Kaltes Land - Prof. Dr. Michael Tsokos - E-Book
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Kaltes Land E-Book

Prof. Dr. Michael Tsokos

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Beschreibung

Auftritt Sabine Yao: ein authentischer und knallharter Kurz-Thriller von Rechtsmediziner und Bestseller-Autor Michael Tsokos Berlin, Treptowers, BKA-Einheit "Extremdelikte": Ein Anruf reißt Rechtsmedizinerin Sabine Yao jäh aus ihrem Arbeitsalltag im Sektionssaal. Ihre seit Tagen verschollene Tante wurde im Umland von Kiel tot aufgefunden. Die Kollegen in der Kieler Rechtsmedizin, darunter auch Yaos ehemaliger Lebenspartner, gehen von einem unnatürlichen Tod aus. Yaos Chef, Professor Paul Herzfeld, führt einige Telefonate mit der Kieler Staatsanwaltschaft, um ihr sehr unbürokratisch Akteneinsicht in den Todesfall zu gewähren. Noch am selben Abend reist die Berliner Rechtsmedizinerin zu ihrer Familie nach Kiel. Ausgerechnet ihre introvertierte allein lebende Tante Johanna soll ermordet worden sein? Und während Yao erkennt, wie wenig sie doch von ihrer Tante wusste, schließt sich um sie ein Kreis gnadenloser Gewalt …

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Michael Tsokos

Kaltes Land

Ein Fall für Sabine Yao

Thriller

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Berlin, Treptowers, BKA-Einheit »Extremdelikte«: Ein Anruf reißt die Berliner Rechtsmedizinerin Sabine Yao jäh aus ihrem Arbeitsalltag im Sektionssaal. Ihre seit Tagen verschollene Tante wurde im Umland von Kiel ermordet aufgefunden. Yaos Chef, Professor Paul Herzfeld, führt einige Telefonate mit der Kieler Staatsanwaltschaft, um ihr sehr unbürokratisch Akteneinsicht in den Todesfall zu gewähren. Noch am selben Abend reist Yao zu ihrer Familie nach Kiel. Ausgerechnet ihre introvertierte allein lebende Tante Johanna soll ermordet worden sein? Und während Yao erkennt, wie wenig sie doch von ihrer Tante wusste, schließt sich um sie ein Kreis gnadenloser Gewalt …

Inhaltsübersicht

Vorbemerkung

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

Danksagung

Leseprobe »Mit kalter Präzision«

 

 

 

 

Die folgende Geschichte beruht auf wahren Begebenheiten

Prolog

Der korpulente Mann schnaufte heftig. Sein Atem rasselte. Trotz der nächtlichen Kälte lief ihm Schweiß über das Gesicht. Als er die verrostete Sackkarre an den deckenhohen Regalen vorbei in die Mitte des Lagerraumes schob, tauchte die nackte Deckenglühbirne die unverputzten Wände ringsum in blasses, gelbliches Licht. Nach wenigen Schritten hatte er sein Ziel erreicht.

Der Verschlusshebel an der Oberseite der fünfhundert Liter fassenden Gefriertruhe ließ sich mit seinen Händen, die in dicken Winterhandschuhen steckten, nur schwer greifen. Fluchend bekam er den Verschluss erst nach mehreren vergeblichen Versuchen zu fassen, und mit einem metallischen Klacken schwang der Deckel auf.

Für einen kurzen Moment hielt er inne und blickte hasserfüllt auf den Inhalt vor sich. Neben seinem rasselnden Atem war nur das elektrische Surren der Kühlung zu hören. Eine mehrere Zentimeter dicke Eisschicht lag über der Toten. Die dicke Raureifkruste erinnerte ihn an die dunklen, langen Wintermonate in seiner Heimat. Große Eiskristalle bedeckten ihren Kopf, das Gesicht und die Strickjacke über ihrem Oberkörper.

Der Mann beugte sich nach vorn und versuchte, den tiefgefrorenen Leichnam zu bewegen. Vergeblich.

Verdammte Scheiße, dachte er. Die Alte ist festgefroren.

