürmisch. Wenn da Spuren waren, sind sie längst verweht.«

Vanessa stählte sich und blickte auf die freigelegte Leiche hinunter. Unwillkürlich zog sich ihre Kehle zusammen. Zu seinen Lebzeiten hatte Konstantin Pohlmann sich stets gut gekleidet und frisiert gezeigt, aber davon war nichts übrig geblieben. Er trug nur verschmutzte und zerrissene Unterwäsche, seine Haut war bleich mit einem Stich ins Bläuliche. Der Mund stand offen, als hätte er noch in seinen letzten Momenten um Hilfe gerufen oder vielleicht einfach um Luft gerungen. Seine Augen waren weit geöffnet und seltsam trüb. Ob das an der Kälte lag, musste die Rechtsmedizin klären. Vanessa beugte sich weiter vor, um die Verletzungen im oberen Brustbereich besser sehen zu können.

»Sind ihm die Wunden vor oder erst nach seinem Tod zugefügt worden?«

»Wir nehmen an, dass sie von dem Schneeschuh der Touristin stammen. Das ist der Bereich, an dem sie mit ihrem Schuh durch den Schnee gebrochen ist. So wurde die Leiche entdeckt.«

Vanessa hockte sich hin und starrte auf das Handgelenk des Toten. Seine Arme hatte er um sich geschlungen, als hätte er so versucht, sich zu wärmen, was bei dem Wetter nur in Unterwäsche und ohne Schuhe unmöglich war. Knapp unterhalb der Hand war der Arm des Toten aufgescheuert, so als wäre er gefesselt gewesen. Sie zeigte darauf. »Wie deuten Sie diese Verletzung?«

Blum zuckte mit den Schultern. »Das muss die Rechtsmedizin klären. Ich will hier nicht spekulieren.«

Einerseits konnte sie ihn verstehen, andererseits bestand aber ein Großteil ihres Jobs daraus, Thesen aufzustellen und sich zu überlegen, was zu einem Tod geführt hatte. Vanessa bewegte sich um die Leiche herum und betrachtete die Füße des Toten. Obwohl sie schon vieles gesehen hatte, brauchte sie einige Sekunden, um den Anblick zu verdauen. Die Fußsohlen waren nur noch eine rohe Masse, anscheinend war er längere Zeit barfuß durch die Natur gelaufen. Die Zehen dagegen wirkten dunkler als der Rest des Körpers.

»Was ist mit den Zehen passiert?« Sie waren dunkler verfärbt, es wirkte fast wie Erfrierungen.

Einer der Techniker antwortete ihr. »Erfrierungen, passiert häufig, wenn es so kalt ist und noch dazu windig. Das kühlt den Körper noch weiter aus. Wenn man dann nicht ordentlich angezogen ist …« Er zuckte mit den Schultern. »Die Finger sind auch betroffen.«

Also war der Tote längere Zeit ohne Kleidung im Schnee herumgelaufen. Langsam erhob sie sich. »Kann schon gesagt werden, wann er ungefähr gestorben ist?«

Blum schob die Hände in die Jackentaschen. »Da der meiste Schnee über ihm ist, gehe ich davon aus, dass er mitten im Schneesturm unterwegs war. Er hatte keine Chance.«

»Also liegt er schon seit drei oder vier Tagen hier?«

»Ja, das wäre meine Schätzung. Die Rechtsmediziner können dazu sicher noch genauere Angaben machen, allerdings könnte das schwierig werden, weil durch den Schnee und die Kälte sämtliche Verwesungsprozesse unterdrückt wurden.«

Genau deshalb musste sie versuchen, den Zeitraum des Todes über andere Punkte zu ermitteln. Sie zog ihren Block aus der Jackentasche und machte sich einige Notizen. »Gab es hier irgendwelche anderen Vorkommnisse, die damit in Verbindung stehen könnten?«

»Welche zum Beispiel?«

Vanessa versuchte, ihre Genervtheit nicht zu zeigen. »Verhaftungen. Ärger im Nationalpark. Beobachtungen, die dazu passen.«

Blum schüttelte den Kopf. »Wir sind erst ganz am Anfang der Ermittlungen. Erst mal müssen wir herausfinden, was genau passiert ist und wann, bevor wir entscheiden können, ob wir überhaupt weitere Ermittlungen anstellen. Vielleicht war er einfach nur betrunken, hat die Orientierung verloren und ist dann im Schneesturm umgekommen.«

»Und dann hat er sich die Kleidung ausgezogen und sich ein paar Fesseln um die Handgelenke gelegt, damit es sich besser anfühlt?« Vanessa konnte den Sarkasmus nicht zurückhalten.

