Karpatenvirus - H. H. T. Osenger - E-Book

Karpatenvirus E-Book

H. H. T. Osenger

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Beschreibung

Halloween, der Schleier zwischen den Welten fällt. Die perfekte Nacht für eine Mutprobe. Doch als die beiden alkoholisierten jungen Männer in die scheinbar leerstehende Villa einbrechen ahnen sie nicht, was passiert. Ihrem Einbruch folgt eine unheimliche Mordserie. Was wurde aus dem Keller des Herrenhauses befreit? Plötzlich erinnern sich viele Einwohner des Ortes an die alte Geschichte der Krankenschwester, die im Ersten Weltkrieg mit den Truppen an die Südostfront zog. Sie galt als vermisst und fand erst Jahre später wieder den Weg nach Hause. Doch sie war nicht mehr dieselbe wie zuvor …

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Seitenzahl: 418

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Ähnliche


Karpatenvirus
Impressum
Prolog 1
Prolog 2
Die Party an Halloween
Das Ende der Party
Der Fehler
Befreit!
Das erste Opfer
Ein Telefongespräch
Weitere Telefongespräche
Schwarze Jagd
Von den Gefahren des Rauchens
Doppelt tot
Ein Geständnis
Die erste Version
Das erste Treffen der Traditionalisten
Die Villa bekommt wieder Besuch
Doch kein van Helsing
Die Akte
Von den Gefahren des Rauchens 2. Teil
Neue Kräfte neue Pläne
Kein einfaches Gespräch
Wissenswertes über Vampire
Ein turbulenter Samstag
Der folgende Sonntag
Zwei anonyme Briefe und eine Besucherin
Eine unmögliche Möglichkeit
So schnell gefunden!?
Freddy wird vorgestellt
Lerchenheims Gedanken
Fritzis Elend und Nicos Entdeckung
Späte Einsicht
Freddy lernt etwas Neues
Intermezzo: Hellsichtig
Freddy lernt etwas Neues, Fortsetzung
Ein weiterer aufregender Morgen
Musikunterricht
Die nächste Pressekonferenz
Was sonst noch am Dienstag geschah
Beschaffungskriminalität
Nicos Schulweg und die Konsequenzen
Die absolute Angst
Ein inoffizielles Gremium
Carmens Erlebnisse vor und nach der Schule
Wo?
Eine kleine Störung mit Folgen
Das letzte Treffen der Traditionalisten
Begräbnisse
Was noch so geschah
Nachwort des Autors

H. H. T. OSENGER

Karpatenvirus

Horror

XOXO Verlag

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.deabrufbar.

Print-ISBN: 978-3-96752-182-5

E-Book-ISBN: 978-3-96752-682-0

Copyright (2020) XOXO Verlag

Umschlaggestaltung: Grit Richter, XOXO Verlag

unter Verwendung des Bildes: Stockfoto-Nummer: 231824758

von www.shutterstock.com

Buchsatz: Grit Richter, XOXO Verlag

Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

XOXO Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Gröpelinger Heerstr. 149

28237 Bremen

Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Für Gisela, die viel Arbeit als Lektorin hatte

Vor allem aber für H., die meinen Lebensinhalt darstellt

Prolog 1

Ende November 1932

Der Keller mit den Wänden und gewölbten Decken aus schwarzrotem Backstein war durch Blendlaternen und Fackeln fast taghell ausgeleuchtet. In diesem Licht hatten die beiden Maurer mit zitternden, fahrigen Händen Stein neben Stein in den Mörtel gesetzt, sorgfältig im Neunzig-Grad-Winkel verzahnt, so dass sich langsam, aber sicher, eine solide Doppelsteinmauer in die Höhe geschoben hatte. Die herzzerreißenden Schluchzlaute von jenseits der Mauer wurden immer leiser.

Die Männer in den beigebraunen SA-Uniformen hatten die Karabiner aus Reichswehrbeständen längst wieder über die Schultern gehängt. Die Gefahr war gebannt. Weitere Männer in teils ärmlicher Zivilkleidung standen in der Nähe und hatten zugesehen, wie die Mauer in die Höhe gezogen wurde. Die Mienen der stummen Beobachter waren angespannt, teils verschreckt. Bleich wirkten alle Gesichter.

