Für meine Tochter Karla
Karla und die Murmeltiere
Helmut Bückle
copyright 2010 sansusie films UG
published at epubli GmbH, Berlin
www.epubli.de
ISBN 978-3-86931-718-2
Layout | Satz Carolin Kott www.typolei.de
Titel - Illustration © Marc Herold | Die Artillerie www.die-artillerie.de
Erschienen bei sansusie films UG www.sansusie.de
Der Autor
Helmut Bückle, geboren 1962, ist Filmproduzent und Autor.
Er lebte über zwanzig Jahre in München, bevor es ihn 2006 nach Berlin zog …
Ein sehr guter Tag
Die Sonne bratzte schon seit in der Früh‘ vom Himmel herunter, als wäre sie nur für diesen Flecken Erde reserviert gewesen. Heute war ein sehr guter Tag. Das war jetzt schon mal klar. Es gibt so Tage, an denen man morgens schon keinerlei Fragen mehr hat, und das Schöne ist, viele davon bleiben dann auch so. Und was so glücklich macht ist das Gefühl, daß man gar nichts dafür tun muß. Diese Tage werden einfach als Geschenk mit einer großen roten Schleife vor einen hingelegt. Aber es ist noch besser. So ab frühem Nachmittag strahlt die Sonne nämlich auch aus einem selber, und dann ist es auch nicht schlimm, sollte der Tag hintenraus doch ein bisschen rumschwächeln. Davon war aber gar keine Rede. Heute war ein grosser, geschenkter Tag bis zum Schluß.
Karla lag allein im Schnee, hatte die Arme hinter ihrem Kopf verschränkt und schaute auf diese Ansammlung von unglaublich hohen Bergen um sie herum. Ein Gipfel reihte sich an den anderen, wohin sie auch sah. Sie fühlte sich wie auf dem Dach der Welt. Es war ganz still da oben, wo sie lag, nur ab und zu krächzte irgendwo ein Vogel in der Luft. Die Gondeln der Bergbahn glitten auf ihrem Weg nach oben lautlos an ihr vorbei. Sie schaute über die allerletzte Station hinauf zur Bergspitze. Dort blinkte und glitzerte das große vereiste Gipfelkreuz im Sonnenlicht. Karla konnte bis zum Weltrand sehen, da war sie sich sicher, denn so weit oben steht einfach nichts mehr dazwischen, was die Sache ungemein erleichtert. Sakradi, meine Lieben, das Leben ist manchmal schon grandios, sagte sie zu allen, die grade nicht hier sein konnten. Da geht mal kein Weg dran vorbei. Und sie hatte irgendwie das Gefühl, daß die anderen sie in der Sekunde sehr wohl gehört hatten, wo immer sie auch gerade sein mochten.
Und ganz besonders großartig war Schifahren mit dem Papa. Karla liebte es. Sie waren heute schon fast alles gebrettert, was das Schigebiet an Pisten aufzuweisen hatte, der Schnee war herrlich griffig und die Lifte leer gewesen. Das hat jetzt wieder mit dem ›keine Fragen mehr‹ zu tun. Karla lag auf dem Rücken, drehte ihr Gesicht in die Sonne und genoß die Wärme. Sie schloss die Augen und langsam glitten ihre Gedanken rückwärts davon. Das hört sich vielleicht merkwürdig an, war aber genau so. Sie dachte daran, wie sie vor Jahren mit dem Schilaufen angefangen hatte. Der Papa hatte ihr zuvor schon einen Schihelm geschenkt, als sie noch viel zu klein gewesen war, vorne hatte er in lustigen kleinen Buchstaben ihren Namen aufgeklebt gehabt, und irgendwie hatte das seine Wirkung bei ihr nicht verfehlt. Sie konnte es kaum erwarten, bis sie gross genug war und es endlich losgehen würde, und aus dem Grund wuchs sie auch so schnell, wie sie nur konnte. Und der Papa freute sich drüber, denn genau so wars gedacht.
