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Kalter Schnitt E-Book

Andreas Franz

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Beschreibung

Der neue große Krimi-Bestseller von Andreas Franz und Daniel Holbe. Julia Durants 17. Fall – und einer ihrer grausamsten. Als die Frankfurter Kommissarin Julia Durant wieder einmal an einen Tatort in Frankfurt gerufen wird, erwartet sie dort ein wahres Blutbad: Eine Frau wurde mit einer Grausamkeit ermordet, wie sie selbst die erfahrene Ermittlerin selten erlebt hat. Und: Sie wurde sexuell verstümmelt. Ein Ritualmord? Zunächst steht Durant vor einem Rätsel. Doch dann entdeckt sie, dass es in der Vergangenheit bereits ähnliche Fälle gegeben, jedoch niemand eine Verbindung zwischen ihnen erkannt hat. Hat es Julia Durant mit einem Serientäter zu tun, der sein gefährliches Spiel bislang im Verborgenen trieb?

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Andreas Franz / Daniel Holbe

Kalter Schnitt

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Der neue große Krimi-Bestseller von Andreas Franz und Daniel Holbe.

Julia Durants 17. Fall – und einer ihrer grausamsten.

Als die Frankfurter Kommissarin Julia Durant wieder einmal an einen Tatort in Frankfurt gerufen wird, erwartet sie dort ein wahres Blutbad: Eine Frau wurde mit einer Grausamkeit ermordet, wie sie selbst die erfahrene Ermittlerin selten erlebt hat. Und: Sie wurde sexuell verstümmelt.

Ein Ritualmord? Zunächst steht Durant vor einem Rätsel. Doch dann entdeckt sie, dass es in der Vergangenheit bereits ähnliche Fälle gegeben, jedoch niemand eine Verbindung zwischen ihnen erkannt hat.

Hat es Julia Durant mit einem Serientäter zu tun, der sein gefährliches Spiel bislang im Verborgenen trieb?

Inhaltsübersicht

MottoPrologDezember 2014FreitagMontagDienstagMittwochSamstagMontagDienstagMittwochDonnerstagFreitagSamstagEpilogNachwortLeseprobe »Julia Durant«
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Wenn es dunkel wird, taucht das Gesindel auf.

Ich hoffe, eines Tages wird ein großer Regen diesen ganzen Abschaum von der Straße spülen.

 

Taxi Driver, 1976

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Prolog

Sie fuhr mit der U-Bahn durch die halbe Stadt. Spürte, wie jedes Mal, die Blicke der anderen auf sich. Doch der Weg war zu weit, um ihn in Stöckelschuhen zu bewältigen, und es hatte wie aus Kübeln zu gießen begonnen. Das Haarspray schien aus den nassverklebten Strähnen zu dampfen, ihre Strumpfhosen waren fleckig. Irgendein Arschloch hatte eine Pfütze durchpflügt, als er an ihr vorbeigefahren war, während sie zur Haltestelle stakste. Sie war sich sicher, dass es mit voller Absicht geschehen war.

Ihre mit Rouge übertünchte Augenpartie verengte sich zu Schlitzen, während sie die beiden Damen musterte, die eine Viererbank weiter saßen. Ende sechzig, eine in einer Art Jagdkluft, die andere trug dazu passend einen Fuchsschal. Ein Dackel saß zwischen ihnen auf der Bank. Er trug eine Art Umhang, ebenfalls in Jagdgrün. Schmierte seinen Hundehintern auf das Polster. Ihr Blick verweilte auf dem Hund, was einer der Alten nicht entging. Sie neigte sich zu ihrer Begleiterin und tuschelte etwas.

»Sagen Sie’s ruhig laut!«, platzte es aus ihr heraus, und die meisten Augen im Waggon richteten sich auf sie. Zum Glück waren es nur eine Handvoll Menschen inklusive ein paar Halbstarker, die sich auf ihre laute Musik konzentrierten, und ein knutschendes Pärchen.

»Fragen Sie sich, wie viele Schwänze ich heute geritten habe?«

Sie spreizte die Beine und deutete in Richtung ihres knappen Jeansrocks. Den beiden Frauen klappten die Münder auf, ihre Augen weiteten sich. Noch bevor sie sich kopfschüttelnd abwenden konnten, legte die Hure nach.

»Vielleicht war euer Karl-Egon-Heinz-Erwin ja auch dabei, wer weiß?«, spottete sie lautstark. »Aber Hauptsache, eure heile Welt ist in Ordnung und eure einzige Sorge bleibt, welche Farbe Waldis neuer Pullover haben soll!«

Das Quietschen der Bremsen und ein leichtes Beben kündigte die nächste Haltestelle an. Ob es ihr Ziel war oder nicht, die Damen nebst Hund erhoben sich und verließen mit gerümpften Nasen die U-Bahn.

Sie lächelte freudlos und blickte aus dem Fenster in die Dunkelheit.

Mit siebenunddreißig Jahren, so grausam es auch klang, gehörte sie zum Alteisen der Straßennutten. Krähenfüße, die nicht vom Lachen herrührten, Hängebusen und, was am schlimmsten war, ausgeprägte Dehnungsstreifen, die wie eine Gewässerkarte über ihrem gesamten Bauch lagen. Einen Blowjob gab sie für zwanzig, notfalls auch für zehn. Ohne Gummi. In einer Zeit, wo fette Geldsäcke mittleren Alters problemlos an Fünfzehnjährige kamen, die es ohne Kondom taten, durfte man nicht wählerisch sein. Ficken kostete dreißig. Einen braunen Schein dafür kassieren zu können war längst Geschichte. Meist schob sie den Rock nach oben und ließ es sich im Auto machen, in Lkw-Kabinen oder auf dem Rücksitz. Wenn Freier es vorzogen, dass sie die Kleidung ablegte, machten nicht wenige ein betretenes Gesicht, wenn sie die Schwangerschaftsstreifen erblickten.

Die Frage, ob sie wenigstens noch eng war, stellte kaum einer, auch wenn sie jedem ins Gesicht geschrieben stand. Manchmal nahm sie ihre Hände zu Hilfe, um ihre Scham zu verkleinern. Wie eng konnte frau schon sein, wenn sie dreihundertfünfzig Tage im Jahr die Beine breit machte?

Sie dachte über die Frage nach, die sie den Frauen an den Kopf geworfen hatte. Wie viele waren es heute gewesen? Sie öffnete das Portemonnaie und zählte das bunte Papier. Blau. Braun. Dazu ein paar Münzen. Es hatte schon bessere Tage gegeben, zum Beispiel, wenn bedeutende Messen in der Stadt waren. Aber auch schlechtere. Zwei Stationen noch bis zur Konstablerwache. Sie klappte den Abfalleimer auf und spuckte ihren Kaugummi hinein. Sofort stieg der säuerliche Geschmack nach Eiweiß und Eisen wieder auf. Schlucken kostete extra. Nicht ohne Grund. Sie erhaschte einen flüchtigen Blick auf ihr Spiegelbild, während draußen die Wandfliesen vorbeijagten und die Bahn in ein erneutes Anhaltemanöver überging. Der Platzregen hatte ihre Schminke verwischt. Sie sah aus wie ein Clown, unter den Augen hatte sich Eyeliner angesammelt und schließlich seinen Weg wangenabwärts gesucht. Sie musste an Alice Cooper denken, der seine Augen stets mit schwarzer Schminke in Szene setzte. Wenn er schwitzte, sah er aus, als würde er Altöl heulen. Dann dachte sie an Smokey Robinson. The Tears of a Clown. Ein trauriges Lächeln spiegelte sich in der Scheibe. Niemand interessierte sich dafür, was sie fühlte. Wie sie empfand. Wenn sie stöhnte, als gefiele es ihr, wenn der Freier sie nahm. Wenn sie ihm antörnende Worte zuflüsterte. Denn ein Kunde, der keinen hochbekam, zahlte nicht. Ebenso wenig wie jemand, der nicht abspritzte. Statt Geld gab es dann nicht selten Prügel. Nichts kränkte Männer mehr, als wenn ihr sexuelles Ego einen Lackschaden erlitt.

Es regnete noch immer, als sie von der Haltestelle in die Seitenstraße bog. Die Wolken entluden ihre Wassermassen, als suche eine Sintflut die Stadt heim. Als wolle das jüngste Gericht die Sünden aus der Metropole spülen. Sie verzog die Lippen. Ein einfacher Platzregen würde wohl kaum dafür ausreichen.

Sie öffnete die Wohnungstür mit einem Schubs. Das Schloss klemmte, niemand kümmerte sich darum.

Im Flur stolperte sie über die Schuhe. Flecken auf dem Teppich verrieten ihr, dass irgendwer nach Einbruch des Unwetters nach Hause gekommen sein musste. Sie verkniff sich ein Fluchen. Sie war keine gute Hausfrau. Doch sie arbeitete daran. Versuchte, nicht aus Raviolidosen und vom Lieferservice zu leben, auch wenn ihr das nicht immer gelang. Versuchte, vernünftige Kleidung im Schrank zu haben. Und halbwegs saubere Fenster.

Bevor sie sich mit ihrem Rufen ankündigte, schritt sie ins Bad. Öffnete den Wasserhahn und drehte den Ablauf zu. Trommelnd strömte es in die verkalkte Wanne, der Heißwasserboiler knackte. Aus dem hinteren Zimmer hatte der Fernseher geklungen. Er war zu Hause. Wo sollte er auch sein? Sie streifte ihren regendurchtränkten Rock ab und warf ihn zu der dünnen Jacke. Dazu die Nylons. Ihre Schuhe hatten abgestoßene Spitzen, und an den Absätzen fehlte Lack. Doch wer achtete schon darauf? Mit wenigen Handgriffen entfernte sie das Make-up. Sie wollte nicht wie eine Nutte aussehen, wenigstens nicht zu Hause.

»Kommst du?«, lockte sie dann.