Der anwesende SA-Sturmführer behielt die zwei Maurer im Blick, die in aller Eile und mit offensichtlicher Nervosität ihre Arbeit beendeten, und sah gleichzeitig wie alle anderen zu, wie die Mauer nun endgültig den Winkel im Keller verschloss. Fast alle würden in den kommenden Nächten Alpträume haben, in denen diese Szene mit die Hauptrolle spielen sollte. Keiner würde vergessen, was sich hier in diesem Keller zugetragen hatte. Aber sprechen würden sie nur ganz selten darüber, und auch das nur hinter vorgehaltener Hand.

Prolog 2

Während der endlosen Jahrzehnte

Gefangen in Stille und Dunkelheit, schon seit unerdenklich langer Zeit. Schon so lange, dass die Zeit keine Rolle mehr spielte. Sie existierte nicht mehr.

Die Dunkelheit war vertraut.

Die Stille war unerheblich, irrelevant.

Die Gefangenschaft war grausig. Sie fachte den Hunger an, der ohnehin nie dauerhaft gestillt werden konnte. Und den Hass! Den Hass auf jene, die die Gefangenschaft bewirkt hatten.

Erinnerungen. Der Kuss. Jener gegenseitige Kuss, der den Weg in die Dunkelheit erst geebnet hatte, der den Wechsel bewirkt hatte. Den Übertritt in jene andere Existenzform, die ewiges Leben versprach, aber auch ewigen Hunger bedeutete. Die Erinnerung an jene schwarze Liebe, die den Wechsel wollte und verlangte, während der Wechsel den Hass auf die Menschen mit sich brachte.

Die Enge der Zelle hätte überwunden werden können, wäre nicht das Schloss gewesen. Kein Schloss, das mit einem Schlüssel zu öffnen war. Ein Schloss wie ein Siegel, das entfernt werden musste, und zwar von fremder Hand. Sie hatten als Schloss ein Symbol gewählt, das so alt war wie die Menschheit, das von jeher ein Symbol für die Verbindung der Erde und der Menschen zu Gott, in Abwandlungen ein Symbol für das Licht gewesen war und nach einer grausamen Hinrichtung zum Symbol für das Christentum wurde. Dieses Symbol versperrte den Weg.

Unüberwindlich!

Ohne eine fremde Hand war der Weg in die Freiheit versperrt.

Für immer!

Die Party an Halloween

Ein Tropfen Wachs lief an einer Kerze entlang, floss über seine vielen Vorgänger und erstarrte auf dem Totenschädel, auf dem die Kerze festgeklebt stand. Grünlich schimmerte ein Skelett im ungewissen Licht. Hexen unterschiedlicher Größen, Spinnen, Fledermäuse und Halloweenkürbisse vervollständigten die Dekoration des Partykellers. Ein Kothäufchen aus Plastik passte eigentlich nicht so recht zum eher gruseligen Flair, aber Nico hatte es im Scherzartikelhandel erspäht und einfach nicht daran vorbei gehen können.

Seine Geburtstagsparty neigte sich noch längst nicht ihrem Ende zu, wenn auch ein paar Gäste schon gegangen waren. Den jungen Leuten, die weiter feierten, schmeckten die Getränke und Snacks prächtig. Fast alle besuchten dieselbe Klasse am Norfer Gymnasium und bereiteten sich auf ihr Abitur im nächsten Jahr vor. Die jungen Männer, allen voran Freddy, langten tüchtig beim Bier zu. Die Stimmung änderte sich ein wenig ab 24 Uhr. Auf Wunsch – oder sollte man eher sagen auf Anweisung? - von Nicos Eltern wurde nämlich ab Mitternacht die Musik leiser gedreht. Da der Heavy-Metal-Rock aber bei geringer Lautstärke seinen Reiz teilweise verlor ging man zu sanfteren Klängen über. Nun waren auch wieder Gespräche möglich. Prompt kam Freddy auf eine Idee.