Und dann vor sechs Jahren um Heiligabend herum hatte er sie in einen grossen Sport-Laden mitgenommen und sie hatte sich ihre ersten Schier heraussuchen dürfen. Die waren blau mit 3einem grossen Eisbären drauf. Auf jedem Schi einer, versteht sich. Der Papa hatte irgendeinen Sums erzählt, warum ausgerechnet diese Schier die richtigen seien, was angeblich mit Karlas Grösse und ihrem Gewicht zu tun haben sollte, aber das war natürlich Unsinn. Geht‘ s noch? Schier mit Eisbären drauf sind ganz einfach richtiger als welche ohne. Karla hatte ihm trotzdem freundlich zugestimmt, damit er nicht traurig wurde. Man kann Vätern nicht immer alles erklären, auch wenn sie an sich nicht grundsätzlich dumm sind. Zudem war es viel aufregender gewesen, die neuen Schistiefel anzuprobieren. Sie schlüpfte hinein, schloss die Schnallen und wollte sofort loslaufen. Es muß sehr lustig ausgesehen haben, denn ihr Körper wollte vorwärts, aber die Stiefel blieben wie angenagelt stehen. Sie hatte einfach nicht erwartet, daß die Dinger so schwer sein würden. Ihr gemeiner Papa und der Verkäufer lachten sich halb schlapp über ihre Verrenkungen. Karla beschloss grossmütig darüber hinweg - zusehen, immerhin war das hier der Beginn einer grossen Schikarriere. So einen kleinen gespielten Tobsuchtsanfall hätten die beiden Männer als Strafe allerdings schon verdient gehabt. Wartets bloß ab, dafür findet sich noch ein passender Moment, hatte sie vor sich hin gemurmelt, als sie mit ihren riesengrossen Schistiefeln durch den Laden stapfte. Und es sofort wieder vergessen, weil es einfach alles viel zu lustig war.
Und so lag Karla da oben, in die Sonne und ihre Gedanken versunken, als es plötzlich sehr dunkel wurde vor ihren Augen, sehr kalt und ziemlich naß. Ihr Papa, der eigentlich doch mit einem schönen Weißbier auf der Hüttenterrasse sitzen sollte, zumindest hatte Karla ihn dort das letzte Mal gesehen, also dieser ihr Papa hatte sich von hinten an sie heran geschlichen, zwei Hände voll Schnee genommen und sie fein säuberlich auf sie herunterfallen lassen. Auf seine wehrlose Tochter. Zeigt sich so die Liebe eines Vaters? Bei Karlas Papa war die Antwort ziemlich einfach. Ja, denn der war so. Und Karla hatte die grosse Hoffnung, daß im späteren Leben die Liebesbekundungen ihrer Männer zumindest manchmal etwas anders ausfallen würden. Aber ihr Papa, der durfte das, liebten sie sich doch so heiß und innig, wie es zwischen Vater und Tochter in einer rechtschaffenen Welt eben ist. Nur nebenbei, es soll hier nicht unerwähnt bleiben, auch der Papa hatte schon manche Portion Schnee aus seinem Kragen zu kratzen gehabt. Nicht daß die Leserschaft Karla jetzt zu Anfang mit einem kleinen Engelchen verwechselt. Das wäre nämlich ziemlich falsch. Der Apfel war doch recht senkrecht vom Stamm gefallen, wenn man‘ s genau betrachtete.
Der Papa liess sich neben sie fallen. »Und, alles schick?«, fragte er. »Bis grad‘ ging’s noch, Du Ungeheuer«, seufzte Karla und kratzte sich den Schnee weg. »Und selbst?« »Herrlich«, sagte der Papa. »Ganz herrlich. Warum solche Tage auch immer zu Ende gehen müssen, frag ich mich«. »Damit morgen ein neuer davon anfangen kann?«, sagte Karla altklug und erwog ein Studium der Philosophie. »Darum würd‘ ich dann aber mindestens bitten wollen«, sagte der Papa unbeeindruckt. »Gleich wird‘s duster, wollen wir los?« Sie brachen auf zur letzten Abfahrt bis ganz hinunter ins Tal. Das Dorf weit unter ihnen lag schon im tiefen Schatten, es brannten sogar schon einige Lichter in den Fenstern. Die Häuser waren winzig klein, wenn man hier oben auf sie herabblickte. Von einem Berggipfel sieht die ganze Welt aus wie eine Spielzeugeisenbahn-Landschaft, dachte sich Karla.
