Kanak Kids - Anna Dimitrova - E-Book

Kanak Kids E-Book

Anna Dimitrova

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Beschreibung

Kanak Kids – die Culture-Clash-Comedy zwischen zwei Welten Die fünfzehnjährige Dessi führt ein Doppelleben: Im Münchner Brennpunktviertel Neuperlach gibt sie mit Jogginghose und Alman-Jokes die Assi-Ausländerin, im Innenstadtgymnasium trägt Daisy eine blonde Perücke, blaue Kontaktlinsen und spricht Hochdeutsch. Ihre jeweiligen Freund*innen hält sie voreinander geheim. Lieber versucht sie, überall dazuzugehören, als sich angreifbar zu machen. Die Taktik funktioniert – bis sie eines Tages von Bo bei ihrer Verwandlung erwischt wird. Bo ist nicht nur Dessis Nachbar, sondern auch ihr Mitschüler und damit der Einzige, der ihre beiden Persönlichkeiten kennt. Kann Dessi ihn überzeugen, dichtzuhalten? Oder prallen ihre beiden Welten endgültig aufeinander? »Ich glaube, wir sehnen uns alle nach einem Ort, wo wir einfach dazugehören, ohne uns verstellen oder anpassen zu müssen. An dem wir so sein können, wie wir wirklich sind. Ich wünsche meinen Leser*innen, diesen Ort mithilfe von Kanak Kids zu finden.« Anna Dimitrova »Hier im Kartoffelland gibt's genau zwei Arten von Ausländern: die Angepassten, die ihren Döner, ohne Zwiebeln, ohne scharf' essen, und die Kanaks, die sie dafür auslachen. Zu wem du gehören willst, musst du ziemlich früh entscheiden.« Aus »Kanak Kids«

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Seitenzahl: 430

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Anna Dimitrova

Kanak Kids

Halb angepasst und voll dazwischen

Roman

Originalausgabe

© Atrium Verlag AG, Imprint Arctis, Zürich 2024

Alle Rechte vorbehalten

Dieses Werk wurde vermittelt von der Literaturagentur erzähl:perspektive, München (www.erzaehlperspektive.de)

© Text: Anna Dimitrova

Lektorat: Leona Eßer

Coverillustration: Dana Lédl

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03880-179-5

 

www.arctis-verlag.com

Folgt uns auf Instagram unter www.instagram.com/arctis_verlag

 

 

Für alle, die überall und gleichzeitig nirgends hingehören

Kapitel 1

Hier im Kartoffelland gibt’s genau zwei Arten von Ausländern: die Angepassten, die ihren Döner »ohne Zwiebeln, ohne scharf« essen, und die Kanaks, die sie dafür auslachen. Zu wem du gehören willst, musst du ziemlich früh entscheiden.

Mir passierte es vor fünf Jahren im Bus, als sich eine ältere Dame bei mir über »die lauten Südländer mit den McDonald’s-Tüten dahinten« beschwerte. Ich hatte zwei Möglichkeiten: zugeben, dass ich zu ihnen gehöre, oder ganz schnell meinen letzten Big-Mac-Bissen runterschlucken und empört den Kopf schütteln. So wie die Deutschen, wenn sich die Bahn verspätet – sie waren offensichtlich noch nie in Bulgarien, wo es nicht mal Fahrpläne gibt.

Jedenfalls kann die Konsequenz aus dieser Entscheidung oft weitreichende Folgen haben. Mein Ex-Onkel Christo lebt jetzt mit seiner Frau Susanne und ihrem blonden Sohn Tim in einem Reihenhaus in Deisenhofen. Es gibt Gerüchte, dass sie sogar richtiges Alman-Zubehör wie SodaStreams besitzen. Aber darüber wird bei uns nicht gern gesprochen, denn die Angepassten haben hier nicht den besten Ruf.

Willkommen in Neuperlach, wo der Migrationsanteil ungefähr so hoch ist wie die Arbeitslosenquote, aber nicht ganz so hoch wie die Plattenbauten. Wo die größte Sehenswürdigkeit das PEP ist: die Perlacher Einkaufspassagen und die Droge, die dort vertickt wird. Und wo du mit der U5 zwar hinfahren kannst, spätabends aber niemals aussteigen würdest. Sounds shady, ich weiß, aber für mich ist es der beste Ort der Welt.

Jeden Morgen um sechs klingelt es bei uns an der Tür: Baba Penka kommt zum Kaffeetrinken vorbei. Und weil eine alte osteuropäische Tradition besagt, dass man niemals mit leeren Händen zu Besuch kommen darf, bringt sie uns immer mindestens ein Ei mit. Inzwischen haben wir so viele davon, dass Oma nur noch Eiergerichte zubereitet. Gestern hatte ich Spiegeleier, vorgestern Omelett, am Tag davor Rührei … Inzwischen wird mir davon ein bisschen schlecht, aber ich traue mich nicht, was dagegen zu sagen. Wir haben nämlich richtig Glück, dass Oma das Kochen übernimmt. Mom würzt so, als würde sie nicht wissen, dass Salz überhaupt existiert, und wenn es nach Dad gehen würde, würden wir nur abgelaufene Tiefkühlpizza essen.

Die Küche überlassen wir daher gern Oma und Baba Penka, die sich dort über den neuesten Klatsch und Tratsch aus der Nachbarschaft unterhalten, während Mom, Dad und ich uns wie immer im Bad versammeln. Man könnte denken, dass es mit einem einzigen Klo ganz schön eng werden würde, aber für uns ist das kein Problem. Mom sitzt auf der Toilette, ich putze Zähne und Dad rasiert sich den Kopf. Seitdem die Preise so angestiegen sind, hat er sich selbst zum Hausfriseur ernannt und besteht darauf, auch uns seine kostenlosen Haarschnitte zu verpassen. Daher kommen unsere Pusteblumen-Frisuren: Wir haben alle dunkle, extrem lockige Haare, die bei einer gewissen Kürze nach allen Seiten abstehen. Wie bei einer Pusteblume eben. Der Look gefällt mir eher wenig, Nein sagen kann ich aber auch nicht, denn Geldsparen ist für uns kein Scherz. Und mein Vater ist der Sparkönig. Um seine Ausgaben zu reduzieren, wohnt er schließlich immer noch mit seiner Mutter zusammen – etwas, das meine Mutter verrückt macht. Im Gegensatz zu Dad arbeitet sie Vollzeit als Finanzberaterin und könnte es sich locker leisten, eine neue Wohnung zu mieten. Das würde aber auch bedeuten, dass sich Dad von seinen Neuperlacher Freunden, seiner Werkstatt und Oma zumindest örtlich trennen müsste, und das geht für ihn auf gar keinen Fall. Deswegen quetschen wir uns gerade zu dritt ins Bad.

»Ihhh!« Ich höre auf, meine Zähne zu putzen und fische mir ein kleines Haar aus dem Mund, das von Dads Rasierer zu mir herübergeflogen ist. Ekelhaft.

Dad lacht, bis ich anfange, ihn mit dem Haar durch die Gegend zu jagen. Er lässt den Rasierer ins Waschbecken fallen, läuft an mir vorbei und versteckt sich in der Duschkabine. Resigniert drehe ich mich zu Mom, die von der Toilette springt, damit ich das Haar dort reinwerfen kann. Nachdem ich das getan habe, setze ich mich selbst darauf.

»Dessi!«, ruft sie und deutet auf ihren nackten Po. »Ich war noch nicht fertig.«

Aber zum Glück hat Dad dafür eine Lösung. »Das Waschbecken wäre noch frei«, sagt er grinsend.

Bevor ich zur Schule gehe, bekomme ich wie immer eine Tupperdose in die Hand gedrückt. Darin befindet sich mein Mittagessen. Heute: Moussaka. Mit extra vielen Eiern. Ich bedanke mich dafür bei meiner Oma, die mir im Anschluss ein Glas Wasser vor die Füße schüttet. Ein bulgarisches Glücksritual, das für mehr Unfälle als für Glück sorgt, weil es meistens dazu führt, dass ich auf der Treppe ausrutsche. Trotzdem lächle ich Oma dankbar an, verabschiede mich von meinen Eltern und verlasse die Wohnung. Danach laufe ich ein Stockwerk runter und klopfe an die mittlere Tür.

