Kampf der Krabbler - Claus Kretzschmar - E-Book

Kampf der Krabbler E-Book

Claus Kretzschmar

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Beschreibung

Seltsame Dinge geschehen iin der wenig beachteten Welt der Insekten. Taba Taba, eine mutierte Riesenbremse verbreitet rund um ihr Hauptquartier mit einer Armee aus giftigen Ameisen, aggressiven Schrecken und feuerspeienden Käfern Angst und Schrecken unter den dort lebenden Sechsbeinern. Ein Hirschkäfer versucht mit vielen Freunden sich gegen die wilden Horden zu wehren. Ein kleiner Junge, der dem muffigen Alltagstrott seines Internats entflieht, gerät dabei ungewollt in den Mittelpunkt der mörderischen Auseinandersetzung. Die Leser erfahren dabei ganz nebenbei einiges über die großartigen Fähigkeiten der kleinen Krabbeltiere. Wen es schon immer beim Anblick von Käfern und Spinnen gruselte, könnte diese Tierchen am Ende sogar lieben lernen.

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Seitenzahl: 176

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Kampf der Krabbler

StartImpressum

Start

Die Stunde des Hirschkäfers

Ein Insektenabenteuer

© Claus Kretzschmar 2019

Alle Rechte, auch das des Auszugsweisen Nachdruckes, der Auszugsweisen oder vollständigen Wiedergabe

 der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen und der Übersetzung, vorbehalten.

Lektorat

Iris Apenburg, Deutschland

Umschlaggrafik

Ricardo Cheferrino, Brasilien

Merkwürdige Dinge geschehen in einem entlegenen Biotop. Tiere sterben plötzlich und nicht weit entfernt gibt es ein Gebiet, in dem nicht einmal Käfer überleben. Taba Taba, eine wilde Riesenbremse, verbreitet mit ihrer Armee aus aggressiven Schrecken, giftigen Ameisen und anderen sechsbeinigen Helfern Tod und Vernichtung um ihr Hauptquartier. Ein kleiner Junge, der dem muffigen Alltagstrott seines Internats entflieht, gerät dabei ungewollt in den Mittelpunkt einer mörderischen Auseinandersetzung sich bekämpfender Insekten: Bremse gegen Hirschkäfer.

Inhalt

Charlie

Fluchtpläne

Jenseits des Waldes

Im Schreckenland

Zurück zum Teich

Leggis Erkundungen

Leggi bei den Käuzen

Bei der Weide

Der Plan

Die Flucht

Die Verweandlung

Die Ausbildung

Lucius Schröter

Nächtliche Aktivitäten

In der Burg

Der Scorpion

Die Monsterläuse

Die Schlacht

Das Ende

Windige Lösung

Aufräumungsarbeiten

Neue Horizonte

Erdgeschichtlich betrachtet existiert die Menschheit, seit es sie gibt, nicht länger als eine Eintagsfliege

Charlie

„Schneckenschleim und Krötendrüse! Spinnenweb und Kohlgemüse! Alles kommt in meinen Brei. Probier ihn jetzt und du bist frei!“

Halbherzig leierte Ralf den Abzählreim herunter. Die kleine Gruppe der Internatsschüler zeigte wenig Interesse an dem Spiel. Wieder verließ ein Junge den immer kleiner werdenden Kreis um den Sprecher.

„Wie langweilig! Wo soll ich mich denn hier verstecken?“, nölte Tommi. „In diesem Gelände findet nicht mal mein Hamster eine Deckung!“

„Einmal noch, Freunde!“ Charlie versuchte, seine Spielgefährten aufzumuntern. „Ich wette, mich findet ihr nicht. Wer es schafft, kriegt heute Abend meinen Nachtisch.“

Dieses Angebot konnte er leicht machen, so toll war das Essen in dieser Lehranstalt nun auch wieder nicht. Es konnte sich da höchstens um saure Quarkspeise oder Vanillepudding mit dicker Schmandschicht handeln. Pfui Deibel! Es gab allerdings immer Jungen, die nie genug bekommen konnten. Das Essen diente ihnen als Ausgleich gegen das Heimweh, das allerdings keiner zugeben würde. Schließlich war jeder doch schon fast erwachsen, obwohl die älteren Pennäler einen verächtlich immer noch mit ‚Frischling’ anredeten.

