Kampf der Auserwählten - Matthias Spiertz - E-Book

Kampf der Auserwählten E-Book

Matthias Spiertz

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Beschreibung

Mattis hat alles verloren – seine Eltern, sein Zuhause, seine Kindheit. Nach einem verheerenden Angriff wird er in ein Waisenhaus gebracht, das mehr ist als nur eine Unterkunft: Hier werden Kinder in Arenen auf Kämpfe vorbereitet. Jedes Zimmer ist ein eigenes Team, jedes Kind ein Rekrut in einem erbarmungslosen System. Doch hinter der Fassade steckt noch mehr – eine düstere Wahrheit, die Mattis erst nach und nach erkennt. Als er in den Inneren Kreis der Neun aufsteigt, nimmt er an der mysteriösen Großen Aufgabe teil, einer Prüfung, die mehr bedeutet als nur Ruhm und Ehre. Währenddessen nutzt die Leitung des Waisenhauses ihre Macht, um sich das gesamte Land unter den Nagel zu reißen. Doch was bedeutet es wirklich, Teil der Neun Auserwählten zu sein? Welche dunklen Geheimnisse verbirgt die Große Aufgabe? Und wie weit wird Mattis gehen müssen, um Gerechtigkeit zu bringen? Ein epischer Fantasy-Roman voller Intrigen, Kämpfe und magischer Verwandlungen

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Seitenzahl: 337

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Matthias Spiertz

Die Waisenkinder

Kampf der Auserwählten

Die Waisenkinder

Kampf der Auserwählten

Band 1

Matthias Spiertz

Die Waisenkinder

Kampf der Auserwählten

Inhalt

Der Angriff

Es beginnt

Eine große Entscheidung

Traum zu zweit

Team Blau

Jungs und Mädchen – Krieg und Ehre

Die Überlegung, wie Mil wohl nackt aussehen würde

Der Innere Kreis der Neun

Arschloch

Eine Nacht im Winter

Ein Traum, ein Land, ein Waisenhaus und eine Frau

Fliegen zu zweit

Machtwechsel

Neue Regeln

Lasse und sein Problem

Herzschmerz

Die große Aufgabe

Töten oder getötet werden

Gemeinsam stark sein

Alte Männer müssen gehen

Der Angriff

Der Himmel färbt sich orangerot, während die Sonne, mittlerweile schon als ein großer Ball am Horizont zu sehen, durch einen Spalt in das staubige, mit Parkettboden ausgelegte, Zimmer von Mattis scheint. Der digitale Wecker zeigt mit roten Ziffern 5:51, während eine Fliege ins Licht tritt und ihn an der Nase kitzelt. Er öffnet langsam seine Augen und der blasse, unscharfe Umriss der Fliege wird für ihn sichtbar. Die Fliege fliegt in Windeseile bei einer ruckartigen Bewegung von Mattis’ Kopf fort.

Er setzt sich auf und schaut sich um. Mit ihm schlafen fünf weitere Jungen. Mattis ist erst seit kurzem in dieser Einrichtung in St. Josh, innerhalb Mejingards, einem Land weit hinter den Bergen Astulfar, an den Perinäen vorbei, neben dem Königreich Silyalos.

Zwischen diesen beiden Ländern gab es einen heftigen Krieg und in diesem wurde vor sieben Jahren ein Waisenhaus gegründet. Jetzt beherbergt es fünfhundert Kinder, die rund um die Uhr von zweihundert Pflegern, Ärzten und Wissenschaftlern mit der von ihnen selbst gemachten Aufgabe umsorgt werden, diese armen Kinder zu pflegen und zu erziehen.

Jedes Zimmer ist mit sechs Jungen oder Mädchen belegt. Das war nicht immer so, doch ist die Anzahl der Kinder in kürzester Zeit rasant angestiegen. Die Leitung des Waisenhauses nimmt die Betreuung der Kinder sehr ernst und dass, obwohl das Waisenhaus das zweitgrößte in Mejingard ist. So hat sie beschlossen, dass die Kinder Verantwortung für ihr eigenes Leben übernehmen müssen. Deshalb wurde bei der Gründung festgelegt, dass jedes Zimmer eine eigene Farbe erhält. Und da es nicht dreiundachtzig klar unterscheidbare Farben gibt, sind immer acht Zimmer als eine Einheit aufgeführt. Lediglich eine hat neun Zimmer.

Die Einheiten heißen Arenen und sind nummeriert. Das Zimmer von Mattis ist in Arena Nr. 1 und hat die Farbe Rot. In dieser Einheit gibt es noch das blaue, grüne, gelbe, pinke, orange, braune und violette Zimmer.

Jedes Jahr wird von den Kindern aus ihren Zimmern ein Anführer gewählt, der die Aufgabe hat, das Zimmer zu führen und es nach außen hin zu vertreten.

Alle Kinder sind Waisen, sonst wären sie nicht in dieser Institution und somit haben sie alle ihre persönliche Geschichte. Alle haben ihre Eltern verloren und keine weiteren Angehörigen, die die Lust oder die Möglichkeiten hätten, sie zu versorgen. Und so sind sie alle hier freundlich aufgenommen worden, alle zu ihrer Zeit, alle in einer Zeit eines schweren, wahrscheinlich sinnlosen, aber wohl doch notwendigen, doch überaus menschenverachtenden und immer noch verherrlichten Krieg.

Doch diese Einrichtung wurde erbaut, um jedem hilflosen kleinen Geschöpf, dessen Hoffnung auf eine gute Zukunft gestohlen wurde, die Liebe zu geben, die ihnen fehlt. Das haben sie sich zur Pflicht gemacht, eine, die sie ihrer Nation schuldig sind. Doch diese ist zerrüttet.

Dieser eine Krieg brachte viele tote Väter, viele tote Mütter und viele hilflose Kinder. Das Land braucht eine neue Hoffnung, eine neue Führung, eine, die immer für Einen da ist. Genau wie sie für die Kinder da ist.