»Wisst ihr was? Wir machen jetzt einen kleinen Wettbewerb. Wir reimen, und wer die lustigsten Sachen hinbekommt, bekommt einen Schnaps pur.«

Da ihr Sohn Nico an diesem Samstag volljährig wurde, hatten die Eltern neben Altbier und Pilsener eine Flasche Korn bewilligt. Einerseits wollte man dem nun achtzehnjährigen Sohn eine gewisse Freiheit lassen, andererseits sollte die Party nicht in einen alkoholischen Exzess ausarten. Nicos Eltern kannten die im Partykeller feiernden Pappenheimer. Insbesondere Freddy, der als Schluckspecht bekannt war, hatte schon einige Partys volltrunken verlassen und auf dem Heimweg unter lautem Würgen den Gehsteig verziert. Dieser Freddy nun hatte mit Bedauern beobachtet, dass die Schnapsflasche bereits mehr als zur Hälfte geleert war; insbesondere die Mädels hatten sich Limonade oder Cola mit einem Schuss Alkohol gewünscht. Welche Verschwendung!, dachte Freddy, der bisher nur Bier bewilligt bekommen hatte. Kein Wunder also, dass er sich einen solchen Vorschlag ausgedacht hatte.

»Nachtigall, ick hör dir trapsen!«, rief Sven, der als einziger der Anwesenden keinen Alkohol trank. Er war aus dem in der Nachbarschaft liegenden Ortsteil Weckhoven, würde auf seinem Motorrad nach Hause fahren, wenn die Party irgendwann vorbei war, und blieb infolge dessen nüchtern. »Als Nächstes wirst du dann darauf bestehen, dass die besten Reime von dir sind, und zwar so lange, bis kein Schnaps mehr da ist.«

»Ha! Du Depp kannst ja nicht mal reimen!«, tobte Freddy erbost, so dass seine dunkle Bugwelle von Elvisfrisur auf und nieder wippte. Lederjacke und Cowboystiefel vervollständigten sein Rebellenoutfit.

Sven, mit seinen zwanzig Jahren der älteste der Gruppe, ließ sich nicht provozieren. Er überlegte kurz, dann sagte er: »Vorschlag: Wir machen abwechselnd einen Reim. Wenn mein Reim besser ist als deiner, bekommst du keinen Schnaps. Dafür bekommst du aber auch keinen Schnaps, wenn deiner besser ist. Einverstanden?«

Freddy wurde nun erst richtig tobsüchtig. »Sag mal, hast du dich tatsächlich versprochen oder willst du mich verarschen? Du denkst wohl, ich wäre schon abgefüllt!?«

Sven wusste, dass Freddy, war er erst angetrunken, streitsüchtig werden konnte. Er wusste aber mit solchen Situationen umzugehen. Er lächelte einfach nur und schwieg. Deeskalationstaktik.

Nico, der einen Streit im Hause seiner Eltern unbedingt vermeiden musste, mischte sich in das Gespräch. »Nun fang doch endlich an mit dem Reimen. Lass mal was hören.«

Freddy, der die Hoffnung auf Schnaps pur noch nicht aufgegeben hatte, überlegte kurz. Sein Blick fiel auf den Haufen aus Plastik. Das beflügelte seine Gedanken zu dem Vers: »Auf dem Acker sitzt ein Kacker!«

Nico, der selbst nicht ganz nüchtern war, schüttelte sich vor Lachen. Ronny, der ruhigste Junge der Gang, lachte ebenfalls. Sven grinste, die anwesenden Mädchen verdrehten die Augen.

»Typisch Jungs! Fäkalienhumor!«, meinte Lea, Nicos Freundin.

Babs, die Freundin von Sven, die kurvige Figur in lederne Motorradkleidung verpackt, ergänzte Freddys Vorschlag. »Also, dafür gibt es schon mal keinen Schnaps. Wir Mädels bilden jetzt eine Jury, die die Reime bewertet. Und unser Urteil ist bindend und endgültig.«

»Los, Freddy, lass dir was Neues einfallen«, feuerte Nico den Freund an.

»Aber was Besseres als eben«, verlangte Carmen, ein Mädchen, dass mit keinem der Jungen liiert war.

»Zeig´s ihnen«, sagte die blond bezopfte Fritzi, Freddys Freundin, und strich ihm sanft das Haar aus der Stirn. Einen Augenblick lang war nur die Musik zu hören, die immer noch auf mehr als Zimmerlautstärke aufgedreht war. Freddy reimte und dichtete angestrengt. Doch dann ließ zum Erstaunen aller Ronny seine Stimme vernehmen.

