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Die Abenteuerreise des Prager Teenagers Karel Tromstein und seiner blinden Freundin Chanchala aus Bengaluru verspricht auch im zweiten Band Spannung und Action: Der russische Agent Grojatin wird vom Jäger zum Verfolgten. Auf seinen Spuren geraten Karel und Chanchala jedoch erneut in die Fänge von Zohra Wur, der künstlichen Intelligenz hinter dem pakistanischen Geheimdienst. Davor kann sie auch der hyperintelligente Dronbot Jacko nicht bewahren. Nach und nach stoßen sie auf immer neue Fragen rund um das mysteriöse Geheimdienstprojekt Kaschmir: Warum sollen gentelligente Wildhunde mit Neurointeraktions-Chips implantiert werden? Und wozu wird ein mörderisches Virus entwickelt? Als ihnen der grausame Plan dahinter klar wird, versuchen sie verzweifelt, das Schlimmste zu verhindern. Doch sie geraten immer wieder ins Netz des übermächtigen Gegners. Haben sie bei diesem Kampf noch eine Chance?
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Seitenzahl: 366
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Gewidmet
Simon, Robin und Fabio
und
den Menschen des Jahres 2184
Personenregister
Was vorher geschah
Kapitel 1: Ogadenwüste, 19. Juli 2184
Kapitel 2: Prag, 10. Juli 2184
Kapitel 3: Ogadenwüste, 21. Juli 2184
Kapitel 4: Bengaluru, 31. Juli 2184
Kapitel 5: Hobyo, 20. Juli 2184
Kapitel 6: Hobyo, 21. Juli 2184
Kapitel 7: Hobyo, 20. Juli 2184
Kapitel 8: Hobyo, 21. Juli 2184
Kapitel 9: Prag, 10. Juli 2184
Kapitel 10: Hobyo, 21. Juli 2184
Kapitel 11: Prag, 10. Juli 2184
Kapitel 12: Karatschi, 22. Juli 2184
Kapitel 13: Bengaluru, 22. Juli 2184
Kapitel 14: Karatschi, 22. Juli 2184
Kapitel 15: Ogadenwüste, 11. Juli 2184
Kapitel 16: Karatschi, 22. Juli 2184
Kapitel 17: Karatschi, 22. Juli 2184
Kapitel 18: Karatschi, 22. Juli 2184
Kapitel 19: Bengaluru, 25. Juli 2184
Kapitel 20: Bengaluru, 02. August 2184
Kapitel 21: Ogadenwüste, 24. Juli 2184
Kapitel 22: Hongshan Hu, 23. Juli 2184
Kapitel 23: Bengaluru, 4. August 2184
Kapitel 24: Bengaluru, 6. August 2184
Kapitel 25: Hongshan Hu, 23. Juli 2184
Kapitel 26: Bengaluru, 07. August 2184
Kapitel 27: Bengaluru, 08. 08.2184
Kapitel 28: Hongshan Hu, 23.Juli .2184
Kapitel 29: Bengaluru, 18. 08.2184
Kapitel 30: Karatschi, Juli 2184
Kapitel 31: Bengaluru, 19. 08.2184
Kapitel 32: Karatschi, 20. 08. 2184
Kapitel 33: Im Zug nach Kaschmir, 23. 08.2184
Kapitel 34: Karatschi, 23. 08. 2184
Kapitel 35: Im Zug nach Kaschmir , 23. 08.2184
Kapitel 36: Kaschmir, September - Oktober 2184
Kapitel 37: Kaschmir, 28.10.2184
Kapitel 38: In den Bergen von Kaschmir, 14.09.2184
Kapitel 39: Kaschmir, 28.10.2184
Kapitel 40: Auf dem Weg nach Srinagar, 29.10.2184
Kapitel 41: Bengaluru, 29.10.2184
Kapitel 42: Srinagar, 29.10.2184
Kapitel 43: Kaschmir, November 2184
Kapitel 44: Im Kloster des „Schwebenden Buddhas“, 2.11.2184
Kapitel 45: Im Kloster des „Schwebenden Buddhas“, 5.11.2184
Karel Tromstein:
Sohn von Natalja und Václav Tromstein
Ramsullah Chanchala:
Tochter von Ramsullah Sanjana und Ramsullah Abdurahman
Ramsullah Mahat:
Bruder von Chanchala
Sidri:
Chanchalas gentelligenter Pavian
Jelena Grojatin:
Tochter von Alina Grojatin und Václav Tromstein
Wladimir Iwanowitsch Grojatin:
Ehemann von Alina Grojatin; früher Vorgesetzter von Natalja und Václav Tromstein bei
ChipyProTebe
in Prag, jetzt Agent des ISI
Ben Ahmed
Agent des ISI
Zohra Wur
Kopf des pakistanischen Geheimdienstes ISI
Fast wäre die Flucht gescheitert. Nachdem Jacko Karel Tromstein und Chanchala aus ihren Zellen in der Zentrale des pakistanischen Geheimdienstes ISI befreit hatte, erschien plötzlich Zohra Wur auf dem Gang und zwang den tschechischen Jungen und seinen hyperintelligenten Dronbot, die Waffen niederzulegen. Doch glücklicherweise war Chanchala auch noch da. Und sie hatte eine Torpedowaffe in der Hand.
„Die Waffe hört auf den, der sie hält“, hatte ihr Jacko eingetrichtert. „Benenn dein Ziel und drück ab. Der Minitorpedo findet seinen Weg dann selbstgesteuert.“
„Pakistanische Offizierin“, kommandierte Chanchala und besiegelte damit die Existenz des Dronbots namens Zohra Wur. Doch Zohra Wur lebte weiter – als Maschinenintelligenz, die die Fäden des pakistanischen Geheimdienstes weiterhin in der Hand hielt. Sie schwor Rache und beauftragte ihren Agenten Wladimir Grojatin, die Flüchtigen zu verfolgen. Dabei ging es ihr aber auch noch um ein anderes Ziel: das Chip-Implantations-Know-how von Natalja Tromstein, Karels Mutter, die ein paar Jahre zuvor unter geheimnisvollen Umständen aus Prag verschwunden war. Durch Botschaften, die Karel in seinem implantierten Chip von ihr erhalten hatte, konnte Jacko endlich Informationen über ihren Aufenthaltsort ermitteln. Doch diese Hinweise blieben nicht vor dem pakistanischen Geheimdienst verborgen.
Über verschlungene Wege gelangten Karel und Jacko in Begleitung von Chanchala schließlich zu dem Ort, wo Karels Mutter seit Jahren gefangen gehalten wurde: dem Lager einer christlichen Sekte mitten in der äthiopischen Wüste. Damit waren sie eigentlich am Ziel von Karels Odyssee, die zwei Monate zuvor unter dramatischen Umständen in Prag begonnen hatte. Karel hatte sich auf den Weg gemacht, um seine Mutter zu suchen. Monatelang hatte er zuvor gebastelt und programmiert, um aus seinem Schülerassistenz-Dronbot Jacko einen hyperintelligenten und ungesetzlichen Helfer zu machen, damit dieser ihm bei seiner Mission beistehen solle. Doch schon die erste Aktion des Dronbots führte zu einer Katastrophe, denn Jacko erschoss mit einem geraubten Plasmabeamer ein unerwartet auftauchendes Mädchen. So kam Jelena Grojatin, die Tochter des ISI-Agenten in Prag ums Leben.