Der Krieg zerstörte viele Familien, jede in einer anderen und doch ähnlichen Art. Eine von einem Jungen, der eine besondere Geschichte hinter sich hat. Der Junge ist Mattis. Er schoss eine alte Bierdose, dessen Aufdruck schon ganz von Schlamm und der Reibung mit den Steinen der Straße verschwunden war. Die Dose wurde von der Innenseite seines braunen Turnschuhs gegen eine Backsteinhauswand geschossen. Als das Blech gegen die Hauswand prallte, ertönte der typische Klang, wenn altes, verrostetes Metall auf Stein trifft. Der Aufprall gegen die Wand drückte die Dose wieder in die andere Richtung. In die Richtung, aus der er sie vor einem kurzen Augenblick geschossen hatte.

Die Sonne stand schon oben am Himmel und die Glocken erschallten aus dem hohen Kirchturm von der nah gelegenen Kirche. Sie schlugen dreimal und wenn man zu dem Turm schaute, sah man auf der großen Uhr, dass sie die fünfundvierzigste Minute nach zwölf Uhr ankündigten.

Er war allein auf der Straße, denn die Männer waren im Krieg. Doch in dem kleinen Ort in der Nähe des Waldes blieb der Krieg fern. Ab und zu konnte man eines der tarnfarbigen Autos des Militärs vorbeifahren sehen, die verletzte Soldaten nach Hause brachten.

Für Mattis waren jene Autos gestern zu seinem größten Glücksgefühl geworden, denn sie brachten seinen Vater zurück. Zunächst hatte er ihn nicht erkannt, da die Sanitäter nicht den Vater zurückbrachten, der vor Jahren gegangen war. Sie brachten Mattis einen Vater zurück, der nicht mehr gehen konnte. Zunächst war Mattis wütend, denn der Krieg hatte ihm einen genommen, der mit ihm Konservenbüchsen kicken konnte. Er hatte sonst keinen, der mit ihm das tat. Doch dann atmete er auf, denn wenigstens hatte er einen, mit dem er reden konnte. Mattis konnte ihm sein Herz anvertrauen. Dieser Vorteil - so fand er - war größer als die Trauer um einen Freund zum Spielen.

Da kam Leben in seine Straße. Zwar hielt kein großer Transporter, aber dennoch bog ein kleiner Wagen ein. Zwei Männer stiegen aus, doch keine Sanitäter, sondern zwei Männer, an deren Brust jeweils viele, kleine, bunte Plaketten klebten und die, goldene Striche auf den Schultern trugen. Er hatte keine Ahnung, dass die Männer Generäle waren, die eine Nachricht überbringen mussten.

Sie gingen zu seinem Nachbarhaus und klingelten. Kurze Zeit später öffnete ein kleiner Junge, etwa sechs Jahre alt, die Tür. Mattis ging zur Seite und beobachtete, dass sogleich eine alte Frau, die Oma des Jungen, ihn nahm und langsam von der Tür wegzog. Seine Mutter betrat die Türschwelle und fasste sich nach einem kurzen Augenblick an ihr Herz. Mattis verstand nicht, was die Männer zu ihr sagten, die in diesem Augenblick die Frau stützen mussten, da sie zusammengebrochen war.

Zur selben Zeit trat seine Mutter aus seinem Haus und rief: „Mattis komm rein, das Essen ist fertig.“ Er spurtete, während die beiden Männer die Frau in die Obhut der älteren Frau gaben und sich wieder in ihr Auto setzten und davonfuhren. Mattis betrat sein Haus, zog seine Schuhe aus und machte einen Schritt in die Küche. Auf einem Gasherd kochte die Suppe, die sie zugleich verspeisen werden würden. Er schaute einen Raum weiter, indem in einem alten, zerzausten Sessel sein Vater saß.

Der Vater trug eine schwarze Hose und einen schwarzen Männerschuh. Das Hosenbein, wo das menschliche Bein fehlte, war zusammengeknotet. Neben dem Sessel waren zwei aus Holz gefertigte Krücken angelehnt. Mattis ging zu seinem Vater und stützte ihn, während dieser sich auf seinen Sohn abstützte und das restliche Gewicht auf eine Krücke verteilte.

So humpelte er in die Küche und setzte sich auf einem Stuhl, an einem Tisch, mit Blick zu einer Holztreppe, die schon moderte. Sie führte hinauf zu zwei Zimmern. Einem mit einem Ehebett und dem anderen mit einem Kinderbett, das schon zu klein für seinen Besitzer war, er aber nicht auf dem kalten Boden schlafen wollte.

Dann deckte seine Mutter den Tisch und gab jedem eine Kelle der Suppe. Sie wünschten sich einen guten Appetit und dankten dem Herrgott, dass sie ihren lieben Vater wiederhatten.

Als vor Jahren der Brief mit der Rekrutierungsanordnung des Vaters in dem Briefkasten der Familie landete, verwahrte sich diese im Keller ihres baufälligen Hauses einen Brandwein, den sie von Freunden zu deren Verabschiedung bekommen hatten, für den Tag auf, an dem sie alle wieder gemeinsam aßen. So schickte die Mutter Mattis in den Keller, um dieses Versprechen einzulösen.

Der Angriff kam überraschend und ohne Warnung traf er mit voller Wucht die kleine Stadt, an der der Krieg so lange vorübergegangen war. In ihr wurden den Söhnen ihre Väter gebracht oder Frauen die Nachricht, dass sie nun Witwen seien. Mehr bekam die Bevölkerung nicht mit vom schrecklichen Krieg. Die Stille wurde unterbrochen durch einen heftigen Knall und einer großen Detonation. Die Bombe war nur eine von vielen. Insgesamt fielen an diesem Mittag einhundertsiebenundzwanzig Bomben auf die kleine Stadt.

Weit außerhalb der Stadt in einem Zimmer stand eine Frau, die eine halbe Stunde nach dem Angriff, Soldaten um sich versammelt hatte.

Sie forderte die Männer auf: „Geht in die Stadt und holt fünfzig Kinder aus den Trümmern. Bringt sie in die Kirche, sie steht noch. Zählt gut durch und achtet darauf, dass sie keine Eltern mehr haben. Morgen früh um neun Uhr möchte ich genau fünfzig hier haben. Rettet die Kinder!“

Die Soldaten gingen in die zerstörte Stadt und versammelten den ganzen Tag Kinder in der Kirche. Viele wurden aus den Trümmern geborgen, doch ihre Eltern wurden rücksichtslos zurückgelassen und die Kinder gewaltvoll zur Kirche geführt. Sie wurden mit den Worten, dass ihre Eltern nicht mehr leben würden, getröstet. Eiskalt handelten sie, denn keiner der Soldaten, die hier eingesetzt waren, kamen aus der Gegend. Darauf wurde penibel geachtet.