Die Kinder unterbrachen das Abzählen. Lukas, immer auf der Suche nach einem zusätzlichen Happen, erklärte sich bereit, die anderen zu suchen.

Mit dem Gesicht zur Wand und geschlossenen Augen zählte er, ab und zu mal zur Seite schielend, laut bis hundert. Die Runde stob auseinander, um sich zu verbergen. Doch viel Erfolg hatten die meisten damit nicht, denn wenn es um Verpflegung ging, packte Lukas der Ehrgeiz. Seine Figur war auch dementsprechend. So brauchte er nicht lange, um alle aufzuspüren.

Nur einer blieb verschwunden: Charlie.

Sollte er mich überlistet haben? Wo kann er bloß stecken? Lukas sah seine Extraportion schwinden.

Er wird sich doch nicht in Luft aufgelöst haben. Irgendwo muss er stecken! Vielleicht im Gebäude?

Oder ist er im Heizungskeller unter den Kohlen ver­graben? Meinetwegen kann er dort schwarz werden, das ist mir egal!

Langsam verging den Kindern die Lust, nachdem sie erfolglos alle Schlupfwinkel durchstöbert hatten. Sie wollten schon aufgeben, als es laut raschelte. Bedeckt mit trockenen Zweigen und Blättern kam Charlie von einer hohen Birke herunter gerutscht.

„Kauft euch mal eine Brille“, zog er die Bande auf. „Ich habe alles gehört. Ihr seid vielleicht blöde. Sich hinter Türen verdrücken kann ja jeder! Meinen Pudding kannst du trotzdem haben“, tröstete er den enttäuschten Lukas.

Typisch Charlie. Eigentlich hieß er ja Ole, ein Name, der ihm überhaupt nicht gefiel. Vor allem, weil er sich dauernd irgendwelche Spottverse anhören musste. Auf Ole ließ sich so schön reimen wie: „Ole, Ole, hat im Kopf 'ne Dohle!“ oder „Dein Vater ist ein Pole!“ Da war Charlie schon besser. Den Spitznamen bekam er von der Klasse, als er im Geschichtsunterricht beim ollen Drömmer Karl den Großen respektlos „Charlie den Behosten“ nannte (wegen seiner engen Beinkleider). Das brachte ihm prompt einen Strafaufsatz ein.

Na ja, Schwamm drüber.

Charlie hatte es faustdick hinter den Ohren. Er war ein ziemlich aufgeweckter Junge, sorglos, lässig, unerschrocken, unkompliziert und erfinderisch. Als er noch bei seinen Eltern lebte, konnte er sich über ihre alltäglichen Probleme nur amüsieren. Was für eine Zeitverschwendung, sich mit solchen Lappalien aufzuhalten wie einer nicht verschraubten Zahnpastatube. Nach dem vertrockneten Pfropf kam doch frische Paste, oder was? Wer nicht total verpennt war, würde auch nicht über sein Spielzeug stolpern. Schließlich war es dann Charlies eigenes Pech, wenn dadurch etwas kaputt ging. Natürlich übertrieben die Erwachsenen jedes Mal und machten gleich ein Drama daraus!

Schlimmer war es schon, wenn seine Eltern sich ernstlich in die Haare gerieten. Jeder versuchte dann, ihn auf seine Seite zu ziehen: „Stimmt doch, was ich sage Ole, oder?“

Er rettete sich meistens, indem er auf komische Art ihre Wortgefechte imitierte, bis alle in Gelächter ausbrachen. „Aus dir wird noch mal ein richtiger Schauspieler“, meinten sie dann und vergaßen den Anlass ihres Streites. Seine gute Beobachtungsgabe und ein natürliches Talent zur Komik halfen ihm dabei, kritische Situationen zu umgehen – er war der kleine Clown der Familie.