»Der Frauen Schönheit leuchtet wie ein Stern,

in diesem Lichte beweg ich mich gern.«

Jubel und anerkennende Pfiffe von Seiten der Mädchen, dazu noch ein lächelnder Seitenblick von Carmen, der Ronny fast schon erröten ließ. Carmen gefiel ihm sehr. Sein Herz schlug schneller. Babs griff zur Flasche und nach einem Schnapsgläschen. »Dafür gibt es einen kleinen Schluck. Soviel Nettes über uns, das muss belohnt werden.«

Sie goss das Glas dreiviertel voll und reichte es Ronny. Der prostete Carmen zu, die lachend mit ihrer Cola den Toast erwiderte. Ronny verschüttete fast den Inhalt des Glases, so unerwartet kam das für ihn. Er war eher schüchtern veranlagt und fragte sich, woher er den Einfall und die Kühnheit für sein Verhalten hatte. Freddy sah voller Neid auf die kleine Menge wasserklarer Flüssigkeit in Ronnys Glas und brummelte: »So toll war der Spruch nun auch wieder nicht. Der will sich doch nur bei den Weibern beliebt machen.«

Fritzi war anderer Meinung. »Du könntest auch öfters mal was Liebes sagen. Nimm dir ein Beispiel an Ronny.«

»Ach!«, machte Freddy mit einer abwehrenden Handbewegung. Die plötzliche Verehrung des Außenseiters der Gang, die doch wohl ihm gebührte, verdross ihn und behinderte ihn beim Dichten.

Nico sprang auf. »Hey, alle mal herhören! Ich hab einen! Einen ganz Tollen!

Sie wollt sich das Berühren

der Titten

verbitten,

da ist mir das

Verlangen

vergangen!«

Nun brachen alle Jungs in lautes Gelächter aus. Die Mädchen verdrehten erneut die Augen, konnten sich aber das Grinsen nicht verkneifen.

Babs sagte im Tone der hellen Empörung: »Das ist doch wohl die Höhe! Aber was soll man denn auch von Wesen erwarten, die nur Sex und Unfug im Kopf haben?«

»Ja, und dann noch diese Ausdrucksweise«, stimmte Fritzi zu. »Titten, also wirklich!«

Ronny lachte auch und schielte dabei unauffällig zu Carmen hinüber. Mit Entzücken bemerkte er die leichte Röte auf ihren Wangen. Sie lachte wie die anderen auch, und er fragte sich, was sie sich wohl verbitten würde. Und natürlich, was sie sich gefallen lassen würde.

Und gerade in diesem Moment, da die Stimmung wirklich gut war, kam jemand die Treppe hinunter, der sehr wohl geeignet war, die gute Stimmung dauerhaft zu verderben. Einen Augenblick lang war Nico versucht, den Anblick als optische Täuschung zu verdrängen, doch dann erklang unverkennbar die Stimme von Großtante Agnes durch die Musik.

»Na, Kinders, ihr habt den Keller aber fein hergerichtet!«, hörten sie die ziemlich quäkende Stimme. Darüber hinaus sprach die alte Dame mit breitem, rheinischem Akzent.

Bis auf Nico und seiner Freundin Lea war Tante Agnes den Partygästen nur flüchtig bekannt. Gleichwohl hatten sie schon viel von ihr gehört, denn Tante Agnes war im ganzen Ortsteil Norf wohl bekannt, teils als rheinisches Original, teils als absolute Spaßbremse. Sven, der nicht in Norf wohnte, aber zur Verwandtschaft zählte, kannte die Schrullen dieser Dame natürlich auch.

Der tollste Brüller, den Tante Agnes sich jemals geleistet hatte, war eine Begegnung mit einem Polizisten gewesen. Dass zufällig auch ein Reporter der Lokalpresse zugegen gewesen war, hatte zur Folge, dass die sich ergebende Diskussion im ganzen Neusser Süden bekannt geworden war. Tante Agnes hatte vor Jahrzehnten den Führerschein erworben und fuhr immer noch. Ihr Fahrzeug war ein uralter, scheppernder und rasselnder VW-Käfer, der aber trotz aller Geräuschentwicklung wundersamerweise alle zwei Jahre Gnade vor den Augen der TÜV-Ingenieure fand. Und damit fuhr Tante Agnes, und zwar so, als sei das gesamte Stadtgebiet eine 30er-Zone. Auf der Landstraße fuhr sie selten schneller als 60. Jener Polizist nun, der sich in Begleitung des Journalisten befand, hielt Tante Agnes an. Nach dem Studium des Führerscheins und der Fahrzeugpapiere fragte er, warum sie so langsam fahre, und bekam zur Antwort: »Hören Sie mal, junger Mann, ich fahre nicht so gern fremde Leute um!«

