Kapitän Augusto und das Erbe des Hover-Herzogs - Stefan Bischoff - E-Book

Kapitän Augusto und das Erbe des Hover-Herzogs E-Book

Stefan Bischoff

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Beschreibung

Kapitän Augusto und sein treuer Helferbot Archimedes machen sich mit ihrem Flugschiff, der Lotti, auf die Suche nach einem versteckten Schatz. Ihre Suche führt sie kreuz und quer durch Nauricania und mitten hinein in zahlreiche spannende Abenteuer, in deren Verlauf ihre Freundschaft mehrmals auf eine harte Probe gestellt wird. Überdies sind sie offenbar nicht die einzigen, die hinter dem Schatz her sind, denn sie scheinen einen geheimnisvollen Verfolger zu haben ... Ein Steampunk-Fantasy-Abenteuer mit jeder Menge Humor für junge Leser ab 7 Jahren.

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Seitenzahl: 338

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Bisher sind folgende Abenteuer mit Augusto erschienen:

Band 1: Kapitän Augusto und der Schlaf des Nautharg

Band 2: Kapitän Augusto und das Erbe des Hover-Herzogs

Für Mama Hildegard

Inhalt

1. Kapitel:

Aki, der Postbote

2. Kapitel:

Familiengeschichten

3. Kapitel:

Das Erbe des Hover-Herzogs (erster Teil)

4. Kapitel:

Rotznase

5. Kapitel:

Der blinde Passagier

6. Kapitel:

Die Wüste der Sieben Winde

7. Kapitel:

Kleckser

8. Kapitel:

Eine neue Botschaft

9. Kapitel:

Im Eisenland

10. Kapitel:

Grusilda

11. Kapitel:

In der Belladonna

12. Kapitel:

Der Wanderzirkus

13. Kapitel:

Prahlhans

14. Kapitel:

Die Kristallkugel

15. Kapitel:

Der Ritt auf dem Luftwal

16. Kapitel:

Wiedersehen und Abschied

17. Kapitel:

Die Sternenmühle

18. Kapitel:

Schöckerchen

19. Kapitel:

Aki baut einen Schneemann

20. Kapitel:

Die Enttarnung

21. Kapitel:

Das Versteck

22. Kapitel:

Das Erbe des Hover-Herzogs (zweiter Teil)

23. Kapitel:

Der See

Erstes Kapitel

Aki, der Postbote

Alles begann, als Kapitän Augusto einen folgenschweren Brief erhielt. Der Frühling war noch nicht lange angebrochen und die wärmer werdenden Tage versprachen einen wunderschönen Sommer. Die Morgensonne beschien die Häuser von Äquator City und lockte alle Einwohner ins Freie. Jeder ging eifrig seinen Beschäftigungen nach, und auch Augusto hatte einiges zu tun. Er saß breitbeinig auf einer Holzkiste an Deck seines feuerroten Flugschiffs, der Lotti, und schraubte konzentriert an seiner künstlichen Hand. Seitdem ihm ein Riesenpiranha vor Jahren in einem schaudervollen Zweikampf die linke Hand abgebissen hatte, besaß der Kapitän eine Ersatzhand aus Metall, die mit zahlreichen austauschbaren Aufsätzen versehen war. In seinem Sortiment befanden sich mittlerweile Dosenöffner, Enterhaken, Minisägen, Schweißbrenner, ein Küchenquirl und sogar eine Fliegenklatsche. Doch so eine beeindruckende Sammlung musste regelmäßig gewartet werden, um die Verschleißerscheinungen in Grenzen zu halten. Bereits die letzten Wochen hatten in dem Kapitän ein Vorgefühl geweckt, dass es jetzt wieder einmal an der Zeit war, seine Hand auf Vordermann zu bringen. Also hängte er an diesem Morgen kurzerhand ein "Geschlossen„-Schild vor die Imbissbude, die auf dem Mitteldeck des Schiffes stand, und holte aus seiner Kajüte das Kästchen mit den Pflegeutensilien hervor. Nun verbrachte er schon den ganzen Vormittag damit, jedes einzelne Schräubchen zu ölen und jede Feder neu zu spannen. Bei dieser Gelegenheit kam ihm die Idee für einen neuen Handaufsatz.

Neben ihm auf Kopfhöhe schwebte Archimedes, sein treuer Helferbot. Er verfolgte interessiert jeden Handgriff. Sein Freund, der Kapitän, hatte doch schon so viele Ersatzhände. Was würde es wohl diesmal Neues geben?

„Wart's ab”, meinte Augusto. Er zog eine letzte Schraube an, dann steckte er sich den neuen Aufsatz auf die Hand. Mit einem trockenen Klacken rastete er ein. Zwei elegant geschwungene Rotorblätter glitzerten in der Morgensonne. Archimedes summte aufgeregt.

„Richtig, alter Knabe”, antwortete der Kapitän mit hörbarem Stolz in der Stimme. „Ein Ventilator. Ich habe mir gedacht, dass uns im Sommer bestimmt ein wenig Abkühlung gut tun wird. Da kommt so eine frische Brise wie gelegen. Pass auf, wir probieren ihn gleich mal aus.”

Er betätigte einen kleinen Knopf am Handgelenk und die Rotorblätter setzten sich augenblicklich mit einem hellen Surren in Bewegung. Versuchsweise hielt er seine rechte Hand davor, um die Windstärke zu prüfen. Zufrieden nickend richtete er den Ventilator auf Archimedes, der sich genüsslich gegen den Luftzug stemmte.

„Stufenweise einstellbar”, erklärte der Kapitän und schob einen Regler nach vorne. Das Surren stieg höher und die Rotorblätter bewegten sich so schnell, dass sie nahezu unsichtbar wurden. Archimedes musste sich jetzt richtig anstrengen, um nicht von der Stelle geweht zu werden. Seine Mini-Triebwerke gaben ihr Bestes, während er sich nach vorne beugte, um gegen den Windstoß standzuhalten.

„Halt dich fest, jetzt kommt die Orkanstufe”, warnte Augusto und schob den Regler bis zum Anschlag. Der Ventilator heulte wütend in schrille Höhen. Doch woran sollte der arme Helferbot sich denn festhalten? Archimedes wurde von dem Sturm, der ihn nun erfasste, nach hinten geworfen und wirbelte wie ein verirrtes Herbstblatt übers Deck. Hastig schaltete Augusto den Ventilator aus.

„Das war wohl doch zu stark”, entschuldigte er sich, als sein Helferbot mit einem vorwurfsvollen Summen zu ihm zurück taumelte. „Ich werde die Leistung der Magnetwelle ein wenig reduzieren, dann ist dieses Problem behoben.”