Später ging der Junge allen Beeinflussungsversuchen aus dem Weg. Er hatte so seine Erfahrungen gesammelt. „Die töten mir noch den Nerv, wie kann man nur so spießig sein?“, empörte er sich insgeheim.

Wenn es möglich war, flüchtete er ins Freie oder zog sich auf sein Zimmer zurück. Hier gab es interessantere Dinge zu beobachten oder zu tun.

Bereits im Krabbelalter hatte der Junge einen Blick für die winzigsten Details in seinem Umfeld. Er entdeckte jeden noch so kleinen Krümel. Bevor die Mutter reagieren konnte, hatte er ihn auch schon in den Mund gestopft. Besonders beeindruckten ihn die rastlosen Ameisen im Garten. Beim Spiel auf ‚Leben und Tod’ legte er ihnen Hindernisse in den Weg und bewunderte ihr Geschick, sie beiseite zu räumen. Und erst die riesige Aufregung, wenn er ihre Ausgänge mit Sand verstopfte – super! Später belohnte er sie mit getöteten Insekten und Würmern, die sie präzise zerlegten, um sie dann eilig in ihren Bau zu schleppen.

In der Küche belauerte er gebannt die Stubenfliegen auf ihren hungrigen Streifzügen. Es faszinierte ihn, wie sie die kleinen Rüssel in Marmelade oder verschüttete Milch tunkten und anschließend mit den Hinterbeinen ihre Flügel glatt strichen. Stundenlang konnte er ihnen dabei zuschauen.

Auf dem Terrassenboden grapschte er nach Ohrwürmern, die sich an ihm vorbei mogeln wollten. Sobald er sie mit seinen ungeschickten Patschhändchen erwischte, zog er sie auseinander bis sie in zwei Hälften zerrissen. Anschließend verspeiste er sie genüsslich. Jedenfalls sah es so aus, wenn man seinen Gesichtsausdruck betrachtete. Älter geworden verzichtete er natürlich auf diese Kost. Seine Mutter erzählte ihm immer wieder davon. Geschadet habe es ihm wohl nicht, meinte sie augenzwinkernd.

Vielleicht lag ihm dieses Interesse für die Insekten ja im Blut, einige Vorfahren seiner Familie hatten als Bauern schon erfolgreich Spinnen und Käfer als natürliche Schädlingsbekämpfer benutzt.

So verlief das Leben innerhalb der Familie letztlich ganz normal und friedlich. Leider kommt es oft anders als man denkt. Der zu frühe Tod seiner Mutter änderte alles. Ole wurde aus seinem liebevoll behüteten Leben gerissen. Allein gelassen und in seiner Trauer gefangen fühlte sich sein Vater mit der Erziehung überfordert. Er schickte ihn kurzerhand in ein Internat, ohne sich weiter um den Ruf dieser Einrichtung zu kümmern. Natürlich gab es bessere Institute mit ausgezeichnetem Niveau, aber der Verlust der geliebten Frau hatte sein Urteilsvermögen getrübt. Auch kümmerte es ihn wenig, wie sein Sohn sich fühlte. Blind und stumm gegenüber seiner Umgebung vergrub er sich in die Arbeit. Da war ein kleiner Junge nur im Wege.

Die Anstalt befand sich in einem altertümlichen Backsteingebäude mit schwarzem Schieferdach etwas abseits der Kleinstadt, in der die Familie lebte. Durch die abgeschiedene Lage und den hohen Zaun um das Gelände sah der wuchtige Komplex, der einen Innenhof umschloss, eher wie ein Gefängnis als eine Schule aus. Der abweisende, fast schon bedrohliche Eindruck musste jeden Besucher abschrecken.

Als Schuljunge merkte der Schlauberger rasch, dass hier Offenheit nur Nachteile brachte. Disziplin, Unterwerfung und eine strenge Hausordnung bestimmten das Leben der Zöglinge. Aber abends, wenn alle in ihren Betten lagen, erinnerten sie sich, wie viel schöner es früher zu Hause war und so mancher schniefte heimlich in sein Kissen, wenn er sich unbeobachtet glaubte.