Karel erkannte die sterbende Jelena nicht, aber er wusste sofort, dass er aus Prag fliehen musste, um nicht für den Mord seines illegal manipulierten Dronbots verantwortlich gemacht zu werden. Allerdings wusste Karel nicht, dass es eine Verbindung der Familien Grojatin und Tromstein gab, denn Wladimir Grojatin und Karels Eltern, Natalja und Václav Tromstein, hatten gemeinsam in der Firma ChipyProTebe an Neurointeraktions-Chips gearbeitet, bevor Grojatin vom pakistanischen Geheimdienst entführt worden war. Und er wusste nicht, dass sein Vater ein Verhältnis mit Grojatins Frau Alina gehabt hatte.
Tragischerweise kamen Karel, Jacko und Chanchala zu spät ins Wüstenlager der Sektierer, denn Natalja war nur wenige Tage zuvor an einem Schlaganfall gestorben. Nicht genug damit, denn ungewollt führten die drei auch Grojatin dorthin. In einem dramatischen Show-Down in der Kirche des Lagers gelang es ihm sogar, die Urne der Verstorbenen an sich zu reißen. Karel und Chanchala konnten nur ahnen, weshalb er sie haben wollte…
Nicht weniger erfolgreich war ein anderer Spezialagent des pakistanischen Geheimdienstes, der sich Ben Ahmed nennt und ein interner Konkurrent von Grojatin ist. Sein Operationsfeld ist die Firma Genimals in Bengaluru, die auf die Züchtung gentelligenter Tiere spezialisiert ist. Durch Gewaltandrohungen und letztendlich die Entführung von dessen Tochter Chanchala durchbrach er den Widerstand des Management Directors, Ramsullah Abdurahman, der schließlich seine Firma für die Massenproduktion von afrikanischen Wildhunden zur Verfügung stellte.
Zusammen mit ominösen Neurointeraktions-Chips, die Grojatin in der ISI-Zentrale in Karachi produzieren lässt, soll all das in ein kriminelles Projekt einfließen. Es trägt den Namen „Kaschmir“…
Einige Orte, die im Laufe der Handlung eine Rolle spielen
Ein in wüstenbraunen Tarnfarben gehaltener Skaitruck schraubt sich dröhnend durch den Luftraum über der Ogadenwüste. Soeben hat das Fluggefährt in Form eines abgeflachten Zylinders die umkämpfte Grenzregion zwischen Äthiopien und Somalia verlassen und fliegt nun geradewegs auf die Küstenstadt Hobyo zu. Grojatin hat den Autopiloten eingeschaltet und schließt im Cockpit die Augen. Er hat seine erste Auswärts-Mission erfolgreich abgeschlossen und damit seine Loyalität zum pakistanischen Geheimdienst ISI unter Beweis gestellt. Dies könnte Zohra Wur, die übermächtige Geheimdienstoffizierin bewegen, ihm mehr Handlungsfreiheit und vielleicht auch mehr Verantwortung zu geben. Grojatin sieht bereits die Rangabzeichen eines Hauptmanns an seinem Revers glänzen. Eine einzigartige Karriere für jemanden der vor zwei Jahren vom ISI entführt und zur Mitarbeit gezwungen wurde. Der Gedanke an die Entführung führt Grojatins Gedankenfilm zu seinem Leben in Prag. Er seufzt, weil er mit einem Mal Alinas Gesicht vor sich sieht. Ihre kristallblauen Augen schauen ihn an, ihre Lippen bewegen sich, doch er kann sie nicht verstehen.
Plötzlich schallt ein unterbrochener Pfeifton aus den Deckenlautsprechern der Kabine. Gleichzeitig beginnt Grojatins Sessel heftig zu vibrieren und eine Stimme ertönt: „Eingriff vom Fahrzeugführer erforderlich. Eingriff vom Fahrzeugführer erforderlich.“
Grojatin schreckt hoch. Auf einer Anzeigetafel liest er die Worte „Aufforderung zur sofortigen Landung erhalten. Sofort landen?“
„Kamerabilder anzeigen!“, hört er sich sagen. Das war Zohra Wur. Immer noch übt sie durch den neurologischen Interface-Helm an seinem Hinterkopf die Kontrolle über ihn aus. Auf einem Bildschirm flackern die Bilder der in alle Himmelsrichtungen ausgerichteten Außenkameras auf. In einem Bild ist die Vorderansicht eines Polizei-Skaikas zu erkennen, das sich bis auf einen kurzen Abstand dem zylinderförmigen Skaitruck genähert hat und nun direkt hinter ihm fliegt.
„Verdammt! Wo kommt der denn plötzlich her, hier mitten in der Wüste?“
Er unterdrückt einen Reflex, den staatlichen Verfolgern davonzufliegen: ein Fluchtversuch wäre mit seinem schwerfälligen Fluggerät aussichtslos. Hätte er damals nur den schnellen Skaika genommen, den der fettleibige pakistanische Botschafter in Dschibuti für ihn vorgesehen hatte! Stattdessen hatte er, gezwungen durch Zohra Wurs Neurointeraktion, auf den zylinderförmigen Transport-Skaitruck bestanden.
Grojatin versucht, seine Handlungsoptionen einzuschätzen: Wenn er jetzt landete, würde er in die Hände somalischer Polizisten fallen. Dann würden sie, wenn sie es nicht eh schon wüssten, schnell herausbekommen, dass er ohne Sondererlaubnis aus dem äthiopischen Kriegsgebiet gekommen ist und sich in den somalischen Teil der Ogadenwüste eingeschlichen hat. Seine Reise würde ein abruptes Ende finden, eine Inhaftierung das Glimpflichste, was in der angespannten Lage dieser Grenzregion zu erwarten wäre.
Könnte er die polizeiliche Landeaufforderung einfach ignorieren? Er würde mit hoher Wahrscheinlichkeit in den Genuss einer Salve Polizeiraketen kommen, was seine Mission wohl ebenso schnell zum Teufel gehen ließe wie bei Option 1 – nur deutlich unangenehmer.
Rasend kreisen Grojatins Gedanken, ohne einen Ausweg zu finden. Abgespannt weitet er die Augen und reibt seine schweißnassen Finger gegeneinander.
„Geh in den Laderaum!“
Grojatin schreckt hoch. Was hat er gerade gesagt?
„Geh in den Laderaum!“, wiederholt Zohra Wurs Stimme aus seinem Mund.
„Eingriff vom Fahrzeugführer erforderlich. Eingriff vom Fahrzeugführer erforderlich. Aufforderung zur sofortigen Landung erhalten. Sofort landen?“, wiederholt die nervige Stimme aus dem Deckenlautsprecher.
„Nun mach schon!“
Grojatin erhebt sich aus seinem Sitz. Wie in Trance ergreift er das Geländer der Treppe, die das Cockpit mit dem Laderaum verbindet, und steigt hinunter. Von draußen ist inzwischen Sirenengeheul zu vernehmen.
Er zieht eine der Kisten aus dem hinteren Teil des Frachtraums hervor und öffnet sie. In düsteren Grüntönen drängen sich vier armlange Flugabwehrraketen aneinander.
„Eine reicht“, hört er sich sagen. Er wusste noch nicht einmal, dass er diese gefährliche Fracht mit sich führte. Und er weiß eigentlich auch nicht, was er als nächstes damit tun wird. Doch er tut es. Er bückt sich und öffnet eine längliche Klappe im Boden, die eine rohrförmige Aussparung freigibt. Vorsichtig nimmt er eine Granate aus der Kiste und legt sie in das Laderohr.
„Andersrum, mein Guter!“ Zohra Wurs Stimme hat einen ungewohnt milden Tonfall angenommen, der weder zu Grojatins Gemütszustand noch zu seiner Lage zu passen scheint.
Er wendet die Granate, schließt die Klappe, richtet sich auf und schaut sich um.
„An der Wand gegenüber.“
Blinzelnd erkennt er an der Innenwand des Laderaums einen Bildschirm.