Blum zuckte nur mit den Schultern. »Wer weiß. Manche stehen auf solche Spielchen.«

»Nun, ob er Alkohol im Blut hatte, lässt sich leicht he­rausfinden. Bringen Sie ihn jetzt in die Rechtsmedizin?«

»Ja, wir haben nur noch auf Sie gewartet.«

»Gut. Ich nehme an, die Autopsie wird in der Medizinischen Hochschule Hannover vorgenommen?«

»Dafür hat Ihr Staatsanwalt schon gesorgt. Ich erwarte, dass sämtliche Informationen mit den ermittelnden Behörden hier vor Ort geteilt werden.«

»Natürlich. Und Sie können auch selbst an der Autopsie teilnehmen.«

Blum wurde deutlich blasser. »Ich habe noch andere Aufgaben zu erledigen. Ich kümmere mich weiter um die Ermittlungen hier.«

»In Ordnung. Ich gehe davon aus, dass Sie alles dokumentieren, was hier gefunden wird?«

Blum nickte.

»Dann sehen wir uns unten bei der Besprechung. Die findet doch in Sankt Andreasberg statt?«

»Heute ist es zu spät. Bis wir alles vom Berg runter und sortiert haben, ist es schon Abend. Wir treffen uns morgen früh um acht Uhr auf der Polizeistation.«

»Gut. Danke für Ihre Kooperation.« Vanessa sah sich nach Weller um, der am Rande des Fundorts auf sie wartete. Ein leichtes Lächeln überzog sein Gesicht.

Als sie bei ihm ankam, war sein Ausdruck wieder neutral. »Fertig?«

»Für den Moment, ja.« Vor allem war ihr furchtbar kalt, nachdem die Körperwärme vom Aufstieg vergangen war.

Glücklich, dass das Absteigen mit den Schneeschuhen deutlich angenehmer war, folgte sie Weller zurück zum Schneemobil. Die Fahrt zum Auto war noch nervenaufreibender, als es der Weg zum Fundort gewesen war. Vanessa klammerte sich an Weller, um nicht in den Kurven vom Mobil geschleudert zu werden. Machte er das absichtlich? Vielleicht hatte er aber auch einfach nur irren Spaß, wie sein breites Grinsen zu bestätigen schien, als sie von der Höllenmaschine abstiegen. Vermutlich würde er sich sehr gut mit ihrem Kollegen Falk Wolff verstehen, der auf ähnliche Art Motorrad fuhr. Mit wackeligen Knien lehnte sie sich an den Wagen.

»Alles in Ordnung?«

»Ja.« Mehr brachte sie beim besten Willen nicht über ihre steifgefrorenen Lippen.

»Haben Sie ein Hotelzimmer, oder fahren Sie zurück nach Hannover?«

Vanessa blickte in den wolkenlosen Himmel, der sich langsam dunkler färbte. Auf keinen Fall wollte sie unter diesen Bedingungen noch anderthalb Stunden Auto fahren, schon gar nicht mit ihrem Kleinwagen, der nicht für Schnee ausgelegt war. Eigentlich hätte sie schon lange auf Winterreifen wechseln müssen, aber sie hatte es einfach nicht geschafft, und als dann unerwartet der Wintereinbruch kam, waren sämtliche Termine in den Werkstätten ausgebucht gewesen.

»Ich muss mir wohl ein Zimmer nehmen. Können Sie ein Hotel empfehlen?«

Weller öffnete ihr die Autotür. »Wir kommen an einer kleinen Pension vorbei, die ganz gemütlich ist und nicht so überlaufen.« Er hob die Augenbrauen. »Außer Sie möchten lieber etwas ganz Exklusives?«

»Ruhig und sauber genügt mir völlig.« Mal ganz davon abgesehen, dass ihr Chef keine hohen Rechnungen gutheißen würde. »Ich hoffe, so kurzfristig ist noch ein Zimmer frei.«

»Versuchen wir es.« Er ging um den Wagen herum und schwang sich auf den Fahrersitz. Nachdem er den Motor gestartet hatte, drehte er die Heizung hoch und schaltete die Sitzheizung an.