In diesem Augenblick hörten sie eine hohe Stimme von der Kaimauer herüber rufen: „Bitte um Erlaubnis, an Bord kommen zu dürfen, mein Kapitän!”

Augusto schmunzelte in sich hinein. Er kannte den Rufer. Rasch zwang er sich dazu, ein möglichst ernstes Gesicht zu machen. Er steckte seine Standardhand auf und begab sich an die Reling der Lotti, um den Neuankömmling zu begrüßen.

Auf der Kaimauer der Flugschleuse B stand ein Postbote. Besser gesagt: Dort war die Uniform eines königlichen Postboten zu sehen. Den Boten selbst konnte man darin nur vermuten, denn die Uniform war ihm viel zu groß. Die riesige Mütze ließ nichts von dem Kopf erkennen und die Ärmel der blauen Jacke schleiften beinahe auf dem Boden. Von seinem Körper war nur seine rechte Hand zu sehen, die einen großen, weißen Briefumschlag hochhielt.

„Erlaubnis erteilt!”, sprach Augusto feierlich.

Der Postbote machte vor Freude einen kleinen Luftsprung und rannte die Planke zur Lotti hinauf. Vor dem Kapitän blieb er stehen und grüßte militärisch, was Augusto respektvoll erwiderte.

Dann nahm er umständlich seine Mütze ab. Darunter kam das sommersprossige Gesicht eines Jungen zum Vorschein.

Mit seinen zwölf Jahren war Aki der jüngste Postbote Äquator Citys, vielleicht sogar von ganz Nauricania. Der Beruf war ihm sozusagen in die Wiege gelegt worden: Seine Familie blickte auf eine endlos lange Ahnenreihe aus Postboten zurück, weshalb es auch für Akis Vater nicht den geringsten Zweifel gegeben hatte, dass sein Sohn ebenfalls diese Laufbahn einschlagen würde.

Der hatte allerdings andere Pläne. Akis sehnlichster Wunsch war es, Flugschiffer zu werden! Das war sein großer Traum, seitdem er als kleines Kind zum ersten Mal die eleganten Schiffe am Himmel über Äquator City gesehen hatte. Ein eigenes Flugschiff zu besitzen, durch die freien Lüfte zu segeln, keinen Chef über sich zu haben - das, so war er sich sicher, musste der Inbegriff des Glücks sein. Doch zu seinem großen Kummer gab es ein kleines Problem, das zwischen ihm und der Erfüllung seines Wunsches stand und das später in dieser Geschichte geschildert wird. Im Moment sei gesagt, dass er seine Postboten-Ausbildung nur notgedrungen und widerwillig begonnen hatte. Tagaus, tagein trug er Briefe durch die Stadt - eine Tätigkeit, die ihm um so saurer wurde, je öfter sein Blick nach oben wanderte und er die Flugschiffe dahingleiten sah. Zu allem Überfluss hatte es keine Uniform in seiner Größe gegeben, weshalb er jetzt so aussah wie ein Pinguin, der ein viel zu weites Fell trug.

So oft es seine Zeit zuließ, besuchte er den Kapitän in der Flugschleuse B, um ihm bei allen Aufgaben zur Hand zu gehen und bei dieser Gelegenheit möglichst viel über die Lotti zu lernen. Und Augusto, der mit allen Kindern Äquator Citys gut befreundet war, hütete sich davor, den kleinen Aki nicht ernst zu nehmen. Übrigens war Aki nicht der richtige Name des Postboten. In Wahrheit hieß er Adalbert Karlinius, aber jeder, der es wagte, ihn so anzureden, bekam unweigerlich seine Fäuste zu schmecken.

„Hallo Archimedes”, begrüßte Aki den Helferbot, der erfreut herbei schwebte. „Ich kann gleich mit dir spielen, doch zuerst muss ich einen Brief abliefern. Das verstehst du sicherlich. Pflicht ist nunmal Pflicht.”

Archimedes verstand das und wartete würdevoll. Auch er nahm den kleinen Postboten sehr ernst. Aki wandte sich an Augusto und sagte mit bedeutsamer Stimme, von der er hoffte, dass sie möglichst tief und erwachsen klang: „Offizielle Briefübergabe, mein Kapitän. Ich bitte, den Erhalt zu bestätigen.”

„Erhalt bestätigt”, erwiderte Augusto und nahm den Briefumschlag entgegen.

Aki grinste Archimedes an. „Das wäre erledigt. Wetten, dass ich schneller bin als du?” Im nächsten Moment rannte er schon lachend übers Deck, verfolgt von dem vergnügt summenden Helferbot. Die beiden liebten es, zusammen auf diese Weise zu spielen. Der Postbote allerdings musste beim Rennen seine Uniform mit beiden Händen hochraffen, um nicht über die eigenen Hosenbeine zu stolpern. Die Jagd ging quer übers Schiff, die quietschende Treppe zum Steuerrad hinauf, wieder hinunter und rund um die Imbissbude herum. Archimedes war dem kichernden Postboten immer dicht auf den Fersen.

Doch plötzlich hielt Aki inne und auch der Helferbot merkte, dass etwas nicht stimmte. Warum war denn Augusto auf einmal so still? Beide sahen sich nach ihm um. Der Kapitän hatte den Umschlag geöffnet und blickte mit finsterem Gesicht auf den Brief in seinen Händen. Seine Lippen bewegten sich lautlos, so als ob er das Gelesene für sich wiederholen musste, um es zu glauben.

„Ist etwas passiert, mein Kapitän?”, fragte Aki. Er hatte Augusto noch nie so ernst gesehen.

Dieser räusperte sich, während er den Brief langsam und sorgfältig zusammenfaltete. „Ich habe gerade die Nachricht erhalten, dass mein Onkel gestorben ist ...”, antwortete er leise.

Archimedes schwebte herbei und lehnte seinen Kopf mitfühlend an Augustos Schulter. Aki kam ebenfalls näher, aber er wusste nicht so recht, wie man sich in so einer Situation verhielt.

„Es war mir ganz neu, dass du einen Onkel hattest”, sagte er vorsichtig. Der Kapitän war ihm immer als Inbegriff der Unabhängigkeit und des einsamen Draufgängertums erschienen. Seltsam, aber er war nie auf den Gedanken gekommen, dass sein Freund ebenfalls eine Familie haben könnte, so wie jeder andere Mensch auch.

„Eigentlich habe ich ihn kaum gekannt”, erwiderte Augusto und blickte versonnen über die Reling. „Um ganz ehrlich zu sein, habe ich schon seit vielen Jahren gar nicht mehr an ihn gedacht. Er war ein etwas seltsamer Kauz, der sehr zurückgezogen lebte. Habt ihr schon einmal vom Hover-Herzog gehört?”