Mit schweren, stampfenden Schritten ging er hinüber zu einem der Regale und durchwühlte geräuschvoll mehrere der metallenen Regalbretter, bis er schließlich gefunden hatte, wonach er suchte. Mit dem Brecheisen begann er die eisige Verbindung zwischen den Wänden der Gefriertruhe und der Oberfläche der Toten zu lösen, begleitet von stakkatoartig ausgestoßenen Flüchen in seiner Muttersprache.

Warum musste die Alte auch so neugierig sein? Hat mich verdammt viel Kohle gekostet. Die hatte echt Nerven. Der Atem des Mannes ging heftig, fast brodelnd.

Das laute Schaben, Stoßen und Kratzen, das das Brecheisen verursachte, als der Mann mit brachialer Gewalt den toten Körper aus seinem eisigen Versteck löste, war ohrenbetäubend, und für einen kurzen Moment überlegte er, ob er nicht besser die offen stehende Tür des Lagerraumes schließen sollte. Er verwarf den Gedanken jedoch gleich wieder. Auf dem Gelände ist niemand außer mir. Kein Mensch bekommt hiervon etwas mit.

Etwa zwanzig Minuten später hatte er es unter größter Anstrengung geschafft, die zusammengekrümmte Leiche, deren Arme und Beine vor dem Körper mit Panzertape zusammengebunden waren, aus dem Inneren der Gefriertruhe regelrecht herauszubrechen. Die grob gewebte Strickjacke war nun an den Oberarmen teilweise zerrissen und die darunterliegende Haut der Toten aufgeschürft, aber das scherte den Mann nicht.

Er hob die Tote unter Aufbietung all seiner Kräfte an und wuchtete ihren steifen Körper über den Rand der Truhe. Mit einem dumpfen Aufprall landete sie vor seinen Füßen. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Nach mehreren Versuchen gelang es ihm schließlich, den tiefgefrorenen Körper auf die Transportfläche der Sackkarre zu ziehen und dort mit Spanngurten zu fixieren. Sein massiger Körper bebte, als er die Karre mit einem Ächzen aufrichtete. Während er die Tote in den Lieferwagen wuchtete, lief ihm der Schweiß nicht nur über das Gesicht, sondern auch über seinen Oberkörper.

 

Zehn Minuten später war er an seinem Ziel angekommen, einem dunklen, unbeleuchteten Waldweg. Sicherheitshalber hatte er schon fünfzig Meter vor der Abzweigung die Scheinwerfer des Transporters ausgeschaltet. Er drehte den Zündschlüssel um, und der Motor erstarb mit einem gluckernden Geräusch. Die Uhr im Armaturenbrett zeigte 04:16 Uhr an. In drei Stunden würde es hell werden. Noch genug Zeit. Jetzt geht es schnell. Fast geschafft.

Der Mann ließ das Fenster der Fahrerseite herunter und lauschte. Nichts. Nur leises Wasserrauschen. Behäbig schwang er sich von seinem Sitz und stapfte zur Rückseite des Lieferwagens.

Die nächsten Schritte waren ein Kinderspiel. Die auf dem unbefestigten Waldboden hin und her ruckelnde Sackkarre mit festem Griff schiebend, erreichte er nach etwa zwanzig Metern das Flussufer. Die Wasseroberfläche schimmerte dunkel und warf hin und wieder helle Reflexionen des Mondlichts zu ihm herüber. Nicht zu nah rangehen, da wird es abschüssig.

Der Leichnam taute bereits, und die Eisschicht auf der Körperoberfläche der Toten war mittlerweile kalter Nässe gewichen. Er kniete sich schnaufend neben die Tote, zog seine Handschuhe aus und begann vorsichtig, zuerst die Spanngurte und dann das Panzertape zu lösen, mit einem Teppichmesser, das er aus seiner völlig abgewetzten und ölverschmierten Arbeitshose gezogen hatte. Jetzt keine Spuren hinterlassen. Alles sauber entfernen, ja nichts liegen lassen, und dann nichts wie weg hier. Bloß nicht da oben aufdem Waldweg festfahren oder auf dem Rückweg einen Unfall bauen, schoss es ihm durch den Kopf.