Während der Fahrt versuchte Vanessa ihre Eindrücke von dem Fundort gedanklich zu sortieren, deshalb sah sie überrascht auf, als der Wagen vor einer kleinen, urigen Pension anhielt. Das Haus wirkte, als würde es schon seit mindestens hundert Jahren dort stehen.

»Keine Angst, innen ist alles modern. Es wurde vor ein paar Jahren aufwendig renoviert.«

Glücklicherweise war in der Pension Moorblick noch ein Zimmer frei, sodass Vanessa beruhigt mit Weller zurück zur Polizeistation fahren konnte, um ihr Auto zu holen. Er hatte auf der anderen Straßenseite geparkt, deshalb überquerte sie vorsichtig den schneeglitschigen Asphalt und stieg auf der Beifahrerseite ein.

»Tut mir leid, dass es etwas länger gedauert hat. Sie hatten recht, die Zimmer sind wirklich schön.«

»Natürlich hatte ich recht.« Er hob die Hand in Richtung Haus, bevor er losfuhr. »Die Pension gehört meiner Tante.«

Vanessa schmunzelte. »Verstehe.«

So gemütlich die Pension auch war, sie würde nicht viel Ruhe bekommen, sondern den Abend damit verbringen, sich Notizen zu machen und zu versuchen, so viele Informationen wie möglich über den Toten zu sammeln. Seit sie die Fesselspuren an den Handgelenken gesehen hatte und auch seinen Bekleidungszustand, war sie relativ sicher, dass er sich nicht freiwillig in den Schnee begeben hatte. Sie kannte ihn nur aus dem Fernsehen, und er war ihr nicht wie jemand vorgekommen, der sich jemals freiwillig in eine Situation begeben würde, über die er keine Kontrolle hatte. Aber auch das würde sie herausfinden. Vielleicht konnte auch der Staatsanwalt Licht in das Dunkel bringen, wenn er mit Pohlmann befreundet gewesen war, wie ihr Vorgesetzter angedeutet hatte.

Je nachdem, was die Autopsie ergab, würde sie weitere Schritte unternehmen. Blum kam ihr nicht vorwie jemand, der für einen komplexeren Fall gewappnet war. Vielleicht tat sie ihm auch unrecht, aber wenn Pohlmanns Tod an die Öffentlichkeit drang, würden sie sich vor medialem Interesse kaum retten können. Es wäre besser, die Ermittlungen dann in einem Team zu halten. Aber das war Zukunftsmusik. Sie hätte auch nichts dagegen, wenn sich herausstellte, dass Pohlmann durch eigene Dummheit und ohne Fremdeinwirkung gestorben war. Das würde ihr viel Arbeit ersparen.

4

Glücklicherweise gab es ein paar Häuser neben der Pension eine Pizzeria, sodass Vanessa genug Nervennahrung hatte, während sie ihre Notizen durchging. Sie nahm einen großen Bissen und schloss die Augen. Was gab es Besseres als eine gute Pizza mit einer Extraportion Käse? Vor allem wurde ihr endlich wieder etwas wärmer, und ihr Gehirn taute auf. Nach einem Blick auf die Uhr rief sie Falk an.

»Kriminalfachinspektion 1, Wolff.«

»Lux, hallo.«

Als er sich im Stuhl zurücklehnte,ertönteein Quietschen. Sie sah ihn förmlich vor sich, wie er die Beine auf der Tischplatte überschlug. Ein Gefühl fast wie Heimweh erfasste sie. Kopfschüttelnd riss sie sich zusammen, sie war gerade mal ein paar Stunden fort.