Es dauerte einige Sekunden, dann vernahm sie Schritte. Geschmeidig glitt sie ins Badewasser. Schaum türmte sich auf. Er bedeckte ihre Brüste. Das Wasser reinigte sie, auch wenn sie schon seit langem das Gefühl verloren hatte, richtig sauber zu sein. Zu viele Männer, zu viel Gleitcreme, zu wenig Gummis. Sie verdrängte diese Gedanken hastig, als er in den Türrahmen trat.

Sie reckte sich ihm entgegen. Er lächelte. Dann stieg er ins Wasser, den Hahn hatte sie abgedreht. Schaum quoll über den Rand. Ihre Zungen verbanden sich miteinander, als hätten sie sich wochenlang nicht gesehen. Sämtliche Leidenschaft, die es bei käuflicher Liebe nicht gab, durchwogte sie, und ihre Brustwarzen wurden so hart, dass es sie fast schon schmerzte. Ihre Scham sehnte sich nach ihm, sie wollte ihn in sich spüren. Es genügte gerade noch für ein »Hallo« und »Du hast mir so unendlich gefehlt«, das sie ihm ins Ohr hauchte. Dabei neckte sie ihn mit den Zähnen am Ohrläppchen. Der Schaum legte sich wie eine knisternde Decke über das, was sie taten. Als wolle er die Sünde überdecken.

Er war der einzige Mann, den sie je geliebt hatte. Der einzige, den sie jemals lieben würde.

Und er liebt mich auch.

Das wusste sie.

Immerhin war er ihr Sohn.

 

Und draußen blitzte und donnerte es, und Sturzbäche gingen auf die Stadt nieder.

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Dezember 2014

Julia Durant zog ihren Schal enger. Sie hatte beinahe vergessen, dass der Winter in München ein anderer war als im milden Frankfurt. Eine Böe schnitt ihr ins Gesicht, als sie die Wärme des Einsatzwagens verließ. Doch es war noch eine andere Kälte, die sie spürte. Ein Gefühl, das von innen kam. »Alles okay?«, erkundigte sich Claus Hochgräbe, der den Einsatz leitete. Sie lächelte schief. Julia war es schon viel zu lange gewohnt, dass sie die Leitung übernahm. Selbst damals, als ihre Karriere in München begann, hatte sie mehr zu sagen gehabt als in diesem Moment. Sie verjagte den Gedanken und nickte.

»Als hätte ich mein ganzes Leben auf diesen Moment gewartet«, sagte sie und zwinkerte ihm zu, denn sie wollte nicht, dass er sie falsch verstand. Hochgräbe war ein sensibler Mann. Er war ihr Lebensgefährte seit über vier Jahren – und damit länger als die meisten anderen zuvor. Ihre Beziehung funktionierte, weil jeder seine Freiräume hatte. Davon war Durant überzeugt. Sie war in Frankfurt, er war in München. Ihre freie, gemeinsame Zeit war kostbar, in den Tagen dazwischen pflegten sie Freundschaften und gingen ihrem Job nach. Kriminalpolizei, Mordkommission. Jeder in seiner Stadt.

Doch all das sollte sich mit einem Mal verändern. In genau einer Woche würde Kommissariatsleiter Berger in Frankfurt seinen Hut nehmen. Einen Tag später würde Hochgräbe Bergers Büro einnehmen, er würde in Julias Wohnung ziehen, er würde ihr Vorgesetzter werden. Die Kommissarin wusste nicht genau, was davon ihr am meisten Angst bereitete.

Würde ihr Leben in Frankfurt dann so aussehen wie jetzt? War sie plötzlich die Nummer zwei? Würde man sie ernst nehmen, auch wenn sie mit dem Chef schlief, oder würde man sich hinter ihrem Rücken das Maul zerreißen? Und würden Claus und sie es schaffen, Bett und Schreibtisch voneinander zu trennen?

Aber just in dieser Sekunde, in einer windigen Straße Schwabings, Hunderte Kilometer von Frankfurt entfernt, blieb ihr keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Sie konnte diese Fragen ohnehin nicht beantworten. Und die bevorstehende Verhaftung war wichtig genug, um alles andere in den Hintergrund zu drängen. Vor einem halben Jahr hatte ein Rachemord die Stadt erschüttert. Ein Vater, dessen Kind ermordet worden war, hatte den Mörder nach zehn Jahren aufgespürt und hingerichtet. Niemand bejubelte die Verhaftung. Es war ein gebrochener Mann, der ins Gefängnis von Weiterstadt geschickt wurde. Und er war unschuldig. Trotzdem gestand er. Es war ein schmutziger Deal, vermutlich spielte Geld eine Rolle, denn weder Politik noch Justiz hatten ein Interesse daran, dass der Fall erneut Wellen schlug. Der Kindermörder von damals hatte zu vielen bedeutenden Männern nahegestanden. Doch dann hatte der wahre Mörder eine Spur hinterlassen. Und Julia Durant hatte sich wie ein Bluthund an seine Fersen geheftet.

 

Die Pension wirkte, als sei hier vor Jahrzehnten die Zeit stehengeblieben. Plüschkissen, zwei geblümte Ohrensessel im Erdgeschoss, gemusterte Tapeten. Altrosa, pastellgrün, cremeweiß. Kitschiges Hochglanzporzellan und eine beleibte Herbergsdame, deren blonde Locken wie ein Kunstwerk auf ihrem Kopf drapiert waren. Mit tiefer Stimme und beinahe schon ins Österreichische gehendem Dialekt empfing sie die Beamten.

»Ihr macht’s mir das ganze Haus narrisch. Muss das sein?«

Hochgräbe sprach beruhigend auf sie ein, bis sie nickte und sich zu ihren aufgeregt kläffenden Pudeln zurückzog.

Es musste sein.

Vor zwei Tagen hatte das Telefon geklingelt. Eine Autobahnraststätte an der A 8, auf halbem Weg zwischen Augsburg und Ulm. Im Speicher der Videoüberwachung war man auf eine der meistgesuchten Personen des Jahres gestoßen. Einen Mann mittleren Alters, der sich der Hinrichtung sexueller Straftäter verschrieben hatte. Er spürte sie auf, manchmal quälte er sie – womöglich inspiriert von dem Fernsehschurken Dexter –, indem er ihnen Fotos oder Zeitungsberichte über ihre Verbrechen vorhielt, bevor er ihnen das Leben nahm. Im Laufe der Ermittlungen waren die buntesten Theorien entstanden, zumal aus ganz Europa Fälle hinzugekommen waren, die in ein mögliches Raster passten. Dank Tankstellen- und Verkehrskameras war es nun gelungen, das Auto samt Kennzeichen zu identifizieren. Ab Augsburg hatte die Kriminalpolizei die Beschattung aufgenommen. Als er die Stadtgrenze Münchens passierte, waren Hochgräbe und Durant längst informiert. Durant, in deren Revier er zuletzt gemordet hatte, war sich sicher, dass er nicht zufällig in die Bayernmetropole reiste.

»Du glaubst, er hat ein neues Opfer?«, hatte Hochgräbe gefragt.

Die Kommissarin hatte entschlossen genickt. »Er tut nichts ohne triftigen Grund.«

So gerne sie ihn sofort verhaftet gesehen hätte, drängte sie darauf, die Observierung fortzusetzen. »Zugriff nur, wenn’s wirklich brenzlig wird. Er soll sich erst einmal in Sicherheit wähnen. Seine nächsten Schritte planen. Vor Gericht werden wir jedes Indiz brauchen.«

Er war ein Phantom, das keine Spuren hinterließ. Ein Killer, von dessen Existenz die Behörden erst kürzlich erfahren hatten.

Während Julia Durant sich auf den Weg nach München machte, rauchten dort die Köpfe der Kollegen. Alte Fälle wurden ausgegraben, laufende Ermittlungen abgeglichen. Am Abend, als Durant eintraf, hatte der Gesuchte in einer Pension in Schwabing eingecheckt. Einige Häuser weiter, das hatte Hochgräbes Team rasch herausgefunden, wohnte ein Triebtäter, der erst kürzlich aus der Haft entlassen worden war. Paul Ottwaldt, ein Nachhilfelehrer, der sich an seinen Schülerinnen vergangen hatte. Der sich Zwölfjährigen aufzwang und ihnen die Kindheit raubte. Er war rehabilitiert, seine Strafe war abgesessen. Er hatte sich beim Psychologen reumütig gezeigt, die Sozialarbeiter belatschert und (angeblich) seinen Glauben an Gott gefunden. Sosehr es die Kommissarin ankotzte: Wenn Ottwaldt im Visier stand, musste die Polizei ihn schützen. Seine Wohnung wurde ebenfalls observiert. Was er getan hatte, war gesühnt. Nach den geschändeten Mädchen – einige von ihnen gingen noch immer hier zur Schule und wohnten in unmittelbarer Umgebung – krähte kein Hahn mehr. Es war eine Frage der Zeit, wann eine von ihnen im Supermarkt oder in der U-Bahn in Ottwaldts Fratze blicken würde.

 

Er hatte sich unter dem Namen Hans Webermeier eingetragen. Die Kopie seines Personalausweises war schlecht belichtet, doch das Foto ähnelte dem Phantombild frappierend.

Sechs Paar Beine stapften die enge Treppe hinauf. Laut der Eigentümerin gab es oben eine Feuertreppe, doch die Fenster waren an ein Alarmsystem gekoppelt. Die Zimmertür flog auf. Durant taxierte das Zimmer, welches eng und womöglich noch plüschiger war als der untere Flur. Ein Rollkoffer, auf dem Tisch Papiere, aber keine Person. Dabei hatte es geheißen, er habe die Pension nicht verlassen. Doch wer wusste schon, wie viel Aufmerksamkeit die aufgetakelte Alte unten ihrem Fernseher oder den beiden Hunden widmete. Und auch ein Observierungsteam war nicht unfehlbar. Sofort prüfte Durant die Fenster. Sie waren geschlossen. Die Bettdecke wurde abgeräumt, die Schranktür aufgerissen. Wo war das Bad? Als sie das Waschbecken sah, durchfuhr es die Kommissarin wie ein Blitz. Sie sprang zurück auf den Gang, um ein Haar hätte sie einen Kollegen die Treppe hinabbefördert. Rüttelte an der weiß gelackten Holztür, wo in Augenhöhe ein goldener Junge mit zurückgelehnter Schulter in einen Topf pinkelte. Abgeschlossen.