Konferenz am Waldrand
Der Papa stand unterhalb der Gipfelstation auf der Piste vor einem Schild und lachte. Karla schwang neben ihm ab und betrachtete ihn. »Geht’s gut?«, fragte sie. »Ich liebe es«, sagte der Papa, »schau mal hin«. Das Schild wies nach rechts den Berg hinunter und darauf stand ›Tal‹. »Man steht ganz oben auf dem Berg«, sagte er, »höher geht‘s ohne Flügel nicht, also wieviele Möglichkeiten bleiben, wo sich das Tal wohl befinden könnte? Eben. Und trotzdem stellen sie noch dieses Schild auf, als ob sie sonst befürchten müssten, daß Dutzende von Schi-touristen hier ratlos herumirren und verzweifeln«. Karla lachte. Die Idee war hübsch.
Sie kippte über die Kante in den Hang und bretterte los. Außer ihnen war um diese Zeit keine Menschenseele mehr auf dem Berg. Manche Leute, die viel Geld haben, leisten sich einen Privat-Schilehrer. Karla hatte auf dieser Abfahrt ein ganzes Privat-Schigebiet für sich allein und es kostete sie grad mal nichts. Alles ihr‘ s, der ganze Berg. Nach einigen Hängen erreichten sie die Baumgrenze und blieben stehen, um für einen Moment die Stille des Bergwaldes zu geniessen. Ganz eventuell hatte das auch was mit der Kondition der beiden Schikameraden zu tun, was nun nichts Ungewöhnliches wäre am Ende eines ausgedehnten Schitages, aber selbst wenn man sie gehauen hätte, keiner der beiden hätte jemals zugegeben, daß die kleine Pause ganz gut tat.
»Pfeifst schon aus dem letzten Loch, Papa?«, fragte Karla hinterlistig. »Tochter«, sagte der und schaute recht männlich, »wenn ich Gas gebe, dann bist Du noch auf halber Höhe, wenn ich schon die Brettl-Jausn hinter mir hab‘«. Wirklich beweisen müssen hätte er das nicht mehr wollen, die Zeiten waren schon lang vorbei. Aber es klang so gut.
»Was meinst Du eigentlich?«, sagte er. »War’n Scherz«, sagte Karla, »aber da war grade tatsächlich so ein Pfeifen, jetzt in echt«. Und da war es gleich ein zweites Mal. Sie schauten sich an und lauschten wie die Luchse. Und kein Zweifel, es war ganz deutlich zu hören. Das Pfeifen im Walde. Es schien vom Pistenrand auf der anderen Seite zu kommen. »Wie heißt dein Lieblingsspiel nochmal?«, fragte der Papa. »Haha, Ich sehe was, was du nicht siehst«, sagte Karla. Nur da musste sie auch passen, denn es war wirklich nichts und niemand zu sehen. Sie hatschten quer über die Piste auf die andere Seite und verharrten. Stille. Nichts regte sich. Doch plötzlich bewegte sich die Schneedecke direkt vor ihren Schispitzen. Was war das denn? Etwas buddelte sich unter dem Schnee hervor, zuerst konnte man nur Teile des kleinen Wesens erkennen, weil die hochgeworfenen Brocken immer wieder darauf zurückfielen, doch dann wurden die Umrisse klarer. Es war ein Murmeltier. Es schüttelte sich den Schnee aus dem Pelz und strich die Barthaare zurecht. Währendessen hatte es den Papa mit einem kurzen Kopfnicken begrüsst und schaute dann aber Karla an. »Bitte entschuldigt, daß ich Euch so einfach herbeipfeife und überfalle«, sagte das Murmeltier mit höflicher, fast schüchterner Stimme und wusste nicht so recht, wohin mit seinen Pfoten. »Aber ich habe hier den ganzen Tag gewartet und hatte die Hoffnung fast schon aufgegeben«. Es blickte wieder zum Papa, um herauszufinden, ob es weiter - sprechen könne. Der hatte wirklich genug damit zu tun ein sprechendes Murmeltier auf die Reihe zu kriegen und hatte insofern wenig Einwände. »Ich weiß, wir kennen uns nicht«, fuhr das Murmeltier zu Karla fort, »aber es ist etwas ganz Schlimmes passiert und wir brauchen Deine Hilfe«. Karla und der Papa schauten sich an. Holla, die Waldfee. Der Tag hatte ja schon einiges geboten, und gehört und gelesen hatte man auch schon viel, aber nach dem Pfeifen im Walde kam jetzt noch ein sprechendes Murmeltier des Weges daher? Man wird es der Kleinfamilie nachsehen, daß sie ein bisschen brauchte. Das kleine Pelztier zumindest tat es und wartete geduldig. »Sag, Murmeltier«, berappelte sich Karla so gut es ging, »schon klar, daß es offensichtlich sehr wichtig für Dich ist, sonst stünden wir nicht hier. Aber verzeih‘ mir, verstehen tu‘ ich noch gar nichts«. Auch die Miene des Papas war nicht intelligenter, da half auch kein Vorsprung an Lebensringen.