Schon ein paar Sekunden später kommt meine beste Freundin Aylin raus. Sie hat zwar überhaupt kein Gespür für Fashion, schafft es aber irgendwie immer, auch die unpassendsten Farbkombinationen zu rocken. Heute trägt sie zum Beispiel ein dunkelblaues Oberteil, eine helle Jeans und schwarze Air Force. Eigentlich ist das ein absolutes No-Go, aber ich würde trotzdem eine Wette eingehen, dass sie auf dem Weg zur Schule mindestens fünf Komplimente dafür kriegen wird.

Wenn unser Leben ein Film wäre, würde Aylin die hübsche Hauptfigur spielen. Und ich – die skurrile beste Freundin.

Doch im Gegensatz zu den meisten anderen Protagonistinnen ist Aylin nicht die stumme, charakterlose Schönheit, die seit Ewigkeiten auf ihren mysteriösen Typen wartet. Denn sie interessiert sich für Pop Culture genauso viel wie für Männer: nämlich gar nicht. Manchmal glaube ich, dass ihre Liebe für Autos gar keinen Platz für andere Dinge in ihrem Herzen übrig lässt. Mit einer kleinen Ausnahme: Baklava.

Ich sehe runter zur Tupperdose, die Aylin heute in der Hand hält. »Baklava?«, frage ich hoffnungsvoll.

»Lokum«, antwortet sie enttäuscht.

Wir seufzen. Es gibt keine türkische Süßigkeit, die wir mehr hassen als Lokum. Es ist viel zu süß, es klebt, und man kann nach dem Verzehr mit mindestens vier Karieszähnen rechnen.

Frustriert gehen wir die Treppe runter und holen im vierten Stock Ozan ab, der statt eines Rucksacks mal wieder eine Sporttasche trägt. Er glaubt, das ist cool. Wir glauben auch, dass er glaubt, dass das cool ist.

Ozan würde sich am liebsten »Ich gehe pumpen« auf die Stirn tätowieren lassen, als wäre das nicht schon offensichtlich genug. Inzwischen ist er genauso breit wie groß und sieht dementsprechend quadratisch aus. Er denkt, dass er unverwundbarer wirkt, je »männlicher« er aussieht. Hinter seinen Muskelbergen versteckt er jedoch in Wahrheit einen süßen, weichen Kern, den nur Aylin und ich kennen.

»Na, was geht?« Ozan checkt mit uns ein. Als Kinder haben wir einen peinlichen, viel zu langen Handcheck erfunden, den wir immer noch nicht aufgegeben haben. Daran, dass wir ihn heute nicht so begeistert ausführen wie sonst, erkennt unser Kumpel, dass etwas nicht stimmt. Er sieht uns nachdenklich an. Dann: »Lokum-Tag?«

Wir nicken traurig, und Ozan wirft seine Arme um unsere Schultern.

»Yallah, kommt, ich gönn euch Baklava.«

Im PEP gibt’s einen geilen türkischen Laden, der uns an Lokum-Tagen mit Premium-Baklava versorgt. Genau dahin wollen wir gerade, als wir kurz davor auf Berkant und seine Jungs – die lokalen Grasdealer – treffen.

»Aylin, Süße, wie geht’s?«, erkundigt sich Berkant und versucht, seine Hand auf Aylins Hüfte zu legen.

Meine beste Freundin weicht seiner Geste gekonnt aus und bahnt sich den Weg zum Baklava-Shop, ohne Berkant in die Augen zu schauen. Ozan und ich tun das Gleiche, bis sich Berkant uns in den Weg stellt.

»Geh weg, Alter!« Ozan schubst ihn aggressiv zur Seite. Er hat es sich zum Ziel gemacht, mindestens eine Schlägerei pro Woche zu starten, damit sein Testosteron-Level ja nicht sinkt.

Weil ich keine Lust habe, ihn schon wieder ins Krankenhaus zu begleiten, stelle ich mich dieses Mal dazwischen. »Jungs, chillt mal kurz. Prügeln ist uncool.«

Mit diesen Worten nehme ich Ozans Hand, ziehe ihn an Berkant vorbei und betrete entschlossen den Laden, in dem Aylin bereits auf uns wartet.

»So ’n Abfuck«, beschwert sie sich, als wir wieder unter uns sind, und nimmt eine Packung Baklava in die Hand. »Ich könnt nicht weniger Bock auf Jungs haben grad.«

»Chill, du darfst nicht auch noch gay sein. Die Hood verkraftet’s nicht«, erwidert Ozan mit einem bitteren Lächeln.

Als er sich vor einem Jahr geoutet hat, haben seine Eltern nicht sonderlich einfühlsam reagiert. Genau genommen, haben sie eigentlich gar nicht reagiert. Sie haben ihn einfach kühl angeschaut, so getan, als hätte er nichts gesagt, und das Thema nie wieder angesprochen. Dafür versuchen sie ihn umso intensiver mit der Tochter einer Familienfreundin zu verkuppeln. Seitdem geht Ozan noch öfter trainieren – ich vermute, das ist seine Art, sich ein dickeres Fell zuzulegen.

Auch Oma und Baba Penka haben monatelang über nichts anderes als sein Outing gesprochen. Sie haben ständig betont, wie schade sie es finden. Sie hätten gedacht, dass er ein netter Kerl ist. Als würde seine Sexualität einen Einfluss auf seinen Charakter haben.

Was politische Korrektheit angeht, ist Neuperlach noch nicht auf dem neusten Stand.

Wir erreichen die Kasse und stellen uns hinter zwei Typen an, die extra ihre Ärmel hochgekrempelt haben, um ihre schicken Armbanduhren zu präsentieren. Aylin legt die Baklava auf das Fließband und greift zum Warentrenner, aber ich halte ihre Hand fest.

»Wollt ihr ’n paar Almans auf den Sack gehen?«, frage ich amüsiert. Das verbessert die Stimmung immens. Aylin und Ozan zeigen begeistert mit den Daumen nach oben.

Ich lege den Warentrenner zurück und schiebe unsere Packung Baklava weiter vor, damit sie näher an den Einkauf der beiden Typen rückt. Die zwei bemerken das und werden sofort nervös. Es ist wirklich unglaublich, was für eine große Angst reiche Leute davor verspüren, versehentlich ein fremdes Produkt mitzuzahlen. Als würden die fünf Euro einen Unterschied für sie machen.

Wir kichern leise, während wir beobachten, wie sie die immer näher kommenden Baklavas ansehen. Sie wollen genau den richtigen Moment erwischen, um dem Kassierer zu sagen, dass sie nicht ihnen gehören. Was sie nicht wissen: Der Kassierer, Elias, kennt uns und weiß ganz genau, dass die Baklavas für uns sind. Genau deswegen macht er bei unserem Streich mit.

Als er die Packung in die Hand nimmt, werden die Gesichter der Typen ganz rot, und sie schreien viel zu laut, dass die Packung nicht ihnen gehört.

Elias ringt ein Grinsen nieder. »Ah, echt? Die ist grad nämlich reduziert. Ein Euro.«

Die Typen verstummen. Das Schnäppchen würden sie sich ungern entgehen lassen, aber dafür haben sie keine Zeit mehr. Ozan reicht Elias einen Euro, Aylin nimmt die Baklavas in die Hand, und ich halte uns die Ladentür auf, damit wir den Shop so schnell wie möglich verlassen können.

Lachend laufen wir raus und teilen uns zufrieden die Süßigkeiten auf, während wir gemeinsam zur U-Bahn gehen. Als wir dort ankommen, paypalen wir Elias natürlich den echten Betrag – tschüss, 4,99 Euro – zurück, bevor wir uns schließlich zum Abschied winken müssen.

Aylin und Ozan gehen aufs Werner-von-Siemens-Gymnasium, das sich gerade noch so auf der »bad side of town« befindet. Eine einzige Straße trennt die Neuperlacher Bronx von den fetten Einfamilienhäusern in Trudering und Ramersdorf. Die Mehrheit der Schüler kommt aus Neuperlach, aber die wenigen Truderinger und Ramersdorfer sind tendenziell auch weltoffener als die Leute an meiner Schule: das St.-Anna-Gymnasium in der Münchner Innenstadt, das zu neunundneunzig Prozent aus verwöhnten Rich Kids besteht. Das restliche eine Prozent bin ich.

Während Aylin und Ozan weiter zu Fuß gehen, laufe ich die Treppen runter zur U-Bahn-Station. Dort schaue ich mich betont ungezwungen um. Keine bekannten Gesichter. Gut. Schnell drehe ich mich weg und renne zum alten Fotoautomaten, der seit Jahren nicht mehr benutzt wird. Außer eben von mir.