Zwei Minuten später trug der Mann Handschellen. Es war ein Volltreffer. Die Bildzeitung würde frohlocken:

Europaweit gesuchter Serienkiller auf dem Lokus verhaftet.

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2015

Freitag

Freitag, 23. Januar

Hatte sie sich beim Parken noch gefragt, ob es richtig war, was sie tat, waren sämtliche Zweifel nunmehr verflogen. Isabell Schmidt gab den Code ein, der die Tür freigab. Das Haus reihte sich ein in elegante Gebäude aus der Jahrhundertwende, die allesamt zwar protzig wirkten, aber nicht weiter auffielen, weil es in dem Viertel keine anderen Gebäude gab. Die Straßenlaternen standen hier enger, und die Hecken waren gepflegter, aber auch höher als anderswo. Wie von unsichtbarer Hand war einer der beiden Torflügel aufgeschwungen. In der Doppelgarage stand das Auto ihres Mannes, doch dieser befand sich in New York.

Ein anderer wartete im Haus auf sie. Er wartete, genau so, wie die beiden es verabredet hatten.

Sie hatte ihm die sechsstellige Kombination des Codeschlosses verraten. Das war ein akzeptables Risiko, denn ihr Mann oder sie selbst änderten die Zahlenfolge regelmäßig. Zuerst war es einer ihrer Jahrestage gewesen; der Kennenlerntag, der Verlobungstag, der Hochzeitstag. Später wich die Romantik der Einfachheit. Mathematische Zahlenreihen, Muster auf dem Bedienfeld. Aktuell war es 1-5-9-3-5-7, man zeichnete damit ein X.

Heute sollte es passieren. Isabell hatte ihn vor ein paar Wochen kennengelernt. Wie aus dem Nichts war er in ihr Leben getreten. Sie glaubte nicht an Schicksal, doch in ihrem Inneren spürte sie, dass ihre Begegnung eine tiefere Bedeutung haben musste. Scheu und ganz die biedere Ehefrau gebend, hatte sie sämtliche Komplimente hingenommen, aber nicht erwidert. Doch mit der Zeit konnte, nein, wollte sie sich nicht mehr verschließen. Leonhard Schmidt jagte von einer Konferenz zur nächsten. Rio, New York, Tokio. Früher hatte sie ihn begleitet. Doch ihre Leben besaßen längst keine Schnittmenge mehr. Die Villa war zum goldenen Käfig geworden.

Heute hatte sie ihm den Schlüssel zu diesem Käfig gegeben. Würde ausbrechen aus ihrem Gefängnis. Isabell spürte die Hitze, die sich in ihr ausbreitete, als sie den Weg entlangschritt, der zwischen mannshohen Fliedern zum Eingangsportal führte.

Er erwartete sie, als gehörte er schon immer hierher. Bis dato hatte es keinerlei körperlichen Kontakt zwischen ihnen gegeben, bis auf einen scheuen Kuss in einem Parkhaus, bei dem seine Zungenspitze die ihre berührt hatte. Isabell hatte stundenlang nicht schlafen können. Zuerst war es das Gewissen gewesen, dann aber etwas ganz anderes. Sie hatte den Vibrator aus der Schublade gezogen, der unter den Seidenslips ruhte, die niemand außer ihr mehr beachtete. Dreimal hatte sie sich befriedigt, leise jauchzend, als gäbe es jemanden, den sie wecken könnte. Dabei hatte sie sich vorgestellt, wie es wäre, wenn seine Zunge über ihre Brüste wanderte. In sie hinein. Wenn sie sich vereinigten.

Heute wollte sie es spüren.

Sie umarmten sich. Dann nahm er ihren Kopf zwischen die Hände. Ihre Blicke fingen einander.

»Du hast mir gefehlt«, hauchte Isabell. Sie spürte die warmen Lippen, die sie auf die Stirn küssten.

»Du mir auch. Ich habe mich den ganzen Tag auf diesen Moment gefreut.«

Sie versuchte, sich aus dem Mantel zu winden, ohne sich aus seiner Nähe zu befreien.

»Hattest du keine Angst, gesehen zu werden?«, fragte sie unsicher.

»Nein, du etwa? Hast du Angst, dass wir beide auffliegen?«

»So habe ich das nicht gemeint.« Sie versuchte, sich zu entspannen, doch es gelang ihr nicht. »Ich meine ja nur.«

»Setz dich. Wo ist dein Lieblingsplatz?«

Sie deutete auf die Ecke der Couch, von der man den Fernseher sehen und gleichzeitig die Beine hochlegen konnte.

»Setz dich«, kam es erneut. Die Stimme schnurrte fast, dazu spürte sie sanfte Berührungen, die Gefühle in ihr hervorbrachten, die sie längst verloren geglaubt hatte. Sie schloss die Augen, während sie die warmen Hände auf ihren Schultern spürte. Leicht massierend, dazu ein Summen. Ein Blinzeln ließ sie die Champagnerschalen auf dem Tisch entdecken.

»Dein Mann ist also in New York?«

Sie nickte.

»Wie viele Bonusmeilen ergibt das?«

Isabell musste lachen. »Was ist das denn für eine Frage?«

»Interessiert mich halt. Ich mag es außerdem, wenn du lachst. Also hat die Frage ihren Zweck erfüllt. Du bist besonders schön, wenn du lachst.«

»Danke«, gluckste sie, verlegen wie ein Schulmädchen, das vor ihrem ersten Date stand. Mit dem Alphamännchen des Jahrgangs. Ihr Mann machte ihr schon lange keine Komplimente mehr. Sie schliefen getrennt, ihr Lustgewinn beschränkte sich darauf, teure Kunstwerke zu kaufen, die anschließend in der großzügig bemessenen Villa verstaubten. Verstaubten wie ihre kinderlose Ehe, wie ihr ganzes Leben.

»Möchtest du ein Glas Champagner?«

Sie nickte. Sofort stand eines der Gläser vor ihr. Zwei Himbeeren plumpsten hinein. So heftig, dass es die Früchte drehte. Winzige Eiskristalle lösten sich auf. Neben dem Glas befand sich eine Kiste Zartbitterpralinen.

Isabell Schmidt war drauf und dran, ihren Mann zu betrügen. Doch es gab kein Zurück mehr, schon lange nicht. Sie hätte es schon vor Jahren getan, wenn sie den Mut dazu aufgebracht hätte. Doch heute würde es geschehen. Einfach so. Und das auch noch mit Stil.

Der Champagner trieb ihr das Blut in die Wangen, und schon beim zweiten Glas spürte sie, dass sich auch in ihrem Höschen etwas regte. Sie öffnete ihre Lippen und stöhnte auf, als sie sich die Haarnadel entfernte. Schüttelte den Kopf und ließ die sanft gelockte Pracht frei.

»Du bist wunderschön.«

Sie hob die Augenbrauen.

»Möchtest du nach oben gehen?«

»Ja.«

Sie griff nach einer Praline, während sie aufstand. Dachte an ihre Hüften und an die Oberschenkel, denn dorthin würde die Schokolade sofort wandern. Doch es war zu spät. Sie wollte sie. Fast schon trotzig schob sie sie in den Mund.

Isabell hatte den Gedanken zunächst kaum ertragen können, dass sie ihn in ihr Zuhause ließ und so die Kontrolle aus der Hand gab. Dass sie nicht wusste, was er dort für sie vorbereitete. Doch er hatte jeden Zweifel mit seiner charmanten Art überspielt, jedes Argument mit einem Lächeln in nichts aufgelöst.

»Ich werde dir einen perfekten Abend schenken.«

Damit hatte er sie überzeugen können, denn ihr ganzer Körper sehnte sich nach ihm, und sie hatte diese Nacht um nichts in der Welt gefährden wollen.

Im Schlafzimmer erwarteten sie Kerzen. Für eine Sekunde zögerte sie, bevor sie den Atem in ihrem Nacken spürte.

»Was ist? Willst du nicht mehr?«

»Doch, doch.« Um ein Haar wäre sie gestolpert. Sie ließ sich auf die Matratze sinken.

»Ich möchte dich anschauen, bevor ich dich spüre.«

»Ich möchte dich auch spüren.«

»Eins nach dem anderen. Wir haben alle Zeit der Welt. Möchtest du dich nicht ausziehen?«

»Doch … schon.«

»Stört dich das Licht? Ich kann es löschen.«

»Nein.« Mit einem Mal fühlte sie sich hilflos. Sie wollte es, sie sehnte sich so sehr nach Nähe. Doch sie fühlte sich irritiert. Champagner. Kerzen. Und nun die Bitte, sich auszuziehen.

»Wie oft hast du das schon gemacht?«

Man konnte das Plopp fast hören, mit dem die erregte Anspannung zwischen ihnen wie eine Seifenblase zerplatzte.

»Wie meinst du das?«

»Nun.« Sie deutete an sich herab, dann in den Raum. »Du erwartest mich, du richtest alles schön her, du gehst mit mir ins Schlafzimmer. Champagner, Schokolade, es wirkt alles irgendwie, hm, abgekartet.«

Fragend blickte er sie an. Auf eine Weise, die ihr Unbehagen bereitete. Mit einem Blick, dem sie sich ausgesetzt fühlte.

»Möchtest du nicht mehr?«

War es das, was er in ihr lesen konnte?

Isabell wollte, sie wollte es sogar sehr. Und sie verstand nicht, was genau in ihr dagegen aufbegehrte. Das Gewissen war es nicht. Sie wollte aufstehen, damit er nicht von oben auf sie herabsah. Doch ihre Beine waren wie Blei. Sie schüttelte den Kopf, um irgendetwas zu tun.