Eins, das in den Keller geschickt worden war, lebte noch und öffnete seine Augen. Es legte einen großen, schwarz verkohlten, Holzbalken, von seinem, mit Wunden überzogenen, zermürbten Körper. Es schaute nach rechts und links, sah überall zerstörte, ausgebrannte Häuser, doch keines stand mehr so, wie es vor dem Angriff noch gestanden hatte.

Es richtete sich langsam auf. Seine Kleidung war schwarz vom Ruß und zerrissen durch die Detonation und das Herabstürzen von Häusertrümmern. Dann reichte jemand dem Kind seine Hand.

Es konnte noch nicht erkennen von wem, da hörte es eine Männerstimme: „Komm, ich helfe dir hoch.“

So ergriff Mattis die Hand und wurde kräftig von dem Mann in die Höhe gehoben. Mattis schaute den Mann an. Anhand von der Kleidung, die er trug, erkannte er ihn als Soldat. Der Mann war Soldat seines Landes.

„Bist du verletzt?“, fragte der Mann ihm. Erst dann fiel Mattis auf, dass er nur Kratzer auf seiner Haut hatte, da wo die Hose und sein T-Shirt gerissen waren und konnte dem Soldaten so versichern, dass er nicht weiter verletzt war.

Er wollte gerade gehen, doch der Soldat, der ihm immer noch an der Hand hielt, hielt ihn zurück.

„Wo willst du denn hin? Wenn deine Eltern noch leben, so finden wir sie und bringen dich zu ihnen. Jetzt komm erstmal mit. Es gibt warmen Kakao und leckere Weckbrötchen“, sagte der Soldat mit einem Anflug von Höflichkeit.

Was Gutes zu essen konnte er jetzt gebrauchen und folgte dem Soldaten, der ihn in die Kirche brachte, die den Angriff unbeschadet überstanden hatte. Der Soldat öffnete die Tür der Kirche und sie traten ein.

Mattis sah ganz viele Menschen in der Kirche sitzen, die sich unterhielten, Kakao tranken und Weckbrötchen aßen. Doch es waren ausschließlich Kinder in der Kirche und nur ein paar Soldaten standen in den Seitenschiffen. Dann führte der Soldat ihn zu einem Tisch, an den Frauen standen, die jedem Kind, das in der Schlange wartete, ein Weckbrötchen und einen Pappbecher mit warmen Kakao gaben.

„Stell dich hier an, dann bekommst du was zu essen. Ich muss noch andere Kinder aus den Trümmern retten, so wie ich dich gerettet habe. Hab keine Angst, alle sind hier nett.“ Dann drehte sich der Soldat um und verließ die Kirche.

Mattis ging nach vorne und bekam von einer Frau, deren braunes Haar unter einem hellblauen Kopftuch hervorschaute, ein Weckbrötchen in die eine Hand und von einer zweiten Frau, ebenfalls mit einem hellblauen Kopftuch bedeckt, einen Pappbecher mit heißem Kakao in die andere Hand gedrückt. Der Kakao war so heiß, dass die Wärme durch den Becher fast seine Handfläche verbrannte. Deshalb ging er im Schnellschritt zu einer Kirchenbank und verschüttete dadurch fast seinen Kakao auf seiner Hose.

Nun konnte er zum ersten Mal nach dem Bombenangriff durchatmen. Ob seine Eltern wohl noch lebten? Was würde passieren, wenn er sie nie wiedersehen würde? Solche Gedanken schossen ihm durch den Kopf, während er in sein Weckbrötchen biss und von seinem Kakao nippte. Er schaute sich um, keiner sah ihn an, alle interessierten sich nur für sich selbst, konzentrierten sich darauf ihre Brötchen zu essen.

Die Soldaten standen still und stumm im Seitenschiff der Kirche, jeder an einem Pfeiler, ihre Augen starrten geradeaus, so schien es, in die Leere.

Mattis nahm den Kakao und nahm einen kräftigen Schluck. Tief in seinen Gedanken versunken, vergaß er ganz, dass der Kakao ziemlich heiß war. Doch er musste so sehr an seine Eltern denken. Es konnte doch nicht sein, dass kein ziviler Erwachsener in der Kirche war. Er hoffte sehr, dass seine Eltern irgendwo anders sicher seien und Aufgaben bekämen, wie Kinder suchen oder Schutt beseitigen.

Dann nahm er sein Brötchen in die Hand, biss groß ab und fasste einen Entschluss. Er musste wissen, wo seine Eltern sind.

Auf seiner Bank hatte sich in der Zwischenzeit ein Mädchen hingesetzt. Auch sie nippte zunächst an ihren Kakao. Doch sie schaute nicht auf. Mattis rutschte zu ihr hinüber.

„Hi“, sagte er vorsichtig. Verängstigt schaute

das Mädchen hoch, doch sie traute sich nicht dem fremden Jungen etwas zu sagen. Mattis entschied sich, noch einen weiteren Anlauf zu versuchen.

„Ich heiße Mattis. Und wer bist du?“, fragte er und reichte ihr die freie Hand. Seinen Kakao hatte er neben sich auf die Bank gestellt.

„Ich bin Malli“, sagte sie und nippte wieder an ihrem Kakao.

„Hast du auch deine Eltern verloren?“, fragte Mattis und Malli fing sogleich zu weinen an. „Hey, entschuldige. Das wollte ich nicht. So habe ich es nicht gemeint. Hör doch bitte auf zu weinen.“

Mattis versuchte alles, um sein Missgeschick zu annullieren. Doch richtig trösten hat er noch nie gekonnt.

„Es tut mir wirklich leid“, sagte er nun und

blickte traurig drein. Malli schluchzte und wischte sich die Tränen aus den Augen. Schluchzend nickte sie, um doch noch die Frage zu beantworten.