„Kamerabilder anzeigen!“
Wieder erscheinen die Bilder der Außenkameras. Auf einem sieht man deutlich das Polizeiskaika, unter dessen Boden inzwischen ein Kanonenrohr hervorragt.
„Zieldefinition!“
Grojatin tippt mit dem Finger auf die Frontscheibe des Polizei-Skaikas.
„Feuer!“, hört er sich rufen. Die Milde ist aus Zohra Wurs Tonfall verschwunden.
Im Zentrum des Kamerabilds, wo bis eben noch das Polizei-Skaika im Wüstenlicht flimmerte, leuchtet ein Feuerball auf, der schnell kleiner wird.
„Gut gemacht!“, nickt Grojatin, und er weiß nicht, ob es Zohra Wur ist, die ihn mit diesen Worten lobt, oder umgekehrt. Oder ob er sich gerade selbst von der Schuld für den Mord an zwei somalischen Polizisten freispricht.
In einem Raum, der dem Jugendzimmer von Jelena Grojatin zum Verwechseln ähnelt, sitzt in einem Sessel ein Dronbot, der Jelena Grojatin zum Verwechseln ähnelt. Schulterlange dunkle Haare umrahmen seine rosigen Wangen. Hellwach blitzen dunkle Augen unter den markanten Augenbrauen hervor. Aufmerksam beobachtet er Václav Tromstein und Jelenas Mutter Alina, die sich neben ihm weinend in den Armen liegen. Wiehernde Pferdeköpfe, die aus Skaikafenstern herauslachen, zieren das Sofa, auf dem sie sitzen. Aus einem großformatigen Bildschirm an der Wand strahlt eine grellgeschminkte chinesische Sängerin in den Raum. Daneben leuchten auf ähnlichen Displays ein Buddhakopf mit geschlossenen Augen und ein Familienbild der Grojatins. In zwei künstlichen Fenstern ragen, aus der Perspektive des 52. Stockwerks der Krystalová ulice 23 gesehen, Wolkenkratzer in den Himmel über Prag. In einer Ecke des Raumes steht ein Bürotisch in den Farben von Jelenas Schreibtisch: rote Kreise auf hellgrünem Grund.
Doch dieser Raum ist nicht Jelenas Jugendzimmer und befindet sich auch nicht im 52. Stockwerk der Krystalová ulice 23, sondern im Erdgeschoss des Urnendepots des Prager Zentralfriedhofs. Er dient der Begegnung der Angehörigen mit ihren Verstorbenen. Dass er wie ein Ort erscheint, den die Verstorbene besonders geliebt hat und dessen Aussehen dreidimensional simuliert wird, ist der „elektronischen Chamäleontechnik“ zu verdanken: Sobald Alina Grojatin den Raum betritt, legt sich ein Abbild von Jelenas Zimmer über den Raum, und der Boden, die Wände und sogar die Oberfläche der Möbel erscheinen in den Farben, Mustern und Texturen, die sie nach dem Tod ihrer Tochter dafür ausgewählt hat.
„Du kommst zu spät, um Jelenas Vater zu sein!“, schluchzt Alina und auch Václav kann die Tränen nicht mehr zurückhalten. Alina hat weiche Gesichtszüge, die von Ringen unter ihren Augen überlagert sind. Unter ihren kurzen Stoppelhaaren sind bereits einige graue Exemplare zu erkennen. Václav ist ein untersetzter End-Vierziger, dessen ungekämmtes Kraushaar schon auf dem Rückzug ist.
„Mein Gott, es ist also wahr! Wir hatten ein Kind zusammen!“
Alina nickt mit geschlossenen Augen.
„Dann war Jelena Karels Schwester…“
„Ich bin ganz verwirrt“, schaltet sich der Jelena-Dronbot ein, der die ganze Szene staunend verfolgt hat. „Ich habe doch gar keinen Bruder!“
Václav löst sich behutsam aus Alinas Armen und betrachtet den Dronbot nachdenklich. Alina wischt sich die Tränen aus dem Gesicht.
„Ja, das konntest du nicht wissen, Jelena.“ Sie zieht schniefend Luft durch die Nase. „Es war besser für uns, dass du als Wladimirs Tochter aufgewachsen bist.“
„Besser für uns? Was heißt das? Und wer ist dann mein Vater, wenn nicht Papa?“
Alinas und Václavs Blicke treffen sich in einem Nebel aus Schmerz und Trauer, der zwischen ihnen steht.
„Der da?“ Der Dronbot zeigt verächtlich mit dem Finger auf Václav und kneift gekränkt die Augen zusammen. „‚Trau niemals einem Fremden‘ hat Papa immer gesagt.“
„Er ist kein Fremder, Jelena! Er ist ein Freund. Ein Arbeitskollege von Papa. Und er hat einen Sohn, der etwas älter ist als Du. Sein Name ist Karel.“
Jelenas Stimme wird plötzlich laut. „Ich wollte doch immer einen Bruder oder eine Schwester haben! Aber Ihr habt es mir verheimlicht!“ Ihr Blick pendelt zwischen ihren Eltern hin und her. Sie ist auf einmal so wütend, wie man es bei einem Dronbot nicht erwarten würde.
Václav räuspert sich.
„Aber, Jelena. Es ist doch nicht zu spät! Dein Bruder lebt ja noch”, versucht er den Dronbot zu beruhigen. Doch vergeblich. Jelena springt auf und schlägt mit ihren Fäusten in die Luft, als würde sie auf unsichtbare Trommeln einschlagen.
„Nicht zu spät, nicht zu spät? Was soll das schon wieder heißen: ‚Nicht zu spät‘? Kann ich denn jetzt noch einen Bruder haben? Bin ich nicht …“
„Nein. Bist du nicht!“ Alina fährt vehement dazwischen. „Nein, du bist …“ Sie starrt den Dronbot an, als würde sie ihn hypnotisieren wollen. Schwer atmend hebt und senkt sich ihre Brust. „…nicht fertig, … nicht komplett, … nicht abgeschlossen... Du kannst noch einen Bruder haben!“
„Ja, warum nicht?“, nickt Václav zu Boden blickend. „Wir müssen ihn nur finden.“ Er seufzt. Als er seine Augen wieder aufrichtet, sieht er den Dronbot in einem merkwürdigen Zustand. Stehend verharrt Jelena, die Fäuste immer noch schulterhoch in der Luft haltend. Ihre Augen sind auf die Tür gerichtet, und sie murmelt vor sich hin: „Ich kann noch einen Bruder haben. Ich kann noch einen Bruder haben. Ich bin nicht fertig, nicht komplett, nicht abgeschlossen.“ Mantraartig wiederholt sie diese Sätze immer wieder, ohne ihre Haltung zu verändern.
Verwundert lauschen Alina und Václav ihren Worten.
Plötzlich öffnet sich geräuschvoll die Tür, auf die Jelena ohne Unterlass gestarrt hat. Alina und Václav fahren herum. Vor ihren Augen betreten drei Polizisten in Uniform den Raum. Alle drei haben ernste Mienen aufgesetzt. Einer von ihnen ist ein Ordnungshüter-Dronbot, der besonderes grimmig dreinschaut. Die drei fächern sich auf und kommen langsam auf Václav, Alina und Jelena zu, die ihnen vom andern Ende des Raumes sprachlos entgegenblicken.
„Nennt sich einer von Ihnen ‚Václav Tromstein‘?“, durchbricht der Polizist, der in der Mitte geht, die Stille, die sich über den Raum gelegt hat. Er fixiert Václav, auf den diese Frage als einzigen sinnvollerweise zutreffen kann.