»Das war nicht meine Frage.« Plötzlich begann ihr Herz zu hämmern. Sie atmete schneller. »Mir ist schwindelig. Kannst du mir bitte hochhelfen?«

»Du willst wissen, wie oft ich schon Sex hatte?«

»Nein. Ich will wissen, wie viel von alldem hier ehrliche Romantik ist. Oder, wichtiger noch, was wird passieren, wenn wir miteinander geschlafen haben? Verschwindest du dann auf Nimmerwiedersehen? Denn das möchte ich nicht.«

Sie drückte ihre Arme in die Matratze, um sich nach oben zu stemmen. Diesmal gelang es ihr.

»Was ist bloß los mit dir?«, fragte er einfühlsam. Ein Blick in seine Augen ließ das Feuer wieder aufflammen. Das Wechselbad ihrer Gefühle war schwer zu ertragen. Isabell wollte sich ausziehen. Wollte sich hingeben. Doch sie war nicht so verzweifelt, dass sie sich wegwerfen würde. Außerdem verstand sie nicht, was mit ihrem Körper geschah. Sie wankte wie eine Boje im Sturm, zumindest kam es ihr so vor. Doch das mochte Einbildung sein. Seine Hände hielten ihre Unterarme. Die Bilder an den Wänden hoben und senkten sich. Waren es die Hormone, der Alkohol und die Schokolade? Verlangen, Rausch und Endorphine? Ihr kam eine Idee. »Was wäre, wenn ich noch mehr Champagner möchte? Noch mehr Pralinen? Und wenn ich wieder runtergehen will, um mich zu unterhalten? Ich liebe es, dir zuzuhören.«

»Wir werden uns unterhalten, glaub mir«, lächelte er und löste abrupt seine Finger. Isabell plumpste nach hinten. Ihr Rock rutschte nach oben und gab ihre Oberschenkel frei. Zum ersten Mal seit zwanzig Jahren trug sie Strumpfhosen mit Strapsen. Schwarz-rosa-farbene Dessous, die sie sich extra für heute in einer Boutique gekauft hatte. Sie spürte, wie ihre Knie auseinanderklappten, als öffne sie sich mechanisch. Ihre Arme pulsierten warm, doch sie gehorchten ihrem Willen nicht.

Panisch blickte sie ihn an, während er sagte: »Wir werden noch sehr viel Zeit miteinander verbringen.«

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Montag

Montag, 26. Januar, 8:15 Uhr

Es kam ihr vor, als spüre sie jede einzelne Zigarette, die sie in ihrem Leben geraucht hatte. Die Lungen stachen, ihre Waden zitterten, doch sie spornte sich an. Der Weg ging leicht bergan, vielleicht tat sie sich deshalb schwer. Sie hörte keine Musik, hing ihren Gedanken nach. Schwitzend und keuchend waren das nicht nur angenehme. Den wenigen Joggern, die ihr begegneten, schien es ähnlich zu gehen. Dabei hieß es doch, Sport mache Spaß.

»Am Arsch«, stieß Durant aus und sah auf ihr Handy. 2,8 Kilometer. Noch zweihundert Meter, entschied sie, dann wieder zurück zum Auto. Für eine fast vierwöchige Pause waren sechs Kilometer ein guter Einstieg. Und trotz aller Qualen genoss sie es. Das Alleinsein. Die Ruhe.

Es war ein anderes Leben, seit sie mit Claus zusammenwohnte. Er verbrachte viel mehr Stunden im Präsidium als sie, weil er sich einarbeiten musste. Berger hatte eine Lücke hinterlassen, und zwar nicht nur fachlich, die es zu füllen galt. Es glich einer Sisyphusaufgabe, die Hochgräbe mit der Gewissheit ausführte, dass es immer Neider und Hasser geben würde. Egal, wie tapfer man sich schlug.

Als Durant eine gute Viertelstunde später in ihrem viktoriaroten Opel GT Roadster saß, gönnte sie sich eine halbe Flasche Wasser und entfaltete ihre Zeitung. Der Motor lief warm, sie hatte ein Handtuch um den Nacken gelegt. In Griechenland wurde gewählt. Man schrieb über den Terror in Paris. Über Boko Haram, den anderen Anschlag in Nigeria, verlor man kein Wort mehr. Und wen interessierte es schon, dass vor vier Wochen ein einzelner Killer verhaftet worden war? Ein Ermittlungserfolg, der für Europol ein Aushängeschild sein könnte. Der sich selbst in einem Satiremagazin gut gemacht hätte. Durant stellte sich vor, wie ein bärtiger Mann in rot-weißer Kluft auf der Toilettenschüssel saß. In seinem Sack die Köpfe aller Kinderschänder, denen er den Garaus gemacht hatte. »Frohes Fest!« in einer Sprechblase, und die Fäuste lugten aus Handschellen. Als Mutter eines Teenagers hätte sie darüber lachen können. Und wäre froh gewesen, dass sich wenigstens irgendjemand um die Schweine gekümmert hätte, die entweder nie verurteilt oder viel zu früh in den offenen Vollzug geschickt wurden. Doch seit es den Terror gab, den IS und seit im Mittelmeer täglich Menschen ertranken … Wen interessierte da noch die alltägliche Arbeit der Polizei? Julia Durant schmetterte die Zeitung auf den Beifahrersitz. Das Handy summte. Claus.

»Morgen, Liebste«, sagte er. Sie murmelte etwas zurück und warf einen Blick auf die Uhr. Eigentlich hatte sie heute frei.

»Wo bist du?«, erkundigte er sich. »Immer noch am Laufen?«

»Gerade fertig.«

»Wie schnell kannst du im Präsidium sein?«

»Scheiße, Claus, das ist nicht dein Ernst, oder?« Durant war unterzuckert und dachte nur daran, baldmöglichst einen Kaffee und etwas zu beißen zu bekommen.

»Wir haben eine Tote. In der Kennedyallee.«

»Wie? Bei Andrea?«, wunderte sich Durant.

Das Institut für Rechtsmedizin befand sich dort, zuständig für sämtliche Obduktionen der Umgebung. Südlich des Sachsenhäuser Mainufers, in einer alten Villa. Dr. Andrea Sievers war die Leiterin davon, außerdem war sie eine langjährige Freundin der Kommissarin.

Claus Hochgräbe lachte. »Nein, so habe ich das nicht gemeint. Wobei, mittlerweile dürfte sie wohl dort sein.«

»Ich verstehe nur Bahnhof«, antwortete Julia fahrig. War es der Sport auf leeren Magen, der ihr Gehirn lahmlegte? »Wo soll ich denn jetzt hinfahren? Scheiße, Claus, das wäre mein einziger freier Tag seit zwei Wochen gewesen!«

»Tut mir leid. In der Kennedyallee wurde eine ermordete Frau gefunden. Alles deutet auf ein Sexualdelikt hin. Und dass du die erste Wahl für solche Fälle bist, pfeifen hier ja die Spatzen von den Dächern.«

Durant stöhnte auf. Sie hatte in aller Ruhe frühstücken wollen. Zweimal. Erst etwas Schnelles, um ihren Energiehaushalt auszugleichen, und später, gegen elf Uhr, noch einmal im Main-Taunus-Zentrum. Croissants, Rosinen-Vanille-Schnecken und, wenn noch Platz war, ein Salamibaguette. Mit Alina Cornelius, einer hiesigen Psychologin und zugleich ihrer besten Freundin – zumindest auf den Frankfurter Raum bezogen. Julia Durants engste Freundin hatte sich vor Jahren in ihre Wahlheimat Südfrankreich abgesetzt. Die Kommissarin fröstelte. Laut Wetterbericht würde das Thermometer heute nicht über drei Grad klettern. An der Côte d’Azur war es mit Sicherheit zehn Grad wärmer. Mindestens. Sie fühlte sich gleich doppelt betrogen.

»Dann wartet auf mich. Ich möchte noch duschen. Um halb zehn spätestens bin ich da.«

»Du bist der Boss«, erwiderte Hochgräbe.

Nein, bin ich nicht, dachte Durant. In all den Jahren, die sie hier in Frankfurt tätig war, hatte sie sich nie weniger als Boss gefühlt als gerade jetzt.

 

Eine Viertelstunde früher als angekündigt stand sie in Hochgräbes Büro. Das Türschild war noch immer das alte, Bergers Name unter der Raumnummer. Kornfliegen saßen hinter dem Plexiglas; gefangen, verendet, konserviert. Als gehörten sie schon immer dorthin. Quer über die Oberfläche war ein Streifen Kreppband geklebt, auf dem Claus mit schwarzem Edding seinen Namen vermerkt hatte.

»Hallo Julia«, überraschte Hellmer sie, nachdem sie die Tür geöffnet hatte. Er lehnte auf einem der beiden Stühle, die vor dem alten Schreibtisch standen. Von Claus Hochgräbe war nichts zu sehen. »Wusste ich’s doch.«

»Ha, ha«, murmelte sie nur und trat neben ihn. Als sie sich gerade erkundigen wollte, wo der Boss steckte, stand er wie auf Kommando in der Tür. Er umarmte Durant flüchtig und schenkte ihr ein warmherziges Lächeln. Die beiden hatten sich darauf geeinigt, im Präsidium weder Küsse noch sonstige Zärtlichkeiten auszutauschen. Schließlich waren sie beide über fünfzig und keine Teenager mehr.

»Ich hätte euch den freien Tag wirklich gegönnt«, sagte Claus, während er zum Schreibtisch ging. Es war nicht mehr derselbe Tisch, an dem Berger einst gesessen hatte. Doch Claus hatte kein Interesse daran geäußert, das Büro darüber hinaus umzugestalten. Er bezeichnete sich als Purist, solche Dinge waren ihm nicht wichtig. Durant mochte das an ihm. Nicht nur, weil er nicht alles verändern musste, bloß um seinen eigenen Stempel aufzudrücken. Sondern vor allem, weil sein gesamter Hausstand in einen Kleinbus gepasst hätte. Julias Eigentumswohnung in der Nähe des Holzhausenparks war zwar großzügig bemessen (insbesondere für Frankfurter Verhältnisse), doch es wäre ihr ein Greuel gewesen, wenn dort in jeder Ecke neue Einrichtungsgegenstände aufgetaucht wären.