„Das tut mir leid. Wirklich!“ Um Malli zu beruhigen, fügte er noch hinzu: „Ich habe auch meine Eltern verloren.“

Doch genau das wollte er nicht glauben und musste nun was tun. Er schaute sich um und beobachtete die Soldaten, die in der Kirche Wache hielten. Die Männer taten rein gar nichts, um seine oder die Eltern der anderen zu finden. Dann öffnete sich die Tür. Wieder trat der Soldat, der ihn hierhergebracht hatte, mit einem weiteren Kind in die Kirche ein. Er stellte es, wie auch ihn, einfach in die Schlange und verließ die Kirche genau auf dieselbe Weise, wie er gekommen war und auch, wie er es bei Mattis gemacht hatte.

Dann wartete Mattis, bis die große Eingangstür wieder ins Schloss gefallen war, nahm all seinen Mut zusammen und schaute sich um. Er stand auf, trank den Kakao leer, aß sein Brötchen auf und ging zur Tür. Anschließend schaute er sich nochmal um, wieder schien es, als würde sich keiner dafür interessieren, und so drückte er mit seiner rechten Hand die bronzene Türklinke nach unten. Er zog an ihr und so öffnete sich die große Holztür. Daraufhin lief er hinaus auf die Straße den Weg zurück zu seinem Haus, oder das, was von seinem Haus übrig war, und kletterte auf die Trümmer.

Vorsichtig zog er die großen, verkohlten Holzbalken zur Seite und stoppte, als er einen schwarzen Männerschuh an einem menschlichen Bein, abgetrennt von dem restlichen Körper, durchtrennt an jeder einzelnen Sehne, fand. Längst getrocknetes Blut klebte an der nicht mehr so schwarzen, von Asche überschütteten, zerrissenen Hose. Er schluckte. Eine warme Träne lief aus seinem Auge, ganz langsam, bis zu seinem Kinn hinunter, wo sie dann, von der Schwerkraft angezogen, in Richtung verrußten und verbrannten Hausboden viel. Ihm war klar, er ist allein, seine Eltern würde er nie wiedersehen.

Im selben Moment hörte er Stimmen und sah nach links die Straße hinunter. Zwei Polizisten kamen auf ihn zu.

„Was machst du denn noch hier? Hier ist keiner mehr, der lebt ...“, sagte der eine dünne und große Polizist, während er mit seinem kräftigen Kollegen in Richtung Mattis ging.

Doch er stockte mitten im Satz, als er das entdeckte, was hinter ihm lag. Seine harten Gesichtszüge wurden weicher und mitfühlend, bevor er ihm die Hand reichte und meinte: „Das tut mir wirklich leid für dich. Komm, wir wollen dir helfen. Das hier sollte sich kein Kind ansehen müssen.“

Mattis rührte sich nicht, stand wie angewurzelt da und blickte, nur zwischen den Polizisten und dem verkohlten Bein, hin und her. Der dünne und große Polizist legte seinen Arm um die Schulter von Mattis und führte ihn zur Seite. Dann gingen sie die Straße in die Richtung, aus der die beiden Polizisten gekommen waren, bis zu einem Container entlang.

In dem Container hing eine Glühbirne ohne Lampenschirm von der Decke. Unter dem Lichtkegel war ein Schreibtisch aufgestellt, an dem eine dicke, ältere Frau saß und genüsslich einen Donut aß. Sie schaute auf, als sie die beiden Polizisten erblickte.

„Was schleppt ihr mir hier denn an?“, schnaubte sie.

„Einen, den du durchfüttern musst!“, sagte der eine.

„Bring ihn zur Fermion, die wird Verwendung finden, da kommen auch alle anderen hin“, sprach der andere.

„Das ist der Letzte für heute! Schleppt mir bloß keinen anderen mehr an!“, schnaubte die Frau.

„Ja, er ist der Letzte. Wen die Soldaten nicht haben, ist mit ihm nun bei dir“, sagte der kräftige Polizist.

„Was guckst du denn so?“, schnaubte sie Mattis an. Dann nahm sie ihre Jacke und ging aus dem Container.

„Komm jetzt!“, brüllte sie ihn an. Die beiden Polizisten waren wieder die Straße nach unten gegangen. Widerwillig folgte Mattis der Frau, immer unter kritischen Beobachtungen ihres Äußeren.

Sie hatte eine krumme Nase und auf der Spitze eine kleine, Ekel erregende, sogleich doch spannende Warze, die immer im Takt des starken und schnellen Ganges der Frau hin und her wackelte. Er musste immer schmunzeln und sich ein Lachen verkneifen, was der Frau nicht unbemerkt blieb und ihr einen Grund gab, ihren alten, ungepflegten, mit schwarzen Zähnen durchsetzen Mund zu öffnen und ihn lauthals anzumeckern.

Als sie bei einem Anwesen angekommen waren, erblickte er auf einem Schild das Wort: „Waisenhaus“, und gab sich mit der Tatsache zufrieden, dass es sein neues Zuhause sein werden könnte. Dabei wollte er gar nicht hier sein. Er wollte es nicht wahrhaben, ohne Eltern in einem Haus zu leben.

Die Frau klopfte an die große, alt verzierte, doppelte Eichentür. Sie nahm einen der beiden Löwenköpfe in die Hand und schmetterte mit aller Kraft, die sie aus ihren Armen holen konnte, den Löwenkopf auf einen kleinen Messingknopf.

Wenig später öffnete eine schöne, junge Frau mit lockigem, blondem Haar. Sie hatte einen schlanken Körperbau und machte einen recht freundlichen Eindruck.

„Ich bin Frau Fermion. Und du bist?“, stellte sich die nette, junge Frau vor.

„Ich heiße Mattis“, antwortete er.

„Schön, nett dich kennenzulernen. Du kannst mich Ture nennen. Komm mit, ich werde dich nun den anderen vorstellen, deinen neuen Kameraden. Ihr werdet euch bestimmt schnell verstehen und gute Freunde werden. Haben Sie dank, Frau Krächsbein. Sollte noch was sein, kontaktieren sie mich bitte. Wir kommen jetzt allein zurecht. Einen schönen Tag noch“, sagte Ture.

„Auch so, bis dann“, antwortete Frau Krächsbein und ging in dieselbe Richtung, aus der sie gekommen war, wieder fort.

Mattis folgte Ture durch die große Eingangshalle. Sie ging schnell, schaute aber immer zurück und wartete, bis Mattis aus dem ersten und nächsten Staunen herauskam.

„Scheint sehr spannend für dich zu sein“, sagte Ture.