»Und, wie war es in der Pampa? Sind dir ein paar Eiszapfen gewachsen?«

Vanessa verdrehte die Augen. »Haha, sehr lustig. Ich bin noch hier und habe mir ein Zimmer genommen, weil morgen früh eine Besprechung ist, die ich nicht verpassen will.«

»Also ist es Mord?«

»Das kann ich noch nicht sagen. Ich habe keine Verletzungen gesehen, die auf einen direkten Mord hinweisen. Vermutlich ist er erfroren.«

»Aber?«

»An seinen Handgelenken waren Spuren einer Fesselung. Und er war barfuß und nur in Unterwäsche unterwegs. Das weckt in mir zumindest Skepsis, dass er freiwillig in der Kälte herumgelaufen ist, besonders in einem Schneesturm. Außerdem, wo soll er hergekommen sein? Es stand nirgends ein Auto, und zu Fuß wäre er nie so weit gekommen bei dem Wetter.«

»Also hat ihn jemand dorthin gefahren und ausgesetzt?«

»Möglich wäre es. Vielleicht eine erzürnte Geliebte.«

»Weil sie ihn bei Fesselspielen mit einer anderen erwischt hat?«

Vanessa nahm sich noch ein Stück Pizza. »Keine Ahnung.«

»Was isst du da?«

Schuldbewusst schluckte sie den Bissen hinunter. »Pizza.«

»Du bist so was von fies! Ich sitze hier ohne was, und du lässt es dir gut gehen.«

»Tut mir leid.« Nein, nicht wirklich. So unmöglich, wie Falk sich am Anfang ihrer Zusammenarbeit benommen hatte, war dies nur eine sehr kleine Gemeinheit von ihr. »Aber zurück zum Thema: Die Leiche wird nach Hannover gebracht. Falls ich bis dahin noch nicht zurück bin, könntest du dann bei der Autopsie dabei sein?«

»Ich verstehe immer noch nicht, warum wir den Fall nicht den Kollegen überlassen, die vor Ort dafür zuständig sind. Der Harz zählt nun mal nicht zur Region Hannover.«

»Weil Staatsanwalt Winter darauf bestanden hat. Pohlmann ist anscheinend ein Freund von ihm gewesen. Laut Kordel sollen ›die besten Ermittler‹ darauf angesetzt werden, um den Todesfall aufzuklären. Ich will das Ganze so schnell wie möglich hinter mich bringen.«

Falk schnaubte. »Klar, für die hohen Herren gibt es eine Sonderbehandlung. Ich hätte nicht gedacht, dass Kordel da mitmacht.«

»Er hatte keine Wahl. Der Staatsanwalt entscheidet, wer in einem Fall ermittelt.«

»Ich hasse diesen Klüngelkram.«

Da waren sie schon zu zweit. »Weshalb ich anrufe: Könntest du mir alles zusammensuchen, was du über Pohlmann finden kannst, und es mir dann per Mail schicken? Ich habe hier nur rudimentäre Informationen. Vor allem wäre es auch wichtig, eine Kontaktnummer von jemandem zu bekommen, der ihn näher kennt oder mit ihm zusammengearbeitet hat oder so. Wir müssen herausfinden, was er überhaupt im Harz gemacht hat. Vielleicht kann uns sein Büro dabei helfen.« Vanessa holte tief Atem. »Ich weiß, das ist viel verlangt, aber ihr habt dort besseren Zugriff auf diese Informationen als ich hier mit relativ lahmem Internet. Wenn du keine Zeit hast, könntest du dann einen der anderen bitten?«

»Das kriegen wir schon hin. Ich schicke dir eine Mail, wenn wir was rausgefunden haben.«

Erleichtert atmete sie auf. »Danke, das ist nett. Ich hoffe, dass ich morgen im Laufe des Tages wieder nach Hannover komme.«

»Besser wäre das, wir haben hier noch jede Menge richtige Mordfälle zu bearbeiten.«

»Ich …« Sie wurde von einem Klingeln unterbrochen. »Warte mal, irgendwer ruft gerade an.« Rasch blickte sie auf das Display und verzog den Mund. Sie wechselte wieder zu Falk. »Wenn man vom Teufel spricht. Winter ruft gerade an, ich muss Schluss machen.«

»Jetzt fängt er schon an, dir hinterherzutelefonieren? Es wird immer merkwürdiger.«

»Ja. Bis später oder morgen.« Vanessa beendete das Gespräch und nahm das vom Staatsanwalt an. »Lux.«

»Winter hier. Haben Sie schon etwas herausgefunden?«

»Die Ermittlungen stehen gerade erst am Anfang …«

Er ließ sie nicht ausreden. »Speisen Sie mich nicht mit dem üblichen Kram ab. Das ist eine ernsthafte Sache, die weitreichende Konsequenzen haben kann.«