Ich verstecke mich in der Kabine und schließe den Vorhang. Dann sehe ich mich kurz in dem Spiegel an. Ein sechzehnjähriges Mädchen mit braunen Locken, dunklen Augen und gebräunter Haut blickt mir entgegen. Dieses Mädchen würde es auf dem St.-Anna-Gymnasium nicht leicht haben.

Also mache ich meinen Rucksack auf, und die Transformation beginnt. Zuerst fasse ich meine Haare in einem Haarnetz zusammen, bevor ich eine blonde Perücke darauflege und sie mit Haarklammern an meinem Kopf festmache. Danach öffne ich meinen Kontaktlinsenbehälter und hole die hellblauen Kontaktlinsen heraus, die ich extra für die Schule einsetze. Klar, es sieht dann nicht ganz so aus, als wäre ich blauäugig, aber die Farbe ist zumindest heller. Danach sind die Klamotten dran. Ich ziehe das T-Shirt und die Jogginghose, die ich bis jetzt anhatte, aus und ersetze sie durch ein schickes Hemd und einen knielangen Rock.

Als ich danach wieder in den Spiegel schaue, blickt mir eine echte Münchnerin entgegen. Mein Alter Ego, die angepasste Dessi.

Obwohl ich in Neuperlach gerne zu den Kanaks gehöre, traue ich mich nicht, diese Seite meiner Persönlichkeit an Orten auszuleben, die überwiegend mit weißen Deutschen gefüllt sind. Dafür ist mein Bedürfnis, allen zu gefallen und niemanden zu enttäuschen, viel zu stark.

Als ich damals im Bus von der älteren Frau auf meine McDonald’s-essenden Kumpels angesprochen wurde, habe ich ihr zugestimmt. »Oh ja, die sind echt viel zu laut!« Aber nachdem sie eine Station später wieder ausgestiegen ist, bin ich zurück zu meiner Gang gegangen, habe mich zu ihnen gesetzt und Ozans Nuggets komplett aufgegessen.

Ich bin wie die Schweiz, wenn die Schweiz keine Eier hätte. Lieber versuche ich, überall dazuzugehören, als mich angreifbar zu machen. Doch leider bedeutet das für mich meistens, dass ich nirgendwo vollkommen ich selbst sein kann. Traurig, aber wahr.

Nachdem ich mit meiner Transformation fertig bin, stopfe ich meine Neuperlacher Klamotten in meinen Rucksack und husche möglichst unauffällig wieder aus der Fotoautomatenkabine raus. Bevor ich dann die U-Bahn nehme, gebe ich noch meine Tupperdose mit der Moussaka an Lilia, eine obdachlose Frau, die immer unten am Gleis sitzt.

Sie lächelt mich dankbar an. »Was haben wir heute?«

»Moussaka. Schmeckt richtig gut.«

Seit ich aufs St.-Anna-Gymnasium gehe, habe ich nur einmal bulgarisches Essen mit in die Schule gebracht. Ich werde nie vergessen, wie ich die Tupperdose aufgemacht und die anderen Kinder parallel dazu ihre Nasen gerümpft haben.

»Was riecht hier so komisch?«

»Ihh, was ist das?«

»Das bulgarische Mädchen hat stinkiges Essen dabeeei!«

Damit ich in der Schule nicht als das Mädchen mit dem komischen Essen bekannt bin, lasse ich die Tupperdose seitdem lieber bei Lilia und hole sie auf dem Rückweg wieder ab. So hat sie was zu essen, und ich rette mein Image. Leichter so.

Insgesamt ist es einfacher, sich zu verstellen.

Wenn ich am »Neuperlach Zentrum« in die U5 steige und Richtung Laimer Platz fahre, verändert sich das Bild der Passagiere zunehmend, je näher wir an die Innenstadt gelangen. Die Leute mit Jogginghosen steigen spätestens am Ostbahnhof aus, und ab Max-Weber-Platz sitze ich mitten in einem Meer aus taffen Frauen und Männern in Anzügen. Es fühlt sich besser an, ein Teil von ihnen zu sein, als nicht dazuzugehören. So wie Musti.

Musti war einer der wenigen Ausländer am St.-Anna-Gymnasium. Er stand zu seiner Kultur und hatte immer türkische Delikatessen dabei, nahm ständig das Wort »Digga« in den Mund und kam täglich mit Jogginghose in die Schule. Eine Haltung, die er bald wieder bereute.

»Ey, Musti, zieh dir mal ’ne gescheite Hose an«, riefen die anderen andauernd.

Irgendwann hatte Musti keinen Bock mehr darauf und kam mit einer schicken Stoffhose in den Unterricht. Die muss seine Eltern ein Vermögen gekostet haben. Aber als die anderen ihn damit sahen, lachten sie trotzdem und sagten: »Ey, Musti, Edelmann oder was?«

Kein Wunder, dass er schon ein paar Wochen später die Schule verließ. Obwohl er gute Noten hatte, wechselte er zur Neuperlacher Realschule, wo alles leichter ist. Der Unterricht und die Leute.

Diese Option steht mir leider nicht zur Verfügung. Meine Mutter besteht darauf, dass ich das beste Gymnasium Münchens besuche, und genau das steuere ich jetzt mit blonder Perücke und fake-blauen Augen an.

Meine Freundin Chrissi wartet vor dem Eingang mit zwei Starbucks-Bechern auf mich. Sie liebt alles, was auch nur den geringsten Bezug zu den USA hat, und würde am liebsten selbst in einem US-amerikanischen Highschool-Film leben. Deswegen besteht sie darauf, mit diesen Bechern rumzulaufen. Ich mag nicht mal Kaffee, aber noch weniger stehe ich auf Konfrontation, weshalb ich meinen Starbucks Cup fröhlich entgegennehme. »Hello!«

»Hey!« Chrissi wirft ihre Arme um mich, wobei sie mir aus Versehen ihre pinken Haare ins Gesicht schleudert. Ihre heute pinken Haare, denn letzten Monat waren sie noch grün. Die Farbe hängt von Billie Eilish ab: Sie setzt einen Trend, Chrissi macht mit. Deswegen wechselt meine Freundin ihre Haarfarbe sogar noch öfter als ihre Crushes, und das will was heißen, denn Chrissi ist eigentlich ständig verliebt. Letzte Woche stand sie noch auf den Austauschschüler aus Holland, heute erinnert sie sich nicht mehr an ihn und zeigt begeistert auf unseren – relativ – gut aussehenden Sportlehrer, Herrn Reis.

»Meinst du, er würde mit einer Schülerin ausgehen?«, wundert sich Chrissi nachdenklich.

»Nur wenn es schon immer sein Traum war, im Gefängnis zu landen«, schieße ich zurück und ziehe sie weg, bevor sie Herrn Reis nach seiner Nummer fragen kann. Allein dafür schuldet er mir eine gute Note im Weitsprung.

Chrissi und ich betreten zusammen den Schulhof und setzen uns auf unsere Stammbank, die den perfekten Ausblick aufs Basketballfeld bietet. Von dort aus können wir in Ruhe die sportlichen Jungs objektifizieren.

»Und, Daisy, wen finden wir heute am heißesten?«

Ach ja, die Kids hier nennen mich Daisy. Mein echter Name, Dessislava, ist nicht sonderlich beliebt, deswegen wurde er im Laufe der Jahre immer weiter amerikanisiert. Gerade sind wir bei Daisy angekommen. Aber hey, Hauptsache niemand fragt mich, woher ich komme. So überlebe ich hier länger.

»Eindeutig Herrn Reis«, entgegne ich sarkastisch.

Chrissi lacht und stupst mich spielerisch an. »Hände weg!«

Die Hände lasse ich tatsächlich gerne weg, denn im Gegensatz zu Chrissi hatte ich in meinem gesamten Leben nur einen einzigen Schwarm. Ferdi. Genau genommen ist er einfach nur ein blonder Lauch auf einem Skateboard, aber dahinter steckt noch viel mehr. Glaube ich.

Hoffe ich.

Als ich in der sechsten Klasse ein Referat gehalten und aus Versehen »Burger King« statt »Bürgerkrieg« gesagt habe, musste er richtig lachen und meinte danach zu mir, dass er mich lustig findet. Jap, er hat das L-Wort zu mir gesagt. Erst letztens habe ich mir von meinen Eltern ein Skateboard zum Geburtstag gewünscht, damit ich ihn beeindrucken kann, aber sie halten das Skaten leider nicht für eine echte Sportart und haben mich stattdessen bei einem Turnverein für Leichtathletik angemeldet. Als würden sie meinen Körperbau nicht kennen – leicht bin ich jedenfalls nicht.