Als Tante Agnes darauf die ungläubige Miene des Polizisten erblickte, der nicht wusste, was er von der Antwort halten sollte, setzte sich noch hinzu: »Und wenn, dann hupe ich vorher!«

Diese Tante Agnes also, die gestandenen Polizisten den Schweiß der Nervosität auf die Stirn trieb, hatte nichts gegen Alkohol einzuwenden, sie trank ab und zu selbst ein Gläschen; Altbier und Kölsch waren für sie ein Bestandteil der rheinischen Kultur wie Schützenfest, Karneval, Sauerkraut und Zuckerrübensirup. In Sachen Sex allerdings verstand sie keinen Spaß. Sie hatte nie geheiratet, wobei Nico nicht bekannt war, ob es an willigen Männern gemangelt oder Tante Agnes keinen für Wert genug befunden hatte. Auf jeden Fall hatte einmal ein katholischer Geistlicher – normalerweise für Tante Agnes eine Respektsperson – in ihrer Gegenwart einen etwas anzüglichen Witz erzählt. Darauf hatte er eine innige Bekanntschaft mit ihrem nassen Regenschirm schließen müssen und war mit einer Reihe von Ausdrücken bedacht worden, die sich normalerweise ein Gottesmann nicht anhören muss. Einen Ortsverein christlicher Jungfrauen hatte sie auch mal gründen wollen, aber der kam mangels Interesse und mangels Eignung der Norfer Frauen nicht zu Stande. Es war also absolut unmöglich, in Gegenwart dieser Dame das Thema weiterzuverfolgen, das weitaus die meisten Menschen in irgendeiner Form fasziniert, ob nun in Reime verpackt oder einfach nur diskussions- oder ausübungsweise.

Tante Agnes hatte Nico am Nachmittag gratuliert und sich dann bei seinen Eltern niedergelassen. Nie hätte der Gastgeber gedacht, dass sie so lange bleiben und dann vor allem den Partykeller betreten würde. Aber so, wie es aussah, wollte Tante Agnes sich doch tatsächlich auf ihre vier Buchstaben niederlassen. »Tu mir mal ein Gläschen Bier, Jung!«, forderte sie.

Nico griff zu einem sauberen Glas und einer Flasche. Mit einem gezwungenen Lächeln bediente er seine Großtante. Alle lächelten Tante Agnes mehr oder weniger freundlich an. Tante Agnes lächelte quietschvergnügt zurück. Die Anziehungskraft zwischen den Geschlechtern war ihr durchaus bekannt, aber sie hielt sie für ein Werk des Teufels, und dies war doch wohl eine erstklassige Gelegenheit, diesem bösen Widersacher in sein schmutziges Handwerk zu pfuschen!

»Sag mal, die bleibt doch jetzt wohl nicht hier, oder was?«, flüsterte Freddy Nico leise zu.

»Keine Bange, Tante Agnes hat eine Schwachstelle«, meinte Nico zuversichtlich, aber genau so leise. »Die ist gleich weg, du wirst sehen.«

Da das Gespräch ohnehin nur noch stockend verlief hatte Nico keine Mühe, seine Großtante auf ein Thema anzusprechen, das sie mied wie der Teufel das Weihwasser. Er drehte die Musik so leise, dass sie kaum noch zu hören war und sagte: »Tante Agnes, erfüllst du mir einen Geburtstagswunsch?«

Und fröhlich lächelnd antwortete Tante Agnes: »Ja, natürlich, mein Jung, was willst du denn?«

Nico tat so, als müsse er sich konzentrieren und legte gekonnt die Stirn in Falten. »Hör mal, du kennst dich doch gut mit der Geschichte der alten Villa auf der Vellbrüggener Straße aus, nicht wahr? Was hat es mit dem Haus eigentlich auf sich? Wieso steht das schon so lange leer?«

Das Lächeln verschwand sehr schnell aus Tante Agnes´ Gesicht. Plötzlich mied sie den Blickkontakt der jungen Leute und wurde einsilbig.