Mehrfach musste er sich den Schweiß mit dem Ärmel seines zerschlissenen Fleecepullis aus den Augen wischen. Dann war es endlich geschafft. Er warf einen letzten Blick auf die Tote. Ihr graues Haar hing wie ein zerfledderter Wischmopp zu allen Seiten herunter und verdeckte ihre Stirn und Augenpartie. Ihre Gesichtszüge um Mund und Nase wirkten seltsam verschoben, gar nicht so, wie er sie in Erinnerung gehabt hatte. Die steifen Finger schauten wie gräuliche Wachskerzen aus den Ärmeln der Strickjacke hervor. Fast als ob sie nach mir greifen wolle.

Er riss sich von dem Anblick los und zerrte sie bis an die Uferkante des Flusses. Dann gab er der toten Frau einen kräftigen Tritt.

Mit einem lauten Platschen landete sie im Wasser, woraufhin eine Bisamratte aufgeschreckt aus der Uferböschung auf ihn zuschoss. Der Mann zuckte kurz zusammen. Danach herrschte wieder völlige Stille, abgesehen von dem Rauschen des Wassers.

1

Kiel, Altstadt, 2. Polizeirevier, Falckwache, Donnerstag, 8. Oktober, 8:55 Uhr

»Wie alt ist Ihre Schwester denn?«, fragte der glatzköpfige Beamte mit den drei Sternen auf den Schulterklappen seines mitternachtsblauen Uniformhemdes, der sich vor wenigen Minuten als Polizeiobermeister Scholl vorgestellt hatte.

»Fünfundsechzig. Johanna ist fünfundsechzig«, antwortete Almuth Amsinck und strich sich eine graue Strähne, die sich aus ihrem altmodischen Haarknoten gelöst hatte, aus dem Gesicht. Ein Kloß schien in ihrem Hals zu stecken, den sie vergeblich herunterzuschlucken versuchte. Sie räusperte sich.

»Elf Jahre jünger als ich. Wir waren drei Schwestern. Die mittlere, Agathe, ist vor vier Jahren gestorben. Johanna war unser Nesthäkchen. Wir …« Almuth Amsincks Stimme versagte nun gänzlich, und sie merkte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten.

»Und seit wann genau haben Sie nichts mehr von Ihrer Schwester gehört?«, fragte der Beamte in ruhigem Tonfall, fast behutsam, während sie mit ihren knochigen Händen umständlich in ihrer Handtasche herumkramte, um dann ein besticktes Stofftaschentuch hervorzuziehen. »Oder vielmehr, seit wann erreichen Sie Ihre Schwester nicht?«

Almuth Amsinck stellte die Handtasche aus glanzlosem Kunstleder mit dem altmodischen Clipverschluss wieder vor sich auf den Boden und schnäuzte sich, ehe sie mit bebender Stimme antwortete: »Ich habe das letzte Mal am Sonntag … Am Sonntag habe ich zuletzt mit Johanna gesprochen … Also, ich meine, am Telefon.«

»Vor vier Tagen also. Ist das denn so ungewöhnlich?«

»Seit Montag versuche ich, Johanna zu erreichen, Herr Wachtmeister. Über Festnetz und Handy. Das Festnetz klingelt, ohne dass sie abnimmt. Und das Handy ist immer ausgeschaltet. Der Teilnehmer ist vorübergehend nicht zu erreichen, heißt es da immerzu.« Almuth Amsinck musste erneut mit den Tränen kämpfen.

»Sie sollten sich keine Sorgen machen, Frau Amsinck. Eine erwachsene Frau wie Ihre Schwester unternimmt vielleicht etwas, von dem Sie nichts wissen. Womöglich hat sie eine neue Bekanntschaft gemacht oder ist kurzfristig verreist? Oder sie hat ihr Handy verlegt, und jetzt ist der Akku leer. Es gibt viele mögliche Erklärungen, die wir hier immer wieder erleben, wenn es zunächst so aussieht, als sei jemand urplötzlich verschwunden. Glauben Sie mir.«

»Meine Schwester hat keine Geheimnisse vor mir. Wenn sie jemanden kennengelernt hätte oder verreisen wollte, würde ich es wissen«, antwortete Almuth Amsinck mit fast tonloser Stimme, während sie nervös das bestickte Stofftaschentuch in einen der an der Umschlagkante abgestoßenen Ärmel ihres Mantels schob.