»Wie solltest Du auch«, antwortete das Murmeltier, »es ist eine ziemlich komplizierte Geschichte. Darf ich Dich trotzdem um noch etwas bitten?« Karla legte die Stirn in Fragezeichen und nickte. »Könnten wir zusammen ins Dorf hinunter?«, sagte das Murmeltier. »Der Peter ist ein sehr guter Freund von uns und mit ihm zusammen könnte ich’s besser erklären, glaube ich«. Karla schaute den Papa an. »Deine Entscheidung, Karla, was soll ich da sagen?«, meinte der achselzuckend. »Ins Tal runter fahren wir sowieso. Und mir scheint, als ob es sich um was handelt, das sich ein anständiger Mensch durchaus anhören könnte. Und bisher steht die Hoffnung, ich hätt‘ Dich so erzogen«. Selten genug, das war mal sein voller Ernst. »Also von mir aus gern, immerhin bittet hier jemand höflichst um Hilfe«. Karla blieb auf ihre Stöcke gelehnt über dem Murmeltier stehen. Es gab noch etwas, was sie wissen wollte. »Murmeltier«, sagte sie, »ich helf ‘ Dir gern, wenn ich das überhaupt kann, aber wieso hast Du eigentlich grade uns gerufen?« Eine gute Frage, aber das Murmeltier hatte sie in Wahrheit schon erwartet. »Eigentlich habe ich ja nach Dir gepfiffen«, sagte es mit einem leicht erröteten Bitteentschuldige-Blick zum Papa, der daraufhin gnädig zur Seite sah. »Mit allem Respekt und Anwesende vielleicht ausgenommen«, fuhr das Murmeltier fort, »wenn man nur so groß ist wie wir, muß man einfach schauen, wo man bleibt. Und unsere Erfahrungen mit Erwachsenen sind bisher, hmm, wie sag ich‘s am besten, so mittelgut gewesen, wenn ich bin ehrlich bin. Aber der Peter ist ein Kind wie Du und ein echter Freund. Und was soll ich sagen«, das Murmeltier machte eine Geste mit seinen Pfoten, »alle anderen sind einfach nur an mir vorbei gerast den ganzen Tag, ich gestehe ehrlich, ich hatte es für heute schon aufgegeben, und dann kommst Du und hältst genau hier an«. Das Murmeltier hielt das offensichtlich für ein Zeichen aus einer höheren Welt. Karla dachte darüber nach. Das gesandte Kind zu sein, fand sie recht schmeichelhaft, und sie konnte sich durchaus vorstellen diese Rolle zur Zufriedenheit aller auszufüllen, aber ganz schlau wurde sie aus dem Beitrag nun nicht. Der eigentlich sogar weitere Fragen aufwarf. Vor allem die, ob es nun so gesehen jedes Kind hätte sein können, das hier abgeschwungen hätte, aber bloß kein anderes vorbeigekommen war. Karla, immer ein sonniges Gemüt, entschied sich galant nicht weiter drüber nachzudenken und nahm das Ganze als ein berechtigtes Kompliment. Eine Vorgehensweise, die sich in ihrem Leben bisher fast immer bewährt hatte, nebenbei.