„Ich nenne mich nicht nur so, ich bin es auch“, gibt Václav trotzig zurück.
„Sie sind verhaftet!“
Václav wird blass: „Weshalb? Ich verstehe nicht, was das soll!“
„Beihilfe zur Flucht eines Angeklagten. Sicherheitsverwahrung wegen Fluchtgefahr“, rezitiert der Polizei-Dronbot.
„Welcher Angeklagte? Ich weiß von gar nichts!“ Während sich ihm der zweite Polizist mit gezückten Handschellen nähert, weicht Václav zurück, bis er mit dem Rücken vor dem Fenster mit der Prager Skyline steht.
Wieder erhebt der Ordnungshüter seine monotone Stimme: „Ihr Sohn wird angeklagt wegen Entwendung eines Skaikas, Raub einer Dienstwaffe, Angriff auf die öffentliche Ordnung, Zerstörung eines Ordnungshüters und Mord an einer Minderjährigen. Sie haben seine Flucht gedeckt und sind der Mitwisserschaft verdächtig.“
„Mord an einer Minderjährigen?“ Auf dieses Stichwort hin erwacht Jelena aus ihrer Erstarrung. „Ich wurde auch ermordet! Aber diesen Herrn hier werden Sie nicht abführen! Er ist mein Vater!“
Sie stellt sich vor Václav und breitet schützend ihre Hände aus.
Die beiden Polizisten bleiben stehen. „Wer bist denn Du?“, fragt derjenige mit den Handschellen verdutzt.
„Ein Begegnungsdronbot des Prager Zentralfriedhofs. Er arbeitet hier“, erläutert der Ordnungshüter, der seinen Artgenossen längst identifiziert hat.
„Ich heiße Jelena und werde nicht zulassen, dass Sie mir meinen Vater wegnehmen!“, schreit Jelena und blickt mit wildem Blick von einem Polizisten zum anderen.
Der mittlere Polizist zieht seinen Plasmabeamer.
„Wir können auch anders“, erwidert er trocken und richtet die Waffe auf Jelena, die immer noch vor Václav steht.
„Nein, das werden Sie nicht tun!“, ruft ihrerseits nun Alina und ergreift den Unterarm des Polizisten mit der Waffe. Zornig versucht dieser, seinen Arm zu befreien. Doch Alina drückt mit beiden Händen die gezückte Waffe zu Boden.
Auf einmal durchflutet helles Tageslicht den Raum. An der Stelle des Fensters, das den Blick aus dem 52. Stockwerk der Krystalová ulice 23 simuliert, hat sich eine Schiebetür geöffnet. In Sekundenschnelle drängt Jelena ihren Vater aus der Öffnung ins Freie.
Ehe Václav begreift, was passiert, stehen beide auf dem Grünstreifen, der das Urnendepot umgibt. Unwirklich schön glitzert tief unter ihnen die Moldau in der warmen Nachmittagssonne. Václav dreht sich um, in der Erwartung von den Polizisten überwältigt zu werden. Doch mit einem hohen Summton hat sich die Schiebetür hinter ihnen bereits wieder geschlossen.
„Mann, was ist mit uns passiert?“
„Ich habe mir erlaubt, die Tür zu öffnen. Das war in dieser Situation der einzige Ausweg“, erwidert Jelena.
„Darfst du das? Ich meine, wie hast du das geschafft?“
„Das war einfach. Ich habe Zugriff auf die Chamäleon-Steuerung der Begegnungsräume. Türen öffnen ist dabei das Geringste.“
„Gut!”, stammelt Václav sichtlich verwirrt. „Was machen wir jetzt? Die Polizisten werden uns hier gleich schnappen.“
„Wir haben Zeit. Die kommen da nicht so schnell wieder raus.“
„Wieso, die brauchen doch nur um’s Gebäude rumzulaufen!“
„Ich habe beim Rausgehen alle Türen verschlossen und das Erscheinungsbild des Raumes etwas verändert. Es ähnelt jetzt eher einem Spiegelkabinett.“
Ein freches Lächeln legt sich auf das mädchenhafte Gesicht des Dronbots.
„Oh!“ Václav zieht die Augenbrauen hoch. In seinem Gehirn purzeln in Gedankenschnelle Handlungsoptionen und Varianten durcheinander. Er atmet schwer. Hoffnung und Verzweiflung kämpfen in seiner Brust. „Dann habe ich keine Zeit zu verlieren. Mein Skaika steht hinter dem Krematorium.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, läuft er los, bleibt aber nach wenigen Schritten stehen und dreht sich um.
„Du kommst doch mit, oder nicht?“
Jelena steht noch immer vor dem verschlossenen Notausgang. Sie hat die Hände in die Hüften gestemmt und den Kopf schräg gelegt.
„Wenn ich darf?“
„Ich bitte darum. Wir haben doch das gleiche Ziel.“
„Ja, ich will meinen Bruder finden!“
In der Siedlung der Christen von Jericho herrscht Trauer und Aufregung. Grojatins Attacke, durch die der einzige Priester der Exilgemeinschaft getötet und ein Messdiener schwer verletzt wurden, liegt erst zwei Tage zurück.
Chanchala, Karel und seinem Dronbot Jacko wurde ein Gästehaus in der Siedlung angeboten, das sie nach kurzem Zögern bezogen haben. Karel ist argwöhnisch und vorsichtig gegenüber den Menschen, die seine Mutter jahrelang in Gefangenschaft gehalten haben. Chanchala und Jacko konnten ihn jedoch überreden, in der Siedlung der Christen etwas auszuruhen. Außerdem können sie Hilfe gebrauchen, um die Schäden an Jackos Bauchmodul, das von Grojatin durchschossen wurde, zu reparieren.
Karel und Chanchala stehen in der gleißenden Vormittagssonne vor der Werkstatt, in der sich ein freundlicher Techniker um Jacko kümmert.
„Ich habe viel Zeit mit deiner Mutter verbracht.“ Karel fühlt sich am Ärmel gezupft. Als er sich umwendet blickt er in das faltige Gesicht einer Frau. Wie alle erwachsenen Frauen in der Siedlung trägt sie ein helles Kopftuch und einen sandfarbenen Kaftan. Ihre dunklen Augen leuchten geheimnisvoll. Karel ist sich nicht sicher, ob ihn dieser Blick durchbohren oder aussaugen will.
„Ach ja?“
Die Frau senkt die Stimme und streckt sich näher an Karels Ohr: „Ich war für sie zuständig. Ihre … Seelsorgerin, sozusagen.“
„Sagen Sie lieber ‚Bewacherin‘, das wäre ehrlicher!“
Die Alte lacht heiser: „So hat sie mich auch genannt. Zu Anfang. Doch ich habe ihr viel erklärt. Und sie hat viel verstanden.“
„Und dann… fühlte sie sich nicht mehr bewacht?“
„Ja, richtig. Eine Bewachung war auch gar nicht nötig. Aus diesem Wüstenlager kommt man so schnell nicht weg. Sie hat bald verstanden, dass es das Beste ist, wenn sie einfach hierbleibt.“
Karel schnappt nach Luft. „Das Beste? Das Beste für wen?“ Er muss an die ungezählten Stunden denken, in denen er um seine Mutter geweint hat. An die Tage, an denen er alles dafür gegeben hätte, um sie wiederzusehen. An die Wochen, in denen er alle Hoffnung aufgegeben hatte.
„Das Beste für die Welt. Und das Beste für sie. Weißt Du, Junge, das verstehst du noch nicht. Sie wusste zu viel.“
„Sie wusste zu viel? Sie wusste zu viel für diese Welt? Und deshalb musstet Ihr sie kaltstellen?“
Die Augen im faltigen Gesicht der Alten verengen sich zu zwei dunklen Schlitzen, aus denen Unsagbares herausblitzt.