Charlie hatte den Kopf in die Armbeuge gelegt. Er konnte nicht einschlafen und lauschte dem gleichmäßigen Pochen seines Herzens. Er riskierte einen Blick durch die halbgeöffneten Augen.

Der Schlafsaal war in das sanfte Licht des Vollmondes getaucht, das durch die Sprossenfenster fahlgraue kreuzförmige Schatten an die Wand warf. Es schien, als würden die in der Luft schwebenden beleuchteten Staubteilchen von den Atemzügen dreißig kleiner Körper rhythmisch bewegt werden.

Der Junge konzentrierte sich intensiver auf seine Umgebung. Er vernahm das leise Schnaufen und Schniefen seiner Mitschüler und das Knarzen der durchgelegen Matratzen in den Betten, sobald sich jemand, vielleicht von Angstträumen gepeinigt, im Schlaf rührte.

Mäuse knispelten hinter der hölzernen Fußbodenverkleidung. Der alte Dachstuhl ächzte und knackte.

Draußen kläffte ein Hund - ärgerlich, aggressiv, ausdauernd. Er übertönte mit seinem Lärm alle anderen Geräusche der Nacht. Das Bellen ging schlagartig in ein hysterisches Jaulen über. Es hörte sich ähnlich schrill an wie die dicke Sopranistin im Fernsehen, wenn sie ihre Arien sang. Da gefror einen glatt das Blut in den Adern. Danach wurde es draußen wieder ganz still, nur ein Waldkauz schrie ab und zu in der Nacht.

Charlie hatte plötzlich so ein merkwürdiges Rauschen im Trommelfell. Irgendwer schien ihm etwas mitteilen zu wollen, doch er verstand nur ein undefinierbares Wispern. Bedrohlich hörte es sich eigentlich nicht an. Es schien eher ein Hilferuf zu sein − oder war es ein Lockruf?

Alle Geräusche im Zimmer verstummten mit einem Male. Eine Lautlosigkeit umgab ihn, die fast schon Schmerzen in den Ohren verursachte. Charlie hatte das Gefühl, in einem Kokon von durchsichtiger Watte zu stecken.

„Etwas geht hier vor“, rätselte er, „aber was könnte das sein?“ Seine Nackenhaare richteten sich auf und es kribbelte am Hinterkopf. Langsam wurde ihm mulmig zumute. Er beschloss vorsichtshalber, erst einmal abzuwarten. „Meine Fantasie spielt mir einen Streich. Vielleicht habe ich ja auch Fieber. Das soll die unmöglichsten Erscheinungen hervorrufen“, versuchte er sich zu beruhigen.

Die alte Standuhr in der Vorhalle schnarrte und schepperte blechern einmal. Es hörte sich an, wie ein Schlag von einem Holzlöffel auf einen verbeulten Topf.

Charlie zuckte zusammen. Zaghaft stand er auf und spähte aus dem milchig-trüben Fenster des Schlafraumes hinaus. Am Himmel blitzte eine Sternschnuppe! Er wollte einen Wunsch aussprechen, doch so schnell fiel ihm nichts ein.

Verträumt betrachtete er den vollen Mond am Nachthimmel. Unzählige Sterne, die durch die helle Kugel etwas blass erschienen, flimmerten am Firmament. Weiter unten im Gegenlicht drohte das tiefe Schwarz des Waldes.

Dem entgegen leuchteten hell die geometrisch angeordneten Gartenwege aus weißen Kieselsteinen. Einer von ihnen führte in einem weiten s-förmigen Bogen vom Haus direkt in das Innere des Forstes. Wenn man nur lange genug darauf starrte, schien es, als ob ein unendlich langes weißes Reptil sich fortschlängeln wollte, ja, es bewegte sich sogar. Der Mutige konnte das lockende Tor in eine andere märchenhafte Welt vor sich sehen. Charlie folgte mit seinen Augen den lieblichen Wegwindungen und starrte auf den dunklen Eingang. Etwas zog ihn dort magisch an. Warum eigentlich nicht? Ich sollte einfach türmen. Überall kann es nur besser sein als an diesem verstaubten Ort, dachte er bekümmert. Mich vermisst sowieso keiner. Hinter dem Wald beginnt ein neues Leben und die Welt steht mir offen. Einmal über diese Schwelle und mich findet niemand mehr wieder.