Archimedes summte und Aki riss erstaunt die Augen auf. „Du meinst, diesen Produzenten von Helferbots? Der so stinkreich ist? Klar, den kennt doch jedes Kind! Und der ist dein Onkel?” Doch dann verstummte er und verbesserte sich leise: „Ich meine: Der war dein Onkel?”

Augusto nickte und setzte sich auf eine Kiste. „Ja, aber ein ziemlich entfernter. Wie gesagt, ich habe ihn kaum gekannt. Möglicherweise hat das niemand. Er lebte sehr einsam und in den letzten Jahren hat er sich überhaupt nicht mehr öffentlich gezeigt. Aber was seinen Reichtum angeht, hast du wahrscheinlich unrecht, Aki. Er war nicht nur stinkreich. Er soll so wahnwitzig reich gewesen sein, dass es kaum vorstellbar ist. Wahrscheinlich war er der wohlhabendste Mensch Nauricanias, mit Ausnahme vielleicht vom König.”

Der Postbote staunte. „War er wirklich ein Herzog?”

„Nein, das war nur sein Spitzname, den die Leute ihm gegeben haben, weil er sein gesamtes Vermögen durch die Produktion von Hoverbots gemacht hat. Er hieß Zacharias. Man sagt, dass fast jeder zweite Helferbot Nauricanias aus seiner Werkstatt stammt. Ob das stimmt, weiß ich allerdings nicht. Du wurdest übrigens ebenfalls von ihm konstruiert, Archimedes.”

Der Helferbot summte überrascht.

„Du kannst dich nur deshalb nicht mehr daran erinnern, weil du damals so jung warst. Mal nachdenken ... Ich muss in Akis Alter gewesen sein, als du mir überreicht wurdest, Archimedes. Ich kann mich verschwommen erinnern. Onkel Zacharias stand vor mir. An sein Aussehen entsinne ich mich nur noch bruchstückhaft, aber ich weiß, dass er einen gewaltigen Oberlippenbart besaß, der irgendwie die Form eines aufwärts geschwungenen Ankers hatte. Als Kind hatte ich immer das Gefühl, dass ich mich an diesen Bart hängen und daran schaukeln könnte, so riesig war er. Aber natürlich habe ich das nie probiert, Onkel Zacharias war für mich eine Respektsperson. Jedenfalls hielt er diesen funkelnagelneuen Helferbot in der Hand und er sagte: „Hier habe ich einen neuen Freund für dich, Augusto”, oder so ähnlich. Und dass ich gut auf dich achtgeben soll, weil du etwas Besonderes bist. Ich war so stolz. Mein erster eigener Helferbot. Das warst du, Archimedes.”

Er klopfte seinem ersten eigenen Helferbot auf den Rücken, der richtig gerührt aussah.

„Das muss in den Schulferien gewesen sein, damals. Ich durfte ein paar Tage bei ihm verbringen. Mein Onkel wohnte in einem gewaltigen Anwesen. Ein richtiger Park. Man konnte stundenlang umherlaufen und entdeckte immer wieder Neues. Ich liebte es, als Kind dort zu spielen, Baumhäuser zu bauen und mich vor dem Gärtner zu verstecken, vor dem ich ein wenig Angst hatte. Tobias hieß er, jetzt fallt mir sein Name wieder ein. Er war furchtbar stolz auf die Kirschbäume, die er in dem Park pflanzte, was mich natürlich herausforderte, mich gelegentlich zu bedienen. Und wenn es dunkel wurde und ich reinkommen sollte, weil es Zeit fürs Abendessen war, konnte mich nichts auf der Welt dazu bewegen, pünktlich zu kommen. Ich wollte nicht rein, denn es war einfach noch zu spannend dort draußen. Meistens kam ich erst, wenn ich kurz vor dem Verhungern war.”

Aki und Archimedes sahen sich mit großen Augen an (beziehungsweise mit einem großen Objektiv). Dass Augusto, der bärtige Kapitän der Lotti, der schon immer erwachsen gewesen war und der auch zuweilen richtig brummelig sein konnte, je ein Kind gewesen sein sollte, das zur Schule ging wie andere Kinder und Schulferien hatte wie andere Kinder ... das war einfach schwer zu glauben. Aki versuchte, sich den kleinen Augusto vorzustellen, der durch den Park des Hover-Herzogs rannte und Baumhäuser baute. Das war schwierig. Doch der Postbote wusste genau: Hätten sie sich damals schon gekannt, Augusto und er, dann wären sie bestimmt die dicksten Freunde geworden.

Der Kapitän atmete tief ein und schien aus seinen alten Erinnerungen aufzutauchen. Er blickte auf den Brief in seinen Händen. ,Ja, und jetzt ist der Gute von uns gegangen. Nächste Woche findet die Testamentseröffnung statt, steht hier. Und zwar in seinem Anwesen, wo er die letzten Jahrzehnte verbracht hat. Ich bin auch eingeladen.”

Aki kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. „Wahnsinn! Das heißt, du erbst sein gesamtes Vermögen? Dann wirst du ja der reichste Mensch in Nauricania!”

Augusto lachte. „Nun mal langsam, das ist nicht gesagt. Immerhin bin ich nicht der einzige Verwandte von Onkel Zacharias. Ehrlich gesagt wundere ich mich, dass er überhaupt an mich gedacht hat. Außer an diesen Tagen in den Ferien damals haben wir uns nämlich nie mehr gesehen, und das liegt schon eine halbe Ewigkeit zurück. Er mochte mich wohl, so kurz mein Aufenthalt bei ihm auch war.”

„Aber wenn er so unglaublich reich war, fallt bestimmt etwas für dich ab, oder? Selbst wenn es unter allen Verwandten aufgeteilt wird, bleibt ein großer Teil für dich übrig.” Der Postbote war ganz aufgeregt. Ein Testament! Was würde sein Freund wohl erben? Sicher einen Haufen Geld.

„Warten wir's ab”, meinte Augusto. „Jedenfalls freue ich mich schon darauf, den Park wiederzusehen. Ich bin gespannt, ob sich seit damals viel verändert hat.”

Doch dann wurde er mit einem Mal wieder sehr ernst. „Worauf ich mich weniger freue, das sind meine lieben Verwandten ...”, brummte er finster.