»Guck mal, wer da kommt!«, ruft Chrissi und nippt genüsslich an ihrem Kaffee.

Meine Augen leuchten auf, und ich sehe fasziniert zu, wie Ferdi wie ein echter Profi in den Schulhof reinskatet. Als er seine Freundesgruppe erreicht, bremst er ganz professionell, springt auf den Boden und umarmt seine Jungs zur Begrüßung. Die Umarmung finde ich besonders toll. Wäre er ein Player, hätten sie eingecheckt. Aber sie umarmen sich, also müssen sie auch sensibel sein. Sind doch Skater meistens. Glaube ich.

Hoffe ich.

Im Innenhof ertönt der penetrante Gong, der den Beginn des Schultages signalisiert. Uff. Chrissi und ich exen unseren Kaffee, was bei uns beiden einen Würgereiz auslöst, aber wir halten tapfer die Münder zu. Was sagen die Deutschen noch mal? Wer schön sein will, muss leiden, oder so? Tja, wer in einem Highschool-Film leben will, muss würgen.

Als wir den Chemieraum betreten, werden Chrissi und ich von der einen oder anderen Schülerin begrüßt. Der Rest ignoriert uns. Genau so ist es mir recht: ein paar Schulbekanntschaften haben, damit ich keine Loserin bin, aber keine zu engen Freundschaften knüpfen, damit ich niemanden zu mir nach Hause einladen muss. So kann ich meine zwei Welten ganz einfach auseinanderhalten und mühelos in beiden existieren.

Es gongt ein letztes Mal, und der Unterricht beginnt. Unsere Chemielehrerin, Frau Ilieva, stellt sich vor die Klasse. »Und? Wie geht’s uns heute?«

»Scheeeiße!«, schreit Ferdis Kumpel Max, der selbst ernannte Klassenclown. Traurigerweise lacht er immer am lautesten über seine eigenen ›Witze‹.

»Keine Sorge. Gleich wird’s besser werden.«

Plötzlich ist es im Raum mucksmäuschenstill. Wir denken alle das Gleiche. Ist das Ironie? Schreiben wir einen Test?

»Kein Test«, beruhigt uns Frau Ilieva. »Aber Gruppenarbeit.«

»Yay, richtig nice«, murmelt Max ironisch und hält die Luft an, um das Lachen der Klasse abzuwarten, das nie erfolgt. Nur sein Kumpel Sandro bietet ihm ein Schmunzeln an.

»Den nicen Part kennt ihr noch gar nicht«, verkündet die Lehrerin, die Max ebenfalls nicht sonderlich lustig findet. »Wir mischen die üblichen Gruppen heute durch.«

Ein lautes »Uff!« ertönt durch den Klassenraum.

Chrissi und ich blicken uns traurig an, weil wir ein absolutes Dream-Team sind und nur ungern mit anderen zusammenarbeiten. Aber heute haben wir wohl leider keine Wahl.

Frau Ilieva hält einen Zettel hoch und beginnt die neuen Gruppenkonstellationen vorzulesen: »Max und Chrissi. Lisa und Reena. Ferdi und … Dessislava.«

Ich cringe. Frau Ilieva kommt ebenfalls aus Bulgarien und liebt es einfach, meinen echten Namen auszusprechen. Anscheinend versteht sie nicht, dass sie damit quasi ein leuchtendes Plakat hochhält, auf dem »Dessi ist nicht deutsch!« steht.

»Daisy«, korrigiere ich sie leise, während ich meine Sachen packe. Mein Herz klopft wie verrückt, als ich ganz langsam rüber zu Ferdis Tisch gehe und mein Zeug daraufstelle. In den vergangenen Jahrgangsstufen hatten wir immer nur Ethik zusammen und sind erst seit Anfang dieses Schuljahres im gleichen Grundkurs, deswegen frage ich mich gerade, ob er überhaupt noch meinen Namen kennt.

»Hey, ich bin …«

»… Burger King«, fällt mir Ferdi begeistert ins Wort.

Fast.

»Hey«, sage ich noch mal schüchtern.

Ferdi grinst mir freundlich entgegen und nimmt seine Sachen vom benachbarten Stuhl weg, damit ich mich dort hinsetzen kann. »Willkommen im Team. Ich bin Subway.«

Ich lache viel zu laut. So als hätte er gerade den besten Witz der Welt gemacht. Vor lauter Lachen verschlucke ich mich dann auch noch und fange an zu husten. Am liebsten würde ich mich in Luft auflösen, aber Ferdi kommentiert meinen peinlichen Lacher zum Glück nicht.

Puh, das wird ein interessantes Schuljahr.

Der restliche Unterrichtstag läuft ab wie jeder andere. Deutsch ist langweilig. Mathe verstehe ich nicht. Sport schwänze ich. Danach mache ich mich auf den Weg nach Hause.

An der U-Bahn-Station steige ich erneut in die U5, dieses Mal Richtung Neuperlach Süd, und fühle mich mit jeder Haltestelle, die näher an meinem Zuhause liegt, irgendwie wohler. Gleichzeitig passe ich aber umso mehr auf, denn je näher ich Neuperlach komme, desto größer ist auch die Wahrscheinlichkeit, jemanden zu treffen, der meine Innenstadt-Persönlichkeit nicht kennt. Am PEP verlasse ich die U-Bahn und renne so schnell wie möglich zurück zum Fotoautomaten. Dort bin ich wieder sicher.

Ich schaue in den Spiegel, und ein blondes Mädchen erwidert meinen Blick. In der verschmutzten Fotokabine ist sie total fehl am Platz. Sie muss hier weg. Neuperlach ist nichts für sie. Also beginne ich nach und nach die Haarklammern wieder rauszunehmen, um meine Perücke zu lösen, und ziehe mich gleichzeitig um.

Mit jeder entfernten Klammer und mit jedem entfernten Kleidungsstück werde ich ruhiger. Ich habe es einen weiteren Tag geschafft.

Doch ein paar Sekunden später, genau als ich halb nackt, halb blond und halb blauäugig bin, zieht jemand den Vorhang des Fotoautomaten zur Seite.

»Hä? Was geht bei dir?«

Fuck.

Kapitel 2

Eine Sekunde lang steht die Welt still.

Die Menschen werden zu Statuen, die U-Bahn-Geräusche verstummen und alles, was ich höre, ist mein rasendes Herz.

Vorsichtig schaue ich zu meinem Entdecker hoch. Er ist groß, so viel ist klar, denn ich muss den Kopf ganz weit nach oben neigen, um ihm in die Augen zu sehen. Auf dem Weg nach Norden streift mein Blick über seine schwarzen Adidas-Sneaker, die charakteristische Nike-Jogginghose und den grauen Fuckboy-Pulli, bevor er schließlich bei seinem Gesicht landet. Sein Gesicht, das mir schon fast Osteuropa entgegenschreit.

Ganz klare Red Flag: Alle osteuropäischen Typen, die ich kenne, sind taffe Alpha Males mit veralteten Weltansichten und arroganten Gesichtern. Ost-Boy ist das beste Beispiel dafür. Er hat kurze braune Haare, die eine Leg-dich-nicht-mit-mir-an-Aura verbreiten, rabenschwarze Augen, die Selbstvertrauen ausstrahlen, und ganz dünne pinke Lippen, die sich gerade amüsiert anwinkeln.

»Ähm, hallo?«, sagt er mit einer erstaunlich tiefen Stimme. Während die meisten Jungs in meinem Alter immer noch im Stimmbruch sind, hat der Typ die Pubertät anscheinend gut überstanden. Und die westlichen Länder behaupten, wir wären hinterher.

Ost-Boys Stimme reißt mich aus meinen Gedanken zurück in die Realität, in der ich halb nackt im Fotoautomaten sitze. Alles, was ich anhabe, ist meine pinke Unterhose, die einen süßen – und peinlichen – Giraffenaufdruck hat, und mein hässlichster BH, der mal weiß war, aber inzwischen eher grau aussieht und so dünn ist, dass man an kalten Tagen meine Nippel sehen kann. Was natürlich gerade der Fall ist.

Schnell verdecke ich meine Brust mit einem Arm, während ich mich mit dem anderen nach meiner Perücke erkundige, die ganz langsam von meinem Kopf abrutscht und meine echte Haarfarbe verrät. Die Lage ist aussichtslos.