Der Junge schluckte hart und beschloss, sich die Gegend am Tage doch mal genauer anzusehen. Mit diesem Gedanken schlüpfte er wieder unter die Bettdecke. Unausgeschlafen sollte man den Schulmeistern nicht gegenübertreten, denn dann gab es gleich etwas hinter die Ohren.

Er fiel in einen unruhigen Schlaf, doch im Unterbewusstsein arbeitete sein Gehirn schon an einem Plan für den nächsten Tag, an dem er unbehelligt für einige Zeit entwischen wollte.

Fluchtpläne

Der Morgen kam natürlich viel zu schnell. Die Horde der schlaftrunkenen Kinder folgte dem Erzieher wie eine Schar Lemminge. Er watschelte wie ein Pinguin, allerdings ohne weiße Weste. Zuerst stand Waschen und Zähneputzen auf dem Programm. Danach ging es zum gemeinsamen Frühstück, welches fast immer aus Haferflocken in warmer Milch oder eingeweichten Brötchen, auch in Milch, bestand. Igittigittigitt!

Anschließend scheuchten die Lehrer ihre Schüler eilig in die Klassenräume mit aufmunternden Parolen wie: „Los! Los! Der frühe Vogel fängt den Wurm!“ oder „Morgenstund hat Gold im Mund!“ Abgedroschenes Geschwätz, das den Schülern schon zum Halse heraushing.

Für Charlie war der Vormittag heute besonders lang. So ein früh begonnener Tag kann sich ganz schön hinziehen.

„Chrr, rrr, urrgh. Mir ist schlecht!“ Charlie verdrehte die Augen, krümmte sich. Speichel tropfte auf das Schulheft, nachdem er sich unbeobachtet vorher einen Finger in den Hals gesteckt hatte. Erschrocken unterbrach der Pauker seinen Redefluss.

„Roland! Bring Ole an die frische Luft. Du bist mir für ihn verantwortlich! Wenn er sich besser fühlt, kommt ihr sofort zurück. Andernfalls bringe ihn auf sein Zimmer und sage dem Hausmeister, er soll Dr. Martens anrufen.“ Man konnte dem Lehrer seinen früheren Militärdienst noch anhören.

Roland, der sich stets hoffnungslos durch den Unterricht unterfordert fühlte, zerrte Charlie erfreut aus dem Klassenraum. Der knickte noch einmal demonstrativ in den Knien ein und krallte seine Finger in die Magengrube. Röchelnd schauspielerte er noch den armen Kranken vor der Klasse, um dann, schon wesentlich lockerer, aus der Hoftür in den Park hinauszueilen.

„Puh, jetzt fühle ich mich gleich wohler. Danke für deine Hilfe. Ich setze mich dort auf die Bank in die Sonne. Versuch mal, ob du aus der Küche etwas Essbares organisieren kannst. Noch besser, du besorgst auch gleich noch Kakaotüten mit Strohalm. Das ist genau das, was den Tag noch retten könnte.“

Jetzt, wo alle Lehrer und Helfer beschäftigt waren, fiel es schlauen Kindern nicht schwer, den Erwachsenen aus dem Weg zu gehen. Sie kannten deren Gewohnheiten und konnten eine Begegnung geschickt vermeiden.

Charlie spähte aus zusammengekniffenen Augen zu dem serpentinenartigen Weg, der zum Wald führte.

Kaninchen trödelten, ab und zu mal ein paar Hopser vor und zurück, über die Rasenfläche. Sie zupften an den kurz gemähten Halmen, beobachteten nebenbei wachsam ihre Umgebung. Hoch in der Luft drehte ein Bussard bedächtig seine Kreise. Gelegentlich verdeckte er ein Stückchen der Sonne. Irgendwo in der Nähe übte ausdauernd kratzend ein Grashüpfer auf der Geige. Süß und lieblich wirkte dieser Ton auf ein Grashüpferweibchen. Ein Konkurrent fühlte sich animiert und meldete sich ebenso heftig bei jeder Pause.

