Kannawoniwasein 1: Kannawoniwasein! Manchmal muss man einfach verduften - Martin Muser - E-Book

Kannawoniwasein 1: Kannawoniwasein! Manchmal muss man einfach verduften E-Book

Martin Muser

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Beschreibung

Kannawoniwasein! Da fährt Finn zum ersten Mal alleine mit dem Zug nach Berlin – und wird prompt beklaut. Zu allem Übel schmeißt ihn dann noch der Schaffner raus, mitten im Nirgendwo. Aber so lernt Finn Jola kennen, die immer einen flotten Spruch draufhat und weiß, wie man auf eigene Faust in die »Tzitti« kommt. Eine abenteuerliche Reise durch die Walachei beginnt, auf der die beiden einen Traktor kapern, im Wald übernachten, einem echten Wolf begegnen, Finns Rucksack zurückerobern – und richtig dicke Freunde werden. So spannend wie »Emil und die Detektive« und so cool wie »Tschick«.

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Martin Muser: Kannawoniwasein – Manchmal muss man einfach verduften

Kannawoniwasein! Da fährt Finn zum ersten Mal alleine mit dem Zug nach Berlin – und wird prompt beklaut. Zu allem Übel schmeißt ihn dann noch der Schaffner raus, mitten im Nirgendwo. Aber auf diese Weise lernt Finn Jola kennen, die für jedes Problem eine Lösung parat hat. Kurzerhand kapern die beiden einen Traktor und tuckern auf eigene Faust in Richtung »Tzitti«. Doch schon bald haben sie nicht nur die Polizei am Hacken, sondern auch noch eine wildgewordene Rockerbande. Was für ein Abenteuer!

Wohin soll es gehen?

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für Mina und Mizzi,

die schneller wuchsen,

als ich schreiben konnte

1.

Hackmack mit der dicken Tüte

Finn schaut auf den leeren Platz neben sich und ist ein bisschen aufgeregt. Es ist das erste Mal, dass er ganz alleine mit dem Zug fährt. Er hat Mama und Papa schon tausendmal erklärt, dass er das kann. Aber Mama hat immer gesagt: Erst, wenn er zehn ist. Und bis dahin sind es eigentlich noch drei Wochen und zwei Tage. Aber das hier war ein absoluter Notfall: Papa musste ganz schnell ganz viele Bärlauch-Tofu-Buletten machen. Für ein Wellness-Hotel, wo die Gäste ganz viel Geld dafür bezahlen, dass sie nur so gesunde Sachen zu essen kriegen. Und weil das so ein wichtiger Auftrag war, hatte Papa keine Zeit, den ganzen Weg mit nach Berlin zu fahren wie sonst.

Papa hat Mama angerufen und sie haben gleich wieder rumgestritten und Papa hat ins Telefon geschrien: »Warum soll ich ihn immer bringen? Du könntest ihn ja auch mal abholen!« Und dann war es schon fast zu spät und sie mussten ganz schnell zum Bahnhof in Neustrelitz rasen.

Der Regionalexpress mit den Doppelstockwagen stand schon da. Papa ist kurz mit eingestiegen. Oben war noch fast alles frei und Finn hat sich gleich in die erste Vierergruppe gesetzt. Papa hat ihn umarmt und Keine-Angst-das-klappt-schon-alles gesagt. Dann ist er ganz schnell wieder ausgestiegen. Gerade noch rechtzeitig, bevor die Türen zugegangen sind und der Zug losgefahren ist.

Finn hatte auch gar keine Angst. Ihm war höchstens ein bisschen mulmig im Bauch, weil alles so schnell gehen musste und er gar nicht richtig Tschüss sagen konnte. Draußen auf dem Bahnsteig ist Papa dann noch ein Stück neben dem anfahrenden Zug hergelaufen und hat gewinkt, bis Finn ihn nicht mehr sehen konnte.