Zweites Kapitel

Familiengeschichten

Kapitän Aki! Beim Klang dieser Worte rieselte dem kleinen Postboten jedes Mal ein freudiger Schauder über den Rücken. Sein großer Wunsch war es, Flugschiffer zu werden. Er wollte wie sein Vorbild Augusto mit einem eigenen Schiff über die Himmel ziehen, von niemandem abhängig sein, frei und ungebunden seine Routen fliegen. Doch welches Hindernis stand der Erfüllung seines Traumes im Weg? Warum hatte er eine Ausbildung zum Postboten begonnen anstatt als Schiffsjunge anzuheuern, ein Schritt, der für alle angehenden Flugschiffer immer der erste auf der Karriereleiter zum Flugkapitän darstellte? Kurz gesagt: Er war einfach zu klein. Die Regeln für die Bewerber schrieben eine bestimmte Mindestgröße vor, und die verpasste Aki um ganze zwei Zentimeter!

Woher diese Vorschrift stammte und warum sie einstmals aufgestellt wurde, konnte ihm niemand beantworten. Das Flugschiffergewerbe existierte schon seit Urzeiten. Vermutlich hatte die Regel ganz am Anfang, als die ersten Luftkapitäne ihre Turbinen starteten und sich anschickten, den Himmel über Nauricania zu erobern, einen speziellen Sinn gehabt, doch welcher das war, wusste keiner mehr. Und nun hatte sich diese Regel so festgesetzt, dass sie einfach beibehalten wurde. Denn ein neues Gesetz aufzustellen ist leicht. Es aber wieder abzuschaffen, das ist schwer.

Was hatte Aki nicht alles versucht, um zu wachsen! Er hatte sich mit den Händen an einen Ast gehängt und sich eine halbe Stunde lang baumeln lassen bis ihm die Arme weh taten, in der Hoffnung, wenigstens ein klein wenig länger zu werden. Er hatte Unmengen an vitaminreicher Nahrung in sich hinein geschaufelt, weil sein Vater ihm erklärte, Vitamine sorgten dafür, dass er groß und stark werde - Aki hatte dabei nicht das Stärker werden im Sinn. Doch zu seiner großen Enttäuschung zeigte das Metermaß nach jedem seiner Versuche unverändert denselben um zwei Zentimeter zu kurzen Wert an. Irgendwie wollte er nicht wachsen, es war zum Verrücktwerden! Am Ende hatte er sich in seiner Verzweiflung einfach trotz allem zur Aufnahmeprüfung bei der Flugschifferbehörde angemeldet. Vielleicht würde sein kleiner Makel niemandem auffallen? Als der zuständige Beamte seine Körpergröße maß, hatte sich Aki klammheimlich auf die Zehenspitzen gestellt, doch dieser Betrugsversuch wurde natürlich gleich entdeckt. Man hatte ihn zwar freundlich, doch mit Nachdruck wieder nach draußen geführt. Den Rat des Beamten, es im nächsten Jahr wieder zu versuchen, wenn er gewachsen sein würde, hatte Aki nur mit einem finsteren Nicken entgegengenommen. Er wusste, dass er nicht in zwei und auch nicht in fünf Jahren größer wäre als jetzt. Und irgendwann würde er zu alt sein, um Flugschiffer zu werden, denn für Neubewerber gab es neben der Mindestgröße auch ein Höchstalter. Aki hätte am liebsten vor Wut geweint. Zwei Tage später war er den Fußstapfen seiner Familie gefolgt und hatte eine Ausbildung zum Postboten begonnen. Seitdem trug er zwar gewissenhaft Briefe aus (denn er erledigte alle seine Aufgaben so gut er es vermochte), doch der Wunsch, es doch noch irgendwie zum Flugschiffer zu bringen, saß wie ein Stachel in ihm.

*

Die Woche bis zur Testamentseröffnung verging schneller als gedacht. Auf einmal war der Tag des Abflugs gekommen. Kapitän Augusto stand hinter dem Steuerrad der Lotti und betätigte den Zündschlüssel. Mit einem trockenen Stottern kam die Turbine an der Mastspitze auf Touren. Langsam glitt das Flugschiff parallel zur Kaimauer entlang, wo Aki stand und winkte. Auch an diesem Tag trug er seine übergroße Postboten-Uniform, denn es musste erneut ein Stapel Briefe ausgetragen werden.

„Diese blöden zwei Zentimeter!”, beschwerte er sich. Sein Makel (wie er es bei sich nannte) machte ihn wütend wie schon lange nicht mehr. Während er die Kaimauer entlang wanderte, um möglichst lange auf gleicher Höhe der Lotti zu bleiben, hatte Archimedes am Bug des Schiffes darauf zu achten, dass immer ein genügend großer Abstand zu den Stahlwänden des Flugdocks gewahrt blieb. Schließlich war das Ende des Kais erreicht. Aki blieb stehen und winkte dem davonschwebenden Schiff hinterher. Augusto und Archimedes winkten zurück. Ein wenig leid tat ihnen der kleine Postbote schon, sie hätten ihn gerne mitgenommen. Aber die Regeln für Flugschiffer waren nun einmal nicht zu ändern.

Die Schleuse des Docks wurde sicher passiert. Zu ihrer Rechten erstreckten sich die unendlichen Weiten des Landes Nauricania. Sie hatten es schon oft durchforscht und dabei so manche Abenteuer erlebt, doch diesmal lag ihr Ziel woanders. Augusto drehte das Steuerrad nach Backbord und die Lotti beschrieb eine enge Linkskurve in Richtung Innenstadt von Äquator City. Die Außenbezirke mit den Luftdocks, den Lagerhallen und den schäbigen Verwaltungsgebäuden blieben hinter ihnen zurück. Vor ihnen tat sich ein unüberschaubares Durcheinander von bunten Häusern, Türmen, Brücken, Plätzen und Palästen auf, die sich weit hinten am dunstigen Horizont verloren. Am Himmel waren zahlreiche Flugschiffe unterwegs. Es gab kleine Ein-Mann-Barken, etwas größere Lotsen- und Transportschiffe (zu deren Klasse auch die Lotti gehörte) sowie riesige, mit vier oder mehr Turbinen ausgerüstete Pötte, denen man am besten auswich, wenn man nicht gerammt werden wollte. Der kurze, rufende Ton von Signalhörnern erscholl hier und dort in der Ferne, manchmal zum Gruß, manchmal zur Warnung, wenn zwei Schiffe sich zu nahe kamen. Inmitten dieses Gewimmels fiel die Lotti nicht nur durch ihre knallrote Lackierung auf, sondern auch dadurch, dass sie unleugbar veraltet war. Moderne Flugschiffe besaßen inzwischen leistungsfähigere Stabilisatoren und Turbinen, und manche waren in ihrem Innern geradezu luxuriös ausgestattet. Verglich man die Lotti mit diesen eleganten Barken, konnte man sie fast schon museumsreif nennen. Außerdem war nicht zu übersehen, dass sie schon an unzähligen Stellen geflickt und ausgebessert worden war. Doch Kapitän Augusto hätte um nichts in der Welt sein Schiff gegen ein anderes eingetauscht, dafür hatte er einfach schon zu viele Abenteuer auf ihr erlebt. Nebenbei gesagt wäre es auch nur einem ausgesprochen dummen Flugschiffer eingefallen, ein abfälliges Wort über die Lotti zu verlieren. Augustos Körperkraft war weithin bekannt und gefürchtet.