»Ich meine ja nur«, erwiderte Polizeiobermeister Scholl in leicht resigniertem Tonfall und massierte sich mit Daumen und Zeigefinger seiner linken Hand die dicken Tränensäcke unter den Augen.

»Ich war gestern bei Johanna zu Hause. Erst habe ich geklingelt. Dann bin ich rein. Ich habe einen Zweitschlüssel für ihre Wohnung. Keine Spur von ihr. Nichts. Die Nachbarn haben sie auch in den letzten Tagen nicht zu Gesicht bekommen, sagen sie. Und ihr Briefkasten ist voll mit Werbeprospekten und Gratis-Zeitungen. Das ist sehr ungewöhnlich für meine Schwester.«

Almuth Amsinck war erstaunt, wie die Worte jetzt plötzlich aus ihr herauspurzelten.

»Wie gesagt, Frau Amsinck, vielleicht ist Ihre Schwester spontan für ein paar Tage verreist. Musste einfach mal raus. Deshalb hat das alles erst mal wahrscheinlich nichts zu bedeuten. Wir sind in Kiel, da läuft es normalerweise nicht so wie im Fernsehen. Die Leute werden hier nicht Opfer von Entführungen oder Verbrechen, sondern tauchen regelmäßig nach spätestens zehn Tagen wieder auf. Machen Sie sich also keine Sorgen …«

»Und dass sie nicht zur Arbeit erschienen ist, dafür gibt es dann wohl Ihrer Meinung nach auch eine plausible Erklärung?«, unterbrach Almuth den glatzköpfigen Mann in einem Tonfall, der viel schärfer klang, als sie es beabsichtigt hatte.

»Moment. Ihre Schwester ist fünfundsechzig, sagten Sie. Sie arbeitet noch? Was macht sie denn und wo?«

»Sie hat einen Minijob als Putzfrau, oder Raumpflegerin, wie sie immer sagt, in einer Autowerkstatt in Kiel-Gaarden. Frühmorgens zwei Stunden, bevor die aufmachen. Sie hätte eigentlich diese Woche an jedem Morgen um 5:30 Uhr dort erscheinen müssen. Heute fehlt sie den vierten Tag in Folge. Das weiß ich, weil ich da schon zweimal angerufen habe, auch heute, bevor ich zu Ihnen gekommen bin.«

In diesem Moment machte der Mann in der blauen Uniform vor ihr eine Wandlung durch. Irgendetwas mussten ihre Worte bewirkt haben, denn er richtete sich jetzt in seinem Schreibtischstuhl kerzengerade auf, zog die Brauen hoch und sah sie mit Augen, aus denen jede Müdigkeit verschwunden zu sein schien, aufmerksam an.

»Erzählen Sie mir alles. Schön der Reihe nach. Ich bin ganz Ohr«, sagte er, während er die Tastatur seines Computers auf der Schreibtischplatte vor sich zurechtrückte.