Freddy verstand das Vorhaben seines Freundes sofort und schlug in die gleiche Kerbe. »Tatsächlich? Ist das so? Ich habe mich auch immer schon gefragt, wieso das Haus verfällt und keiner es kauft. Erzählen Sie doch mal!«

»Och nö!«, quäkte Tante Agnes. »Da gibt es nichts zu erzählen. Und wenn, dann weiß ich nichts davon.«

»Aber meine Eltern haben gesagt, dass du damals schon gelebt hast, als da in diesem Haus etwas vorgefallen ist«, sagte Nico, der dabei dem ihm gegenüber sitzenden Ronny ein Auge zukniff.

Prompt trat Tante Agnes in die simple Falle, die ihr Großneffe gestellt hatte, und protestierte. »Nö, nö, so alt bin ich doch noch gar nicht. Ich bin doch erst 1924 geboren, und da war die Sache doch schon längst passiert.« Wobei sie mit dieser Aussage bewusst log, aber das verzieh sie sich. Am kommenden Freitag würde sie diese Notlüge in der katholischen Kirche beichten, und alles war wieder gut.

»Aha!«, machte Nico, und Freddy grinste über alle vier Backen. »Also ist damals tatsächlich etwas in oder mit diesem Haus passiert! Was war es denn, Tante Agnes, erzähl doch mal!«

Aber Tante Agnes hatte es nachdrücklich die Laune verhagelt. Sie dankte für das Gläschen Bier und verabschiedete sich. Während sie die Treppe nach oben zu Nicos Eltern ging, schlugen der Großneffe und Freddy patschend die rechte Hand ineinander, als hätten sie soeben ein Tennismatch bestritten.

Die Erinnerung schmerzte, machte Angst, war etwas, was sie am liebsten aus ihrer Seele getilgt hätte, aber das gelang nicht. Wenn sie jemand auf das, was vor langer Zeit geschehen war, ansprach, tat sie das Einzige, was ihr möglich war. Sie kappte abrupt die Kommunikation und zog sich in sich selbst zurück. Also stapfte Tante Agnes die Treppe hinauf, verabschiedete sich von Nicos Eltern – ihrer Nichte und deren Mann – und schlug eilig den Heimweg durch die dunklen Norfer Straßen ein. Und da sie gerade erst an das Schlimme aus der Vergangenheit erinnert worden war, ging sie so schnell sie konnte und sah sich dabei immer wieder furchtsam um. Als sie ihre Wohnung betrat – sie lag im Erdgeschoss des Zweifamilienhauses, das ihr gehörte – schloss sie ab, legte die Kette vor und begab sich so schnell wie möglich in ihr Schlafzimmer. Hier fühlte sie sich einigermaßen sicher. Ein zufälliger Betrachter hätte diesen Raum allerdings für eher merkwürdig, vielleicht sogar bedrückend empfunden. Die Wände waren über und über mit Kruzifixen aller Größen und Formen behängt.

»Merkwürdig, dass diese eher couragierte Frau beim Thema Vellbrüggener Straße so verschlossen reagiert«, sagte Carmen nachdenklich. »Man könnte fast meinen, dass nicht nur mit diesem alten Haus irgendwas Schlimmes passiert ist, sondern dass sie selbst davon betroffen war.«

»Worum genau handelt es sich eigentlich?«, wollte Sven wissen. »Was ist denn für diese Frau das Tabuthema?«

»Kennst du die Vellbrüggener Straße?«, fragte Nico. Als Sven den Kopf schüttelte fuhr er fort: »Wenn du aus Richtung Erfttal oder Autobahn A 57 nach Norf reinfährst und dann die erste links abbiegst …«

»Richtung Norfer S-Bahnhof?«, unterbrach Sven.

»… genau! Die Straße ist nur einseitig bebaut, auf der anderen Seite liegt das Gelände von Gut Vellbrüggen. Und so ungefähr auf der Mitte ist ein großes, völlig verwildertes Grundstück. Darauf steht eine alte Villa, die, seit ich zurückdenken kann, leer steht. Die Bude ist mittlerweile auch so etwas von verfallen, da müsste man erst mal ordentlich Kohle zur Renovierung reinstecken, ehe man da drinnen wohnen könnte.«

Sven nickte verstehend. Das Grundstück war ihm im Vorüberfahren schon aufgefallen.

»Und Tante Agnes weiß, was es mit diesem Grundstück auf sich hat?«, fragte Babs.

»So sagt man. Und sie weigert sich hartnäckig, darüber zu reden«, stellte Nico mit Nachdruck fest.