Der Knabe verließ seinen Beobachtungsposten und schlurfte, immer noch Schwäche mimend, Richtung Waldrand. In der leichten Brise schienen die fünffingrigen Blätter des Feldahorns zu winken: „Komm her, komm zu mir.“

Der hohe Zaun um das Gelände war hier unterbrochen. An dieser Stelle ersetzte ihn ein kleiner Wall, völlig bedeckt von dornigen Hundsrosen. Den schmalen Einschnitt flankierten rechts und links zwei grün bemooste Findlinge, verwitterte steinige Wächter am Eingang des Waldes.

Nach ein paar Schritten befand sich Charlie im Schutz der stämmigen Säulengalerie. Ein weicher Teppich aus Moos, Blättern und Nadeln polsterte den Boden. Ringsum dämpften die Pflanzen alle lauten Geräusche von außen. Hier konnte man sich so sicher fühlen wie im Bauch eines Walfisches.

Der Junge schielte zum Internatsgebäude. Bei Licht war es zu riskant sich fortzustehlen. Das Haus hatte viele Fenster, aus denen doppelt soviel Augen herausschauen mochten. Besser warte ich auf eine Gelegenheit am Abend oder nachts, dachte er. Dann werde ich erst am nächsten Tag vermisst und gewinne genügend Zeit für einen ordentlichen Vorsprung.

Charlie bewegte sich langsam wieder zur Bank zurück. Dort erfreute sich sein Freund schon mit dicken Backen kauend an duftendem Brot.

„Du solltest dich lieber noch etwas schonen, sonst spuckst du nachher alles wieder aus“, meinte Roland grinsend und nicht ganz uneigennützig.

„Ach was, mir geht es schon wieder gut. Es ist ja kein fettes Essen“, konterte Charlie.

Gemeinsam machten sie sich über die Scheiben her, während am Boden schon Ameisen mit einem „Hauruck!“ die heruntergefallenen Krümel wegschleppten.

Nachdem der Proviant verdrückt war, schlenderten die beiden Jungen durch die weite Anlage. Keiner von ihnen hatte es eilig, zum Unterricht zurückzukehren. Sie genossen es, ungestört zu sein. Übermütig schleuderten sie Kieselsteine auf die davonstiebenden Karnickel, ohne sie zu treffen. Sie durchquerten den Garten des Anwesens, in dem außer vergilbter Petersilie, verwelktem Gemüse wie Lauch, Zwiebeln und Resten von Kartoffelkraut nichts zu holen war. Zur Erntezeit sperrte der Gärtner den Haushund, einen bestechlichen Rottweilerrüden, in dem Areal ein. Dessen Anwesenheit, so glaubte er zumindest, würde die Früchte seiner Arbeit vor den gierigen Händen der Zöglinge schützen.

In der Ferne beendete gerade das aufdringliche Schrillen der Schulglocke den laufenden Kursus. Das Gebäude spuckte die lärmende Schar der Kinder in den Pausenhof. Dies war die Gelegenheit für die beiden, sich unauffällig der Meute anzuschließen ohne lästige Fragen beantworten zu müssen.

Der Tag schlich wie gewohnt weiter dahin. Es folgte das Mittagessen, dann die anschließende Ruhepause, bei der kein Wort gesprochen werden durfte. Danach gab es noch eine einschläfernde Andacht mit Religionsunterricht in der hauseigenen Kapelle.

Den Rest des Nachmittags widmeten sich die meisten Kinder den Hausaufgaben, wobei einige unter ihnen zum Nachhilfeunterricht verdonnert waren.

Vor der Nachtruhe gab es zum Abschluss die Stunde des Breis, wie die Schüler es nannten: Haferbrei, Hirsebrei, Griesbrei, Kartoffelbrei, Erbsenbrei, Maisbrei – an jedem Wochentag jeweils dieselbe Sorte – und sonntags Mehlklöße in brauner Soße oder Reisbrei.

Eigentlich wäre das schon Grund genug für jeden, über eine Flucht nachzudenken.