***

Eine knappe Stunde später hatte Almuth Amsinck Polizeiobermeister Scholl alles erzählt, was sie zum Verschwinden und dem persönlichen sowie beruflichen Umfeld ihrer Schwester Johanna Buntrock, geborene Amsinck, berichten konnte. Wie sie am gestrigen Mittwoch auf der Arbeitsstelle ihrer Schwester angerufen hatte und man ihr mitgeteilt hatte, dass Johanna schon den dritten Tag in Folge ihrer Arbeit ferngeblieben wäre. Dass sie bei ihrer Schwester zu Hause keinen Hinweis auf ihren Verbleib hatte feststellen können. Dass Johanna pflichtbewusst war und deshalb niemals ohne triftigen Grund ihrer Arbeit fernbleiben würde, ohne wenigstens jemanden darüber in Kenntnis zu setzen. Und dass sie niemals aus freien Stücken von einem Tag auf den anderen alles zurücklassen und einfach von der Bildfläche verschwinden würde. Dass Johanna seit dem Tod ihres Mannes vor knapp zwei Jahren die kleine Zweizimmerwohnung in Kiel-Wellingdorf allein bewohnte und den Job als Raumpflegerin hatte annehmen müssen, weil die Rente ihres Mannes weggefallen und ihr Anspruch auf Witwenrente zu gering war. Dass sie, Almuth, nichts von irgendwelchen Streitigkeiten in Johannas persönlichem Umfeld wusste und dass ihre Schwester außer ihr und zwei erwachsenen Nichten in Berlin keine weiteren Angehörigen hatte. Dass Johanna über keinen privaten Bekanntenkreis verfüge, abgesehen von einer Brieffreundin in Gütersloh, die sie aber auch bereits kontaktiert hatte und die auch nichts über Johannas Verbleib wusste.

Almuth Amsinck war stolz auf sich gewesen, dass sie dem Wachtmeister alles so konzentriert, fast ohne Tränen und mit nur wenigen Unterbrechungen berichtet hatte.

Dann hatte sie Polizeiobermeister Scholl eine genaue Personenbeschreibung ihrer Schwester gegeben. Größe, Gewicht, Statur, Augen- und Haarfarbe. Zwischendurch hatte sie immer wieder seine Nachfragen beantwortet, so zum Beispiel, dass Johanna keine Medikamente nehmen und auch nicht an ernsthaften Erkrankungen leiden würde. Und dass sie schon gar nicht lebensmüde sei.

Scholl hatte sie dann über das weitere Vorgehen unterrichtet. Johanna würde über das polizeiliche IT-System zur Fahndung ausgeschrieben werden – was nicht bedeutete, dass sie festgenommen werden würde, wenn sie irgendwo polizeilich in Erscheinung trat, sondern dass man dann lediglich ihren Aufenthaltsort und die Freiwilligkeit ihres Verschwindens feststellen würde. Es sei denn, sie wäre in einen Verkehrsunfall verwickelt und befände sich nicht ansprechbar in einem Krankenhaus oder würde als verwirrte Person im Rahmen eines Polizeieinsatzes aufgegriffen. In diesem Fall würde sie als nächste Angehörige sofort benachrichtigt. Wenn Johanna innerhalb der nächsten Tage nicht wieder auftauchte beziehungsweise sich ihr Aufenthaltsort nicht feststellen ließ, würde die Vermisstenstelle des Landeskriminalamtes die Vermisstensache von der zweiten Kieler Polizeidirektion übernehmen.

Nachdem Polizeiobermeister Scholl Almuth seine Visitenkarte in die Hand gedrückt hatte und sie zugesagt hatte, ihm ein neueres Foto und die Bankverbindung von Johanna zukommen zu lassen – zur Feststellung, ob es in den letzten Tagen zu Kontobewegungen gekommen war –, begleitete er sie zum Ausgang der Wache.

Als sie sich von dem Beamten verabschiedete, hatte sie für einen kurzen Moment das Gefühl, dass ein Teil der Last, die sie seit Tagen mit sich herumtrug, von ihren Schultern genommen worden war. Doch als sie dann in den nasskalten Oktobertag hinaustrat, wurde sie erneut von Tränen übermannt.

Innerlich völlig aufgelöst und laut schluchzend, sodass andere Passanten stehen blieben und ihr ratlos nachsahen, wie sie mit verstohlenem Blick feststellte, ging sie zur Bushaltestelle, während ihre Gedanken nur um das eine kreisten: Wo ist Johanna? Was ist mit meiner Schwester passiert?

2

Berlin, Treptowers, BKA-Einheit »Extremdelikte«, Sektionssaal, Montag, 19. Oktober, 14:05 Uhr

Sektionsassistent Hermann Vogel zog den Reißverschluss des weißen Plastikleichensacks mit einem geräuschvollen Surren zu, bevor er die Bahre neben sechs weitere Bahren schob. Darauf lagen ebenfalls weiße Leichensäcke, unter denen sich menschliche Konturen abzeichneten.