„Wir haben sie nicht kaltgestellt. Wir haben sie gerettet.“
„Gerettet?“ In Karels Augen schießen Tränen ein. „Ihr religiösen Fanatiker! Natalja Tromstein lebt nicht mehr – und ich habe keine Mutter mehr!“
Die Alte wird plötzlich unsicher und beginnt zu murmeln: „Ja, du hast recht. Das ist sehr traurig – nicht nur für dich. Der Schlaganfall kam so unerwartet, wie aus dem Nichts.“ Sie wird wieder energisch und packt Karels Arm: „Das musst du mir glauben – damit haben wir nichts zu tun! Wir wollten sie schützen, sie bewahren!“
“Wovor denn? Was wäre denn passiert, wenn Ihr sie mir nicht weggenommen hättet?“ Ungehalten versucht Karel, ihre Hand abzuschütteln.
„Dann wäre sie von ihnen geholt worden!“ Sie deutet vielsagend mit dem Kopf nach hinten. Karels Blick folgt der angezeigten Richtung. Über den Dächern der Hütten sieht er den breiten, nach oben offenen Kirchturm, aus dem vor zwei Tagen Grojatin in seinem Skaitruck entkommen ist - mit der Asche seiner Mutter an Bord. Er fühlt einen Stich in seinem Herzen.
Die Alte reckt sich mit einem Ruck nach oben und Karel spürt ihre rauen Finger an seiner Stirn.
„Te benedicat pater et filius et spiritus sanctus“, murmelt sie. Sie wirft ihm noch einen weiteren Blick zu und stößt sich mit einem leichten Ruck von ihm ab. Sprachlos blickt ihr Karel nach, wie sie im Schatten der Hauswand bis zur nächsten Ecke humpelt und verschwindet. Nur der muffige Geruch ihres Kaftans hängt noch in seiner Nase.
„Was sagst du dazu, Chanchala?“ Karel legt zärtlich den Arm um Chanchala, die das ganze Gespräch aufmerksam verfolgt hat.
„Das ist alles sehr geheimnisvoll.“
„Soll ich das wirklich glauben? Diese Religiösen meinen immer, sie haben die Erkenntnis für sich gepachtet. Und mit dieser Erkenntnis gehen sie über Leichen!“
„Sie hat gesagt, dass sie den Tod deiner Mutter nicht gewollt haben!“
Karel löst sich von Chanchala: „Glaubst du das?“
Chanchala wiegt den Kopf hin und her: „Es klang ehrlich.“ Und nach einer Pause: „Aber wenn wir sicher gehen wollen, gibt es nur einen Weg, es rauszufinden.“
Karel nickt: „Wir müssen an ihren Chip rankommen. Wenn wir den auslesen, dann erfahren wir auch, was in ihrem Wissen so einzigartig war, dass man sie entführen musste.“
„… um sie vor einer anderen Entführung zu bewahren“, ergänzt Chanchala.
„Und dieses Wissen könnte auch der Schlüssel sein, um deine Blindheit zu heilen!“ Karel neigt den Kopf, um Chanchala zu küssen. In diesem Moment tritt Jacko vor die Tür der Werkstatt. Stolz hebt er sein Hemd und streckt seinen Bauch in die Sonne:
„Master, ich bin wieder gesund!“
Karel richtet sich seufzend auf, ohne Chanchalas Lippen berührt zu haben. Dann betrachtet er seinen Dronbot und nickt anerkennend: „Das sieht richtig gut aus.“ Und zu Chanchala gewandt: „Wenigstes eine Sache, zu der diese Christen gut sind. Fühl mal!“
Zögernd nähert sich Chanchala dem androiden Wesen.
„Darf ich?“, fragt sie.
„Jederzeit!”, gibt Jacko lächelnd zurück. „Dronbots lieben es, berührt zu werden.“
Vorsichtig gleiten Chanchalas Finger über Jackos Bauch, in dem am Morgen noch ein großes Loch klaffte.
„Es kitzelt, wenn du so zärtlich bist!“, kichert Jacko und Chanchala, die bisher wenig Zuneigung zu dem Maschinenmann empfand, kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.
Karel hat plötzlich einen trockenen Hals. Zum ersten Mal hat er ein Gefühl, das man Eifersucht nennen könnte.
Er räuspert sich. „Schön, dass ihr euch so gernhabt, meine Lieben. Aber wir haben Wichtiges zu besprechen.“
Chanchala wendet kurz den Kopf, ohne jedoch aufzuhören, den Körper des Dronbots zu befühlen. Ihre Finger tasten sich nun auch zu Jackos Brust und Armen empor, was Jacko breit grinsend und glucksend geschehen lässt.
„Das gilt insbesondere für meinen Dronbot!“ ruft Karel ungehalten.
Chanchala löst die Finger von Jackos Hals: „Was hast du denn zu besprechen, Lieber?“
Diese ungewohnte Anrede und ihr warmer Tonfall löschen den Groll, der sich gerade aus Karels Kehle entladen wollte.
„Wir sollten aufbrechen“, ist alles, was er hervorbringt.
„Warum, wenn ich fragen darf, Master?“, wendet Jacko ein. „Wir sind hier doch gut aufgehoben, und der Plan, Frau Natalja Tromstein zu finden, wurde ausgeführt.“
Karel schluckt. „Nein er wurde nicht ausgeführt! Meine Mutter ist zwar tot, aber wir haben sie noch nicht gefunden.“ Er muss aufsteigende Tränen unterdrücken. „Wir haben sie erst gefunden, wenn wir ihre Urne wieder in den Händen halten!“
„Master, geht es dabei um eine Frage der religiösen Sentimentalität? So etwas wie gefühlte Verbundenheit? Ich habe davon gehört.“
„Nein, geht es nicht!“ Karels Stimme hat etwas Bedrohliches angenommen. Die Unterstellung, er hätte religiöse Gefühle, macht ihn wütend.
Chanchala versucht, ihn zu beschwichtigen: „Karel, davon versteht doch dieser Maschinen-Junge nichts. Außerdem weiß er noch gar nichts von dem Chip in der Urne.“
Karel holt tief Luft: „Okay, Jacko. Ja, Chanchala hat Recht. Manchmal vergesse ich, dass du nur ein Dronbot bist.“
„Von ‚nur‘ kann keine Rede sein, Master. Ich verfüge über 48 Kommunikationskanäle, mein Ähnlichkeitskoeffizient liegt über 98%, mein IQ bei 120. Außerdem bin ich mit einem neuronalen Netzt von über 100 Petasyn ausgestattet …“
„IQ nur 120?“, unterbricht Karel. „Oh nein, du bist durch die Bauchverletzung wohl wieder in den Schülerassistenz-Modus zurückgefallen! Warte, das haben wir gleich!“
Er fingert an seinem Fernsteuerarmband herum. Jacko quittiert die Umschaltung in den Vollkompetenz-Modus, ohne mit der Wimper zu zucken. Doch er runzelt die Augenbrauen und sagt: „Ich erkenne eine Gedächtnislücke in meinem Chronik-Speicher. Master, was ist in dieser Zeit passiert?“
Während sie zu ihrem Gästehaus zurückkehren, klären Karel und Chanchala den Dronbot über die schrecklichen Ereignisse auf, die in der Kirche passiert sind, nachdem ihn Grojatin mit einem Schuss aus dem Plasmabeamer ausgeschaltet hat. Wie der Russe erst Chanchala in seine Gewalt bekam, sie dann aber wieder freiließ, um die Urne von Natalja Tromstein in seinen Besitz zu bekommen. Wie er sich dann mit seinem Skaitruck davonmachte und seitdem nicht wiedergekommen ist. Und sie berichten Jacko über ihre Vermutungen über den Inhalt der Urne.