Die Bremsen quietschen. Der Zug hält in Fürstenberg. Die Lautsprecherstimme sagt: »Sehr geehrte Fahrgäste, bitte achten Sie beim Ausstieg auf den Höhenunterschied zwischen Zug und Bahnsteigkante.«

Ein paar Leute steigen aus, ein paar ein. Durchs Fenster sieht Finn einen Mann mit einer Bierdose in der Hand. Er hat es besonders eilig und drängelt sich in den Wagen, bevor die anderen ausgestiegen sind. Die Uhr auf dem Bahnsteig zeigt zehn Minuten nach sieben. Hinter dem Bahnhof leuchtet der Turm der Burg in der Abendsonne. Finn weiß, dass es eigentlich gar keine Burg ist, sondern ein altes Kraftfuttermischwerk. In der DDR wurde da massenweise Futter für Tiere gemacht. Das hat Papa ihm alles erklärt. Auch, dass die DDR eine Hälfte von Deutschland war, bevor beide Hälften wieder zusammenkamen. Das hieß Wiedervereinigung und ist schon ziemlich lange her. Da war Finn noch gar nicht auf der Welt.

Der Mann mit der Bierdose kommt die Treppe hochgepoltert. An seinem Handgelenk schlackert raschelnd eine große graue Plastiktüte. Finn denkt, dass der Mann vielleicht einer von diesen Müllsammlern ist, die manchmal durch die Züge gehen. Aber statt Müll zu sammeln, lässt der Mann seine Tüte auf den Sitz gegenüber von Finn fallen und setzt sich selbst daneben. »Na, Kleener, allet schick?«

Er zieht den Reißverschluss seiner Trainingsjacke auf und prostet Finn über den Tisch zu:

»Hoch die Tassen.«

Finn kann seinen Bier-Atem riechen und schaut schnell wieder aus dem Fenster. Er hasst es, wenn Leute ihn ›Kleener‹ nennen. Erstens ist er gar nicht klein, sondern der Drittgrößte in der Klasse und zweitens soll er ja auch nicht einfach ›Hey, Alter‹ zu einem Erwachsenen sagen. Obwohl: So richtig erwachsen sieht der Mann gar nicht aus. Er hängt breitbeinig auf dem Sitz und trägt ein verwaschenes T-Shirt mit dem Aufdruck Hackmack. Soll das ein Name sein?

Verstohlen schaut Finn den Mann weiter an. Er hat so eine komische Frisur, wo die Haare oben lang und an den Seiten ganz kurz sind. Und in den Ohren dicke schwarze Ringe.

Der Mann bemerkt Finns Blick und grinst ihn an. »Fährste hier ganz alleene?«

Finn nickt knapp und versucht, nicht dauernd auf die Ohrläppchen zu starren. Die Löcher in den Ringen sind so groß, dass man durchgucken kann. Die Haut drum herum spannt wie ein Flitzegummi. Das tut bestimmt total weh.

Aber Hackmack scheint sich pudelwohl zu fühlen. Er nimmt einen großen Schluck aus der Dose, bläst die Backen auf und rülpst laut.

»Maulfurz«, sagt er und verzieht das Gesicht. »Sorry, aber der musste raus.« Er lacht und das Lachen klingt selbst wie ein langer Rülpser.

Finn zieht vorsichtshalber seinen Rucksack näher an sich heran. Mama und Papa haben es immer wieder gesagt. Bestimmt hunderttausend Mal: Wenn ihm jemand komisch vorkommt oder so, soll er anrufen. Finn hat nur genervt genickt: Jaha, das weiß er doch seit hunderttausend Jahren. Immer machen sich die Erwachsenen Sorgen, dass irgendwas passieren könnte.

Aber jetzt guckt er zur Sicherheit doch noch mal in seinem Rucksack nach. Alles da. Sein Handy, das Portemonnaie mit der Fahrkarte und die Box mit Papas Spezialstullen. Finn holt das Handy heraus und schaut auf das Display mit dem neuen Hintergrundbild: ein Foto von Teps. Er hat es gemacht, als Teps gegähnt hat, und mit ihren spitzen Zähnen sieht sie ein bisschen aus wie ein Säbelzahntiger.

Teps … Das ist noch so eine Geschichte: Mama hat sie vor einem Jahr aus dem Tierheim geholt, nachdem Papa ausgezogen ist. Eltern können echt komisch sein: Jahrelang darf man kein Haustier haben. Und dann trennen sie sich und – schwups! – kriegt man eine Katze. Oder sie haben einen dringenden Job, und – schwups! – darf man alleine Zug fahren …

Finn legt das Handy zurück in den Rucksack und zieht den Reißverschluss mit dem Krokodilanhänger zu. Eine Weile guckt er auf die Zickzackfäden der Oberleitungen draußen. Dann hört er ein metallisches Knacken. Auf der anderen Seite des Tisches drückt Hackmack an der Bierdose herum. Er reckt die Arme und gähnt.