Jenseits des Waldes

Am Unterlauf der Inne, deren Quelle viele Flügelschläge entfernt jenseits des Horizontes sprudelte, tobte das Leben.

Wasserläufer huschten leichtfüßig über die glatte Oberfläche einer überschwemmten Senke, die das Hochwasser vom Frühjahr großzügig zurückgelassen hatte. Unterhalb des Spiegels räkelten sich, faul nach Luft schnorchelnd, die Mückenlarven, während sich von oben der Mond eitel grinsend darin betrachtete: „Was für ein tolles Outfit, ich bin mal wieder voll da“, dröhnte er durch den Weltraum. Das konnte natürlich keiner hören – denn im luftleeren Raum gibt es keine Geräusche! Nur in Sciencefiction-Filmen, in denen viel Lärm die unwahrscheinlichsten Szenen begleiten muss, gelten Ausnahmen. Man stelle sich vor, der widerliche Alien zerplatze völlig geräuschlos vor seinen Gegnern. Wie effektlos und wenig beeindruckend wäre dies.

Rohrkolben trieben ihre kräftigen Wurzeln in den Schlamm. Schilf und knospende Schwertlilien bildeten eigene sattgrüne Kolonien.

Erlen kühlten ihre Füße im Nass und befestigten auf diese Weise Teile des Ufers mit ihren Gehölzwurzeln.

Das dicht bewachsene Ufer verbarg so manche kleine und große Arten von Lebewesen: Räuber, Quälgeister, Jäger und Gejagte, heimliche Beobachter und Abstauber.

Kleine Inseln von Wasserlinsen bildeten tagsüber hellgrüne Tupfer im Wasser. Sie zeichneten einen angenehmen Farbübergang zur ansonsten graubraunen Oberfläche.

Frösche hockten am Rand des Teiches, starrten sich an:

„Was gibt es zu glotzen?“

„Woher willst du wissen, dass ich glotze, du Blähbauch?“

„Das sehe ich doch, Glupschkopf!“

„Dann glotzt du doch auch!“

„Komm mir bloß nicht blöde, du Dumpfbacke!“

„Ich bin blöde!“

„Genau! Äh, wieso?“

„Weil ich mich mit dir unterhalte, du Schrottkopf!“

Sie blähten sich auf, erfüllten die Nacht mit ihrem Gequake, eifrig nach der Konkurrenz schielend. Vor lauter Anstrengung traten ihre Augen immer weiter hervor und wollten schier aus dem Kopf kugeln.

„Bsirr, Bsirr, Bsirr“. Das melodische Zirpen von Grillen, begleitet vom Quietschen und Rattern der verschiedensten Arten von Heuschrecken, übertönte das Schlabbern und Schmatzen der Aasfresser, die sich gerade eine Portion Hundefleisch einverleibten. Eine Spur von ungläubigem Erstaunen zeigte sich noch in dem Gesicht des kleinen Terriers. Es musste etwas Schreckliches passiert sein, denn die Augen waren voller Panik weit aufgerissen. Und da war noch etwas Seltsames! Wo war sein ganzes Blut?

Abgesehen von dem toten Hund war eigentlich alles normal. Die Natur arbeitete wie eh und je. Für Insekten hieß das: sich paaren, sich vermehren, die Brut pflegen, wachsen und sich schön machen, täuschen und sich tarnen, musizieren oder brummen, surren, plätschern, leuchten, kommunizieren, schlau sein, lernen, üben und vor allem: kämpfen. Kämpfen um das Überleben. Fressen oder gefressen werden, darauf lief es hinaus. Die Jäger unter ihnen schnappten sich gewaltsam ihre Opfer, während andere geduldig bei ihren Fallen auf die Unerfahrenen und Unvorsichtigen lauerten, tückisch und tödlich.