„Jacko, kann es sein, dass ein Neuroimplantationschip eine Einäscherung übersteht?“
Der Dronbot braucht nicht lange zu überlegen: „Das ist bei einer herkömmlichen Verbrennung unwahrscheinlich. Im Falle einer Gamma-Kremierung würde jedoch eine Schutzschicht gegen radioaktive Strahlung reichen, um einen Chip funktionsfähig zu halten, Master. Allerdings werden solche Protektionsschichten nur äußerst selten eingesetzt. Eigentlich nur für Anwendungen beim Militär, im Weltraum oder für Forschungszwecke.“
„Eben, und dieser Chip war Teil eines Experiments in einer industriellen Entwicklungsabteilung.“
„Dann ist es nicht auszuschließen.“
„Jacko, wir müssen Grojatin finden!“
Die drei brauchen nicht lange, um sich für die Abreise vorzubereiten. Von den Jericho-Christen erhalten sie Proviant und andere Ausrüstungsgegenstände. Außerdem erhalten sie eine Wasserstofffüllung für ihr Airka, ein dachloses Flugfahrzeug mit trapezförmig angeordneten Rädern. Der ältere Herr italienischer Abstammung, der seit dem Tod des Priesters die Leitung der Gemeinde übernommen hat, scheint damit sein schlechtes Gewissen beruhigen zu wollen.
„Wir sind froh, dass sie uns gefunden haben, Herr Tromstein“, sagt er mit einer leichten Verbeugung zum Abschied.
„Das sagen Sie nur, weil meine Mutter jetzt tot ist!“ Karel steht aufrecht neben dem Airka und hat die Hand auf das Fahrzeug gelegt.
„Sagen Sie das nicht!“, versucht ihn der Gemeindeleiter zu beschwichtigen. „Ihr Tod hat uns alle sehr getroffen. Es hätte nicht passieren dürfen.“
Karels Augen füllen sich mit Tränen. Er ringt nach Worten.
„Auch wir bedauern den tragischen Tod Ihres Priesters!“ Karel blickt erstaunt auf Jacko, der diese Worte gesagt hat und bereits im Airka Platz genommen hat.
„Und wir bedanken uns für die Reiseausstattung.“ Chanchala zieht Karel auf den Sitz neben sich.
Mit unsichtbaren und unhörbaren Kommandos lässt Jacko das Airka starten. Kurz darauf überfliegen sie den Mauerring, der die Siedlung der Christen von Jericho umschließt, und fliegen zwischen Windrädern hindurch in Richtung Osten.
„Kurs Richtung Hobyo bestätigt“, lässt sich eine blecherne Stimmung aus der Konsole des Airkas vernehmen.
„Grojatin, wir kommen!“, stößt Karel zwischen den Zähnen hervor.
„Und wir kriegen dich!“, ergänzt Chanchala nicht weniger entschlossen.
Nur Jacko schweigt. Sein Blick ist fest auf den Horizont gerichtet.
Angespannt windet Ben Ahmed seinen Kopf hin und her. Noch hat er sich nicht an das feste Band gewöhnt, das seit wenigen Tagen seinen Hals umschließt und von hinten mit seinem Rückenmark verbunden ist. Es ist ein Kontrollring, mit dem Zohra Wur auf sein Nervensystem einwirkt. Mit dem sie seine Bewegungen manipulieren, seine Gefühle beeinflussen und zumindest indirekt auch seine Gedanken leiten kann. Sie, die durch Chanchalas Schuss aus der Torpedo-Pistole ihre Dronbot-Gestalt verloren hat, kann nun auch durch ihn weiter handeln. Nein, sie hat ihn nicht gezwungen, ihr seinen Körper zur Verfügung zu stellen. Im Gegenteil. Er hat sie sogar darum gebeten.
Aber noch hindern die ungewohnte Zwinge und der Eingriff in seine Halswirbelsäule Ben Ahmed, die Annehmlichkeiten auszukosten, die ihm durch seine neu errungene Stellung in der Firma Genimals zuteilgeworden sind. Er hat das fürstlich ausgestattete Arbeitszimmer im obersten Stockwerk der Firmenzentrale erhalten, das zuvor dem Management Direktor der Firma, Ramsullah Abdurahman, gehörte. Assistentinnen in traditionellen Saris bringen auf Knopfdruck fermentierte Heißgetränke, kühle Erfrischungsdrinks oder Süßigkeiten. Er sitzt in einem gepolsterten Sessel mit weichen Armlehnen, der an einem gefederten Stab von der Decke herunterhängt. Vor ihm liegt ein kleines Tigerweibchen, auf dessen Rücken er seine gestreckten Beine ablegt. Es ist zwar in Wirklichkeit kein biologisches Wesen, sondern ein Service-Dronbot im Tierkostüm. Aber es sieht einem Exemplar der seit 70 Jahren ausgestorbenen Gattung der Bengal-Tiger täuschend ähnlich und gehorcht dem Wort seines neuen Herrn wie ein Schoßhündchen. Doch auch diese extravagante Fußunterlage kann das Unwohlsein, das Ben Ahmed die Halszwinge bereitet, nicht ganz wett machen.
„Herr Generalbevollmächtigter. Der Management Direktor, Sri Ramsullah, bittet um ein Gespräch“, lässt sich eine zarte weibliche Stimme aus dem Maul des Tigerweibchens vernehmen, das dabei schräg den Kopf in den Nacken legt.
Ben Ahmed räuspert sich: „Soll reinko-…“ Er unterbricht sich, wendet den Blick auf ein Segment der holzgetäfelten Decke schräg über ihm und verbessert sich dann: „Er soll 15 Minuten warten. Ich bin beschäftigt.“
Nachdenklich lässt er seine Hand über den Metallring gleiten, der eng an seinem Nacken anliegt. War dieser spontane Sinneswandel auch eine Intervention Zohra Wurs? Woran kann er überhaupt erkennen, was seine oder die Gedanken der Maschinenintelligenz sind, der er sich freiwillig untergeordnet hat? Während sein Blick die in der indischen Mittagssonne flimmernde Silhouette von Bengaluru vor dem Fenster abtastet, wandern seine Gedanken zurück zu den Ereignissen der letzten Tage.
Alles begann mit einem Lapsus. Mit einer Nachlässigkeit, einer ausnahmsweisen Vergesslichkeit, die ihm in all den Jahren seiner Agententätigkeit für den ISI noch nie passiert ist. Am frühen Morgen des 25. Juli, gegen 4 Uhr 30, wurde er aus dem Schlaf gerissen. Feueralarm. In irgendeiner Wohnung der 160-stöckigen Schlafburg am Rand des Stadtteils Maleshwaram, in der er seit Beginn des Projekts Kaschmir sein Quartier hat, war ein Brand ausgebrochen. Nicht, dass ihn das in Panik versetzt hätte. Einen abgebrühten Agenten schreckt ein Feueralarm nicht. Er hatte sich ruhig fertig gemacht und sich über die Notabstiegsanlagen auf die Straße abgeseilt. Kurz darauf ging die Sonne auf, und die Anwohner konnten im rötlichen Morgenlicht beobachten, wie die rasch heranfliegenden Löschzüge das Feuer nach und nach unter Kontrolle brachten. Der Zugang in das gesamte Hochhaus jedoch blieb bis zum Abend gesperrt.