»Was machst du da?«, fragt Ost-Boy belustigt.

Ich sehe mich verloren im Fotoautomaten um. »Bewerbungsfotos«, lüge ich.

Er fährt mit dem Blick über meinen halb nackten Körper und hinterlässt Gänsehaut an den Stellen, die er gerade angeschaut hat. Danach zieht er die Augenbrauen zusammen. »Für was? GNTM?«

Das Schamgefühl, das ich bis gerade eben verspürt habe, geht langsam in Wut über. Will er damit sagen, dass ich nicht dünn genug bin, um zu modeln? Das stimmt zwar, aber es gibt ihm trotzdem nicht das Recht, über meinen Körper zu urteilen.

»Was, wenn schon?«, gebe ich herausfordernd zurück und blicke ihm intensiv in die Augen, um ihn so gut wie möglich einzuschüchtern. Das funktioniert wenig bis gar nicht.

»Pff, dann viel Glück«, erwidert Ost-Boy überheblich und lässt damit das Blut in meinem gesamten Körper vor Wut kochen.

Ich stehe entschlossen auf, nehme die Perücke von meinem Kopf ab und beginne meine Neuperlacher Klamotten aggressiv wieder anzuziehen. Wenn dieser Typ denkt, dass er mich einfach so bodyshamen kann und ich mich danach schlecht fühlen werde, dann liegt er absolut richtig. Das werde ich aber nie laut zugeben.

»Warum brauche ich Glück?«, will ich provokativ wissen, während ich genervt in meine graue Jogginghose schlüpfe. »Weil ich über sechzig Kilo wiege?«

»Nein.« Ost-Boy lehnt sich lässig gegen den Fotoautomaten und beobachtet mich interessiert. »Weil du noch keine sechzehn bist.«

Ich glotze ihn verblüfft an. »Huh?«

»Das Mindestalter für die Anmeldung? Du musst schon sechzehn sein.«

Eine Welle von Hoffnung überkommt mich. Vielleicht ist er ja gar nicht so ein Arschloch wie erwartet. Vielleicht dachte er ehrlich, dass ich noch fünfzehn bin. Vielleicht sind nicht alle osteuropäischen Typen asozial.

»Dein Gewicht ist kein Problem. Inzwischen nehmen sie auch Curvy Models auf.«

Vielleicht kann ich mich gleich erschießen gehen.

Als er meinen schockierten Gesichtsausdruck bemerkt, wirft Ost-Boy unschuldig die Arme in die Luft. »Curvy darf man doch sagen!«, verteidigt er sich.

Wahrscheinlich hat er schon mal eine Frau gefatshamt und musste danach googeln, wie man es heutzutage richtig macht. Ich muss ihn aber leider enttäuschen. Es gibt keinen richtigen Weg, um meine Körperform zu beschreiben, ohne dabei eine Grenze zu überschreiten.

»Arschloch«, schimpfe ich und ziehe mir aggressiv mein T-Shirt über den Kopf. Danach schließe ich den Vorhang des Fotoautomaten wieder, weil ich ihn nicht mehr anschauen will.

»Hey!« Er versucht, den Vorhang wieder zu öffnen, aber ich schlage seine Hand weg, bevor er’s schafft. »Ich muss noch Passfotos machen.«

»Sorry«, sage ich genauso herablassend, wie er vorhin mit mir gesprochen hat. »Ich habe heute leider kein Foto für dich.«

Stille. Das Heidi-Klum-Zitat hat gesessen. Dann ertönt auf der anderen Seite des Vorhangs sein Lachen. »Lustig«, befindet er.

»Muss ich ja sein, um meine Kurven wettzumachen«, entgegne ich trocken.

Nach außen feiere ich mich für meine Schlagfertigkeit, aber innerlich fühle ich mich wie ein Stück Scheiße. Normalerweise schaffe ich es ganz gut, über mein leichtes Übergewicht hinwegzusehen, doch solche Situationen bringen mich immer wieder ins Straucheln.

»Das war echt nicht so gemeint«, behauptet Ost-Boy verunsichert. Ist das, was ich in seiner Stimme höre, Reue? Kann nicht sein. Jungs wie er bereuen solche Kommentare nicht. »Wirklich«, beteuert er dennoch. »Ich find Curves sogar ganz nice.«

Er versucht sich aus der Situation zu retten, macht es aber nur noch schlimmer. »Kann mir doch egal sein, was du ganz nice findest, Alter.«

In der Zwischenzeit habe ich mich fertig angezogen und verstaue meine Innenstadt-Klamotten wieder in meinem Rucksack. Danach nehme ich noch die übrige Kontaktlinse raus und lege sie in ihren Behälter. Als ich damit fertig bin, öffne ich den Vorhang … und laufe direkt in Ost-Boy rein.

Mein Gesicht kollidiert mit seiner Brust, und ich eile so schnell wie möglich zur Seite, trete dabei aber aus Versehen auf seinen Fuß und stolpere. Ich sehe mich gedanklich schon den dreckigen Boden küssen, doch dann werde ich kurz vorm Hinknallen festgehalten. Ost-Boy hat mir die gebrochene Nase und den damit einhergehenden Trip zum Krankenhaus erspart.

Er hilft mir zurück auf die Beine und zieht mich ein bisschen näher zu sich heran als eigentlich nötig. Aus dieser Entfernung rieche ich sein Deo. Nivea for men. Wie generisch. Meine Abneigung gegenüber seiner Deo-Wahl scheint er jedoch nicht zu bemerken, denn er lächelt mich nun selbstbewusst an. So, als hätte er gerade nicht für fünf Jahre Body Issues gesorgt.

»Ich bin übrigens Bo.«

»Schön für dich«, schnauze ich ihn trotzig an und schubse ihn weg.

Danach drehe ich mich dramatisch um und versuche mein Schritttempo nur leicht zu erhöhen, merke aber mittendrin, dass ich schon fast jogge.

Ob es Ost-Boy ist, der mir »Hey« hinterherruft, kann ich leider nicht mit Sicherheit sagen, weil ich schon dabei bin, meine Kopfhörer aufzusetzen. Unsere Begegnung würde ich am liebsten gleich wieder vergessen.

 

Nachdem ich die leere Tupperdose von Lilia zurückgeholt habe, fliehe ich so schnell wie möglich aus dem U-Bahn-Bereich und steuere Dads Werkstatt an, die nur dreihundert Meter entfernt liegt.

Man könnte denken, dass seine Arbeit als Automechaniker darin besteht, Autos zu reparieren, aber in Wahrheit ist Dad ein professioneller Smalltalker. Als ich ankomme, labert er gerade mit seinem Kumpel Milan, während Aylin im Hintergrund die eigentliche Arbeit an Milans kaputtem Auto erledigt. Klassiker.

Ich begrüße Dad mit einer Umarmung, und er gibt mir einen Kuss auf die Stirn. »Erinnerst du dich noch an Milan?«, fragt er.

»Klar«, erwidere ich und begegne Milans Blick. »Du bist der, der das Alphabet rülpsen kann, ne?«

Milan lacht herzlich und haut meinem Vater leicht auf die Schulter. »Das erzählst du also von mir.«

»Mehr gibt’s doch auch nicht«, stichelt Dad, bevor er sich wieder an mich wendet. »Milan und seine Familie sind bei uns im Hochhaus eingezogen.«

»Hey cool, willkommen! Nur zur Info: Der Strom fällt zurzeit zweimal die Woche aus.«

»Hab schon gehört. Dein Vater hat mir sogar ’ne Kerze geschenkt.« Milan präsentiert eine hellblaue Duftkerze, die Dad bestimmt aus Omas Kollektion gestohlen hat.

»Praktisch«, kommentiere ich belustigt. Und weil ich nichts mehr zum Thema beitragen kann, deute ich auf Aylin. »Ich helf ihr mal, okay? Bis nachher!«

»Danke, Dessi, ich komm gleich nach!«, schreit mir Dad hinterher, aber wir wissen beide, dass er das nicht tun wird. Er liebt Autos und Motorräder, aber noch mehr liebt er seine Freunde. Und sie ihn auch. Manchmal vermute ich, dass seine Kumpels auch hierherkommen, wenn ihre Autos in Ordnung sind. Einfach nur, damit sie sich mit Dad unterhalten können. Wenn sie nach 16 Uhr da sind, kriegen sie sogar was von seinem selbst gebrannten Rakija. Premium.