Der Papa blickte in den Wald und fragte sich, was er jetzt eigentlich machen sollte. Gelegentlich hatte er schon von der einen oder anderen Frau gehört, daß er ein Kindskopf sei, wofür es angeblich auch Gründe gab, aber so ganz direkt ein Kind war er unbestreitbarerweise nicht mehr. Und die Rolle als Böser, nur weil erwachsen, fand er dramatisch ungerecht. Er konnte ja schliesslich nichts dafür, oder? Er erinnerte sich an Karla, wie sie ihm mit dreieinhalb genau diesen Satz entgegengebrüllt hatte, nur weil er der Ansicht war, sie wäre gerade so süss, das sie jetzt bitteschön das Wachsen einstellen sollte. Naja, er würde sich jetzt einfach mal raushalten, irgendwann würde man sich vermutlich schon nützlich machen können. Und dann würde er da und dort so Erwachsenensachen sagen, die zwar irre langweilig klingen, aber später manchmal was für sich haben. Diese Sätze sind bei Kindern ja sehr beliebt. Und er fing gleich mal damit an. »Hört mal, Ihr elfengleichen kleinen Zauberwesen«, sagte er, »wenn wir jetzt zusammen ins Dorf hinunterlaufen, dann kommen wir vermutlich rechtzeitig zum Sonnenaufgang morgen früh dort an. Nichts gegen Deine kurzen Beine, Murmeltier, aber ich fürchte, mit unseren Schiern können sie bergab nicht ganz mithalten«. Das Murmeltier zog eine entschuldigende Grimasse. So war das wohl. Karla nahm ihren Schirucksack vom Rücken, die Trinkflasche, die Packung Kekse, das zweite Paar dicke Wollsocken, alles flog aus dem Rucksack in den Schnee. Dem Murmeltier dämmerte etwas und es kniff argwöhnisch die Augen zusammen. »Das ist jetzt nicht Dein Ernst, oder?« Karla grinste. »Aber sowas von. Ein Kontinent wie kein anderer. Schon mal dort gewesen, Murmeltier?« Nun, die Wahrscheinlichkeit, daß das Murmeltier schon mal für ein Wochenende nach Australien gefahren war, schien eher gering. Zudem war Karla ja auch noch nie dort gewesen, aber dafür schon hundertmal im Zoo. »Lerne von Mutter Natur!«, sagte sie, und das ausgerechnet zu einem Murmeltier. Der Papa räumte die Sachen in seinen Rucksack. Karla schnallte sich den ihren auf den Bauch und schwuppdiwupp mutierte das verdatterte Murmeltier zum Klein-Känguruh. »Und Du meinst, das geht gut?« fragte es mißtrauisch. »Das wird die grösste Fahrt Deines Lebens«, sagte Karla, »Spaß pur«. Der Papa grinste das Murmeltier an und strich ihm über den Kopf. »Kalt Blut und warm Untergewand, mein Freund, da kannst ganz beruhigt sein«. Der Satz war noch nicht mal richtig beendet, da fetzte Karla auch schon los mit ihrem Passagier. Über Stock und Stein pesten sie die Piste hinunter, schredderten über Buckel und Hubbel, als ginge es darum einen Riesen-Slalom bei der Olympiade zu gewinnen. Worüber Karla sowieso schon lange nachdachte, also über die Goldmedaille. Nach einer rasanten Fahrt gelangten sie im Tal ans Ende der Piste, die direkt beim Dorf aufhörte. Es sah wunderschön aus, wie das warme und heimelige Licht aus den Fenstern der alten Häuser fiel und den Schnee davor erleuchtete. Das Murmeltier hatte die ganze Zeit nichts von sich gegeben, außer einem kleinen anerkennenden Pfeifen. Zugegeben, anfangs hatte es ein wenig Angst gehabt, aber mit der Zeit hatte es die Fahrt richtiggehend genossen. Du liebe Güte, sagte es zu sich selbst, da bin ich auf diesem Berg daheim und kenne jeden Grashalm mit Namen, aber das hab ich noch nie erlebt. Und fragte sich, ob man das nicht regelmässiger für alle organisieren könnte. Es strich sich mit männlicher Würde die zerzausten Barthaare zurecht und versuchte gut auszusehen. »Dann kommt mal mit zu Peters Haus«, sagte es, »allerdings sollte uns niemand bemerken. Nicht gut, wenn wir Murmeltiere im Dorf gesehen werden«.