Archimedes schwebte auf die Brücke und leistete dem Kapitän Gesellschaft. Ihm war aufgefallen, dass sein Freund immer einsilbiger wurde, je mehr sie sich ihrem Ziel, dem Anwesen des Onkels, näherten. Schon in den letzten Tagen hatte der kleine Helferbot bemerkt, dass Augusto etwas bedrückte. Doch bevor er summen konnte, ergriff der Kapitän bereits das Wort.

„Es ist dieses Wiedersehen mit meinen Verwandten, weißt du”, sagte er mit gerunzelter Stirn und düsterem Blick, während er mit einer leichten Drehung des Steuerrads einem großen Passagierflugschiff auswich. „Dem würde ich am liebsten aus dem Weg gehen. Beim letzten Familientreffen vor Jahren sind einige böse Worte gefallen. Seitdem herrscht zwischen den Verwandten und mir Funkstille.”

Archimedes sah seinen Freund fragend an.

„Ich bin das schwarze Schaf der Familie”, erklärte der Kapitän achselzuckend. „Alle haben es zu etwas Tollem gebracht, sind reich und bilden sich viel darauf ein. Bei jedem Treffen wird regelmäßig damit angegeben, wieviel man besitzt und um wieviel man seit dem letzten Mal reicher geworden ist. Dieses Spiel wollte ich nie mitspielen. Ich bin zufrieden auf meiner guten, alten Lotti. Das können meine Verwandten nicht verstehen. Für sie bin ich jemand, der nichts aus seinem Leben gemacht und nichts erreicht hat. Ein armer Schlucker, dem jeder Erfolg abgeht - oder jedenfalls das, was meine Verwandten unter “Erfolg” verstehen. So ein kleiner Imbissbudenbesitzer ist ein Schandfleck, für den man sich schämen muss.” Er lachte bitter. „Natürlich kann man mit mir nicht angeben auf Partys und Empfangen. Stell dir das mal vor!” Und er sprach mit hoher, gezierter Stimme: „Herr Konsul, haben Sie schon gehört? Mein Vetter Augusto bietet seit letzten Mittwoch einen neuen Burger in seiner Bude an!”

Er winkte einem befreundeten Flugschiffer zu, der in nächster Nähe vorüberflog. „Diese Verachtung haben sie mich immer spüren lassen. Deshalb tut es jetzt so gut, dass Onkel Zacharias in seinem Testament an mich gedacht hat. Es zeigt mir, dass nicht alle aus der Familie mich abgeschrieben haben.”

Inzwischen hatten sie das Zentrum der Stadt überflogen. Sie näherten sich einem Viertel, das von zahlreichen Villen und Grünflächen geprägt war. Offenbar lebten hier die wohlhabenden Bewohner der Stadt. Im Osten erhoben sich die grünen Hänge des Hausbergs von Äquator City. Auf seinem Gipfel konnten sie den Palast des Königs von Nauricania funkeln sehen. Augusto zeigte nach vorne.

„Dort ist unser Ziel.”

Archimedes spähte angestrengt geradeaus. Weit, weit hinten am Horizont, jenseits des königlichen Berges, konnte er einen Turm erkennen, der sich verschleiert aus dem Dunst erhob. Als sie näher kamen, wurde deutlich, dass er die Form eines hoch aufragenden Quaders besaß, oben leicht schmaler werdend, so dass er wie eine steile Pyramide wirkte, der man die Spitze abgesägt hatte. Die Außenwände schimmerten metallisch. Es gab mehrere Wohnebenen, manche mit großen Fensterfronten, andere mit schmalen Einflugschleusen für kleine Fluggondeln. Der Turm stand im Zentrum eines weitläufigen Parks, in dem hohe Platanen gemächlich im Morgenwind schwankten. Zwischen den Bäumen verliefen helle Kieswege und hier und da konnte man Wasser auf der Oberfläche eines Sees blitzen sehen. Staunend blickten sie auf den wilden Garten hinab. Er war größer als Augusto ihn in Erinnerung hatte.

„Es scheint, dass die ersten Verwandten schon da sind”, grummelte er und wies zur Spitze des Turms, wo eine Landeplattform zu sehen war. Große Flugschiffe hatten dort festgemacht. Doch statt die Plattform anzusteuern, lenkte der Kapitän die Lotti steil nach unten in Richtung Park.

„Wir haben noch Zeit”, erklärte er dem fragenden Archimedes. „Die Testamentseröffnung beginnt erst in einer Stunde und ich verspüre nicht den Wunsch, meinen Verwandten früher als nötig zu begegnen. Lieber möchte ich einen Blick auf den Garten werfen. Ich bin gespannt, ob ich ein paar Ecken wiedererkenne.”

Sie flogen in einem weiten Bogen um die gewaltigen Fundamente des Wohnturms, bis sie eine langgestreckte Eichenallee fanden, in der sie mit der Lotti landen konnten. Das Flugschiff wurde wenige Meter über dem Boden in Schwebeposition geparkt. Seufzend verklang die Turbine. Augusto ließ eine Strickleiter von der Reling baumeln und kletterte mit geübten Handgriffen hinab. Neugierig schaute er sich um.

Von dem Lärm und der Hektik Äquator Citys war hier nichts zu spüren. Die Bäume wirkten wie eine grüne Wand, die alles fernhielt, was von außerhalb eindringen wollte. Schmale, sonnige Kiespfade wanden sich zwischen den Platanen und Zypressen hindurch und verschwanden hinter Büschen und Hecken. Sanftes Vogelgezwitscher umgab sie. Ein Brunnen murmelte leise in sein Steinbecken. Sonst war kaum ein Laut zu hören.

„Natürlich hat sich seit meiner Kindheit vieles verändert”, meinte Augusto, während er langsam begann, den Pfad entlang zu wandern. „Eigenartig. Alles ist noch so gepflegt. Die Büsche sehen aus, als wären sie erst gestern geschnitten worden. Wenn ich mich recht erinnere, müsste hier irgendwo ein riesiger Felsbrocken sein. Ah, da ist er ja.”