»Heyo!« Ich winke Aylin zu und ziehe meine Arbeitshandschuhe an. Ich interessiere mich kein bisschen für Autos und kenne mich noch weniger damit aus, aber ich kann ziemlich gut Befehlen folgen und hänge lieber in der Werkstatt ab, als zu Hause Hausaufgaben zu machen. Vor allem, wenn ich Aylin etwas zu erzählen habe.

»Schraubenschlüssel«, antwortet sie auf meine Begrüßung.

Wie schon erwähnt: Aylin ist der absolute Pro, was Wagen auf vier Rädern angeht. Während ich als Kind heimlich Liebesromane gelesen habe, hat sie Formel 1 geschaut und jedes Mal eifrig mitgeschrieben, wenn etwas kaputtgegangen ist. Diese Skills wendet sie bis heute noch in der Werkstatt an. Ohne sie könnte Dad gleich schließen.

»Wie war Schule?«, erkundigt sie sich, nachdem ich ihr den Schraubenschlüssel gegeben habe. Zwischen ihren Lippen hat sie eine Schraube, was es sehr schwer für mich macht, sie zu verstehen.

»Kacke«, murmle ich.

Ich traue mich nie zuzugeben, dass ich meine Schule und die Leute dort eigentlich ganz okay finde. Klar, die meisten sind eingebildete Rich Kids, aber es gibt auch ein paar Coole. Sorry, ein Paar Coole. Chrissi und Ferdi. Über den Rest kann man streiten.

»Aber Heimweg war schlimmer«, füge ich hinzu. »Ich wurd in der U-Bahn gefatshamt.«

Zum ersten Mal, seit ich angekommen bin, blickt mir Aylin in die Augen. Sie kennt mich gut genug, um zu wissen, dass mein lässiger Ton trügt und dass ich später deswegen weinen werde. Vorsichtig legt sie den Schraubenschlüssel wieder zur Seite und setzt sich auf den Boden zu mir.

»Von ’nem Typen.« Es ist eine Aussage, keine Frage.

»Von ’nem Typen«, bestätige ich.

Aylin verdreht die Augen. »War so klar, Mann. Erzähl.«

Ich seufze, um mir ein bisschen Zeit zu kaufen. Ich muss meine Worte vorsichtig wählen, damit ich die Situation plausibel wiedergeben kann, ohne mich selbst zu verraten. Nach ausführlicher Überlegung stelle ich allerdings fest, dass das unmöglich ist, also entscheide ich mich für eine kurze, detaillose Zusammenfassung.

»Er meinte, dass ich mich inzwischen bei GNTM bewerben kann, weil sie jetzt auch dicke Models nehmen.«

Aylin staunt mit offenem Mund. »Hat er nicht gesagt!«

»Ja, okay, er meinte Curvy Models«, gebe ich zu. »Aber es ist fast das Gleiche!«

»Na jaaa …«

»Hallo!? Ich hab’s an seinem Blick erkannt. Er fand mich fett.«

»Du denkst, alle finden dich fett.«

»Tun die meisten doch auch.«

»Hat’s dir jemand schon mal ins Gesicht gesagt?«

Ich will gerade darauf antworten, aber Aylin kommt mir zuvor.

»Außer Berkant.«

»Reicht das nicht?«

»Doch. Ist schon scheiße. Aber du weißt nicht, ob der U-Bahn-Typ es auch so meinte.«

Ich werfe ihr einen Hundewelpenblick zu, damit sie mir nicht weiter widersprechen kann. Ich will doch nur Bestätigung von ihr. Keine Analyse, ob der Typ fettphob war oder nicht. Aylin kapiert das und ändert schlagartig ihre Taktik.

»Er ist ein Arsch«, behauptet sie auf einmal.

»Schon, oder?«

»Hundert Prozent. Hört sich voll arrogant an.«

»Und überheblich.«

»Jap. Und hässlich war der bestimmt auch noch.«

»Safe!« Ich strahle meine beste Freundin zufrieden an. Auch wenn ich nicht immer ganz ehrlich mit ihr sein kann, ist unsere Freundschaft das Wahrste in beiden meiner Welten.

»Anyway«, wechsle ich letztlich das Thema. »Wie war’s bei euch?«

Aylin zuckt mit den Schultern. »Nichts Neues. Ozan macht immer noch einen auf Bad Boy, und es ist einfach nur peinlich.«

Seit seinem Outing ist unser Kumpel ziemlich verletzlich und führt sich ständig wie ein Bad Boy auf, James-Dean-Style. Er denkt, dass die Leute dann Schiss vor ihm hätten und er quasi unantastbar wäre. Wir denken, er bildet sich das ein.

»Er hat mich gezwungen, richtig langsam zu gehen, damit wir zu spät kommen«, erzählt Aylin. »Und als wir dann da waren, hat er Frau Zapp nur arrogant zugezwinkert und sich in die letzte Reihe gesetzt. Wie so ’n Opfer.«

Ich verkneife mir das Lachen. Ozan tut mir wirklich leid, aber sein Bewältigungsmechanismus ist echt fragwürdig. »Und was denken die anderen?«

»Das ist das Beste an der Story«, sagt Aylin. »Die Jungs finden’s einfach nur komisch, weil sie wissen, wie er sonst so ist. Aber die Mädchen fahren voll darauf ab. In jeder Pause werd ich nach seiner Nummer gefragt, ich schwöre. Keine Ahnung, was ich machen soll.«

»Gib Berkants Nummer. Dann lässt er dich vielleicht in Ruhe«, schlage ich vor.

Ein Grinsen huscht über Aylins Gesicht. »Guter Plan.«

 

Vier Stunden später, nachdem Milan sein repariertes Auto abgeholt und Dad die Werkstatt abgeschlossen hat, machen Aylin und ich uns auf den Weg ins Hochhaus. Während sie gleich zur Dachterrasse hochfährt, wo unser wöchentlicher Grillabend stattfindet, gehe ich kurz nach Hause, um meinen Rucksack wegzubringen.

Mein Zimmer ist mein Lieblingsort auf der ganzen Welt. Es besteht aus einem winzigen Bett – meine Eltern haben es extra ausgesucht, weil es nur siebzig Zentimeter breit ist und es mir unmöglich macht, darin mit einem Jungen zu schlafen –, einem süßen Bücherregal und einem kleinen Schrank. Das absolute Highlight ist aber das Loch in der Wand, das schon da war, als wir hier eingezogen sind. Ich weiß nicht, wie es genau entstanden ist, aber es würde mich nicht wundern, wenn der Vormieter einfach aus Versehen gegen die Wand getreten hat. Die Wände hier sind wie aus Karton. Man hört alles.

Das Loch befindet sich direkt über dem Boden und ist so groß wie ein Schuhkarton, weshalb man ziemlich gut ins benachbarte Zimmer schauen kann. Das war früher nie ein Problem, weil meine Kindheitsfreundin Luba auf der anderen Seite der Wand gelebt hat. Wir haben das Loch mit einer kleinen Box gefüllt, über die wir geheime Botschaften ausgetauscht haben. Sie war die Einzige, die von meinem Doppelleben wusste, deswegen haben wir mich Hannah Montana genannt, und sie hat meine beste Freundin Lilly gespielt. Die Zettel sind immer noch drin, aber Luba und ihre Familie mussten leider vor ein paar Jahren zurück nach Kroatien ziehen. Seitdem ist das Zimmer unbewohnt.

Im Gegensatz dazu wirkt die Dachterrasse belebter denn je. Als ich die Tür zum Balkon öffne, stelle ich fest, dass sich dort schon das ganze Hochhaus versammelt hat. Auf der linken Seite sehe ich Aylin, Ozan und Elias, die sich auf einer Bank ausgebreitet haben und entspannt Sonnenblumenkerne futtern, während ihre älteren Geschwister das Grillen übernehmen. Aylins Schwester Ecem und ihr Verlobter Malik sind für die Steaks zuständig, Ozans Brüder kümmern sich um die Fleischbällchen und Elias’ Familie überwacht die Würstchen. So was wie Gemüse ist bei Weitem nicht in Sicht – das Einzige, was nicht aus Fleisch besteht, ist der Quietschekäse, von dem es aber nur eine Packung gibt.

Umweltfreundlich ist Neuperlach nicht.