Ein Diebstahl ohne Haare
Das Murmeltier kannte sich gut aus im Dorf und führte die beiden über verschlungene Pfade abseits der Strassen an Gartenzäunen entlang durch die riesigen Schneehaufen hindurch. Manchmal blieb es hinter einer Hausecke stehen und witterte ein wenig. Karla und der Papa folgten ihm schweigend. Das Murmeltier bog um eine letzte Ecke. »Wir sind da«, flüsterte es, »auf dem Hof wohnt Peter. Das da oben«, es deutete mit seiner Pfote auf ein kleines erleuchtetes Fenster im ersten Stock, »das ist sein Zimmer«. Sie huschten im Schatten der Nacht an der grossen Scheune entlang hinüber zum Haus. Im Stall muhten die Kühe, ansonsten war es mucksmäuschenstill.
»Jetzt einfach klingeln geht nicht, oder?«, sagte Karla. »Wir könnten Steinchen gegen sein Fenster werfen«, schlug der Papa pfadfinderisch vor. »Gute Idee, Papa«, lobte Karla, »aber vielleicht eher was für den Sommer. Ich seh hier nur Eis und Schnee und keinen einzigen Kiesel«. Etwas Besseres fiel ihr aber auch nicht ein. Das Murmeltier blickte die beiden mitleidig an. So so. Die Freunde der Natur. Es blies die Backen ein wenig auf und spitzte die Lippen auf eine ganz ulkige Art und Weise. Das Pfeifen, wie es aus seinem Mund erklang, hatte Karla vorhin am Berg schon gehört, aber jetzt war noch eine echte Signal-Melodie darin. Sie staunte. »Willkommen im Klub«, sagte das Murmeltier, »ist gleich soweit«. Einige Sekunden später wurde in der Tat die Küchentüre von innen geöffnet und ein Junge huschte zu ihnen herüber. »Schnell, hier hinein«, sagte Peter, »alles Weitere besprechen wir auf dem Heuboden« und verschwand im Dunkel der Scheune.
Es war warm und feucht da drin und es roch ganz eindeutig nach Rindviechern. Links und rechts standen die Kühe in ihren Boxen und muhten und mampften unentwegt vor sich hin. Komisch, dachte sich Karla, wieso kauen die die ganze Zeit, wenn sie grade gar nichts fressen? Kaugummi mit Kirsch - geschmack konnte es wohl kaum sein. Merkwürdige Viecher. Nur für die städtische Kleinbevölkerung unter Euch, Kühe machen das wirklich ziemlich besonders. Sie vertilgen nämlich das gleiche Essen praktisch zweimal, das erste Mal wenn sie das Heu in sich hineinschaufeln und runterschlucken, und danach holen sie es aus dem Bauch wieder hoch und kauen ein zweites Mal stundenlang drauf rum. Schön vorzustellen ist das nicht. Peter führte sie zu einer Leiter, die auf den Heuboden hinaufging. Der Heuboden ist wie der erste Stock im Stall, aber eben nur der Fußboden davon. Darauf lagert man das Heu, das man dann nur noch zu den Kühen nach unten werfen muß. Oben angekommen setzten sie sich ins Heu. Vier im roten Kreis. »Peter«, begann das Murmeltier, »das sind Karla und ihr Papa. Sie wollen uns helfen. Das ist lieb von ihnen, aber wir müssen ihnen den ganzen Schlamassel erst mal erklären«.