Vanessa runzelte die Stirn. »Sie meinen größere, als wenn jemand anders stirbt?«

»Haben Sie eine Ahnung, was die Presse für einen Wirbel machen wird, wenn das herauskommt? Einer der aufstrebenden Politiker des Landes wird ermordet, das ist ein Skandal!«

»Wir wissen doch noch gar nicht, ob es wirklich Mord ist. Das kann uns erst die Autopsie zweifelsfrei sagen. Es kann genauso gut sein, dass er einfach durch einen unglücklichen Umstand im Schneesturm umgekommen ist.« Zwar glaubte sie nicht wirklich daran, aber genauso wenig konnte sie verstehen, warum Winter so von einem Mord überzeugt war.

Einen Moment lang herrschte Stille. »Halten Sie mich für beschränkt? Konstantin würde nicht in Unterwäsche mitten im Schneesturm herumlaufen. Ich habe Fotos der Leiche gesehen. Für mich deutet alles auf ein Verbrechen hin.«

»Wenn es das war, werden wir es herausfinden. Trotzdem müssen wir die Autopsie abwarten. Die Leiche ist bereits auf dem Weg nach Hannover, allerdings kann ich nicht sagen, wie ausgelastet die Rechtsmedizin momentan ist.«

»Das lassen Sie mal meine Sorge sein. Die Autopsie wird morgen früh stattfinden, dafür werde ich sorgen.«

Zu schade, dass er nicht bei anderen Fällen ebenso energisch darauf bestand, sämtliche Untersuchungsergebnisse sofort vorliegen zu haben. »Kommissar Wolff wird die Autopsie begleiten. Ich werde hier noch weiter vor Ort ermitteln.«

»Was haben Sie nun herausgefunden?«

Vanessa unterdrückte einen Seufzer. »Zuerst einmal muss ich die grundlegenden Informationen sammeln. Wissen Sie, was Pohlmann im Harz gemacht hat?«

»Einen Kurzurlaub, nehme ich an. Am besten sprechen Sie mit seiner Assistentin Lisa Borges. Sie kümmert sich um seine Termine und Sonstiges. Wenn jemand weiß, wo er war und was er da wollte, dann sie.«

»Was ist mit seiner Frau?«

»Sie leben in Trennung. Vivien wird nichts darüber wissen.«

Vanessa machte sich eine Notiz, unbedingt mehr über diese Vivien herauszufinden. »In Ordnung. Haben Sie eine Nummer von Frau Borges? Dann erledige ich das gleich.«

»Moment.« Etwas raschelte im Hintergrund. »Hier ist sie.« Er diktierte die Telefonnummer. »Normalerweise sollte sie jetzt noch im Büro sein. Es kann allerdings sein, dass sie sich freigenommen hat, falls Konstantin Urlaub hatte.«

»Sie weiß also noch nicht, dass er tot ist?«

»Von mir jedenfalls nicht. Ich wollte eine offizielle Bestätigung seiner Identität abwarten. Versuchen Sie, ihr das schonend beizubringen, sie haben jahrelang eng zusammengearbeitet.«

Vanessa konnte sich Schöneres vorstellen. »Vielleicht sollten Sie lieber …«

»Nein, nein, Sie machen das schon. Frauen sind da empathischer.«

Grandios. »Ich werde mich bemühen. War noch etwas?«

»Nein. Halten Sie mich auf dem Laufenden.«

»Natürlich.« Vanessa beendete das Gespräch und schüttelte den Kopf. Bisher hatte sie mit dem Staatsanwalt immer nur kurz zu tun gehabt, aber jetzt konnte sie verstehen, wa­rum Kordel sich so oft von ihm überfahren fühlte. Mit einem tiefen Seufzer wählte sie die Nummer von Pohlmanns Assistentin. Sie hasste es, Menschen schlechte Nachrichten zu überbringen.