»Vergessen wir’s.« Durant schürzte die Lippen. »Aber ich bekomme vollständigen Ersatz dafür, damit das gleich klar ist!«

»Selbstverständlich.« Hochgräbe griff einige DIN-A4-Blätter und reichte sie ihr.

Sie überflog die Zeilen und betrachtete die Fotografien. Kniff die Augen zusammen, weil die Belichtung ungünstig oder der Ausdruck schlecht kalibriert war. »Armes Ding«, kommentierte sie nach einer Weile.

Soviele Tote die Kommissarin auch schon gesehen haben mochte, es traf sie stets aufs Neue. Dabei waren die Aufnahmen nicht einmal besonders schlimm. Eine Frau saß vollständig bekleidet an einen Baum gelehnt. Als würde sie eine Pause machen. In der Nähe befand sich eine Bushaltestelle. Die Kennedyallee war mehrspurig, führte von der Commerzbank-Arena nach Sachsenhausen hinein oder, wenn man links abbog, direkt ins Zentrum des Bankenviertels. Die Tote schien weder frisiert noch geschminkt zu sein, die Hände lagen in ihrem Schoß. Ein Armreif spiegelte den Blitz der Kamera wider.

»Was wissen wir noch?«, wollte Durant wissen. Der Kurzbericht gab kaum mehr her als die Personalien und den Hinweis, dass es Anzeichen auf ein Sexualdelikt gebe. Wie beiläufig las sich die Notiz, dass dem Unterleib massive Verletzungen zugefügt worden seien.

Isabell Schmidt war gegen vier Uhr früh gefunden worden. Der Berufsverkehr hatte noch nicht eingesetzt, gemeldet hatte das Ganze ein Zeitungsbote. Er hatte sich über das Opfer gebeugt, um den Puls zu fühlen. Um zu sehen, ob es sich um eine Betrunkene handelte. Dabei war ihm aufgefallen, dass die Frau teure Kleidung trug. Unter dem Mantel lugten die Spitzen verführerischer Wäsche hervor.

Noch bevor der Notarzt den Tod festgestellt hatte, konnte praktisch ausgeschlossen werden, dass es sich um eine Straßenprostituierte oder um eine Drogentote handelte. Alles an ihr war elegant, alles deutete auf Klasse hin. Dann hatte man den Mantel geöffnet. Die Oberschenkel waren blutverschmiert, die Kleidung vollgesogen, nicht jedoch der Mantel. Nirgendwo sonst am Körper gab es sichtbare Verletzungen. Als vorläufige Todesursache musste Herzstillstand herhalten, möglich war auch ein Ersticken mit der Hand. Am Hals gab es keine Strangulationsmale.

Hochgräbe räusperte sich. »Der Todeszeitpunkt liegt gegen Mitternacht. Sie ist wohnhaft in Bockenheim, verheiratet, keine Kinder. Ihr Mann ist ein ziemlich einflussreiches Tier. Edelhure können wir demnach wohl ausschließen.«

Durant wollte widersprechen, doch es war zu früh für Spekulationen. »Weiß er schon Bescheid?«

Hellmer verneinte. »Er sitzt im Flieger von New York hierher. Und bevor du fragst: Da saß er auch schon zum Zeitpunkt des Todes.«

»Danke. Weiter im Text. Was für Spuren haben wir? Sie wurde ja wohl nicht an Ort und Stelle vergewaltigt?«

Hellmer verzog den Mund. »Wieso nicht, in der Kennedyallee ist nachts doch tote Hose?«

»Trotzdem. Da floss eine Menge Blut. Sie muss sich lautstark gewehrt haben, es sei denn, sie war betäubt.« Julia stockte. »Verdammt, warum wurde ich nicht sofort verständigt?«

»Weil es zuerst wie ein banaler Raubmord aussah«, antwortete Hochgräbe, »und erst dann wie ein Sexualdelikt. Außerdem war dir der freie Tag so ungemein wichtig.«

Durant fiel der Armreif ein, sie suchte das entsprechende Foto und hielt es sich vor die Nase. Dann schüttelte sie den Kopf.

»Ohrringe, goldenes Armband, was soll der Täter denn gestohlen haben? Das hätte doch auf den ersten Blick auffallen müssen. Selbst ein zugedröhnter Junkie würde sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen. Außerdem schlitzt ein Dieb sein Opfer nicht auf.«

Dann fiel ihr ein, dass der saubere Mantel den Unterleib vollkommen bedeckt haben musste. Man sah es der Frau auf den ersten Blick nicht an, was sie durchlitten haben musste.

»Es war der allererste Eindruck, sagte ich doch«, erwiderte Claus unterkühlt. Sofort schämte Julia sich, doch sie war zu stolz, um das zu zeigen. Hochgräbes Diensterfahrung stand ihrer in nichts nach, im Gegenteil. Aber er kannte die Stadt nicht. Mit Berger hatte Durant nicht selten einen Konflikt ausgetragen. Doch mit Berger war sie auch nicht ins Bett gegangen. Prompt galoppierte ein neuer Gedanke durch ihren Kopf. Sie versuchte, ihn zu verjagen. Nahm sich die Fotos erneut vor, doch der Hall der Hufe klang noch einige Sekunden nach. Seit mindestens drei Wochen hatten sie nicht mehr miteinander geschlafen.

»Gibt es schon etwas aus der Rechtsmedizin?«

»Noch nichts. Dr. Sievers ist seit gut einer Stunde dran. Sie wollte sich melden.«

»Ich möchte mir den Fundort ansehen«, entschied Durant.

»Jetzt?«, fragte Hellmer.

»Nee, an Ostern. Natürlich jetzt.«

»Was erhoffst du dir davon?«, wollte Hochgräbe wissen.

»Die Gute muss irgendwie dorthin gelangt sein. Es gab kein Spiel im Stadion und an einem stinknormalen Sonntagabend vermutlich auch keine Galaempfänge in der Umgebung. In der Villa Kennedy wird sie wohl nicht genächtigt haben, auch wenn wir das prüfen sollten. Außerdem steht rund um die Uhr Polizei dort herum. Vieles spricht dafür, dass sie dort eilig abgeladen wurde. Wurde schon nach den Überwachungskameras geschaut?«

Hellmer räusperte sich und versuchte, seiner Partnerin mit einem verzweifelten Blick begreiflich zu machen, dass Hochgräbe vermutlich weder das Nobelhotel in der denkmalgeschützten Villa Kennedy kannte noch wusste, dass in der Straße einige Konsulate beheimatet waren. Unter anderem das türkische. Polizeipräsenz gab es dort durchgehend. Durant verstand und erklärte es kurz.

»Welche Hausnummern befinden sich in unmittelbarer Nähe des Fundorts?«, wollte sie wissen.

Hellmer musste selbst nachsehen. »Paarundneunzig«, brummte er schließlich. »Nähe Abzweig in die Stresemannstraße.«

Das Institut für Rechtsmedizin und die Konsulate lagen südlich davon, nicht weit entfernt.

»Was für ein Risiko, eine Leiche ausgerechnet dort zu plazieren«, sagte sie. »Wann erwarten wir den Ehemann zurück?«

Hochgräbe prüfte seine Armbanduhr. »Er dürfte mittlerweile gelandet sein.«

Die Uhr war einer der wenigen Gegenstände, die er wie einen Schatz hütete. Sie war das Hochzeitsgeschenk seiner verstorbenen Frau gewesen, wie Durant wusste. Eine Nomos Tangente, schlicht und elegant. Julia hatte kein Problem damit. Mit Anfang fünfzig konnte man keinen Mann finden, der noch nie eine andere Frau geliebt hatte. Und wenn doch, würde mit diesen Exemplaren einiges nicht stimmen.

»Dann passen wir ihn am Flughafen ab«, schlug sie Hellmer vor und stand abrupt auf.

»Dasselbe wollte ich auch gerade anordnen«, nickte Hochgräbe mit einem Funkeln in den Augen.

Julia hob die Augenbrauen.

»Anordnen?«, wiederholte sie.

»Wir können auch abstimmen«, grinste Hochgräbe und winkte ab. Ging es ihm darum, dass sie die Entscheidung getroffen hatte? Julia war sich nicht sicher, doch er sprach schon weiter: »Macht das nur. Ich beneide euch nicht darum.«

»Leider nimmt es uns keiner ab«, brummte Hellmer, der die Spannung zwischen den beiden anscheinend gar nicht wahrnahm. Oder er hielt sich einfach nur raus. Er erhob sich ebenfalls. »Dieser Teil unseres Jobs ist und bleibt eine riesige Scheiße. Wir sollten übrigens auch noch bei Andrea vorbeischauen. Vielleicht hat sie schon etwas, womit wir arbeiten können.«

Hochgräbe hatte nichts einzuwenden.

 

Kurz darauf saß Durant mit Hellmer im Dienstwagen. Hellmer fuhr, wie meistens, wenn sie zusammen unterwegs waren. Er rauchte aus dem Fenster und beäugte die Häuser, die stadtauswärts an ihnen vorbeihuschten. Sie fuhren die Miquelallee in Richtung Autobahn, von dort dauerte es keine zehn Minuten, bis der Flughafen in Sicht kam.

»Ob er mit dem A 380 gekommen ist?«, dachte Durant laut, als eine Maschine im Landeanflug quer über das Auto dröhnte.

»Und wenn schon. In ein paar Minuten wird das keine Rolle mehr für ihn spielen.« Hellmer sah sie nachdenklich an. »Das Einzige, womit er seine New-York-Reise in Verbindung bringen wird, ist der Tod seiner Frau, während er selbst in irgendeiner Bar saß.«

»Machst du ihm daraus einen Vorwurf?«, fragte Julia. »Vielleicht war sie ja auch beruflich verhindert?«

»Und selbst wenn«, gab Frank zurück. »Er wird sich im Nachhinein vorwerfen, dass er nicht mit ihr zusammen verreist ist. Egal, welcher Umstand daran schuld ist.«

»Hinterher ist man meistens klüger«, erwiderte die Kommissarin, und es kam düsterer, als es hatte klingen sollen.