Peter nickte. »Gern«, sagte er, »dauert aber ein bisschen, ich muß echt vorne anfangen. Ihr müsst wissen, die Murmeltiere und ich sind befreundet, seit ich letzten Sommer einen Tag ganz oben auf dem Berg war, direkt unterhalb der Schröffli-Kante. Und da habe ich im Gras auf der Bergwiese Murmeln gefunden. Große schöne Glasmurmeln, die glänzen und funkeln in der Sonne. Und wie ich gerade überlege, was denn diese Murmeln da oben machen, höre ich ein leises Pfeifen. Ich dreh‘ mich rum und da kommt ein Murmeltier hinter einem Stein raus und läuft direkt auf mich zu. Ihr könnt Euch vorstellen, wie überrascht ich war«. Karla und der Papa konnten es nachvollziehen, ziemlich gut sogar. Peter kratzte sich am Kopf. »Es begrüsst mich und fragt woher, wohin, als ob es ein Hüttenwirt wäre. Ich kam mir vor wie im falschen Film«. »Warst Du das?«, fragte Karla. Das Murmeltier nickte. »Dann reden wir so und ich frage nach den Murmeln«, fuhr Peter fort, »weil davon hatte ich hier unten noch nie nichts gehört gehabt«. »Verwundert ja nicht«, sagte das Murmeltier feixend, »das ist Euch doch viel zu anstrengend und steil da oben«. Peter grinste. »Nicht allen, mein Freund. Und dann erklärte es mir, daß die Murmeln ihm und seiner ganzen Familie gehörten. Eigentlich hätte ich auch draufkommen können, daß die Murmeln den Murmeltieren gehören, schliesslich heissen sie ja so«. Karla und der Papa schauten sich merkwürdig an. Zugegeben, das machte Sinn. Sie hatten es nur noch nie so begriffen. Und sie waren sich auch nicht sicher, ob sie es an Peters Stelle schneller kapiert hätten. »Das ist eines unserer Geheimnisse«, fiel das Murmeltier ein. »Wir besitzen die Murmeln schon seit ewig langer Zeit, keiner von uns kann sagen wie lange schon, weil mein Großvater hat sie von seinem und der wiederum von seinem. Ach, die sind einfach schon immer dagewesen«. Das Murmeltier streckte seine Ärmchen weit aus, um anzuzeigen wie lange die Murmeln schon zu ihnen gehörten. Wirklich immer, schien es.
»Im Frühling, wenn die erste Sonne wieder wärmt, legen wir sie auf den Wiesen aus, dort wo nie ein Mensch hinkommt und da bleiben sie den ganzen Sommer über bis in den Herbst hinein«. So weit, so gut, dachte sich Karla, aber was ist der Trick dabei? Und als ob das Murmeltier es gehört hätte, sagte es, »Ihr müsst eins wissen, die Murmeln nehmen die Wärme der Sonne ganz tief in sich auf, jede einzelne von ihnen«. Karla legte die Stirn in krause Falten, hatte sie das richtig verstanden? »Die Murmeln sind dann wie eine Heizung?«, fragte sie. Das Murmeltier schaute Peter an und sein stolzer Blick schien zu sagen, Na, hab ich da nicht ein richtig blitzgescheites Mädchen gefunden? Peter nickte. »Genau das ist es. Wenn der Herbst kommt und dann der erste Schnee fällt sammeln sie die Murmeln wieder ein und bringen sie in ihre Höhle«. Das Murmeltier sprang auf und schnappte sich ein paar Büschel Heu und stellte sie auf dem Boden zu einer Pyramide zusammen. »Und dann bauen wir sie in der Mitte der Höhle so auf und wenn der Eingang ganz dick zugeschneit ist, und draussen ist es bitter bitter kalt, Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie kuschlig warm uns die Murmeln den ganzen Winter über halten«. Bei dem Gedanken konnte man richtig sehen, wie dem Murmeltier ein wohliger Schauer durch seinen Pelz rann, aber das hielt nicht lange an. »Nur jetzt ist eben alles anders«, sagte Peter mitfühlend. Das Murmeltier ließ sich kraftlos zu Boden plumpsen und schaute todtraurig in die Runde.