In einer Stadt wie Bengaluru ist es an und für sich kein Problem, einen Tag außerhalb seiner Wohnung zu verbringen. Es gibt zahllose Geschäfte, Restaurants und Vergnügungsstätten aller Art sowie genug Taxi-Skaikas, um von einem Ort zum anderen zu kommen. Ben Ahmed nahm an diesem Morgen ein ausgiebiges Frühstück in einem nahegelegenen Sofa-Haus ein und schlenderte dann zu einem Skaika-Händler, bei dem er Interesse an den neuesten Sportmodellen heuchelte. Nach drei Probeflügen über den Wolkenkratzern des Stadtzentrums zog er weiter und ließ sich in einem BIQAB1-Geschäft gentelligente Haustiere vorführen, darunter einen aufgeweckten Kranich und drei junge Schimpansen-Brüder.
Ben Ahmed verfolgt den Flug eines schnittigen orangefarbenen Skaikas vor seinem Bürofenster, während er versucht, sich zu entsinnen, wann genau ihm an jenem Tag auffiel, dass er den Kommunikationsring auf der Ablage neben seinem Bett vergessen hatte. Dieser Halsring war seine Verbindung zum ISI-Hauptquartier in Karatschi. Über ihn erhielt er täglich Befehle und Informationen der Leitungsebene und konnte Statusberichte nach oben weitergeben. Der Ring, den er damals nur tagsüber unter seinem Hemdkragen trug, war sein Draht zu Zohra Wur.
Ben Ahmed bemerkt, dass dem orangefarbenen Skaika in gleichen Abständen eine Reihe anderer Skaikas folgen. Sie fliegen so nah an seinem Fenster vorbei, dass Ben Ahmed trinkende Menschen und lachende gentelligente Paviane darin ausmachen kann. Plötzlich hat er die Szene wieder vor Augen: Eine elegant gekleidete Dame lief über den zentralen Kommunikationsplatz von Maleshwaram. Neben ihr trappelte ein gentelligenter Zwergpanda, der ihre Tasche trug und den sie mit einer Fernsteuerung unter Kontrolle hielt. Wann immer er sich zu weit von ihr entfernte, zog ihn eine unsichtbare Kraft wieder zurück zu seiner Herrin.
„Wieso hält man ein gentelligentes Tier an einer elektronischen Leine?“, hatte er sich gefragt. In diesem Moment fiel ihm auf, dass er selbst ohne seinen Kommunikationsring unterwegs war. Ein eiskalter Schauer durchlief ihn. Ohne Zeit zu verlieren, ließ er sich zurück zu seinem Wohnhaus fliegen und landete auf dem Dachparkplatz. Den wachhabenden Polizisten, der ihm wegen des morgendlichen Feuers immer noch den Zugang verwehrte, zu bestechen, war Routinesache. Er eilte in sein Zimmer, fand den Ring auf der Ablage neben seinem Bett und legte ihn an. Unmittelbar danach erreichten ihn die Botschaften Zohra Wurs, die sie im Laufe des Tages an ihn gesendet hatte. Erst die fragenden, dann die drängenden, schließlich die aggressiven. Er nahm sofort Kontakt auf.
„Bin wieder auf Leitung“, meldete er.
„Ah – Ben Ahmed! Ausgeschlafen?“ Das Bemerkenswerte an Zohra Wur war, dass sie ironisch sein konnte. Es wurde ihr sogar nachgesagt, dass sie lachen konnte.
„Es gab einen Zwischenfall. Das Haus hat gebrannt.“
„Aha, schade drum. Ist das ein Grund, den Kontakt abzubrechen?“
„Äh nein, ich kam nur über Stunden nicht an meinen Kommunikationsring …“ Ben Ahmeds Stimme war heiser. Er lauschte auf eine Antwort. Doch es kam nur Schweigen. Dann war die Verbindung beendet.
Schweigen kann schlimmer sein als Tadel. Ben Ahmed versuchte, wieder in Kontakt zu kommen. Schrieb Nachrichten. Sandte Codes, die seine Kontakt-Bereitschaft signalisierten.
Stunden später kam ein lapidarer Satz: „Mit Grojatin wäre das nicht passiert.“
Ben Ahmed wusste diese Nachricht zu lesen. Grojatin hatte den Kontrollhelm. Durch seinen Kontrollhelm war er in ständigem Kontakt mit Zohra Wur. Ausgerechnet Grojatin, dieser russische Parasit, war zu einer Inkarnation der Wur‘schen Maschinenintelligenz geworden. Diese Geisel, die sich aus der Gefangenschaft des ISI zu einem Agenten gewandelt hatte. Dieser Emporkömmling, dem nicht zu trauen war. Eine Welle von Neid und Wut stieg in Ben Ahmed auf. Obwohl er durchschaute, dass Wur mit ihrer Nachricht Grojatin nur benutzte, um ihn, Ben Ahmed, gefügig zu machen, konnte er dem Drang nicht widerstehen, nachzugeben. Er musste seine Loyalität beweisen. Er wollte sich nicht von Grojatin ausspielen lassen, doch er ließ es zu, dass Zohra Wur ihn ausspielte.
Zwei Tage später lag er auf dem Operationstisch. Den Ring mit einem festen Anschluss mit seinem Rückenmark zu verbinden, war ein kleiner Eingriff für einen Neuro-Chirurgen. Und ein deutliches Zeichen, dass er seinen Fehler wieder gut machen wollte.
Ben Ahmeds Blick gibt die optische Verfolgung der Feiergesellschaft in den vorbeifliegenden Skaikas auf und zieht sich wieder in die Umgebung seines Luxusbüros zurück.
„Er soll reinkommen!“ brummt er gerade laut genug, dass es der Tiger-Dronbot unter seinen Füßen vernehmen kann. Kurz darauf gleiten zwei Türhälften am anderen Ende seines Büroraumes mit leisem Surren in die Wand.
Eine in traditionellem Sari gekleidete Assistentin erscheint im Türrahmen: „Der Management Direktor, Sri Ramsullah.“
Mit einer leichten Verbeugung lässt sie den Besucher an sich vorbeigehen.
Ben Ahmed sieht Ramsullah näherkommen, ohne die Füße von seiner tigerhaften Unterlage zu nehmen. In seinen Augen ist ein triumphales Blitzen zu erkennen.
„Sie wünschen, Herr Generalbevollmächtigter?“ fragt Ramsullah mit trockener Kehle. Noch vor wenigen Monaten war er derjenige gewesen, der Ben Ahmed in seinem Büro empfangen hatte. Seitdem haben sich Ringe unter seinen Augen gebildet und sein Haar hat sich über den Schläfen merklich gelichtet.
„Es gibt Neuigkeiten, Herr Direktor.“
Ramsullah räuspert sich. Neuigkeiten von Befehlsgebern sind selten mit guten Nachrichten verbunden.
„Ich höre.“
„Wir hatten 300 Hunde für Anfang Dezember und 1000 Hunde für Anfang 2185 geplant.“
„Das ist richtig.“ Ramsullahs Kopf pendelt zustimmend hin und her.
Ben Ahmed drückt seine gespreizten Finger aneinander: „Wir brauchen 2000 Hunde. Ende Oktober.“
Ramsullah schreckt hoch: „Das, … das ist absolut unmöglich! Uns fehlen die Brutkapazitäten …!“
„Die können von den anderen BIQABs abgezweigt werden.“
„Wir brauchen mindestens zwei Monate für das Training...!“
„Die Zeit haben wir ja noch.“
„Die Tiere haben eine siebenwöchige Trächtigkeitsdauer…“
„… die man in vitro auf fünf Wochen reduzieren kann. Machen Sie mir nichts vor, Ramsullah. Ich habe mich informiert.“ Er verzieht sein Gesicht zu einem schiefen Grinsen. „Ich will diese Firma schließlich nicht wie ein Ignorant leiten.“
Ramsullahs Gesichtsausdruck friert ein bei diesen Worten. Nur beim Wort „leiten“ blinzelt er kurz. Er schweigt.