Montag, 10:10 Uhr

Sie hatten Leonhard Schmidt ausrufen lassen und fanden ihn am vereinbarten Treffpunkt in Terminal 1, Abschnitt C, Nähe Starbucks. In der Halle war wenig Betrieb, sie hatten direkt vor der Glasfassade einen freien Parkplatz gefunden. Julia Durant betrachtete das Innere des Terminals, die Deckenkonstruktion aus unzähligen Metallpyramiden, die bei längerer Betrachtung den Eindruck erweckten, als gerieten sie in eine wogende Bewegung. Das Bild erinnerte Durant an das Fingerspiel »Himmel oder Hölle«, ein stimmiger, aber auch ein etwas beunruhigender Vergleich.

Schmidt hatte einen Trenchcoat über dem Arm und eine schwarze Laptoptasche über den Schultern, ansonsten führte er kein Gepäck mit sich. In der Hand hielt er einen Pappbecher mit dem grünen Logo der Meerjungfrau, auf den er nervös mit den Fingerkuppen trommelte. Durant schätzte ihn auf Mitte fünfzig, die Haut war solariumsbraun, und die Haare waren zweifelsfrei gefärbt. Er war über einen Kopf größer als sie, unrasiert und wirkte übermüdet.

»Was wollen Sie von mir?«, fragte er fahrig und gähnte. »Ich habe vier Stunden auf den verdammten Abflug gewartet, weil irgendein Idiot es für angebracht hielt, seine Tasche unbeaufsichtigt stehen zu lassen. Die Amis sind noch viel verrückter als wir. Wie ein Haufen Hornissen, denen man ins Nest gestochen hat.« Er musste lächeln, vermutlich wegen des Bildes in seinem Kopf. Durant wechselte einen Blick mit Hellmer. Es gab keinen angenehmen Weg für das, was sie nun zu tun hatte.

»Herr Schmidt, wir haben leider eine traurige Nachricht für Sie. Ihre Frau wurde tot aufgefunden. Es tut mir leid, dass es keinen schonenden Weg gibt, Ihnen das mitzuteilen.«

»Wie bitte, was?« Die von Rändern unterzogenen Augen des Mannes wurden hellwach. »Meine Frau? Unsinn! Was sagen Sie da?«

»Sie trug ihren Führerschein im Mantel mit sich«, erklärte Hellmer. »Wir haben auch Fotos. Mein Mitgefühl, Herr Schmidt, doch es besteht kein Zweifel an ihrer Identität.«

Julia Durant erlebte nicht zum ersten Mal, wie ein Koloss von fast zwei Metern ins Taumeln geriet. Wie einem gestandenen Mann die Beine wegsackten, wenn ihn die Nachricht des gewaltsamen Todes von Frau oder Kind heimsuchte. Schmidt griff ins Leere und japste nach Luft, er fand keinen Halt, also eilte Hellmer ihm zu Hilfe. Der halbvolle Kaffeebecher klatschte auf den grau gesprenkelten Hochglanzmarmor.

»Aber warum? Wer? Was ist passiert?«

»Wir wissen noch nichts Näheres«, antwortete Durant und verschwieg dabei die blutverschmierte Unterwäsche. Sie würde ihm nur die nötigsten Details mitteilen, und das auch nur dann, wenn es für die Ermittlung notwendig wurde. Finanzgigant hin oder her: Im Augenblick war Schmidt nichts weiter als ein hilflos im Raum stehender Angehöriger, unwissend, was die Zukunft ihm noch bescheren würde. Dessen Leben innerhalb einer Sekunde völlig umgekrempelt worden war.

»Warum Isabell?«, fragte Schmidt, nachdem er sich wieder unter Kontrolle hatte. »Sie ist eine Seele von Mensch. Sie ist …«, er stockte, »… sie war …« Dann überkam ihn ein Schluchzen, und er verstummte.

»Sie wurde gegen Mitternacht in der Kennedyallee gefunden«, fasste Hellmer zusammen. »Über Todesursache und Tathintergrund können wir leider noch nichts sagen.«

Schmidt kniff die Augen zusammen. »Was hat sie denn in der Kennedyallee gemacht?«

»Wir hofften, das von Ihnen zu erfahren«, erwiderte Durant.

»Ich war in New York, schon vergessen?«

Die Kommissarin entschied sich, den bissigen Unterton zu ignorieren. Schmidts Leiden wirkte ehrlich. Er mochte ein kaltblütiger Geschäftsmann sein, aber der Verlust seiner Frau zog auch ihm den Boden unter den Füßen weg.

»Haben Sie Freunde, Verwandte oder Geschäftspartner dort?«

»Weder noch. Ist sie, ich meine, wurde sie …«

»Ihre Frau war vollständig bekleidet«, wich Durant aus. »Sie trug außerdem ihren Schmuck, weshalb wir vorläufig einen Raubüberfall ausschließen.«

»Wie lange waren Sie in New York, und was war der Grund Ihrer Reise?«, fragte Hellmer.

»Seit Donnerstag. Geschäftlich.«

»Und Sie reisten alleine?«

»Isabell wollte nicht mitkommen. Wir waren vor ein paar Jahren schon in New York. Es wunderte mich, dass sie nein sagte.« Und wieder stockte er. Seine Augen wurden glasig. »Wäre sie doch bloß mitgekommen.«

»Hatte sie denn etwas anderes vor?«, wollte Durant wissen.

»Worauf wollen Sie hinaus?«

»Es gibt für mich nur wenige Gründe, auf eine Reise in den Big Apple zu verzichten. Fällt Ihnen da etwas ein?«

»Mir gefällt die Frage nicht.« Schmidt funkelte die Kommissarin von oben herab an. »Unterstellen Sie mir oder Isabell etwas?«

»Nein. Doch wir müssen versuchen, so viele Details wie möglich zu recherchieren. Es wäre hilfreich, ihren Terminkalender zu kennen. Ihre Pläne für das Wochenende.« Isabell würde es ihnen nicht mehr verraten.

»Gibt es Nachbarn, Kollegen oder Freunde, die wir befragen können?«

»Ich muss darüber nachdenken.« Leonhard Schmidt zog sein Handy hervor, welches bereits mehrfach gepiept hatte und nun grell klingelte. »Entschuldigen Sie bitte … Ja … 1C … Ich komme nach draußen.«

Julia Durant streckte ihm eine Karte entgegen. »Herr Schmidt, aufrichtiges Beileid. Wir werden uns noch öfter unterhalten, hier ist meine Nummer. Gibt es irgendwen, der sich um Sie kümmert? Kommen Sie zurecht?«

»Ich bin wohl alt genug, das selbst zu tun.«

»Niemand sollte in so einer Situation alleine sein.«

»Draußen wartet mein Fahrer.« Schmidt bückte sich nach dem Kaffeebecher. »Darf ich gehen? Ich möchte jetzt gerne nach Hause.«

Montag, 10:50 Uhr

Hellmer fuhr von der A 3 in Richtung Innenstadt, ließ das Gebäude der Rechtsmedizin links liegen, um sich dem Fundort zu nähern. Die Konsulate zogen vorbei, der Polizeitransporter am Straßenrand fiel nicht weiter auf. Überall in der Stadt traf man auf Einsatzwagen und Personal; das Auge gewöhnte sich daran.

Die Kennedyallee war mehrspurig, mit einem Mal befand man sich nach einer Fahrt durch den Wald und am Stadion vorbei mitten in der Stadt. Die Parkbuchten zwischen den Bäumen waren ausnahmslos belegt. Hinter Zäunen, Mauern und Bewuchs warteten Villen, Wohnblöcke und dezent gehaltene Geschäftshäuser. Ein Polizeibeamter mit Schutzweste bog aus einer Seitenstraße auf das Trottoir ein.

Hellmer hielt entgegengesetzt der Einbahnstraße und schaltete den Warnblinker ein. Sofort kam der Beamte auf sie zugelaufen. Dann erst erkannte er, dass es sich um ein Dienstfahrzeug mit Kollegen handelte, und statt einen Tadel auszusprechen, begrüßte er sie.

»Gibt nicht mehr viel zu sehen.«

»Ist die Spurensicherung schon durch?«, erkundigte sich Durant verwundert.

»Mehr als faules Laub und Hundekacke war nicht zu finden«, kommentierte der Uniformierte. »Jetzt probieren die ihr Glück bei der Toten zu Hause.«

Durant schaute zu Hellmer, dieser nickte.

»Die Polizei hat das Haus heute früh schon überprüft. Alles war verschlossen, keine Anzeichen auf etwas Verdächtiges. Jemand von der Forensik wollte Schmidt abpassen, damit nichts kontaminiert wird.«

»Hm, gut«, sagte Durant und wandte sich an den fremden Kollegen. »Waren Sie heute Nacht dabei?«

»Nein. Ich laufe Patrouille. Hab’s nur mitbekommen.«

»Gibt es Gerüchte unter den Anliegern? Irgendetwas, was wir wissen sollten?«, fragte Hellmer.

»Nein.«

»Sollte Ihnen etwas zu Ohren kommen – auch wenn es Ihnen nicht wichtig erscheinen mag –, melden Sie sich bitte bei uns. Wir fahren mal rüber in die Rechtsmedizin. Und danach zum Haus der Schmidts.«

 

Andrea Sievers hockte in ihrem Glasverschlag vor den PC gebeugt. Auf dem Metalltisch lag eine nicht abgedeckte Frauenleiche.

»Pause?«, neckte Hellmer die Rechtsmedizinerin, nachdem sie sich begrüßt hatten. Doch entgegen ihrer üblichen trockenen Art, die Durant manchmal zum Verzweifeln brachte, kam kein Frotzeln, kein bissiger Kommentar. Nur eine düstere Miene, die der hübschen Mittvierzigerin überhaupt nicht stand.