Mattis, der in armen Verhältnissen aufwachsen musste, war riesige Eingangshallen und Treppen nicht gewohnt, wollte es sich aber nicht anmerken lassen, wie er vorher gelebt hatte.

„Es ist ungewohnt, ohne meine Eltern in ein neues Zuhause zu kommen“, sagte er schlicht.

Was er nicht wusste, war die Tatsache, dass Ture genau wusste, aus welchen Verhältnissen er stammte. Aber genau das ließ sie ihn in keiner Weise wissen.

Sie gingen durch einen langen, lichtdurchfluteten und breiten Flur. Überall waren große Fenster. Er versuchte sein Erstaunen zu verheimlichen, jedoch war dies für Ture nicht zu übersehen und so musste sie lächeln.

In der ersten Etage zeigte Ture ihm einen großen Raum. „Hier wirst du gleich zum ersten Mal zu Abend essen“, sagte sie.

„Damit du dich noch fertigmachen kannst, bringe ich dich jetzt in dein Zimmer. Deine Zimmerkameraden werden dir dann noch alles zeigen, jedoch kannst du jederzeit zu mir kommen“, sagte sie und schloss die Türen des Speisesaals.

Gegenüber deutete sie auf eine weitere, doppelte Eichentür. An der rechten Seite war ein Schild angebracht, worauf stand: „Ture Fermion, Leiterin“.

„Das ist mein Büro. Du kannst gerne jederzeit zu mir kommen“, sagte Ture.

Zusammen gingen sie in einen Flur, an zwei weiteren Büros vorbei. In der Eile konnte Mattis keinen Blick auf die Schilder werfen. Der Flur erstreckte sich gefühlt bis in die Unendlichkeit. Rechts und links waren ganz viele Türen. Das gesamte Gebäude war sehr gut beleuchtet und überall waren große Fenster. Neben jeder Tür hing ein Rahmen mit einem einfarbigen Papier. Der Rahmen war aus purem Gold. Mattis wurde zu einer Tür geführt. Im Rahmen hing ein rotes Stück Papier, auf dem: „Arena Nr. 1 Team Rot“, gedruckt war.

„Ja?“, konnte man einen Jungen hinter der Zimmertür hören, als Ture an diese klopfte.

Sie drückte die Türklinke hinunter und öffnete langsam die Tür. Zusammen betraten sie das Zimmer. Ture ging vor.

„Ich möchte euch euren neuen Zimmergenossen vorstellen“, sagte sie.

Alle fünf Jungen schauten fast erschrocken in Richtung Tür, in der Mattis erstarrt stand. Er war ganz erstaunt, was nun passieren würde und schaute dabei jedem Einzelnen ins Gesicht. Währenddessen bewegte er nur seine Augen und musterte die anderen Jungen.

Dann unterbrach Ture die Stille. „Das ist Mattis, er wird bei euch wohnen. Ich lass euch jetzt allein“, und wandte sich Mattis zu: „Wenn du Fragen hast, komm einfach in mein Büro.“

Sie ging aus dem Zimmer und während sie die Tür langsam schloss, erinnerte sie die Jungen daran, dass es gleich Abendessen geben würde.

„Bis dann, Ture“, antworteten sie, außer Mattis, der nur still im Zimmer herumstand.

„Hi, ich bin Rhavan und das ist…“, sagte ein gutaussehender, sportlicher Junge. Seine braunen Augen lagen tief in den schattigen Augenhöhlen.

„Ich bin Piti“, unterbrach ihn ein sehr schlanker, großer Junge. Seine Brille rutschte ständig den Naserücken hinunter. Nachdem er Mattis seine Hand gereicht hatte, stupste Piti die Brille mit einem Finger wieder an seine Augen heran. Während Mattis Pitis Hand schüttelte, stellten sich noch die anderen Jungen vor.

„Ich bin Vaverca“, sprach ein kleiner, muskulöser Junge.

„Ich bin Pan“, reichte ihm ein weiterer, kleiner Junge schüchtern seine Hand. Er trug eine runde Brille und in seinem Gesicht verteilten sich einige Pickel. Für die Pickel schämte sich Pan. Zudem sorgte er sich um seinen altmodischen Namen Panthaleimon. Er hatte große Angst, dass der Name in Verbindung mit den Pickeln in seinem Gesicht, ihn zu einem gehänselten Opfer machen würden. Am liebsten würde er sich verstecken, damit er all das nicht ertragen müsste. Die Leitung des Waisenhauses ist seinem Namenswunsch entgegengekommen. So ist in seiner Akte: „Pan (Panthaleimon)“, eingetragen.

„Nenn mich Lim“, meinte Lim und reichte, wie auch die anderen Mattis seine Hand. Über Lim wunderte sich Mattis am meisten. Während alle anderen Jungen in dem Zimmer Socken und ein rotes T-Shirt trugen, stand Lim nur mit einer kurzen, roten Hose vor ihm. Er hatte welliges, schwarzes Haar und braune Augen. Sein Gesicht war makellos.

Lim reichte Mattis eine Schachtel mit Keksen. „Möchtest du?“, fragte er mit vollem Mund, da er sich gerade selbst einen Keks in den Mund gesteckt hatte.

„Nein, danke“, antwortete Mattis.

Pan zeigte mit seinem Zeigefinger auf ein freies Bett. „Da kannst du schlafen. Du wirst uns gut ergänzen und die rote Rüstung sowie die Mitglieder werden dich schützen.“

Wieder klopfte es an der Tür. Diesmal öffnete, ohne auf eine Antwort zu warten, ein Pfleger die Zimmertür und trat in das Jungenzimmer ein.

„Du scheinst Mattis zu sein“, sagte der Mann, während er ihn ansah und lächelte. „Komm mit, wir besorgen dir ein paar neue Klamotten“, sagte er und reichte ihm die Hand. Erstaunt folgte Mattis dem Mann eine Etage nach oben. Sie gingen in ein Zimmer an dessen Tür: „Schneiderei“, stand.