„Gut, dass Sie das einsehen, Herr Direktor.“ Ben Ahmed nimmt seine Füße von der Tigerunterlage und beugt sich vor. Seine Stimme wird plötzlich weich: „Wissen Sie, Veränderungen gehören zum Leben. Manche sagen sogar: Das Leben ist Veränderung. Ich weiß, dass es manchmal nicht leicht ist, das zu akzeptieren.“ Er schließt kurz die Augen und legt den Kopf leicht schräg. „Aber Sie kriegen das hin. Mit Ihrer Erfahrung!“ Er stößt vernehmbar Luft durch die Nase.
Ramsullahs Rücken versteift sich. „Noch etwas, Herr Generalbevollmächtigter?“
„Nein, das war’s für heute.“
Ramsullah wendet sich zum Gehen.
Als er an der Tür ist, wendet er sich noch einmal um und sieht, dass sein neuer Befehlsgeber wieder die Beine auf den Tiger gelegt hat und die Hände im Nacken verschränkt. Ben Ahmed setzt ein schräges Grinsen auf: „Das Leben steckt voller Überraschungen, nicht wahr, Ramsullah? Seien Sie neugierig auf morgen!“
Ramsullah starrt ihn an. Und obwohl er nichts hört, nimmt er ein tonloses, hämisches Lachen wahr.
Als sich die Türhälften hinter dem Management Direktor schließen, fahren Ben Ahmeds Finger wieder vorsichtig über die Kanüle, die vom Kommunikationsring in seinen Nacken führt. Er dreht langsam den Kopf hin und her. Ein Gefühl tiefer Zufriedenheit durchfährt ihn.
1 BIQAB: Boosted IQ animal beings, gentelligente Tiere, d.h. genmanipulierte Tiere mit erhöhter Intelligenz
Grojatin kauert auf dem Boden und fährt mit der Hand über seine Schläfe. Sein rechtes Auge ist geschwollen und an seinem Ohr klebt frisch verkrustetes Blut. Er würde gerne die schmerzenden Stellen an seinem Brustkorb in Augenschein nehmen, doch er kann in der vollkommenen Dunkelheit seiner Gefängniszelle nichts erkennen. Vorsichtig tastet er seinen Körper ab und versucht, das Ausmaß der Verletzungen, die ihm die Militärpolizisten zugefügt haben, zu ermessen. Erinnerungen an seine Haft beim ISI überkommen ihn. Damals wurde er wochenlang gefoltert, um seine Mitarbeit zu erzwingen. Die Brandnarben aus jener Zeit verunstalten immer noch seinen Körper. Aber auch sie sind im Dunkeln unsichtbar.
Grojatin stöhnt, während er sich an die kalte Wand sinken lässt. Er fragt sich, welchen Fehler er begangen hat. Hätte er das Polizeiskaika in der Ogadenwüste nicht abschießen sollen? War es zu dreist, danach den Kurs auf Hobyo beizubehalten und direkt Richtung Seebahnhof zu fliegen? Hätte er versuchen sollen, dem Geschwader von Militärpolizei-Skaikas, das ihm am Stadtrand von Hobyo auflauerte, zu entkommen? Wenn ja, wie?
Er zermartert sein Hirn, kann aber dennoch nicht erkennen, wie er dem Ablauf der Ereignisse hätte ausweichen können. Wie er hätte vermeiden können, dass sein Skaitruck zur Landung gezwungen und von Militärpolizisten umstellt wurde. Wie er hätte verhindern sollen, dass er nach dem Verlassen des Fahrzeugs mit erhobenen Händen grob zu Boden geworfen und gefesselt und in die Militärkaserne gebracht wurde. Wie er den Polizisten hätte ausweichen können, die ihn in der Verhörkammer mit Schlägen und Tritten malträtierten.
Warum hatte ihn das Elektronenhirn von Zohra Wur davor nicht bewahrt? Er streicht mit der Linken über seinen Hinterkopf und erschrickt: Der Kontrollhelm ist nicht mehr auf seinem Kopf. Ihm ist, bei all dem, was passiert ist, noch gar nicht aufgefallen, dass er den Helm nicht mehr trägt. Seit wann? Hat er ihn im Skaitruck abgesetzt? Ausgeschlossen. Dann hat er ihn vielleicht bei der Festnahme verloren, als er auf den Boden gestoßen wurde? Oder ist er ihm vom Kopf gerissen worden, als er im Verhörraum verprügelt wurde?
Wieder entfährt ihm ein tiefes Stöhnen. Im Augenblick erscheint die Lage für ihn so aussichtslos wie seit langem nicht. Er schließt die Augen.
Grojatin kann nicht ahnen, was sich zur gleichen Zeit im Wachraum des Kasernengefängnisses abspielt. Dort sitzen drei Soldaten, die Nachtdienst haben, vor einer Wand, an der Dutzende von Monitoren und Displays flimmern. Gelangweilt beobachten die Männer die Bilder von leeren Gefängnisfluren und Kasernenhöfen, die von Deckenkameras und patrouillierenden Drohnen überwacht werden.
Um wach zu bleiben, tauschen sie sich gewöhnlich über belanglose Erlebnisse aus. Heute sprechen sie nur über das eine Thema.
„Es ist entsetzlich, was mit Hanad und Keynan passiert ist. Einfach während einer normalen Patrouillenfahrt ausgelöscht“, gibt der erste der Wachleute von sich.
Der zweite erwidert: „Solche Nachrichten hören wir in diesem Krieg leider jeden Tag.“
„Du hast Recht. Schlimm genug. Aber das war noch nicht mal eine Kriegshandlung. Der Typ, der sie abgeschossen hat, dieser Russe, ist Zivilist.“
„Scheißegal, wer dich umbringt“, meldet sich der dritte zu Wort. „Tot ist tot. Auf jeden Fall der Horror.“
Der Zweite gibt zu bedenken: „Mir ist es eigentlich egal, ob ich morgen draufgehe.“
„Was sagst Du? Bist du so ein Desperado?“
„Nicht, weil ich verzweifelt bin. Sondern, weil ich dem Tod gelassen entgegensehe.“
„Willst du sterben? Kannst du haben!“, grinst der Dritte und richtet seinen Plasmabeamer auf den Zweiten.
„Nein. Ich bin nicht lebensmüde“, erwidert der Zweite, ohne sich von der auf ihn gerichteten Waffe beeindrucken zu lassen. Lässig schiebt er mit dem Handrücken den Lauf des Plasmabeamers zur Seite.
„Warum ist dir dann das Leben so egal? Bist du unglücklich?“
„Im Gegenteil: Ich bin sehr glücklich. Ich habe eine Frau und drei Söhne, die alle schon erwachsen sind. Ich könnte gut so weiterleben.“
„Aber?“ Der Erste macht eine drehende Handbewegung.
„Ich glaube, da drüben …”, er zeigt nach oben, „… bin ich genauso glücklich. Da erwarten mich bereits meine Eltern und Ahnen.“
„Moment mal.“ Der Dritte spürt, dass es seinem Kameraden ernst ist. „Du sagst, weil dich da oben deine Eltern begrüßen werden, willst du jetzt schon den Löffel abgeben? Dann können wir ja alle heute schon gehen!“
„Ich nicht – meine Mutter lebt noch“, wirft der Erste ein.
„Irgendwann werde ich sowieso sterben. Ob ich es jetzt mit 53 oder mit 106 Jahren tue – wo ist der Unterschied?“
„Vielleicht gibt es noch was zu erleben? Vielleicht wartet noch was auf dich?“