»Kommt rein.« Sie machte eine müde Geste. »Seht euch das an.«

Der Flachbildschirm, an dessen Rand zahlreiche Papierschnipsel mit Notizen und Aktennummern klebten, war in blasses Rosa getaucht. Erst beim zweiten Blick erkannte Durant, dass es sich nicht um eine symmetrische Form, einen künstlerischen Bildschirmhintergrund handelte, sondern um menschliche Haut, die zur Mitte hin immer dunkler bis ins Blutrot wurde.

»Wir wissen alle, was eine Vagina ist«, sagte Hellmer, der ebenso irritiert wie besorgt wirkte. Er hob den Zeigefinger in Richtung der Toten. »Ist das ihre?«

Dr. Sievers nickte. Sie scrollte heran. »Klitoridektomie.«

Durant kniff die Augen zusammen. Längst hatte sie erkannt, worauf die Rechtsmedizinerin hinauswollte. Isabell Schmidt war die Klitoris operativ entfernt worden.

»Mit einem scharfen Gegenstand«, erklärte Andrea und seufzte, »doch nicht mit einem sterilen Skalpell. So viel kann ich dazu sagen.«

»Scheiße.« Julia verzog das Gesicht. »Wer macht so etwas? Suchen wir jemand mit medizinischem Hintergrund? Ist es etwas Sexuelles? Oder etwas Religiöses?«

Andrea schüttelte energisch den Kopf. »Es gibt für das Entfernen von Klitoris und Schamlippen keinen – nicht einen einzigen – medizinischen Grund. Krebs einmal ausgeklammert, aber das ist extrem selten, und beim Opfer liegt keine derartige Erkrankung vor. Der Schnitt selbst, nun, ich sag’s mal so … selbst wenn das Opfer sediert ist, ist es ein anspruchsvoller Eingriff. Aber nicht so kompliziert, dass man es mit einer Rasierklinge nicht hinbekäme. Immerhin wird diese Praxis seit Urzeiten mit den simpelsten Werkzeugen ausgeübt. Ohne Betäubung. Es sind unbeschreibliche Schmerzen.«

»Also eher religiös«, schloss Frank Hellmer und rieb sich das Kinn. »Ist es Zufall, dass sie in der Nähe der Konsulate gefunden wurde?«

Julia sah ihn fragend an. In ihrem Kopf ging sie durch, welche Nationen in der Kennedyallee vertreten waren. Die Türkei, Thailand, Pakistan. Sie war sich nicht sicher. Es waren noch einige mehr.

»Nigeria!«, fiel ihr ein. »Welche Hausnummer haben die?«

»Die sind direkt vis-à-vis«, antwortete Andrea. Doch in ihren Augen lagen Zweifel.

»Was ist los?«, erkundigte sich die Kommissarin. »Hast du irgendwelche Einwände? Wenn es eine Spur ist, müssen wir ihr nachgehen.«

Dr. Sievers bedeutete ihr, zu warten. Sie klickte das Foto des verstümmelten Geschlechtsteils weg und rief eine Weltkarte der Seite Terre des Femmes auf. Wie ein Gürtel zogen sich grüne Pins quer durch die afrikanischen Staaten. »Nigeria ist bei weitem nicht am ärgsten betroffen.« Sie tippte einige Zentimeter nach rechts. »In Somalia trifft es beinahe jedes Mädchen. Im Kindesalter. Aber es ist kein afrikanisches Problem.«

»Worauf willst du hinaus?«

Die Rechtsmedizinerin schnalzte mit der Zunge. »Wenn du wirklich von Botschaft zu Botschaft rennen möchtest, musst du auch bei Pakistan und Thailand auf der Matte stehen. Dafür ist es dann doch etwas vage, finde ich.«

Durant erinnerte sich, in einer Reportage gesehen zu haben, dass auch im asiatischen Raum beschnitten wurde. Teilweise schon direkt nach der Geburt. In Krankenhäusern. Von studierten Medizinern. Es schauderte sie. »Du hast ja recht«, murrte sie. »Konzentrieren wir uns also auf die sexuelle Ebene?«

»Lasst mich meine Arbeit zu Ende bringen«, schlug Sievers vor. »Ich habe weder das toxikologische Gutachten vorliegen, noch bin ich Fachfrau für die angewandte Technik der Beschneidung. Hier muss ich mich erst mal einlesen, wenn’s recht ist.«

»Lass dir damit nicht so viel Zeit, okay?«, sagte Hellmer, der seine Taschen nach Zigaretten abtastete.

»Keine Sorge. Madame ist meine einzige Klientin heute.«

 

Frank und Andrea gingen nach draußen, um eine zu rauchen, als Julias Telefon klingelte. Sie erkannte die Nummer nicht und blieb stehen.

»Bitte kommen Sie schnell.«

Es war die Stimme von Leonhard Schmidt, sie klang gepresst, und er atmete schnell. Er nannte seine Adresse in Bockenheim.

»Was ist passiert?«

»Isabell …«, Schmidt stockte, »… sie wurde hier ermordet.« Es glich mehr einem Hauchen, als er tonlos weitersprach: »In unserem Schlafzimmer.«

Montag, 13:10 Uhr

Das Anwesen der Schmidts befand sich im sogenannten Villenviertel südlich der Miquelallee, angeschmiegt an die grünen Lungen des Botanischen Gartens und des Palmengartens. Durant und Hellmer fuhren die Zeppelinallee nordwärts. Im Vorbeifahren fiel der Kommissarin auf, dass es auch hier Konsulate und Generalvertretungen gab.

»Indonesien, Usbekistan«, las sie.

»Frankreich und Griechenland«, ergänzte Hellmer. »Das bringt doch alles nichts. Wenn sie zu Hause ermordet wurde und es dem Täter tatsächlich um einen Platz vor einer Botschaft ging, hätte er sie nicht quer durch die Innenstadt kutschieren müssen.«

»Trotzdem«, beharrte Durant. Sie konnte den Gedanken nicht ignorieren, dass sich hinter der Beschneidung und Ermordung mehr verbergen könnte als kranke, sexuelle Gewalt. Doch was?

Hellmer stoppte wie auf Kommando, weil kreuz und quer parkende Wagen die Straße versperrten. Neben dem Transporter der Spurensicherung standen zwei Streifenwagen in der engen Straße, dazu kamen weitere Dienstfahrzeuge, mit denen Personal angerückt war.

Durant pfiff durch die Zähne. »Da war Platzeck mit seinen Leuten aber fix.«

»Sie werden das Haus gemeinsam mit Schmidt betreten haben«, mutmaßte Hellmer, »und haben dann wohl direkt Verstärkung angefordert.«

Julia Durant mochte sich nicht vorstellen, wie es für Leonhard Schmidt gewesen sein musste. Nach Hause zu kommen, einen Streifenwagen vor der Tür anzutreffen. Das Haus in fremder Begleitung zu betreten, abgestumpft durch die Todesnachricht und zerschlagen vom Jetlag. Dann die Gewissheit, dass ausgerechnet hier sich ein grausamer Mord ereignet hatte. Während er sich in einem Ledersitz der Luxusklasse aalte. Mit Rotwein in der Hand.

Durant sah sich um, während sie auf das Anwesen zuging. Es schien keine Schaulustigen zu geben. Auch hinter den wenigen Fenstern, die sie von ihrer Position aus einsehen konnte, waren keine Bewegungen auszumachen. Man hielt sich vornehm zurück. Oder man interessierte sich nicht füreinander. Hauptsache, der eigene Jaguar war neuer und PS-stärker als der des Nachbarn. Und die Blumenrabatte bunter und schöner. Es war eine andere Welt, inmitten des Großstadtrauschens. Eine Welt, von der Julia Durant in ihren zwanzig Dienstjahren in Frankfurt hauptsächlich die Schattenseiten kennengelernt hatte.

 

Das Schlafzimmer war geräumig, ein Eckzimmer mit begehbarem Kleiderschrank und zwei hohen Holzfenstern, deren Läden zugeklappt waren. Schmidt hatte zu Protokoll gegeben, dass diese Läden die meiste Zeit über geschlossen seien. Von außen einsehen konnte man den Raum nicht, weil Bäume jeden neugierigen Blick abschnitten. Schmidt hatte den Beamten außerdem einen Raum am anderen Ende des Korridors gezeigt, in dem ein Gästebett stand. Außerdem ein Schreibtisch mit Laptop und einige Leitzordner, aus denen bunte Papierecken lugten.

»Ich schlafe meistens dort«, hatte Schmidt wie nebenbei erwähnt. Als Begründung nannte er sein Schnarchen und die oft sehr unterschiedlichen Zeiten, in denen er und seine Frau zu Bett gingen.

Hellmer nahm die Information mit einem Nicken zur Kenntnis. »Kein Sex, keinerlei gemeinsame Basis«, kommentierte er verhalten zu Durant, als die beiden allein waren und in die Schutzkleidung schlüpften. »Diese Ehe ist schon vor langer Zeit gestorben.«

»Du musst es ja wissen«, erwiderte sie spitz, während sie sich bückte, um die Schuhe zu überziehen. Hellmers erste Ehe war vor einer Ewigkeit in die Brüche gegangen, und seine zweite hatte er durch Affären und Trunksucht an den Abgrund gefahren. Dann wurde ihr klar, wie verletzend ihr Spruch gewesen sein musste, und sie entschuldigte sich. Hellmer hatte seine Ehe gerettet und war seit Jahren trocken. Das war mehr, als die meisten schafften.

»Schon gut, du hast ja recht«, brummte er. Mit den Fingerspitzen drückte er seine Haare unter den Gummizug der Haube. »Doch ich sage dir, ich weiß, wie das hier abgelaufen ist. Isabell hat sich einen Frauenversteher angelacht, übers Internet wahrscheinlich. Sie ist zu attraktiv, um auf einen Callboy angewiesen zu sein. Vielleicht hat sie nicht einmal aktiv nach einer Liebschaft gesucht. Dann aber kam er. Zoooom! Sie warten eine Gelegenheit ab, in der ihr Holder nicht da ist. New York. Bingo. Sie trinken Champagner … und dann ….« Hellmer brach abrupt ab.