»Ganz schön öde hier, was?«

Finn nickt wieder nur stumm. Hackmack lässt nicht locker.

»Willste ’ne Runde zocken?«

Er zieht ein Kartenspiel aus seiner Jacke und lässt die Karten knatternd durch die Luft fliegen. Von einer Hand in die andere.

»Gut, was?«, sagt er und grinst Finn an. »Pass uff, ick zeig dir mal ’n Trick.« Hackmack senkt verschwörerisch die Stimme und beugt sich über den Tisch, sodass Finn wieder seinen Bier-Atem riechen kann: »Ick kann nämlich zaubern.«

Hackmack hält ein paar Karten hoch und fächert sie auf. »Siehste die vier Karten hier? Karo-, Herz-, Pik- und Kreuz-Bube.«

Finn nickt achselzuckend.

»Die sind ’ne Bande. Und zusammen drehen die jetzt ’n richtig großes Ding.«

Hackmack schiebt die vier Buben zusammen und legt sie verdeckt auf den restlichen Kartenstapel.

»Mit dem Heli landen die heimlich oben auf dem KaDeWe … dit Luxuskaufhaus … kennste, oder? Der Erste geht ins Erdgeschoss und räumt die Schmuckabteilung aus … Brillis, Uhren, Gold …«

Hackmack nimmt die oberste Karte ab und steckt sie unten wieder in den Stapel.

»Der Zweite geht in die Herrenabteilung und klaut ’n schweineteuren Ledermantel …«

Er nimmt die nächste Karte von oben, steckt sie in den Stapel und macht dann das Gleiche noch mal mit der dritten.

»Der Dritte fährt in die vierte Etage und holt sich ’n riesigen Flachbildfernseher und der Letzte, der geht in’ sechsten Stock … Schlemmerabteilung … und trinkt da ’ne Flasche Schampus …«

Hackmack nimmt die vierte Karte ab und schiebt sie in den Stapel. »Aber, dann plötzlich …!« Hackmack hebt den Kartenstapel hoch und reißt die Augen auf. »Wiuhwiuhwiuh! geht die Alarmanlage los. Die Bullen rücken an. Lalülala! Nix wie weg hier!«

Er klopft hektisch mit zwei Fingern auf den Stapel, als müsse er die darin versteckten Buben warnen.

»Und eins, zwei, drei, vier, Scharnier! – treffen sich alle Jungs wieder oben auf dem Dach und fliegen mit dem Heli auf und davon.«

Mit großer Geste hebt Hackmack die obersten vier Karten des Stapels ab und hält sie Finn triumphierend hin: Karo-, Herz-, Pik- und Kreuz-Bube.

»Da staunste, was?«

Finn nickt. Dabei staunt er gar nicht. Den Trick kennt er nämlich. Den hat Carlo ihm auch schon mal gezeigt. Nur mit Karstadt statt KaDeWe. Carlo ist Finns bester Freund. Sie kannten sich schon, da waren sie noch gar nicht auf der Welt, sondern noch in den Bäuchen von ihren Mamas. Die haben nämlich zusammen so einen Kurs gemacht, wo man alles übt für die Geburt. Und Mama sagt, dass Finn und Carlo immer gleichzeitig gezappelt haben, als hätten sie sich abgesprochen. Und bestimmt war es auch so, obwohl Finn sich nicht daran erinnern kann. Aber an den Kartentrick kann er sich erinnern. Der ist nämlich ganz einfach: Am Anfang muss man nur vier andere Karten so hinter den Buben verstecken, dass der andere sie beim Hochhalten nicht sehen kann. Wenn man die Karten dann oben auf den Stapel legt und nacheinander reinsteckt, bleiben die Buben die ganze Zeit oben liegen, weil man ja erst die dahinter versteckten Karten nimmt. Leider ist Carlo eine davon runtergefallen und Finn wusste dann gleich, wie es geht.

Finn schaut wieder aus dem Fenster. Draußen steht die Sonne ganz tief. Und der Mond ist auch schon da. Weiß und rund wie eine Pizza ohne Belag hängt er am Himmel. Davor drehen sich langsam Windräder und blinken ab und zu rot. Das ist, damit die Flugzeugpiloten sie sehen können und nicht versehentlich in sie reinfliegen. Die Windräder erzeugen Strom. Und Papa sagt, das ist gut für die Umwelt. Finn mag die Windräder. Er stellt sich vor, dass sie Roboter sind mit rot blinkenden Augen. Und sie winken immer mit den Armen, weil ihnen so langweilig ist vom Rumstehen.