Rechts von ihnen, nur wenige Schritte im dichten Unterholz, lag ein grauer Findling wie der Panzer einer gewaltigen, schlafenden Schildkröte. Auf seiner Oberfläche spielte zitternd das Sonnenlicht.

„Darauf bin ich immer herumgeklettert”, erklärte Augusto seinem Helferbot. „Ich kam mir wie ein tollkühner Bergsteiger vor, dem eine Erstbesteigung gelingt. Und dort drüben!”, rief er plötzlich aufgeregt. Unweit von ihnen erhob sich ein niedriger, schattiger Hang, baumbewachsen und vermoost. In seiner Seite war eine künstliche Grotte angelegt. Der dunkle, verwitterte Eingang wirkte wie der gähnende Mund eines Erdgeists. „Da drinnen habe ich Stunden um Stunden verbracht. Besonders schön war es, wenn es draußen regnete und ich im Trockenen saß und dem Rauschen der Blätter zuhörte. Hier in der Nähe müsste es eine Quelle geben. Da ist sie! An dem Bach habe ich ein Stauwehr gebaut.” Augusto lachte, als die Erinnerungen ihm zuflogen. „Mein Ziel war es, den ganzen Garten zu überfluten. Das schaffte ich natürlich nie, aber es machte trotzdem Spaß. Wenn mich nicht alles täuscht, müsste der Bach zu einem See führen.”

Der Kapitän hatte seine Schritte beschleunigt. Er folgte dem Pfad um eine Biegung und tatsächlich: Die Bäume traten zurück und vor ihnen breitete sich ein friedlicher, klarer See aus. Der Wind bewegte leicht die Oberfläche, so als kräusle sich ein Spiegel. Augusto eilte über den knirschenden Kieselstrand ans Ufer.

„Diese Steine trieben mich als Kind zur Verzweiflung”, rief er Archimedes zu, der oberhalb des Strandes geblieben war, um einen besseren Blick über die Wasserfläche zu haben. „Mein Onkel hat einen ganzen Nachmittag lang versucht, mir beizubringen, wie man flache Steine übers Wasser springen lässt. Ich glaube, sein Rekord lag bei zehn Aufschlägen. Ich habe nicht mal drei hinbekommen.”

Er suchte kurz, bückte sich und nahm einen geeigneten Stein vom Boden. Er holte aus und warf ihn in flachem Winkel über das Wasser. Einmal schlug er auf, zweimal, dann versank er auch schon mit einem leisen Blubb in der Tiefe.

„Tausend Triebwerke!”, schmunzelte Augusto und drehte sich zu Archimedes um, der amüsiert summte. „Ich glaube, so habe ich schon damals nach jedem misslungenen Versuch geschimpft. Mein Onkel hat sich jedes Mal geschüttelt vor Lachen, wenn ich das rief. Ich habe es immer geliebt, wenn er lachte. Er konnte lachen, dass die Bäume bebten. Die Hoffnung, aus mir einen Steinschnipper zu machen, gab er nie auf. Aber offensichtlich bin ich keiner geworden.”

Plötzlich riss er erstaunt die Augen auf. „Dass der noch steht!”

Unweit vom Ufer wuchs ein knorriger Weidenbaum. Erwirkte wie ein alter Mann, der sich über das Wasser beugte, um zu trinken. Die Äste hingen tief hinab und einige der untersten Zweige tauchten sachte in die Oberfläche des Sees, wo sich das spärliche Blätterdach im kühlen Uferschatten spiegelte. Besonders hoch war der Baum nicht, dafür aber sehr breit und gedrungen. Die sonnengebleichte Rinde war schon an vielen Stellen abgeblättert und ließ den Stamm nackt erscheinen. Oben, dort, wo der Stamm sich wie ein mehrarmiger Kerzenständer in die ersten breiten Äste gabelte, schien er gespalten zu sein, entweder durch einen lang zurückliegenden Blitzeinschlag oder aufgrund seines eigenen Gewichts.

„Das war mein Kletterbaum”, erklärte Augusto stolz. „Und gleichzeitig mein Lieblingsversteck, wenn ich mal wieder auf der Flucht vor Tobias, dem Gärtner, war. Dort oben war ich unmöglich zu finden. Der Stamm war nämlich teilweise hohl und ich konnte hineinklettern. Dann fühlte ich mich, als ob ich in einer geheimen Höhle wäre. Außer mir kannte nur Onkel Zacharias das Versteck. Er hat es Tobias nie verraten, wofür ich ihm sehr dankbar war.”

Er ging um den Baum herum, spuckte in die Hände und machte schon Anstalten, hinaufzuklettern, doch in diesem Augenblick tauchte aus dem Dickicht neben ihm ein stählerner Roboterarm auf, dem eine wirbelnde Astschere an der Spitze saß. In einer weiten Schwingbewegung sauste die blitzende Schere über die Stelle hinweg, wo sich vor einer Sekunde noch Augustos Kopf befunden hatte. Der Kapitän hatte sich instinktiv auf den Boden geworfen, um nicht unfreiwillig rasiert zu werden.

„Tausend Triebwerke!”, rief er. „Welchem Leichtmatrosen fallt es ein, hier mit scharfen Gegenständen herumzufuchteln?”

Auch Archimedes kam angeschwebt und positionierte sich verteidigungsbereit zwischen Augusto und dem Dickicht, in dem es bedrohlich knackte und raschelte. Irgendetwas Großes befand sich dort im Unterholz, aber wer es wagte, seinen Freund und Kapitän anzugreifen, bekam es mit dem kleinen Helferbot zu tun!

Die Büsche teilten sich und ein Roboter kam mit schweren, dumpfen Schritten hervor gestapft. Unmittelbar vor Augusto und Archimedes blieb er stehen.

Beim näheren Hinsehen bemerkte Augusto, dass es eine Art Arbeitsroboter war. An den Händen, Ellbogen, Knien und überhaupt an zahlreichen Stellen der Maschine befanden sich Gartenscheren, Hacken, Rechen, Spaten, Unkrautstecher und sogar eine mit Wasser gefüllte Gießkanne, so dass der Roboter wie eine wandelnde Rumpelkammer aussah. In einem Führersitz hockte ein grauhaariges altes Männchen, zwei Steuerknüppel in den knochigen Händen. Es blickte Augusto mit funkelnden Augen an.

„Achte auf deine Wortwahl, Jüngelchen! Du hast wirklich ein unverschämtes Glück, dass ich dich nicht versehentlich um einen Kopf kürzer gemacht habe. Und überhaupt: Was habt ihr beiden Jungspunde hier zu suchen? Das ist Privatbesitz! Wollt ihr etwa meine Kirschen klauen?”