Was das wohl für ein Waisenhaus ist, das eine eigene Schneiderei hat, dachte Mattis, als er sich in dem Zimmer umsah. An der Wand über der weiß-goldenen Tapete hingen verschiedene große Plakate, die bunte, moderne, aber auch alte Kleidung aus dem Mittelalter zeigten. Frauen huschten mit großen Stoffen durch den Raum und andere saßen an Tischen vor modernen Nähmaschinen. Ein Mann mit weißem Oberlippenbart, der über den Wangen gekringelt war, kam auf ihn zu. Er trug einen blauen Anzug mit einer, bis oben hin zugeknöpften Anzugweste aus feinstem Kaschmir. Jedoch hatte Mattis keine Ahnung, aus was für einem Stoff der Anzug war.

„Was wünschen die Herren?“, begrüßte der Schneider die beiden.

Der Pfleger antwortete: „Wir brauchen für den Jungen ein Team-T-Shirt und eine Rüstung.“

Was?! Wofür denn eine Rüstung? Mattis war erschrocken, doch er schwieg.

„Gut“, sprach der Schneider und wendete sich zu Mattis: „Wo gehörst du denn hin?“

Wieder antwortete der Pfleger. Auch weil Mattis eingeschüchtert von dem Schneider, der sein Gesicht nah an das von Mattis gedrängt hatte, einen Schritt zurückgewichen war. „Er gehört zum roten Team.“

„Aha. Gut“, antwortete der Schneider. Mittlerweile stand er wieder normal in dem Raum.

Der Schneider war nicht sehr groß. Seine Körpergröße glich der von Mattis. Der Pfleger war an die zwei Meter groß und daher blickte der Schneider zu dem jungen Mann hinauf. Der Schneider griff in seine linke Hosentasche und zog ein gelbes Maßband heraus. Ohne zu zögern, legte er es an Mattis‘ Oberkörper an und fing sogleich an auf einem Zettel, der plötzlich, so schien es Mattis, aus dem nichts auftauchte, Maße zu notieren. Kurze Zeit später war der Mann, der sein Werk so schien es, höchst unprofessionell fertiggestellt hatte, wieder aus dem Raum verschwunden.

Eine Frau trat hervor und unterrichtete den Beiden: „Das Team-T-Shirt ist gleich fertig, er wird es vorbeibringen lassen.“ Im nächsten Augenblick war sie wieder im Getümmel verschwunden.

Der Pfleger wandte sich liebevoll zu Mattis: „Ich bring dich nun wieder zurück.“

Wieder bei den Jungen setzte sich Mattis schweigend an einen Tisch, der in dem Zimmer in der Nähe des Fensters stand, und beobachtete die anderen. Ihm gegenüber saß Pan, der gerade einen Brief verfasste und nicht zufrieden war. Er zerknüllte das Blatt und warf es zu den anderen, die sich in und um den Papierkorb angesammelt hatten. Vaverca, Rhavan und Piti waren gerade nicht im Zimmer und Lim lag gelangweilt in seinem Bett. Er begnügte sich mit einem Tischtennisschläger und einem Ball. Er ließ den Ball auf den Schläger titschen, stellte sich nicht besonders geschickt an und so flog der Ball von dem Gummi herunter.

Jedes Mal konnte er den Ball auffangen und ihn erneut auf eine kurze Reise auf einer Tischtennisschlägerseite schicken. Plötzlich flog der Tischtennisball außer der Reichweite von Lims Arm. Der Ball landete auf den Boden, titschte viermal auf und rollte zu dem linken Fuß von Mattis. Dieser hob ihn auf und stand auf, um Lim den Tischtennisball zurückzugeben, als es an die Tür klopfte. Pan unterbrach seine Arbeitsphase und ging zur Tür.

Hinter ihr stand der Schneider und mit ihm zwei Frauen, die einen Wagen dabeihatten. Der Schneider betrat das Zimmer und reichte Mattis ein rotes T-Shirt. Währenddessen räumten die Frauen etwas in den Kleiderschrank ein und verließen zusammen mit dem Schneider das Zimmer. Mattis zog sein altes, verschmutztes T-Shirt aus, doch Lim riss ihm, bevor er das rote T-Shirt anziehen konnte, dieses sofort aus der Hand.

Pan zeigte ihm das Bad. „Du musst erst dringend duschen. Danach gehen wir essen. Bis gleich.“

Die Jungen hatten recht. Mattis stank barbarisch. Da sie in seiner Familie viel Wasser sparen mussten, hatte er immer zusammen mit seiner Mutter geduscht und dass nur wenige Male in der Woche. Zudem war sein ganzer Körper in Ruß eingehaucht. Vermutlich hätte die Menge gereicht, um ihn für zehn Jahre haltbar zu machen.

Mattis ging ins Badezimmer. Er betätigte den Lichtschalter an der linken Wand. Die Lampen erleuchteten das Badezimmer und das Gebläse ging an. Wie ein alter, verrußter Propeller eines alten Flugzeugs war der Krach des Gebläses zu hören.

Er schloss die Badezimmertür ab, zog sich aus und ging in die Duschkabine. Er drehte den Wasserhahn auf und sofort sprudelte das Wasser aus dem Duschkopf. Er rieb seinen Körper komplett mit wohlriechender Seife ein und sparte bei dieser Wohltat nicht.

Das Wasser brauste lauwarm aus dem Duschkopf auf seine Haut und der Dreck, der das Wasser schwarz färbte, wurde mit diesem in den Abfluss gespült.

Kurze Zeit später war er fertig, stieg aus der Duschkabine und trocknete sich ab. Für seine Haare nahm er den Föhn, der in einer Halterung an der Wand hing, heraus, zog sich bis auf sein T-Shirt an und schloss die Tür wieder auf, um aus dem Bad hervorzutreten.

Von Lim bekam er das rote T-Shirt und zog es sich über.

„Ok, komm wir gehen nun in den Speisesaal“, sagte

Lim.

Vor dem Speisesaal trafen sie auf die anderen drei aus dem Zimmer.

„Setz dich einfach neben mich“, bot Pan Mattis an und wandte sich an die anderen: „Wir rutschen einfach unauffällig auf!“

„Geht klar!“, antworteten die anderen Jungen gleichzeitig. Und so öffnete Pan die Tür zum Speisesaal.

Es beginnt

In dem großen Saal stand hinten parallel zur Wand ein Tisch mit dreizehn Stühlen, der mittlere war ganz prunkvoll. Davor standen zehn Tische. Jeder Tisch war für eine Arena bestimmt. Ganz links im Raum befand sich Tisch Nr. 10 und am anderen Ende war Tisch Nr. 1. Diesen Tisch steuerten die Jungen an.