Sabine Yaos Augen folgten den routinierten Bewegungen des erfahrenen Sektionsassistenten, der jetzt mit dem Fuß die Bremse der Räder des Stahluntergestells arretierte, während sie die durchsichtige Plastikschürze von ihrer Oberbekleidung im Sektionssaal, einem blauen, kurzärmeligen Schlupfkasack, abstreifte.

Yao streckte sich und machte einige Dehn- und Streckübungen, die jedoch die Verspannungen ihrer Schultermuskulatur – eine Folge der letzten sechs Stunden, in denen sie fast ohne Pause halb gebückt am Sektionstisch gestanden hatte – nicht lösten. Organpakete sezieren, knöcherne Frakturen freipräparieren, den Inhalt aus Magen und Blase herausschöpfen und asservieren. Lauter Handgriffe und Fertigkeiten, die die sechsunddreißigjährige Rechtsmedizinerin seit mittlerweile zehn Jahren als Automatismen verinnerlicht hatte und bis zur Perfektion beherrschte.

Der Vormittag hatte es in sich gehabt, selbst für das Team der rechtsmedizinischen Sonderabteilung »Extremdelikte«, das einiges gewohnt war – nicht nur, was das Arbeitspensum anbelangte, sondern auch die Brutalität der von ihnen untersuchten Kapitalverbrechen.

Nach der Frühbesprechung um 7:30 Uhr im Konferenzraum ihrer Abteilung hatten sich die diensthabenden fünf Rechtsmediziner direkt in den Sektionssaal begeben und dort zwei nicht identifizierte männliche Tote obduziert, die in den frühen Morgenstunden von einem Amokfahrer in einem Mercedes Sprinter überfahren worden waren.

Yao war bei beiden Fällen die Rolle der federführenden und somit für das Diktat des Sektionsprotokolls verantwortlichen Obduzentin zugekommen. Dass es sich nicht um einen terroristischen Attentäter, sondern um einen Lebensmüden gehandelt hatte, der es in Kauf genommen hatte, Unbeteiligte mit sich in den Tod zu reißen, stand laut den Ermittlungen des Berliner LKA fest. Die Berliner Boulevardzeitungen hatten in ihren Online-Ausgaben zunächst gemutmaßt, dass es sich bei dem aus Syrien stammenden Fahrer um einen Islamisten handele, und bereits vom »Breitscheidplatz 2.0« geschrieben. Denn der Geschehensort der Amokfahrt lag nicht einmal vierhundert Meter vom Breitscheidplatz entfernt, jenem Ort des Terroranschlages, dem am 19. Dezember 2016 elf Menschen zum Opfer gefallen waren, als ein aus Tunesien stammender Islamist in den Abendstunden mit einem Sattelzug in den gut besuchten Weihnachtsmarkt gerast war. Offensichtlich handelte es sich bei dem heutigen Fall allerdings um einen Suizidversuch des hochgradig alkoholisierten Fahrers, und das Motiv lag im persönlichen Umfeld. Näheres wusste Yao noch nicht. Was aber feststand, war, dass die beiden Opfer Obdachlose waren, die unter dem Vordach eines Supermarktes campiert und dort die letzte Nacht verbracht hatten, ehe sie gegen 4:00 Uhr morgens von dem Sprinter überfahren und zwischen Fahrzeugfront und Hauswand des Supermarktes nicht nur eingeklemmt, sondern regelrecht zermalmt wurden. Die Identifizierung der beiden Toten gestaltete sich schwierig und würde sich wahrscheinlich noch einige Tage hinziehen, da sie keinerlei Ausweispapiere oder andere Hinweise auf ihre Identität bei sich gehabt hatten.

Im Anschluss hatten Yao und ihre Kollegen zwei Brüder, die in der Nacht zuvor bei einem Schusswechsel verfeindeter libanesischer Clans in Berlin-Reinickendorf vor einer Shishabar ums Leben gekommen waren, obduziert sowie eine hochgradig fäulnisveränderte weibliche Leiche, die in einem Waldstück in Rüdersdorf in der Nähe von Berlin von Pilzsuchern gefunden worden war.