Die ganzen Omas, Onkel und Tanten sitzen auf dem großen rechteckigen Tisch in der Mitte der Terrasse und heben fröhlich die Schnapsgläser hoch. Und daneben haben sich die Kinder, unter denen ich auch meine Nachhilfeschülerin Luna erkenne, zum Spielen versammelt. Hinter ihnen geht die Sonne langsam zwischen den Plattenbauten unter und verleiht dem Himmel über dem Ostpark einen pinken Schimmer.

Die Einzige, die fehlt, ist Mom. Zurzeit lässt sie unsere Familientreffen immer öfter ausfallen und arbeitet länger, unter dem Vorwand, dass es uns finanziell nicht so gut geht. Ob das tatsächlich stimmt oder ob Mom einfach keine Lust auf Dads Community hat, kann ich leider nicht sagen. Daher schüttle ich den Gedanken wieder ab und steuere auf Aylin, Ozan und Elias zu.

Doch kurz bevor ich sie erreiche, bleibe ich schockiert stehen. Nein, nein, nein.

Was macht er hier!?

Ost-Boy lehnt sich lässig gegen die Bank, auf der meine Freunde sitzen, und unterhält sich locker mit ihnen. Aus der Entfernung kann ich nicht hören, worum es geht, aber sie wirken schon wie eine eingespielte Truppe, die sich seit Ewigkeiten kennt. Es würde mich nicht wundern, wenn sie gleich einen überkomplizierten Check auspacken würden, um ihre langjährige Freundschaft zu beweisen.

Eine Sekunde lang überlege ich, ob sie sich vielleicht wirklich bereits kennen könnten, verwerfe die Idee aber gleich wieder. Ozan, Aylin und ich sind seit dem Kindergarten quasi unzertrennlich – ich kenne alle Leute, die sie kennen. Sie müssen Ost-Boy also heute das erste Mal begegnet sein – da bin ich mir sicher.

Das beruhigt mich aber nur zum Teil, denn seine Präsenz verkompliziert viele Dinge. Was, wenn er sich an mich erinnert und mich auf meine Perücke anspricht? Oder auf die blauen Kontaktlinsen? Oder darauf, dass er mich mitten am Tag halb nackt im Fotoautomaten erwischt hat? Wie soll ich das den anderen erklären?

Weil mir aktuell keine gute Lösung einfällt, beschließe ich zu fliehen. Vielleicht ist Ost-Boy ja nur zu Besuch da, und ich schaffe es, davonzukommen.

Hektisch mache ich kehrt und beginne mir den Weg durch die Menschenmassen zu bahnen. Ich laufe am Grill vorbei, weiche einer betrunkenen Nachbarin aus und erreiche schon die Tür zum Ausgang, als ich Aylins Stimme höre.

»Yo, Dessi! Hier lang!«

Ich bleibe stehen. Fuck. Ohne irgendeine Strategie zu haben, drehe ich mich langsam um. Aylin, Ozan und Elias winken mir wild zu, als hätte ich Schwierigkeiten, sie zu sehen. Und Ost-Boy … er grinst über beide Ohren und beobachtet vergnügt, wie ich mich der Gruppe unfreiwillig annähere.

»Hey Leute«, sage ich unsicher und meide dabei Ost-Boys Blick.

»Hallo, Brudi!« Ozan checkt mit mir ein. »Du hast Glück. Die Ost-Gang hat ’n neues Mitglied.« Mit diesen Worten legt er eine Hand auf Ost-Boys Schulter und bestätigt damit meine Theorie über seine Herkunft.

Als Kinder haben wir einen Länder-Count angefangen, weil Aylin und Ozan behauptet haben, dass Neuperlach ihnen gehört. Mit der Zeit sind aber immer mehr Leute aus dem Osten gekommen, also habe ich die sogenannte Ost-Gang gegründet. Dazu gehören aktuell mehrere Familien aus dem Hochhaus, Elias und ich. Ost-Boy darf keinesfalls beitreten.

»Kommst du aus Rumänien?«, frage ich argwöhnisch.

»Serbien«, korrigiert er ebenso skeptisch. »Du? Bosnien?«

»Bulgarien.«

Einen Moment lang mustern wir uns nachdenklich – der berühmte osteuropäische Stand-off –, dann springt Aylin ungeduldig ein.

»Okay, keine Ahnung, was das grad war. Dessi, das ist Bojan. Bo, Dessi.«

Wir machen keine Anstalten, uns gegenseitig begrüßen zu wollen. Ost-Boy, sorry, Bo, wartet darauf, dass ich den ersten Schritt mache. Geben wir zu, dass wir uns schon kennen, oder tun wir so, als würden wir uns gerade das erste Mal begegnen? Ich entscheide mich für Option B.

»Hi! Schön, dich kennenzulernen.«

»Gleichfalls.«

Weil wir danach erneut verstummen, hat Elias das Bedürfnis, die Gesprächsführung zu übernehmen. Typisch Grieche. »Bo ist neu hier«, erklärt er und sorgt bei mir für eine Instant-Migräne.

»Wie hier? Im Gebäude?«

»Nee, auf der Erde«, entgegnet Ozan ironisch. Bo lacht und gibt ihm einen High-Five, als wären sie schon beste Freunde.

Ich runzle die Stirn. »Und wann packst du’s wieder?«

»Dessi!« Elias, heute auch die Höflichkeits-Polizei, schüttelt empört den Kopf. »Chill mal.«

Aylin verteidigt mich. »Lass sie. Sie ist angepisst wegen ’nem U-Bahn-Typen.«

Danke, Aylin. Danke für nichts.

Ich hätte nicht gedacht, dass Bo noch breiter grinsen kann, aber jetzt tut er’s.

»Ah, echt? Was denn für ein Typ?«

»Arrogant, überheblich …« Aylin blickt mich fragend an. »Was hatten wir noch gesagt? Mega-hässlich?«

Bo zieht amüsiert die Brauen zusammen. Ich will sterben.

»Jap, genau meine Worte«, behaupte ich dennoch und sehe mich um. Ich brauche einen großen Notfall als Ausrede, um hier wegzukommen. Doch leider scheinen sich alle auf der Party zu amüsieren. Alle außer mir.

Ich balle wütend die Fäuste zusammen und setze ein Fake-Lächeln auf. »War schön, dich kennenzulernen, Bo, aber ich muss jetzt los. Mein Dad braucht mich.«

Ozan sieht über meine Schulter rüber zu meinem Vater. »Echt? Der hat doch schon ’n Schnapsglas in der Hand. Was braucht der mehr?«

»Ein zweites«, verkünde ich und drehe ihnen den Rücken zu. Seit ich Bo hier gesehen habe, schlägt mein Herz nicht mehr so richtig. Und das Letzte, was ich jetzt noch brauche, ist ein Angstanfall.

Ich fülle ein Shot-Glas mit Schnaps und gehe entschlossen auf Dad zu, aber ich komme nicht weit, weil ich das »Hey« dieses Mal ganz deutlich höre. Genervt bleibe ich stehen und warte, bis Bo mich eingeholt hat. Er stellt sich vor mich und lächelt mich so an, als würde er sich gerade höchst unterhalten fühlen.

Ich senke meine Stimme und halte meinen Zeigefinger direkt vor sein Gesicht. »Wenn du auch nur ein Wort über unser Zusammentreffen im Fotoautomaten verlierst, dann … dann … schlage ich dich.«

Bo wirft scheinbar beängstigt die Arme in die Luft. »Okay, wow, jetzt hast du mir wirklich Angst gemacht.«

»Pass auf, Alter. Ich mach Leichtathletik«, drohe ich ihm.

»Echt? Was willst du dann machen? Mir ’ne Kugel ins Gesicht stoßen?«

»Hey! Die sind schwer!«

Bo schmunzelt. »Chill. Ich wollt dir nur das hier zurückgeben.«

Er holt meine blonde Perücke, die ich wahrscheinlich im Fotoautomaten verloren habe, aus seinem Rucksack heraus und reicht sie mir.

Ich will sie ihm gerade abnehmen, als die Stimme meines Vaters zu mir durchdringt. »Dessi? Hast du mich gesucht?«

Shit. Sein Blick fällt zuerst auf Bo, dann auf die blonde Perücke, dann auf mich.

»Hey Dad. Ähm. Das ist Bojan und das ist … seine Perücke.« Als ich das sage, schaue ich Bo bettelnd in die Augen. Bitte spiel mit, bitte spiel mit!

»Ja, hi! Du bist Krassimir, oder? Ich glaub, wir kennen uns schon. Ich bin Milans Sohn.«

Dad nickt beiläufig. Sein Blick ist immer noch auf die Perücke gerichtet. »Und das ist …?«

»… eine Perücke«, erwidert Bo nüchtern.