Die meisten anderen Kinder waren schon da. Sie tobten noch durch den Saal, als sich die Tür öffnete. Lyra betrat mit ihren Zimmergenossinnen den Speisesaal. Lyra ist ein Mädchen mit langen, braunen Haaren, die sie oft zum Pferdeschwanz gebunden hat. Sie ist die Anführerin des blauen Teams.

Die Mädchen setzten sich direkt neben den Jungen. Mattis schaute sich um. Er erkannte andere Kinder, die genau wie er noch sehr unsicher waren und ihm fiel ein, wo er sie schon mal gesehen hatte. Sie waren alle von den Soldaten in die Kirche gebracht worden, wo er weggelaufen war.

Im nächsten Moment nahmen vorne dreizehn Erwachsene Platz. Die junge Frau, die ihn begrüßt hatte, war ebenfalls dabei und setzte sich auf den prunkvollen Stuhl in der Mitte. Zu ihrer linken und rechten Seite setzten sich je sechs Männer und eine Frau. Darunter auch der Schneider. Er setzte sich ganz links.

Mattis beobachtete Ture, bis sie aufstand und zu den Kindern im allmählich ruhig gewordenen Saal sprach.

„Guten Abend, liebe Rekruten. Heute kann ich verkünden, dass nun alle, die eine Familie verloren haben, hier bei uns in Sicherheit sind. Leider konnten wir keine Eltern aus den Trümmern von dem gestrigen Angriff retten. Das tut mir leid“, sagte Ture.

In dem Augenblick, als die Worte durch ein Mikrofon verstärkt in dem Saal verhallten, brachen einige der neuen Kinder weinend zusammen. Zugleich kamen Pfleger, die an der Seite des Raumes standen, zu den weinenden Kindern, um sie zu trösten.

Mattis blieb stark, hatte großes Mitgefühl mit ihnen und hätte wohl auch gleich losweinen können, hätte er nicht die bittere Wahrheit mit eigenen Augen gesehen. Frau Fermion aber verhärtete.

Sie interessierte sich nicht für das Leid ihrer Schützlinge und fuhr mit ihrer Rede fort: „Eure Zimmerkameraden werden nun eure Familien sein. Zu ihnen will ich nun sprechen.“

Die Kinder hatten sich beruhigt. Die Pfleger hatten gute Arbeit geleistet und so lenkten sie ihre Aufmerksamkeit wieder Frau Fermion zu.

„Am Morgen wird wieder trainiert. Nehmt eure Neuen auf und bereitet sie vor. Morgen werdet ihr eure Zimmeranführer wählen. Wählt weise, wählt aus euren Herzen heraus. Dann wird die Wahl gerecht sein. Esst nun, stärkt euch für das große Ziel.“ Sie beendete ihre Rede und setzte sich.

Im selben Moment gingen ein paar Pfleger zu den Türen und öffneten diese. Es traten weitere Pfleger, silberne Wagen ziehend, in den Speisesaal ein und stellten Aluschalen auf den Tischen. Andere Pfleger stellten ihre Wagen an der Seite und hinten an den Wänden ab, auf ihnen befanden sich flache und sauber glänzende Teller.

In den Aluschalen waren Fleischbuletten und in anderen Fritten. Die Kinder bedienten sich, nachdem sie aufgesprungen und zu den Wagen mit den Tellern gelaufen waren. Mattis war ganz überwältigt, was aufgetischt wurde. Die Kinder aßen und es wurde ziemlich laut an den Tischen. Gespräche mit vollen Mündern wurden geführt.

An einem Tisch stieß ein Junge einen großen Krug gefüllt mit Limonade um. Und sogleich kamen Pfleger mit Tüchern, um die Flüssigkeit aufzusaugen. Der Junge wollte helfen, wurde jedoch von den Pflegern zur Seite gedrängt. Ein Pfleger stellte einen neuen gefüllten Krug mit Limonade auf den Tisch, nachdem er dem Jungen eingeschenkt hatte. Er sprach zu ihm und lächelnd setzte sich der Junge wieder hin. Wirklich alle Pfleger sorgten sich zu gütig um die Kinder, als wären sie alle Prinzessinnen und Prinzen.

In der Zwischenzeit hatte sich Lim bereits Nachschlag geholt und aß genüsslich weiter. Die Schachtel mit den Keksen war auch schon halb leer und Mattis wunderte sich, wie es möglich war, dass dieser Junge so viel Essen konnte und offensichtlich nicht dick war.

Lim aß einfach gerne. Anscheinend störte es ihm kaum, wenn er einen Keks zeitgleich mit Pommes im Mund hatte. Wie in Trance schob er sich mit seiner linken Hand einen Keks nach dem anderen hinein und kaute genüsslich auf die Pommes. Ein sehr ungewöhnliches Essverhalten. Mattis war solche Mengen an warmem und gutem Essen fremd. Doch er genoss das gute Essen.

So wohl hatte er sich lange nicht mehr fühlen dürfen, als Mattis satt an seinem Tisch saß und die Pfleger die Reste der Mahlzeit einsammelten, nachdem sich jedes Kind satt gegessen hatte. Die Teller und Aluschalen waren eingesammelt und die Pfleger hatten den Raum verlassen, da stand Ture auf und mit ihr die zwölf weiteren Erwachsenen, die mit ihr an der Tafel ganz hinten gespeist hatten und zugleich standen alle Kinder auf.

Dann verließ Ture, ohne etwas zu sagen, die Tafel, drehte sich um und trat nach hinten aus der Tür, aus der sie gekommen war. Die anderen Erwachsenen folgten ihr. Die Kinder verließen den Raum, aber nicht geordnet, sondern teils schreiend und laufend durch die Doppeltür.

Im Zimmer angekommen wurde Mattis von Rhavan eingewiesen: „Also morgen früh werden wir trainieren. Kennst du Capture the Flag?“ Mattis schüttelte den Kopf.