Ihm gegenüber trinkt Hackmack den letzten Schluck von seinem Bier, drückt die Dose zusammen und lässt sie unter den Sitz fallen.

Der Zug wird langsamer. Auf der Leuchtanzeige am Ende des Waggons steht der nächste Halt: Gransee. Hackmack nimmt die Karten vom Tisch und steht auf.

»Pass uff, Kleener, jetzt zeig ick dir noch ’n Trick. Zum Abschied. Der ist richtig jut! Den haste noch nicht jesehen, dit versprech ick dir …«

Er macht eine ausladende Bewegung. Und dabei fallen ihm die Karten aus der Hand. Sie flattern durch die Luft und landen kreuz und quer zwischen den Sitzen. Hackmack flucht.

»Scheiße, das gibts doch nich …«

Er bückt sich und sammelt die Karten eilig auf. Dabei kann man voll seine ›Arschitektur‹ sehen. Das sagt Mama immer, wenn Finns Hose auf halbmast hängt und die Poritze rausguckt. Früher fand Finn das lustig und hat seine Hose manchmal absichtlich hängen lassen, damit Mama es sagt. Jetzt findet er es peinlich. Und Hackmacks Ritze will er auch nicht sehen. Er guckt schnell weg. Dabei fällt sein Blick auf die Kreuz-Zehn, die unter dem Tisch gelandet ist. Er beugt sich runter und muss den Arm ganz lang ausstrecken, damit er sie erreicht. Als er wieder unter dem Tisch hervorkriecht, reißt Hackmack ihm schnell die Karte aus der Hand.

»Danke, Kleener. Nett von dir.« Er stopft die Karten hastig in seine Jacke, schnappt die Plastiktüte und wirft sie sich wie einen Sack über den Rücken. »Nu aber hinne. Pass uff: Jetzt verdünnisiere ick mir! Abrakadabra …«

Hackmack gestikuliert mit seiner Hand durch die Luft, als würde er einen Zauberstab schwingen. Dazu geht er rückwärts durch den Gang und rudert immer doller mit der Hand. Es sieht aber überhaupt nicht wie Verdünnisieren aus. Eher wie ein einarmiger Schwimmer, der durch Wackelpudding paddelt. Auf jeden Fall ziemlich bescheuert.

Der Zug ruckelt und hält an. Finn hört das Zischen der sich öffnenden Türen. Hackmack hat die Treppe erreicht. Er winkt noch mal, dreht sich um und poltert dann eilig die Stufen runter.

Durchs Fenster sieht Finn, wie Hackmack aussteigt und mit seiner dicken Tüte auf dem Rücken zügig über den Bahnsteig geht. Der Zug fährt wieder an und Hackmack verschwindet aus Finns Blick.

Finn ist froh, dass er weg ist.

2.

Ein Schaffner schafft Probleme

»Die Fahrscheine, bitte!«

Kaum hat der Zug den Bahnhof verlassen, kommt der Schaffner die Treppe hoch. Er trägt eine blaue Uniform und eine rote Krawatte. Finn will nach seinem Rucksack greifen – aber der ist plötzlich weg. Liegt nicht mehr neben ihm auf dem Sitz. Häh? – Gerade war er doch noch da?! Finn guckt unter den Tisch. Verwirrt steht er auf, schaut sich um, geht in die Knie, kriecht unter den Sitz und sucht den Boden ab. Nichts. Nur die verbeulte Bierdose liegt da.

Von oben kommt die Stimme des Schaffners:

»Na, junger Mann? Willst du dich verstecken?«

»Nein.«

Finn steht schnell auf. Der Schaffner hat seine Brille ganz nach vorn auf die Nasenspitze geschoben. Er mustert Finn streng über die Gläser hinweg. »Wo ist denn deine Mama oder dein Papa?«

»Ich … ich fahr alleine«, stottert Finn.

»Na, dann zeig mir mal deine Fahrkarte.«

Finn wird es ganz heiß: Was jetzt? Er schaut den Schaffner an und schluckt:

»Ich … sie ist in meinem Rucksack …«

»Dann holst du sie mal besser raus.« Der Schaffner guckt ihn jetzt an wie Frau Henschke-Pohl, wenn er beim Diktat wieder »das-mit-einem-s« statt »dass-mit-zwei-s« geschrieben hat.