Nach mehrmaligem Freizeichen wurde abgenommen. »Borges?«

»Guten Abend, ich bin Kriminalkommissarin Lux, ich habe Ihre Nummer von Staatsanwalt Winter.«

»O nein! Er ist tot, oder?«

Verwundert hielt Vanessa das Handy ein Stück vom Ohr weg. »Der Staatsanwalt? Nein, wie kommen Sie darauf?«

»Nicht Winter, mein Chef! Bitte sagen Sie mir, dass Herrn Pohlmann nichts passiert ist.«

Vanessa räusperte sich. »Das kann ich leider nicht. Wir wissen nicht, was passiert ist, aber er wurde leblos aufgefunden.«

»Nein!« Schluchzen drang durch den Hörer. »Ich habe es gewusst!« Der Schmerz in der Stimme der Assistentin war nicht zu überhören.

»Es tut mir leid. Wie kamen Sie darauf, dass ihm etwas passiert sein könnte?«

»Herr Pohlmann hätte sich nie tagelang nicht gemeldet. Und erst recht hätte er keinen geschäftlichen Termin versäumt, schon gar keinen so wichtigen. Aber niemand wollte auf mich hören.«

Vanessa tippte mit dem Kuli auf den Block. »Wen meinen Sie mit niemand?«

»Die Polizei! Als Herr Pohlmann nicht zurückkam und auch nicht angerufen hat, habe ich ihn als vermisst gemeldet. Aber es hat niemand etwas unternommen, mir wurde nur gesagt, dass er ein erwachsener Mensch ist, und wenn er mal ein paar Tage Ruhe möchte, wäre das sein Recht.« Es klang, als würde sie weinen. »Ich habe versucht, ihnen klarzumachen, dass so etwas nicht seiner Art entspricht, aber es hat niemand auf mich gehört. Sie haben die Vermisstenanzeige aufgenommen, aber ich gehe davon aus, dass sie gar nicht versucht haben, ihn zu finden.«

Die Wahrscheinlichkeit war ziemlich hoch. Wenn nicht nachgewiesen werden konnte, dass er nicht freiwillig verschwunden war oder Gefahr für sein Leben bestand, würde niemand Ermittlungen beginnen. Jeder hatte ein Recht auf Privatsphäre. »Wissen Sie, wo Ihr Chef hinwollte und ob er dort einen Termin hatte?«

»Nicht genau, er hat sich selbst ein Zimmer gesucht, normalerweise hätte ich das für ihn übernommen. Es war eine private Fahrt, er wollte sich erholen. Jedenfalls hat er das gesagt. Ich kann im Büro auf seinem Computer nachsehen, ob ich die Buchung der Unterkunft finde.«

»Danke. Vielleicht könnten Sie mir die Buchungsbestätigung per E-Mail schicken.« Vanessa nannte ihre Adresse.

»Selbstverständlich.« Eine Pause entstand. »Wie … wie ist er gestorben? War es ein Unfall?«

»Das können wir noch nicht sagen. Anscheinend ist er in einen Schneesturm geraten.«

»O nein, wie schrecklich! Der arme Mann.« Ein Rascheln ertönte. »Könnte ich ihn sehen? Mich verabschieden?«

»Er muss erst rechtsmedizinisch untersucht werden. Ich kann Ihnen leider noch nicht sagen, wann die Leiche freigegeben wird. Wenn Sie möchten, informiere ich Sie, wenn es so weit ist.«

»Das … das wäre nett, danke.«

»Keine Ursache. Danke für die Informationen. Sollten sich noch weitere Fragen ergeben, werde ich Sie kontaktieren. Auf Wiederhören.« Vanessa beendete das Gespräch und atmete tief durch. Sie überlegte, ob sie gleich noch Pohlmanns in Trennung lebende Frau anrufen sollte, entschied sich aber dagegen. Das hatte auch bis morgen Zeit, außerdem könnte es sein, dass Kommissar Blum sie bereits informiert hatte. Sie sah den Menschen lieber in die Augen, um ihre Reaktionen einschätzen zu können, während sie ihre Fragen stellte. Frau Pohlmann würde also warten müssen, bis Vanessa wieder in Hannover war.

Mit einem Seufzer holte sie ihren Laptop aus der Tasche und baute ihn auf dem Tisch auf. Sie würde schon mal mit dem vorläufigen Bericht anfangen, damit sie den Rest des Abends genießen konnte.

