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Karim ist zwölf Jahre alt und lebt mit seinen Eltern in Syrien. Sie führen ein bescheidenes, aber glückliches Leben. Dann kommt der Krieg und nimmt ihm den Vater, Karim und seine Mutter müssen aus Syrien fliehen. Die beiden haben verschiedene Stationen auf einer beschwerlichen Reise zu bewältigen, die oft angstbesetzt und entbehrungsreich ist - aber auch voller Hoffnung. In dieser Zeit treffen sie auf hilfsbereite, aber ebenso bedrohliche und intolerante Menschen. Trotzdem geben sie nicht auf ... Eine Erzählung für Kinder zwischen acht und elf Jahren, die in kurzen Momentaufnahmen versucht, den Blick für die Situation von Menschen zu schärfen, die vor Krieg und Leid fliehen müssen. Ein Appell an Menschlichkeit, Verständnis und Toleranz.
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Seitenzahl: 63
Veröffentlichungsjahr: 2017
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KARIM
Momentaufnahmen eines Weges
Eva Gruber
Eine Erzählung für Kinder zwischen acht und elf Jahren
Veröffentlicht im Kiel & Feder Verlag
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
1. Auflage
Erstausgabe Januar 2017
© 2017 für die Ausgabe Kiel & Feder Verlag, Plochingen
Alle Rechte vorbehalten
Autorin: Eva Gruber
Lektorat/Korrektorat: Edwin Sametz
Grafikdesigner: Finisia Moschiano
Buchgestaltung: Finisia Moschiano
ISBN: 978-3-946728-02-3
© Die Rechte des Textes liegen beim Autor und Verlag
Kiel & Feder Verlag
Finisia Moschiano
Teckstraße 26
73207 Plochingen
www.kielundfeder.de
Für Lucas,
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Vorwort
Ankunft
Im Heim
Kafta Tahina und Kartoffelsalat
Fußball
Onkel Ali
Der letzte Schultag
Abschied
Wo ist Mama?
Die türkische Grenze
Auf dem Schwarzen Meer
Bulgarien
Serbien
Ungarn
Österreich
Deutschunterricht
Kevin
Freunde
Zukunftspläne
Zum Schluss …
Es existieren verschiedene Religionen, Sprachen, Hautfarben und Charaktere.
Denn wir sind viele.
Jeder von uns möchte leben und lieben, sucht das Glück, fühlt Angst oder Freude und die meisten von uns meiden den Tod.
Das macht uns gleich.
Das ist die Geschichte von Karim.
Du kannst ihm auch einen anderen Namen geben – auch Deinen.
Seine Geschichte passiert so oder so ähnlich überall auf der Welt, jeden Tag.
Der überfüllte Zug wird langsamer und fährt in den Bahnhof ein.
Karim, zwölf Jahre alt, schaut aufgeregt durch die dreckige Scheibe seines Zugabteils. Er sieht seine Mutter an. Sie sieht müde aus, lächelt ihm aber freundlich zu und streicht ihm über das schwarze Haar. Früher hat sie ihn oft »Freche Amsel« genannt und gelacht. Karim vermisst ihr Lachen. »Wir sind da«, sagt sie.
Karim lächelt zurück. »Ja, Mama«, antwortet er und schaut wieder hinaus.
»Diese Stadt heißt Dortmund«, sagt der Mann, der mit ihnen im Zug gereist ist. Er war schon einmal in Deutschland, aber das sei lange her. Ihm fehlt eine Hand. Das macht ihm nichts, erklärt er. Er sieht traurig aus. Auch viele andere Menschen im Abteil sind verletzt. Das ist ihnen im Krieg passiert oder auf der Reise. Mama sagt immer »Reise«. Sie glaubt immer noch, dass das Karim weniger Angst macht. Die anderen Erwachsenen sprechen oft von Flucht. Viele haben seit Tagen weder vernünftig gegessen noch getrunken.
Draußen stehen viele Leute. Sie haben in den Fernsehnachrichten gesehen, dass viele Menschen in ihr Land kommen, viel mehr als sonst. Gespannt schauen sie auf den einfahrenden Zug. Einige halten selbstgemachte Plakate hoch. Sie haben Herzen und Regenbögen darauf gemalt. Auch »Welcome« ist zu lesen, das heißt »Willkommen«. Es ist laut, fremd und für Karim zu viel. Er beginnt zu weinen, so erschöpft ist er. Und ein bisschen Angst hat er auch.
Der Zug hält endgültig und die vielen Menschen stürmen ins Freie. Seine Mutter wartet, bis fast alle ausgestiegen sind. Dann nimmt sie Karim vorsichtig an die Hand und führt ihn hinaus.
Ein Mann in Uniform empfängt die beiden, hilft ihnen die Stufen hinunter und schaut sie freundlich an. Auch er sieht müde aus. »Ihr seid heute der vierte Zug«, sagt er und lächelt. Karim versteht ihn nicht. Ob er etwas falsch gemacht hat? Der Mann schenkt Karim eine kleine Tüte Orangenbonbons. »Schokolade ist leider alle.« Er weist freundlich auf eine Gruppe von Reisenden, in der steht eine Frau mit Kopftuch, die die beiden offen anschaut.