»Und dann?« Durants Blicke hafteten an seinen Lippen. Sie begann zu schwitzen, obwohl das Ganzkörperkondom luftig über ihren Kleidern lag. Sie hatte die Overalls noch nie gemocht. »Was dann?«, wiederholte sie ungeduldig.

»Scheiße, Julia, ich weiß es nicht. Das war ein Psychopath. Hast du diese Blutorgie gesehen?«

Sie nickte. »Das war weder Rache noch Habgier noch Lust. Das ist einfach nur pervers.«

»Also nichts mit Politik, Religion, Beschneidung und so?«

Durant war nicht bereit, Theorien leichtfertig zu verwerfen. Doch hier war eine kranke Bestie zugange. Jemand, der seine Perversität nur schwer hinter einer unschuldigen Fassade verstecken konnte. Sie konnte nicht daran glauben, dass der Mord lange geplant war. Dass er sich sein Opfer mit Geduld und Hingabe ausgesucht und die Frau umgarnt hatte. Doch die Verstümmelung von Genitalien war zu aufwendig, um es als reinen Blutrausch abzutun.

Sie wusste nicht, wie lange Platzeck von der Spurensicherung bereits im Türrahmen gestanden hatte. Er reichte den beiden Handschuhe und führte sie hinein.

 

Das Doppelbett war aus massivem Holz. Zwei Matratzen, zwei Kopfkissen. Die beigefarbene Tagesdecke lag noch über beiden Bettdecken, war aber verzerrt. Sie zeigte verschlungene Spiralmuster, die an den Lebensbaum von Klimt erinnerten. Zwischen ihnen tiefrote Ausblühungen, wie Rosenblüten. In der Mitte ein fast noch feucht glänzender Fleck.

»Oh Gott.« Durants Hand wanderte vor ihren Mund.

»Sieht schlimmer aus, als es ist«, brummte Platzeck.

»Die Frau ist tot«, knurrte Hellmer ihn an. »Geht’s denn noch schlimmer?«

»Es ist nicht viel Blut, so hab ich das gemeint«, wehrte Platzeck ab. »Zumindest keine letale Menge. Wir schätzen auf vier- bis siebenhundert Milliliter.«

»Verdammt. Das ist viel«, kommentierte Durant.

Platzeck brummelte etwas und fragte dann: »Musste sie sehr lange leiden?«

»Wissen wir noch nicht«, antwortete die Kommissarin. »Gibt es irgendwelche Hinweise darauf, wann sich hier was abgespielt hat?«

»Das dauert. Aber es gibt ein Alarmsystem, dessen Daten wir auslesen können. Vielleicht erfahren wir dadurch, wer hier wann das Haus betreten oder verlassen hat. Doch wir brauchen Zeit, wie immer. Das Blut muss analysiert werden. Der Champagner auch.«

»Was ist mit dem Champagner?«

»War ein Witz, na ja, so halbwegs.«

»Mich interessiert die andere Hälfte. Sprechen wir von DNA?«

»Auch. DNA, Betäubungsmittel. Alles, was sich testen lässt. Aber ich meine etwas ganz anderes. Ein guter Piper perlt bis zu vierundzwanzig Stunden, wenn er offen steht. Das könnte von Relevanz sein, oder? Wann habt ihr die Tote genau gefunden?«

»Frühmorgens. Todeszeitpunkt gegen Mitternacht.«

»Jetzt ist es Mittag«, schloss Platzeck nach einem Augenrollen in Richtung Decke, wo sich eine Lichtleiste mit fahlen, kubischen LED-Spots befand, die nicht so recht ins Ambiente passte. »Es sollte sich zumindest feststellen lassen, ob sie ihren Mörder gestern erst getroffen hat. Oder ob das Leiden hier am Ende länger als einen Abend dauerte.«

Durant musste nachdenken. Es ging Platzeck darum, wann die Flasche entkorkt worden war. Kein schlechter Ansatz. Sie erinnerte sich, dass Leonhard Schmidt ausgesagt hatte, er habe sich seit Donnerstag in New York befunden. Sie überlegte weiter, wann genau er dorthin aufgebrochen war. Schon am Mittwoch? Die Rechnerei mit der Zeitverschiebung lag ihr nicht besonders. Dies alles ließe sich nachprüfen. Das Schlimme war, dass Isabell Schmidt mit ihrem Mörder über Tage hinweg allein gewesen sein konnte. Dass sie ihm am Ende sogar – der Champagner und die Dessous ließen darauf schließen – freiwillig Einlass gewährt hatte.

»Gibt es Hinweise auf Waffen oder Gegenstände, die der Täter mit hierhergebracht haben könnte?«

»Nein.« Platzeck warf einen Blick in Richtung der geöffneten Nachttischschublade. Durants Augen folgten ihm, er bemerkte es und sagte schnell: »Das waren wir. Innen befanden sich Papiertücher, eine Nachtcreme, Ibuprofen und ein pflanzliches Schlafmittel. Nichts Außergewöhnliches. Ach ja«, auch unter seiner Maske konnte man ihm das Schmunzeln ansehen, »zwei batteriebetriebene Helferlein. Das scheint heutzutage ja nichts Außergewöhnliches mehr zu sein.«

»Es gibt sogar Dildopartys«, grunzte Hellmer amüsiert.

Durant stieß ihn in die Seite. »Das würde mir als Mann aber gehörig zu denken geben.«

Er wollte etwas zischen, da wurde Platzeck wieder ernst: »Es heißt, die Frau wurde vaginal verstümmelt?«

»Ja«, bestätigte die Kommissarin.

»Wenn sich das hier auf dem Bett abgespielt hat, dann Respekt«, sagte der Forensiker.

»Wie meinst du das?«, wollte Hellmer wissen.

Platzeck deutete auf die Sprenkel zwischen den Klimt-Spiralen. »Wenig Blut für einen solchen Eingriff.«

»Hat er irgendwo anders im Haus weitergemacht?«, fragte Durant.

»Negativ. Wir sind mit dem Luminol noch nicht durch, aber offensichtliche Blutspuren gibt es nirgends.«

»Am Fundort auch nicht.« Durant sah ihren Kollegen fragend an. »Was bedeutet das also? Dass es ein Medizinstudent war oder gar ein Arzt?«

»Zumindest, dass es jemand war, der genau wusste, was er zu tun hat«, nickte Platzeck und bestätigte den Gedanken, den sie bereits bei Andrea Sievers gehabt hatte.

Welches Schwein sich auch immer hinter der Verstümmelung von Isabell Schmidt verbarg: Er tat es mit chirurgischer Finesse und mit voller Absicht. Und hatte es womöglich nicht zum ersten Mal getan.

Montag, 13:30 Uhr

Es klopfte sanft an ihrer Tür.

Sonja Büchner hob den Kopf aus ihrem Kissen, unsicher, ob sie es sich nicht nur eingebildet hatte.

Es klopfte erneut. Er steckte den Kopf durch die Tür, sagte leise ihren Namen. Sekunden später roch sie den Duft von Milch. Heißer Milch mit Honig.

Sie wischte sich die Augen trocken und zog die verstopfte Nase hoch. Tastete nach einem Papiertaschentuch, das auf dem Nachttisch bereitlag, und versuchte, seinem Blick auszuweichen.

»Ich habe dir Milch gemacht.«

»Ich will nichts«, presste sie hervor. Als wenn es etwas brächte.

Er trat näher. Sie zuckte unter der Berührung seiner Hand, die nach ihrer Schulter griff.

»Probier doch wenigstens mal«, forderte er. Er konnte seine Stimme noch so sehr abdämpfen, sie würde immer etwas Bestimmendes haben. So war er zeit seines Lebens gewesen. Herrschsüchtig und dominant. Leider hatte er diese Seite schon immer mit Charme zu überblenden gewusst.

Für seine Gegner – im Beruf, in der Politik und selbst im Privaten – galt er als unerbittlicher Widersacher. Doch gleichzeitig schätzte man ihn als treuen, fürsorglichen Ehemann. Als jemanden, der sich mit Sonja ein hartes Stück Arbeit ans Bein gebunden hatte. Der seiner Verantwortung nicht auswich, sondern sich kümmerte. In guten wie in schlechten Zeiten.

Leider schienen die guten Zeiten so fern, als befänden sie sich in einem anderen Universum. Oder lag es an den Medikamenten?

Sonja wusste es nicht.

Benommen griff sie nach der Tasse, deren Griff warm und klebrig war. Sie wechselte die Hand und leckte sich den Finger. Der süßschwere Duft stieg ihr ins Gehirn. Eine klitzekleine Prise Zimt. Man konnte ihm nicht unterstellen, dass ihm die Liebe zum Detail fehlte.

Doch war Liebe das richtige Wort?

Liebte er auch sie? Konnte er überhaupt etwas anderes lieben außer sich selbst?

»Trink, solange sie noch warm ist.«

Er fuhr ihr durchs Haar. Sonja zuckte so heftig zusammen, dass Milch aus der Tasse schwappte. Starr vor Schreck betrachtete sie die cremeweiße Woge, die sich wie in Zeitlupe bewegte.

Ihr Bein, sie trug eine bequeme Stoffhose, wurde warm. Spritzer verteilten sich auf dem Boden und dem Nachtschränkchen. Sie wollte aufspringen, doch sie war wie gelähmt. Schon spürte sie seine Hand im Genick. Ein Film zog vor ihren Augen vorbei. Das Gefühl, wie er ihr Haar nach hinten riss. Das Poltern der Tasse. Erst dumpf, dann klirrend. Die restliche Milch breitete sich auf dem Laminat aus. Keine Fuge, in die sie kriechen konnte. Eine Lache, aus der die Porzellanscherben wie Eisberge herausragten.

Das Klatschen, als seine Hand ihr Gesicht traf. Das Brennen. Die Empfindungen ihres Körpers, denen ihre Seele entfliehen wollte. Hoch hinaus, weg von den Hieben, den Stößen, der Verzweiflung.

Das Blut. Wie es hinab in den weißen Ozean fiel und rote Schlieren darin zog.

 

Sie war krank. Das wusste sie.