5

Falk Wolff nahm nicht unbedingt gern an Autopsien teil – noch viel weniger morgens um sieben Uhr. Wohlweislich hatte er nur einen Kaffee getrunken und das Frühstück auf hinterher verschoben. Manche Dinge vertrug er besser mit leerem Magen. Es überraschte ihn nicht, als Staatsanwalt Winter den Raum der Rechtsmedizin an der Medizinischen Hochschule Hannover betrat. Normalerweise dauerte es deutlich länger, bis eine Leiche obduziert wurde, weil es zu viele andere gab, die auf eine Untersuchung warteten. Doch offenbar hatte Winter in diesem Fall sämtliche Fäden gezogen und sorgte dafür, dass alles reibungslos verlief. Wenn er das bei anderen Fällen auch so täte, wäre ihnen allen geholfen.

Aber darauf konnte Falk lange warten. Schon immer hatte Winter prestigeträchtige Fälle bevorzugt behandelt, oder jene, an denen er ein persönliches Interesse hatte. In diesem Fall war es offensichtlich beides: ein bekannter Politiker und dazu noch ein Freund – das brachte selbst Winter dazu, sich frühmorgens seine schicken Klamotten überzuwerfen und einer Autopsie beizuwohnen.

Falk war sicher, dass der Grund für den Mord irgendwo in Hannover lag. Nach einem Blick auf die Spuren von Fesseln an den Handgelenken des Toten war er überzeugt, dass es sich um ein Verbrechen handelte.

Winter schien es auch so zu gehen; mit den Händen in den Hosentaschen stand er da und starrte auf die Leiche seines Freundes. Ein Hauch von Mitgefühl stellte sich ein.

»Können wir denn jetzt anfangen?« Winter blickte auf seine sündhaft teure Uhr. »Ich habe um neun Uhr einen dringenden Termin.«

Sofort verflüchtigte sich Falks Mitgefühl. Wahrscheinlich war der Tod des Politikers eher eine Unannehmlichkeit für den Staatsanwalt. Er wechselte einen Blick mit Julia Cleve, der zuständigen Rechtsmedizinerin. In vielem lag er mit ihr auf einer Wellenlänge, trotzdem hatte ihre Beziehung nur ein paar Monate gehalten, und sie hatten sich in aller Freundschaft getrennt. Das war inzwischen ein paar Jahre her, aber er freute sich immer, sie zu sehen.

»Natürlich. Wir haben schon alles vorbereitet, weil Sie sagten, dass es so dringend wäre.«

Wahrscheinlich hätte Winter darauf bestanden, die Autopsie sofort vorzunehmen, wenn die Leiche nicht erst noch aus dem Harz hierher hätte transportiert und dann langsam aufgetaut werden müssen. Im harschen Licht des Autopsiesaals wirkten die Wunden am Körper des Toten umso grausiger.

Julia zog Handschuhe über und trat dann an den Obduktionstisch. »Ich werde die Autopsie vornehmen, und Louise Huong wird die Präparation der Organe übernehmen.« Sie sprach in das Mikrofon an ihrem Kragen. »Anwesend sind Staatsanwalt Winter und Kriminalkommissar Wolff. Das Opfer ist Konstantin Pohlmann, er wurde bereits identifiziert. Durch die Umstände seines Todes bei Temperaturen unterhalb des Gefrierpunktes ist eine genaue Aussage über den Todeszeitpunkt nicht möglich.«

Falk mischte sich ein. »Die Kollegen vor Ort gehen davon aus, dass er vor drei Tagen am späten Nachmittag umgekommen ist, zu dem Zeitpunkt wütete ein schwerer Schneesturm. Da sich nur wenig Schnee unterhalb der Leiche befand, aber ein Meter über ihr, ist davon auszugehen, dass er während des Schneesturms starb.«

Julia nickte. »Das ist durchaus möglich und wahrscheinlich die beste zeitliche Einordnung, die wir kriegen werden. Als die Leiche hier eintraf, war sie noch gefroren, ich habe sie über Nacht auftauen lassen, sodass sie jetzt Zimmertemperatur hat.«

Jedes Mal, wenn das Wort »Leiche« fiel, zuckte Winter leicht zusammen, seine Lippen wurden schmaler. Durchaus nachzuvollziehen, wenn Pohlmann ein Freund von ihm war, aber das Wort war nun mal nicht zu umgehen. Vermutlich wäre es besser gewesen, der Staatsanwalt hätte das Beiwohnen der Obduktion jemand anderem aus seinem Büro überlassen.

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