Karim knistert an der Tüte mit der Süßigkeit herum. Er freut sich über das Geschenk. Noch vor wenigen Tagen hat Mama erzählt, alle Süßigkeiten wären ausverkauft, deswegen gäbe es nichts für ihn. Auf Arabisch sagt die Frau, dass sie in Sicherheit sind und keine Angst mehr zu haben brauchen. Als Karims Mutter die vertraute Sprache auf fremdem Boden hört, bricht sie zusammen. Ein paar Männer fangen sie auf und legen die hilflose Frau auf den Boden.
Karim holt aufgeregt den letzten Schatz aus seiner Jacke hervor. Ein Handy. »Damit kann man einen Arzt rufen«, sagt er zu der Frau mit dem Kopftuch und wedelt damit vor ihrer Nase hin und her.
Aus der Menge schreit plötzlich jemand: »Hey, wieso hat der denn ein Handy?«
Karim faltet vorsichtig die weiße Bettwäsche auseinander und schaut fragend zu seiner Mutter. »Ich mache das, mein Schatz«, sagt sie. Sie nimmt Karim die Laken aus der Hand und beginnt, ihre beiden Matratzen zu beziehen. Die liegen auf einem Etagenbett. Karim darf unten schlafen, seine Mutter erhält den oberen Schlafplatz.
In dem kleinen Zimmer, welches sich die beiden mit einer weiteren Frau und deren zwei kleinen Söhnen teilen, stehen zwei weiße Schränke und ein Schreibtisch mit zwei Stühlen davor. An der Wand hängt ein Bild von einem Dortmunder Fußballverein. »BVB« steht darauf. Wenn man über den hellbraunen Linoleumboden geht, gibt es quietschende Geräusche. Zuhause waren fast alle Böden mit Teppichen ausgelegt, die waren schön weich. Karim erinnert sich daran.
Mama und die Frau unterhalten sich leise. Sie wirken traurig und Karim ärgert sich, dass er nicht helfen kann.
Das Zimmer hat ein großes Fenster, links und rechts davon hängt jeweils eine rote Gardine. Wenn man die Vorhänge zuzieht und die Sonne durchscheint, ist das Licht im Zimmer orange. Das macht ihm Angst, weil es so aussieht, als ob es irgendwo brennt. Deswegen lassen sie die Gardinen wo sie sind.
Beim Hinausblicken schaut man auf einen großen Hof, eine Straße und ein paar Bäume. Um den Hof ist eine Mauer gezogen, die Bäume stehen außerhalb. Karim ist ein guter Kletterer, er würde so gern auf einem von ihnen herumkrabbeln. »Von ganz oben kann man bestimmt bis nach Hause blicken«, stellt er sich vor.
Vor der Mauer stehen einige Menschen. Sie blicken stumm herüber. Einige von ihnen haben den rechten Arm erhoben und halten ihn schweigend in die Luft. Karim sieht auch ein paar Fahrzeuge. Das sind Polizeiautos. Die andere Frau hat gesagt, die wären da, um sie zu beschützen. Als Karim gefragt hat, vor wem, hat sie gesagt: »Vor den Deutschen.« Karim findet das ungerecht. Er denkt an die Tüte mit den Orangenbonbons.
Er dreht sich um und stellt sich vor die beiden Jungen, die das Zimmer mit ihm teilen. »Wie heißt ihr?«, fragt er.
»Hassan«, sagt der eine. Der andere lächelt und formuliert mit den Lippen die Worte: »Driss.«
Hassan erklärt, dass Driss seit dem letzten Bombenangriff so gut wie gar nicht mehr spricht. Das ist sieben Monate her. »Er denkt, wenn man zu laut ist, finden sie einen schneller«, erklärt Hassan.
Karim hat das Gefühl zu ersticken. »Mama, dürfen wir in den Hof?«, fragt er.
Seine Mutter schaut kurz zu der anderen Frau. Die schüttelt den Kopf. »Erst einmal nicht auffallen«, sagt sie.
»Wieso?«, fragt Karim.
»Wir sind doch Flüchtlinge«, sagt die Frau.
Es klopft. Karim öffnet die Tür und blickt auf eine Frau mit blonden Haaren. Sie begrüßt ihn freundlich auf Arabisch. Als Karims Mutter dazukommt, stellt sie sich ausführlicher vor. »Sabine« heißt sie und ist mit einem Mann aus Homs verheiratet. Homs liegt in Syrien. Das weiß Karim, weil eine Cousine von ihm dort wohnt. Sabine und ihr Mann leben seit zwanzig Jahren in Dortmund. Vorher haben sie 15 Jahre in Syrien gelebt. Jetzt arbeitet sie als Sozialarbeiterin und Dolmetscherin im Flüchtlingsheim.
Karims Mutter bittet sie schüchtern, einzutreten. Sabine setzt sich gutgelaunt auf einen Stuhl am Schreibtisch. Sie schaut alle im Zimmer offen an. »Wir haben uns überlegt, ein Fest zu veranstalten«, sagt sie. »Es sind so viele neue Menschen im Haus. Wir müssen uns doch kennenlernen.«