»Das geht nicht«, sagt Finn und es ist ihm völlig egal, ob das mit einem »s« oder zwei »s« geschrieben wird. »Er ist weg … also, mein Rucksack ist weg … gerade war er noch da. Hier auf dem Sitz.«

Der Schaffner legt die Stirn in Falten.

»Soso«, sagt er, »dein Rucksack ist weg. Wo willst du denn hin? Und wie alt bist du überhaupt?«

Finn fängt an zu schwitzen. Jetzt wäre er doch froh, wenn Papa neben ihm sitzen würde. Der würde dem Schaffner alles erklären und der würde dann auch nicht so doofe Fragen stellen.

»Zehn«, antwortet Finn. »Also in drei Wochen und zwei Tagen. Und ich fahre nach Berlin. Zu meiner Mutter.«

»Und deine Mutter, weiß die das denn? Dass du zu ihr fährst?«

Was für eine blöde Frage, denkt Finn und nickt. Klar weiß Mama das. Sie holt ihn ja am Bahnhof ab.

Die anderen Reisenden im Wagen schauen nun alle zu ihm und dem Schaffner rüber, der mit seiner behaarten Hand den wenig behaarten Kopf kratzt.

»Deine Mutter, hat die denn auch einen Namen?«

Finn nickt. »Svenja.«

»Und weiter?«, fragt der Schaffner.

»Utschig.«

Der Schaffner zieht die Augenbrauen hoch: »Utschig?«

Finn nickt wieder. Fehlt nur, dass der Schaffner jetzt nachfragt: »Utschig wie flutschig?« – Das sagen nämlich alle, wenn sie den Namen zum ersten Mal hören. Aber der Schaffner zum Glück nicht.

Stattdessen sagt er: »Aha. Svenja Utschig. Vielleicht können wir die Svenja Utschig dann ja mal anrufen und fragen, ob sie weiß, dass ihr Sohnemann hier ganz allein unterwegs ist?«

In dem Moment fällt Finn ein, dass er Mama gar nicht anrufen kann. Sein Handy ist ja auch im Rucksack! Er spürt, wie ihm Tränen in die Augen schießen: Es war ganz neu und er hat es sich selbst verdient! Jede Woche einen Euro von Frau Buchborn aus dem vierten Stock. Dafür, dass er immer die Zeitung hochbringt und den Müll runter.

Müll. Finn durchzuckt ein Gedanke: Na klar, Müll … Mülltüte … deswegen war die auf einmal so dick! Dieser Hackmack wars! So was Fieses! Er hat die Karten mit Absicht fallen lassen. Und als Finn sich unter den Tisch gebeugt hat, hat er den Rucksack ganz schnell in seine Tüte gepackt!

»Der Mann mit der Tüte wars!«, sagt Finn aufgeregt.

Der Schaffner stößt schnaubend Luft aus: »Der Mann mit der Tüte, soso.« Er schaut sich um. »Ich seh hier aber keinen Mann mit einer Tüte.«

»Ja«, sagt Finn, »er ist ja auch schon ausgestiegen, in Gransee!«

Finn zeigt beschwörend auf den Sitz gegenüber: »Er saß da. Er hatte Löcher in den Ohren und auf seinem T-Shirt stand ›Hackmack‹. – Wir müssen die Polizei rufen! Dann können die ihn vielleicht noch schnappen!«

Der Schaffner schüttelt den Kopf. »Nee, nee. Erst mal rufen wir schön bei dir zu Hause an.« Er zieht sein Diensthandy aus der Tasche. »Ich hoffe, du weißt wenigstens die Nummer?«

Finn nickt: »Null – drei – null … vier – neun – eins …« In der Aufregung fangen die Zahlen in seinem Kopf an zu tanzen. »Äh, nein, vier – eins – neun …« Er stockt.

Genervt lässt der Schaffner das Handy sinken. »Ja, wie denn jetzt?«

Finn versteht das nicht. Normalerweise kann er ihre Nummer nur so runterrasseln, aber jetzt ist sie auf einmal wie gelöscht. Und Mamas Handynummer weiß er erst recht nicht.