Ein lauer Südwind brachte Gerüche und Informationen, welche die Kundigen herausfilterten, bevor sie vorbeiwehten. In ihm verbarg sich ein kleiner harmloser Wüstengeist, ein Dschinn, wie er im Arabischen genannt wird. Schmeichelnd und verführerisch erzählte er seine Geschichten. Man musste schon Acht geben, um nicht auf seine Lügen und seinen netten Blödsinn hereinzufallen. Eigentlich stammte er aus Vorderasien, genauer gesagt aus dem ehemaligen Persien. Er hatte sich zu Hause unbeliebt gemacht, weil er die großen Herren der Winde, mächtige Dschinne mit Zauberkraft, nicht richtig ernst nahm und ständig herumlästerte. So fand er Asyl im Norden, und die kräftigen Westwinde erlaubten ihm wohlwollend, sich ihren Reihen anzuschließen − ein bunter Tupfer im grauen Wind-Allerlei.

Der Dschinn verbreitete einen Hauch von Petroleum: „Fühlt, was ich gehört habe! Neue seltsame Tiere habe ich getroffen. Trudelkäfer! Schon mal davon gehört? Sie saugen von schmierigen, bunt schillernden Pfützen und feuern aus ihrem Schlund heiße Brenngase, pfft, pfft!“ Der Wind forderte Aufmerksamkeit, blies klagende Töne durch die Binsen wie durch einen Kamm.

„Man glaubt, sie können nicht fliegen, taumeln umher“, fuhr der Dschinn fort. „Alles Tarnung! Ein Vogel, in der Hoffnung auf leichte Beute, hat sich ganz schön den Schnabel verbrannt, jetzt kühlt er ihn schon eine Stunde im Bach, oh haua haua ha!“

Eine Wasserspinne steckte ihren Kopf aus ihrer silberglänzenden Taucherglocke. Zwei ihrer acht Augen fixierten den Luftikus: „Was erzählst du wieder für einen Unsinn? Knallende Käfer? Du kriegst von mir die Ehrennadel der Arachniden für großes Spinnen, selber Knalltüte!“

Die Spinne sah sehr schön aus mit ihrem braunen Hinterleib, der sich vor Erregung leicht violett verfärbt hatte. Sie war eine Augenweide für fressgierige Frösche und natürlich für ihre Liebhaber, kleine lebensmüde Spinnenmännchen, die nach der Fortpflanzung verspeist werden, wenn sie nicht schnell genug verschwanden.

Eine Libelle verharrte in ihrem Flug. „Das gibt`s, das gibt`s. Ich habe es von einem Bekannten, dem dicken Gelbrandkäfer, der kommt überall herum. Er weiß es von seinen Verwandten aus dem Wald. Sie haben Verbindungen zu Käfern in alle Gegenden, auch in fremden Ländern. Weiter im Süden, wo es nicht so feucht ist, soll es sie geben. Dort werden sie Bom..., Bomb..., Bomb..., Bombardierkäfer genannt. Wenn jemand sie berührt, knallen sie wie Donner! Dabei kannst du glatt vergast werden, denn sie stinken fürchterlich.“

„Diese waren aber gar nicht so weit weg, glaubt mir, und die donnerten nicht“, widersprach der kleine Dschinn. Wieder blies er sein „pfft, pfft“ durch die Binsen. „Ich sage euch, die reinsten Flammenwerfer!“

Etwas beleidigt wirbelte der Wind einen Mückenschwarm durcheinander, deren Weibchen hungrig nach kleinen Säugetieren spähten.

„Mist, gerade hatte ich eine Wärmetönung! Saftiges Blut für meine Brut!“ schimpfte ärgerlich eine von ihnen lautstark den Wind an.

„Ein feines Gedicht“, quakte es von unten, „komm etwas näher, ich höre so schlecht!“

„Fall bloß nicht auf den herein. Der hat dich zum Fressen gern“, antwortete eine ältere Mücke. „Lasst uns zu dem toten Hund fliegen, vielleicht können wir noch etwas absaugen. Noch ist er warm! He, Dschinn, mach’ dich nützlich und gib uns Rückenwind, wenn du schon mal hier bist!“

„Ein Fallwind wäre auch nicht schlecht“, mischte sich der Frosch ein. „Es gibt nichts Schlimmeres als Mücken. Nur als Nahrung sind sie von Nutzen.“