Augusto rappelte sich auf und nahm die Gestalt näher in Augenschein. Der alte Mann war zwischen den Metallstreben und Werkzeugen kaum zu erkennen.

„Tobias?”, fragte er ungläubig.

Der Mund des Alten wurde schmal. Er hob die gesträubten Augenbrauen, kniff die Augen zusammen und musterte Augusto prüfend.

„Der bin ich. Und wer bist du?”

„Augusto”, grinste der Kapitän. „Sie werden sich kaum an mich erinnern, Tobias. Ich war noch ein kleiner Junge, als ich das letzte Mal hier war. Sie haben schon damals als Gärtner für meinen Onkel gearbeitet. Ich freue mich, Sie noch bei Gesundheit zu sehen.”

Der alte Tobias starrte ihn eine Weile stumm an und schien angestrengt in seinem Gedächtnis zu kramen. Dann rief er: „Natürlich erinnere ich mich an dich! Du bist der kleine Rotzlöffel, der mir immer meine Kirschen stibitzt hat!”

Augusto lachte. „Genau, der Rotzlöffel bin ich. Seit damals haben wir beide uns sehr verändert, scheint mir. Sie sind seinerzeit noch auf Ihren eigenen Beinen hinter mir hergerannt. Und ich klaue schon lange keine Kirschen mehr.”

Der alte Mann tätschelte seinen Arbeitsroboter und grinste. „Hätte ich dieses bezaubernde Schmuckstück früher schon besessen, wärst du mir nicht entkommen, Jüngelchen.” Er wies mit einem kurzen Nicken in Richtung Turm. „Ich nehme an, du bist wegen der Erbsache hier. Deine raffgierige Familie ist ja bereits aufgekreuzt. Wie die Geier sind sie angeflogen gekommen. Können es offensichtlich nicht erwarten, ihren Teil des Kuchens abzukriegen. Kann sie nicht ausstehen. Sind zwar reich, aber das ist alles. Ziemlich arm, was?” Er hielt inne und blickte den Kapitän ernst an. „Dein Onkel hielt große Stücke auf dich, wusstest du das, Augusto?”

Dem Kapitän fiel nichts ein, was er sagen konnte. Er war richtig gerührt.

„Wie auch immer”, fuhr der Gärtner fort. „Ich muss wieder an die Arbeit, die Hecken schneiden sich nicht von selbst. Es würde mich freuen, wenn du mal wieder vorbeischaust. Bring deinen kleinen Freund ruhig mit.” Archimedes summte erfreut. „Es gibt Kirschkuchen”, fügte er augenzwinkernd hinzu. Archimedes summte enttäuscht. Ihm wäre ein Kännchen Öl lieber gewesen.

Tobias wandte sich um, indem er seinen Roboter ein paar Mal auf der Stelle stapfen ließ und sich dabei um die eigene Achse drehte. Dann verschwand er mit großen Schritten im Dickicht.

Augusto blickte dem Gärtner lächelnd nach, bis er mit einem letzten Rascheln außer Sicht war und wieder Stille einkehrte. Dann sagte er: „Ich glaube, es wird Zeit für uns, zu gehen. Die Testamentseröffnung kann jeden Augenblick beginnen.”

Drittes Kapitel

Das Erbe des Hover-Herzogs (erster Teil)

Das Andocken an der Landeplattform war eine ziemlich heikle Angelegenheit, die viel Geschick erforderte. Augusto steuerte die Lotti behutsam näher an den Turm, während Archimedes am Bug schwebte und das Manöver überwachte. Ab und zu gab der Helferbot Handzeichen, wenn der Kapitän den Kurs korrigieren oder das Tempo drosseln musste. Doch beide, Augusto und er, waren alte Flugschifferhasen, die auf jahrelange Erfahrung zurückgreifen konnten. Das Flugschiff erreichte unbeschadet seinen Liegeplatz und wurde von Archimedes vertäut. Augusto schaltete die Turbine aus und blickte sich um. Mittlerweile waren sämtliche Plätze an der Plattform besetzt. Er schluckte. Die Schiffe seiner Verwandten waren ausnahmslos neue und luxuriöse Modelle, die prachtvoll anzusehen waren und neben denen die kleine, alte Lotti reichlich deplatziert wirkte. Einige sahen aus wie elegante, silberne Schwäne. Die Lotti dagegen wirkte eher wie ein hässliches kleines Entlein. Zusammen mit Archimedes betrat der Kapitän die sanft schwingende Plattform und machte sich auf den Weg zum Turm.

Eine hochgewachsene, schwarz gekleidete Gestalt erwartete sie bereits. Es war ein Butler, der kerzengerade am Eingang stand und ihnen in seelenruhiger Erwartung entgegen blickte. Als sie auf wenige Schritte herangekommen waren, deutete er eine leichte Verbeugung aus der Hüfte an und sprach mit näselnder Stimme: „Willkommen, Master Augusto. Ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Flug.”

Der Kapitän blieb stehen und starrte den Butler verwundert an. Dann lachte er laut und gab ihm einen Klaps auf die Schulter. „Monty, Sie sind ja um keinen Tag gealtert! Bei allen Westwinden, Sie sehen tatsächlich noch haargenau so aus wie damals, als ich Sie immer zur Weißglut brachte.”

Der Butler neigte den Kopf ein klein wenig, ohne dabei seinen Gesichtsausdruck im mindesten zu verändern. Nur ein leichtes Heben der Augenbrauen verriet, dass er den Schulterklopfer zur Kenntnis genommen hatte.

„Zu gütig, Master Augusto. Jedoch bevorzuge ich nach wie vor den vollen Namen Montgomery, wie Sie sich zweifellos entsinnen können.”

„Natürlich kann ich das”, lachte Augusto vergnügt. „Meine Güte, Monty, es scheint eine Ewigkeit her zu sein, seit ich Ihnen heimlich die Schuhbändel zusammengebunden habe und Sie der Länge nach auf den Teppich im Speisesaal geknallt sind. Sie sind mir doch nicht mehr böse, oder?”

„Keineswegs, Master Augusto”, erwiderte der Butler mit unerschütterlicher Gelassenheit. Archimedes allerdings fragte sich leise, ob es noch irgendjemanden gab, den sein Freund in der Kindheit nicht geärgert hatte.

Der Kapitän wurde ernst und blickte sich um. „Sind meine lieben Verwandten schon da?”