„Also es gibt mehrere Teams. Hier bei uns ist jedes Zimmer ein Team und jedes Team hat eine Flagge. Ziel des Spiels ist es zuerst die gegnerischen Flaggen zu erobern. Die anderen Teams sind auch in der Arena. Nur fangen wir uns nicht, sondern kämpfen mit Waffen. Wer am Ende die meisten Fahnen erobert hat und seine eigene verteidigen konnte, gewinnt das Spiel. Hat ein Team eine Fahne erobert, so können diese von anderen Teams nicht mehr erobert werden. Nur die gegnerische Fahne kann erobert werden, was das Team ausscheiden lässt“, erklärte Rhavan. Mattis erschrak und hielt es zunächst für einen Scherz, doch als alle ihn verdutzt anstarrten, als er anfing darüber zu lachen, musste er schlucken, denn sie meinten es ernst.

„Aber keine Sorge, du stirbst schon nicht“, wollte Vaverca ihn aufmuntern. Doch Mattis wurde bleich im Gesicht.

„Wir kämpfen nur mit Holzschwertern und Schildern. Das dient alles nur zum Training“, erklärte Piti.

Im Bett konnte Mattis nicht wirklich schlafen. Seine Eltern sind tot und er lebt plötzlich ein Leben in Luxus. Am nächsten Morgen sollte er kämpfen. Zwar nicht mit echten Waffen und auch nur als Spiel. Doch wozu war das fördernd? Noch lange beschäftigten ihn diese Gedanken. Plötzlich wurde er aus seinen Träumen gerissen, als der Wecker klingelte.

Müde schaute er sich um und kletterte aus dem Hochbett. Unter ihm war das Bett von Piti, der wie auch alle anderen Jungen schon dabei war sich anzuziehen. Piti reichte Mattis einem Wams aus Schaffell, eine Lederhose und Lederschuhe, die die Frauen kurz nach seiner Ankunft mit dem Wagen gebracht hatten.

„Zieh das an!“, befahl er ihm und fügte, während er ihm einen, aus Eisen gefertigten, Brustharnisch und einen Helm reichte gleich noch hinzu: „Das und wir werden dich beschützen.“

In der Zeit hatten die anderen sich angezogen und baten nun Mattis ihre Hilfe beim Anlegen der Kleidungsstücke an. Nach kurzer Zeit stand er da, prachtvoll in einer aus Leder gestickten Rüstung mit rot gefärbtem Stoff, einem Eisenharnisch und Helm, mit roten Farbakzenten, genauso wie auch die anderen.

Eins fehlte ihm noch, als er die anderen näher betrachtete: Sie hatten alle eine Waffe. Vaverca trug eine doppelseitige Axt auf seinem Rücken. Piti hatte ein Langschwert in der Schwertscheide stecken. Rhavan trug Pfeil und Langbogen um seinen Oberkörper. Pan hatte, fein geordnet, Wurfmesser über den Schulterblättern hängen und um seinen Oberkörper viele Seile gebunden. Lim trug stolz einen großen Morgenstern.

„Wir besorgen dir unten in der Arena deine Waffe, aber wähle gut, denn du kannst nur einmal wählen“, sagte Piti.

Pan musste ihn verbessern: „Na ja, du darfst in deiner ersten Trainingseinheit immer wechseln und musst erst am Ende entscheiden.“ Dann gingen die Sechs auf den Flur, die Treppe hinunter bis nach ganz unten und verließen das Gebäude.

Sie gingen über den Hinterhof auf eine grüne Wiese, einen Hügel hinunter. Mattis staunte, als er sah, wie weitläufig das Gelände des Waisenhauses war.

Acht Türme standen in einem riesigen Oktogon, ein jeder in einer Ecke. Das war nur ein Platz, insgesamt waren es zehn solcher Plätze.

„Das sind die Arenen, hier müssen wir die Türme erstürmen und die Fahnen erbeuten. Hast du noch Fragen?“, fragte Rhavan. Doch Mattis schüttelte den Kopf.

Die sechs Jungen gingen nach unten in die Arena, wo sie Mattis einen Waffenständer zeigten. An diesem wählte ein Mädchen ein Schwert und lief zu ihrem Team. Mattis entschied sich für Pfeil und Bogen und wollte gehen, doch Piti reichte ihm noch ein Kurzschwert.

„Das gehört mit zu der Ausrüstung“, sagte er und lächelte. Sie gingen auf einem Turm, auf dem eine rote Fahne steckte.

Dann kam er, auf seinem geschmückten Pferd. Stolz saß er im Sattel, in der rechten Hand die Zügel, in der linken Hand ein Horn, fein geschnitzt aus Birkenholz. So ritt er in die Arena. An seinem Gürtel hing ein Schwert, über seinem nackten Oberkörper hing ein Bogen und eine Tasche gefüllt mit Pfeilen. Seine Lederschuhe fest in den Steigbügel, so ritt er. Er, der große und legendäre Spielemeister Peli Mestari. Er blieb in der Mitte der Arena stehen.

„Rekruten, jetzt geht es wieder weiter … Fahnen werden bis zum Endsieg erobert! Vergesst nicht: Nur neun von euch können die Besten sein und den Inneren Kreis bilden, für die letzte, ehrenvolle Aufgabe. Lasset die Spiele beginnen!“, brüllte der Spielemeister durch die Arena. Als die letzten Buchstaben seiner Ansprache verhallten, blies er kräftig in sein Horn und galoppierte aus der Arena.

Gleich in dem Augenblick, als der dumpfe Schall des Horns erklang, rannten die meisten Teams ungebremst ihre Türme hinunter, den Sieg immer vor Augen, um mit Ehrgeiz zu den neun Besten gehören zu wollen.

Nur zwei waren von der ersten Euphorie nicht mitgerissen worden. Sie sollten sich nun, nachdem sie ihre Eltern auf tragische Weise verloren hatten, mit Holzschwertern gegen andere Kinder, die auch keine Eltern mehr hatten, um Fahnen prügeln? Doch als sich ihre Teams in Bewegung setzten und die beiden aufgefordert worden, überwundenen sie ihre Zweifel und rannten lauthals in den Kampf.

Diese zwei Kinder waren Mattis und Mil, ein Mädchen, das Mattis in der Kirche gesehen hatte, während er seinen Kakao getrunken hatte. Das Mädchen lief in oranger Rüstung die Treppen des Turms hinunter. So wie nun auch die Jungen samt Mattis von dem roten Turm tosend in die Schlacht liefen und alle von einer Welle des wahrscheinlich bevorstehenden Sieges mitgerissen wurden.