Eine Frau mit kurzen grauen Haaren zwei Reihen weiter vorne hat das Gespräch verfolgt und schaltet sich ein: »Nun lassen Sie den Jungen doch. Sie bringen ihn ja ganz durcheinander. Ich zahl die Fahrkarte. Was kostet die denn?«

Finn schöpft Hoffnung. Er hatte die Frau bisher gar nicht bemerkt. Sie zieht einen Zehn-Euro-Schein aus ihrem Portemonnaie und hält ihn dem Schaffner hin. Aber der blafft sie nur an. »Kennen Sie den Jungen?«

»Nein.«

»Was mischen Sie sich dann ein?«

»Ich will einfach nur helfen!«, sagt die Frau.

»Wollen Sie etwa die Verantwortung übernehmen?«

»Null – drei – null!«, platzt es aus Finn heraus. Ihm ist die Nummer wieder eingefallen und er sagt sie ganz schnell, damit er sie nicht wieder vergisst: »Null – drei – null – vier – neun – eins – eins – neun – vier – neun.«

Der Schaffner tippt mit seinem dicken Zeigefinger und schaut dabei über seine Brille auf das Handy in seiner Hand: »Null – drei – null …«

Finn nickt und wiederholt: »Vier – neun – eins – eins – neun – vier – neun.«

Der Schaffner drückt die Wahltaste und hält das Handy ans Ohr.

»Hallo?« Der Schaffner hält sich das andere Ohr zu, um besser hören zu können, und ruft wieder laut ins Telefon: »Hallo? … Wer ist da? … Herr Larifari?«

Finn fällt ein Stein vom Herzen. Das muss Mukhtar sein! Mukhtar ist Mamas neuer Freund und wohnt öfters bei ihnen. Er heißt aber nicht Larifari mit Nachnamen sondern Elfadil.

Der Schaffner redet weiter und wird dabei immer lauter: »Also Herr Larifari, ich habe hier einen Jungen namens …« Er schaut Finn fragend an.

»Finn«, sagt Finn.

»… einen Jungen Namens Finn und ich möchte mit der Mutter sprechen …« Der Schaffner lauscht einen Moment und legt die Stirn in noch tiefere Falten. »Wie, nicht da? … Was für ein Kurs?«

Finn fällt ein: Klar, um diese Zeit ist Mama immer beim Yoga! Das hatte er ganz vergessen. Und von da geht sie dann direkt zum Bahnhof, um ihn abzuholen!

Die Miene des Schaffners wird immer mürrischer, je länger er lauscht. »Sie sind also nicht der Vater? … Dann sind Sie auch nicht sorgeberechtigt.«

Aus dem Telefon hört man jetzt Mukhtars Stimme, die auch lauter wird. Aber der Schaffner unterbricht ihn:

»Jetzt hören Sie mal zu, Herr Larifari-oder-wie-auch-immer-Sie-heißen: Sie sind nicht der Vater und haben auch kein Sorgerecht. … Das ist eben so. Zumindest bei uns hier in Deutschland. Punkt.«

Mukhtars Stimme ist jetzt richtig laut. So laut, dass Finn die Wörter »Paragrafenreiter« und »Amtsschimmel« verstehen kann. Mukhtar drückt sich immer sehr gewählt aus, auch wenn er sich aufregt. Und der Schaffner läuft jetzt ganz rot an im Gesicht und bellt ins Telefon: »Ich lass mich hier doch nicht beleidigen! Sie können sich gerne beschweren. – Aber nicht bei mir!« Der Schaffner nimmt das Telefon vom Ohr und rammt seinen dicken Zeigefinger auf die Auflegen-Taste, als wolle er sie durchbohren. »So ein unverschämter Kerl!«

Kopfschüttelnd tippt er eine neue Nummer ein. »Ich ruf jetzt die Polizei. Sollen die sich doch kümmern.«

Sehr gut, denkt Finn. Das hatte er ja gleich vorgeschlagen. Hoffentlich ist es noch nicht zu spät, um den Rucksackdieb zu schnappen!

Der Schaffner schaut auf seine Uhr: »Die können dich dann gleich in Oranienburg abholen.«

Finn versteht nicht: Oranienburg? »Aber ich muss doch nach Berlin! Meine Mama wartet da auf mich!« Ihm wird ganz mulmig. Und auch die Frau mit den grauen Haaren wird jetzt richtig fuchsig: »Was soll denn das? Sie können den Jungen doch nicht einfach aus dem Zug werfen! Ich hab doch gesagt, ich zahl die Fahrkarte!«