»Aha.« Dad könnte nicht perplexer sein. »Und die trägst du, oder wie?«

Bo mustert mich fragend. Bitte, bitte, bitte. Wenn er mich jetzt verrät, dann war’s das mit meiner geheimen Identität.

Ihm entfährt ein genervtes Seufzen. »Ja, voll. Sieht gut aus. Schau.« Er setzt die Perücke selbstbewusst auf und präsentiert sie meinem Dad demonstrativ. Die langen blonden Haare sehen zwar ein bisschen absurd aus, stehen ihm aber erstaunlich gut.

Dad weiß nicht, wie er darauf reagieren soll. »Schön«, meint er am Ende. »Sehr schön.« Und weil er nichts Weiteres zum Thema beitragen kann, geht er wieder.

Nachdem er weg ist, drehe ich mich zu Bo. »Danke. Das war … nett.«

»Kein Ding. Ist ja vielleicht auch ein Look.«

Er holt sein Handy raus, um ein Selfie zu machen. Doch als er sein Abbild auf dem Display sieht, ändert er ganz schnell wieder seine Meinung. »Okay, vielleicht auch nicht.«

Er setzt die Perücke wieder ab und drückt sie mir in die Hand. »Wenn ich fragen darf …«, fängt er an, aber ich schüttle den Kopf und verstaue die Perücke in der Bauchtasche meines Hoodies.

»Nope. Nee. Keine Fragen!«, rufe ich und verschwinde. Genug Stress für einen Tag. Oder besser gesagt: genug Stress für eine ganze Lebenszeit.

Das denke ich mir auch am nächsten Morgen, während ich versuche, mein unruhiges Herz auf dem Weg zur Schule zu bändigen.

Bo hat nichts kapiert, versuche ich mich selbst zu überzeugen. Er kann mich nicht verraten, weil er gar nicht weiß, warum ich mich im Fotoautomaten umgezogen habe. Selbst wenn er sich in meinen Neuperlacher Freundeskreis integrieren sollte, wird er es ab jetzt mit Kanak-Dessi zu tun haben und meinen Innenstadt-Look früher oder später vergessen. Danach wird alles wieder beim Alten sein.

Meine innere Argumentation erscheint logisch, doch als ich mich eine halbe Stunde später zu Chrissi in den Innenhof setze und meinen Starbucks-Becher von ihr entgegennehme, spüre ich plötzlich, dass etwas nicht stimmt. Chrissi sieht mich ganz aufgeregt an.

»Was?«

»Gute Nachrichten«, zwitschert sie. »Wir haben einen neuen Typen in der Klasse. Und er ist richtig heiß. Warte, hab ihn grad eben gesehen.«

Sie lässt den Blick durch den Schulhof schweifen und zeigt auf einen großen braunhaarigen Typen.

Bo.

Kapitel 3

Mein Leben ist ein schlechter Witz.

Das ist der erste Gedanke, der mir durch den Kopf geht, als ich Bo im Innenhof des St.-Anna-Gymnasiums sehe. Es muss nämlich ein Scherz sein, dass ausgerechnet der Typ, der mich im Fotoautomaten erwischt hat, auf einmal auch mein Nachbar und mein Mitschüler ist. Gefühlt hat sich mein Leben innerhalb von zwei Tagen in eine generische Romcom verwandelt.

Mein Körper scheint die Panik nicht verarbeiten zu können – anders kann ich mir das hysterische Lachen, das ich gerade produziere, nicht erklären. Chrissi schaut mich verständnislos an.

»Bist du stoned?«

»Ich glaub nicht«, sage ich lachend. So muss sich der Joker fühlen.

Chrissi nimmt mir den Kaffeebecher weg, als würde meine Lachattacke am Koffein liegen. »Reiß dich zusammen«, ordnet sie an und sieht sich aufgeregt um. »Wir müssen den neuen Hottie kennenlernen.«

»Nein!« Das Wort verlässt panisch meinen Mund, bevor ich es aufhalten kann.

Chrissi blickt mich noch verwirrter an als zuvor und zieht verständnislos die Augenbrauen hoch. Sie wartet auf eine plausible Erklärung für meine Reaktion, die ich ihr leider nicht anbieten kann. Also entscheide ich mich für eine Halbwahrheit. »Der Typ … der wohnt bei mir in der Nähe.«

»Und?«, fragt Chrissi interessiert. »Wie ist er so?«

Ich kenne diesen Blick. In ihrem Kopf plottet sie schon ihre filmreife Romanze mit dem neuen heißen Typen an der Schule. Jeder Highschool-Film braucht einen Love Interest. Und wer passt da besser als der mysteriöse Neuankömmling?

Während ich es Chrissi echt gönnen würde, endlich eine romantische Beziehung zu haben – das wünscht sie sich schon seit der fünften Klasse –, kann ich ihr nicht erlauben, sich in Bo zu verlieben. Nicht nur, weil er ihr mein größtes Geheimnis verraten könnte, sondern auch weil er kein gutes Match für sie wäre. Chrissi braucht jemanden, der fürsorglich ist, der sie wie eine Königin behandelt, und nicht jemanden, der gerade seine Nummer mit einem dicken Marker auf die Brüste der Volleyballkapitänin schreibt.

»Er ist ein Opfer«, berichte ich. »Schau ihn dir an. Er muss gleich am ersten Tag seine toxische Männlichkeit raushängen lassen.«

Chrissi nickt begeistert. »Heiß, oder?«

Ich kann nicht anders als die Augen zu verdrehen. »Hast du mir grad zugehört?«

Auf die Frage muss Chrissi gar nicht reagieren, denn die Antwort ist selbstverständlich: Nein, sie hat mir nicht zugehört. Sie ist zu sehr damit beschäftigt, Bo anzuglotzen, während er in Zeitlupe seinen Pulli auszieht. Dabei rutscht sein T-Shirt leicht hoch und entblößt den Ansatz seines Sixpacks. Ugh.

»Wir gehen«, verkünde ich und nehme Chrissis Hand, um sie gegen ihren Willen ins Schulgebäude zu führen.

Während wir uns auf den Weg zum Französischraum machen, überlege ich krampfhaft, wie wahrscheinlich es ist, dass ich Bo in den nächsten zwei Jahren nie über den Weg laufen werde. Den Gedanken verwerfe ich aber gleich wieder: zum einen, weil ich nicht gut in Stochastik bin, zum anderen, weil Bo schon ein paar Minuten später ebenfalls auf den Französischraum zusteuert.

»Fuck my life«, murmle ich, während Chrissi gleichzeitig »Nice!« ruft.

Sie zieht mich hinter eine Ecke, damit Bo uns nicht sieht. »Gib mir schnell ein paar von deinen Büchern!«, befiehlt sie mir.

Ich verstehe die Welt nicht mehr. »Hä?«

»Ich hab nur Französisch dabei. Ich brauch ein paar mehr.«

»Warum?«

»Damit ich aus Versehen in ihn reinlaufen kann und er mir beim Aufheben hilft. Du weißt schon, als Meet Cute.«

Aus meinen Liebesromanen weiß ich, dass ein Meet Cute eine romantische Situation ist, in deren Rahmen sich die Hauptfiguren treffen und Knall auf Fall ineinander verlieben. Das soll jetzt wohl auch zwischen Chrissi und Bo passieren.

»Meinst du das ernst?«

Anstatt zu antworten, blickt Chrissi heimlich um die Ecke. Danach wendet sie sich wieder panisch an mich. »Fuck. Er ist gleich da, schnell!«

Ich würde gerne dagegen argumentieren, aber ich weiß, dass das keinen Unterschied machen würde. Wenn sich Chrissi etwas vorgenommen hat, dann wird sie es auch durchziehen – mit mir oder ohne mich. Also öffne ich meinen Rucksack und reiche ihr erst mein Mathebuch, dann Französisch, und weil ich keine weiteren Schulbücher habe, bekommt sie am Ende auch noch mein kleines Joke-Buch. Darin schreibe ich abends die Witze auf, die ich tagsüber gemacht habe, damit ich sie eines Tages bei meinen Stand-up-Comedy-Sets verwenden kann. Falls es bisher nicht deutlich geworden ist: Ich bin ziemlich lustig.

Nachdem sie die Bücher entgegengenommen hat, sieht Chrissi aufgeregt zu mir. »Okay, gib mir Bescheid, kurz bevor er da ist.«