„Es sind alle vollzählig versammelt. Sie sind der letzte.” Montgomery wies mit einer weiß behandschuhten Hand in Richtung eines Saals, aus dem gedämpftes Stimmengemurmel zu hören war.

Augusto blickte den Gang hinab und wandte sich dann zu Archimedes: „Tu mir einen Gefallen, alter Knabe: Bleib auf der Lotti und warte auf mich.”

Der Helferbot summte einmal kurz.

„Ich weiß. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich das alleine durchstehen muss. Meine Familie ist ...”, der Kapitän suchte nach Worten, „... interessant. Es werden sicherlich einige Beleidigungen ausgetauscht. Das möchte ich dir ersparen.”

Archimedes zögerte. Dann nickte er, summte etwas und schwebte zur Lotti zurück.

„Glück kann ich tatsächlich brauchen”, brummte Augusto und machte sich auf den Weg. Er hätte viel darum gegeben, wenn dieser Teil des Tages schon überstanden wäre. Das Gemurmel wurde lauter, je näher er der Halle kam. Um absichtlich ein wenig zu trödeln, sah er sich im Korridor um. An den Wänden hingen wertvolle Ölgemälde in prächtig verzierten Goldrahmen. Sie zeigten Helferbots in unterschiedlichen Stadien der Entwicklung. Er trat näher an die kleinen Tafeln, die daneben an die Wand geschraubt waren. “Modell x-18, Prototyp”, besagte eine davon. Auf der nächsten stand: “N804, Geschenk für König Pudelquast von Bombastien”. Augusto staunte. Das Leben seines Onkels hatte sich in jeder Hinsicht um die Entwicklung von Hoverbots gedreht.

Im Eingang zum Saal blieb er stehen. Der Raum war bis auf den letzten Platz gefüllt, es waren tatsächlich alle Verwandten erschienen. Noch hatte man ihn nicht bemerkt, alle hatten Platz genommen, saßen mit dem Rücken zu ihm und unterhielten sich eingehend miteinander. Offenbar hatte die Familie sich längere Zeit nicht gesehen und es mussten jede Menge Neuigkeiten ausgetauscht werden. All das Geplauder konnte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine gespannte Erwartung in der Luft lag. Die Unterhaltungen wurden ein wenig zu laut geführt, die Lacher kamen etwas zu schnell. Natürlich fragte sich jeder insgeheim, was ihnen der über alle Maßen reiche Erbonkel wohl vermacht haben konnte.

Augusto ließ seinen Blick über die Anwesenden streifen. Jeder hatte sich die größte Mühe gegeben, sich dem Anlass gemäß herauszuputzen. Die Damen trugen ihre elegantesten Kleider und hatten sich funkelnde Halsketten angelegt. Aufwändig dekorierte Fächer zuckten vor geröteten Gesichtern. Die Männer trugen Smoking und Jackett, einige hielten schwarzglänzende Zylinder in ihren Händen oder ließen ihre langen Finger betont lässig mit ihren Gehstöcken spielen. Der Kapitän musste schon aufgrund seiner Kleidung auffallen. Er trug seine gewohnten Sachen, die er jeden Tag anhatte. Es war ihm gar nicht in den Sinn gekommen, sich besonders anzuziehen (nebenbei gesagt: er hätte auch nichts Feines besessen). Er begann, den Mittelgang zwischen den Stuhlreihen entlang zu wandern. Bei jedem seiner Schritte erstarben nach und nach die Unterhaltungen rings um ihn, es wurde immer leiser, bis schließlich eine Grabesstille im Raum herrschte. Er spürte eisige Blicke auf sich ruhen. Niemand sagte ein Wort, lediglich die Fächer der Damen zuckten gereizt.

„Ich freue mich auch, euch zu sehen”, murmelte er finster, als er sich auf den einzigen Stuhl setzte, der noch frei war, vorne rechts in der ersten Reihe. Ein langer Tisch stand an der Stirnseite, den Erben gegenüber, auf dem säuberlich geordnete Stapel mit Dokumenten und Ordnern ruhten. Der Notar, der die Testamentseröffnung leiten sollte, war noch nirgends zu entdecken. Augusto blickte sich nach ihm um. Hinten an der Eingangstüre sah er den Butler Montgomery wie eine Säule stehen. Er hatte dort Stellung bezogen und blickte mit abwartender Gelassenheit in die Runde. Augusto drehte sich wieder nach vorn - und erschrak beinahe. Eine hochgewachsene Gestalt stand vor ihm. Es war einer der Verwandten.

Der Mann grüßte spöttisch, indem er mit zwei Fingern an seinen Zylinder tippte. „Sieh an! Kaum gibt es etwas zu erben, taucht unser lieber Augusto aus der Versenkung auf. Ich hätte nicht gedacht, dass so viel Habgier in dir steckt.” Er hob ein klein wenig die Mundwinkel. Wie auf ein Kommando lief ein schadenfrohes Lachen durch den Saal.

Es war ein Mann mit selbstsicheren Manieren und einem sorgfältig gepflegten Bart. Vor dem linken Auge klemmte ein blitzendes Monokel, an dem ein silbernes Kettchen baumelte, das wiederum in einer Brusttasche seines Smokings verschwand. Er hatte ein Gesicht, das ständig lächelte, aber niemals lachte. Sein ganzes Äußeres drückte überlegene Würde aus. Seine Stimme war freundlich und leise. Irgendwie gewann dadurch das Gesagte noch mehr an Schärfe.

„Habgier, Herr von Schepper?”, antwortete Augusto in aller Ruhe. "Ein jeder sieht in seinen Mitmenschen nur das, was in ihm selbst steckt.”

Auf der Stelle erstarb das Lachen und es herrschte Stille. Herr von Schepper zog bei Augustos Worten leicht die Augenbrauen zusammen, doch verlor er nichts von seiner Fassung.

„Wie ich sehe”, säuselte er mitleidig, “hast du dir keine Mühe gegeben, dich schick zu machen. Gelten wir so wenig, dass du dir uns zuliebe nicht einmal ein sauberes Hemd anziehen magst?”

Er hob erneut seine Mundwinkel, woraufhin die versammelte Familie abermals in Lachen ausbrach.

„Ganz im Gegenteil”, erwiderte Augusto. “Ich habe euch Verwandte genauso lieb wie saure Lebergrütze.”

Schlagartig kehrte allgemeines Schweigen ein.

Herr von Schepper blickte verächtlich auf ihn herab und sagte: „Bei dir, lieber Augusto, ist die Frage wohl eher, ob du dir ein sauberes Hemd überhaupt leisten kannst.”

Die Mundwinkel hoben sich. Die Verwandten lachten augenblicklich.