»Völlig klar!«, meinte Freddy. »Wenn die nicht darüber reden will, dann war das früher mal ein Puff.«

»Na!«, herrschte Fritzi ihn spielerisch empört an. »So ein böses Wort!«

»Also gut«, verbesserte sich Freddy. »Dann eben ein Bordell!«

Zärtlich und neckend zupfte Fritzi an Freddys Ohr. »Du schlimmer Junge, so etwas sollst du nicht kennen, schon gar nicht von innen.«

Nico schien einen Moment in Gedanken versunken, was für ihn nicht unbedingt typisch war. Vielleicht begünstigte der Alkoholspiegel die Regung. Bierphilosophie, sozusagen. »Wenn ich es mir recht überlege, ist Tante Agnes nicht die Einzige, die nicht über die Villa reden will. Im Grunde genommen kann man die Leute hier aus dem Ort in zwei Gruppen einteilen: Die einen sagen, sie wüssten nichts davon. Die anderen sagen dasselbe, aber diese Leute lügen. Manchmal habe ich schon das Gefühl gehabt, dass irgendetwas hier in dem Dorf tot geschwiegen wird.«

»So nach dem Motto, dass nicht sein kann, was nicht sein darf?«, fragte Sven.

»Genau!« Nico trank noch einen Schluck Bier. »So kommt es mir vor.«

»Zu welcher Gruppe gehören deine Eltern?«, fragte Lea.

»Keine Ahnung«, gestand Nico. »Was ist mit deinen?«

Lea zuckte die Achseln.

Die Musik war nicht wieder lauter gestellt worden. Niemandem fiel daher auf, dass die CD mittlerweile abgelaufen war. Nur die Stimmen der Partygäste hallten durch den Kellerraum.

»Ich muss sagen, dass mir das alte Haus nicht gefällt«, sagte Carmen leise. »Bei Dunkelheit mag ich gar nicht über diese Straße gehen. Da nehme ich sogar einen Umweg in Kauf. Die Villa ist mir unheimlich.«

»Kann ich verstehen«, sagte Ronny und lächelte Carmen freundlich zu.

»Ha!«, fuhr Freddy auf. »Unser Ronny hat Angst vor dem bösen, unheimlichen Haus! Hoho!«

Ronny gab keine Antwort. Er versuchte Freddy zu ignorieren und Carmen seine gesamte Aufmerksamkeit zuzuwenden. Das merkte auch Freddy. Ach, so läuft hier der Hase!, dachte er. Ronny will Carmen anbaggern! Na, mal sehen! »Ich habe eine Idee!«, verkündete er.

Babs bedachte ihn mit einem Blick, der so etwas wie Mitleid ausdrückte. »Schon wieder eine?«

»Wir machen einen kleinen Spaziergang«, sagte Freddy und lächelte. Dabei behielt er Ronny fest im Blick. »Wir besichtigen die alte und unheimliche Villa. Und zwar jetzt!«

»Ohne mich!«, sagte Carmen sofort.

Babs schüttelte den Kopf. »Na klar, und danach gehen wir noch auf den Friedhof und buddeln ein paar Totenköpfe aus. Du spinnst doch!«

Freddy ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. »Warum denn nicht? Die Villa besuchen, meine ich! Das passt doch zu Halloween! Oder habt ihr etwa Angst?« Und er schenkte Ronny ein Lächeln mit einem guten Schuss Hohn.

Ronny hielt dem Blick Freddys Stand. Aber er schwieg. Stattdessen verlieh Sven seiner Meinung Ausdruck. »Du weißt doch wohl selbst, dass das eine Schwachsinnsidee ist. Erstens kann man das Grundstück sowieso nicht betreten, weil es von einem schmiedeeisernen Gitter umgeben ist.«

»Falsch!«, rief Freddy in triumphierendem Ton. »Von der Bahnstraße aus kommt man an die Rückseite des Grundstückes. Da ist zwar ein Maschendrahtzaun, aber der ist an vielen Stellen kaputt bzw. offen.«

»Zweitens«, fuhr Sven unbeeindruckt fort, »habe ich schon im Vorüberfahren gesehen, dass man sich mit einem Buschmesser einen Weg durch das Gestrüpp bahnen müsste. Jetzt bei Dunkelheit muss das ganze Gelände eine einzige Stolperfalle sein. Und dann erst das Gebäude! Nein, das ist absolut keine gute Idee.«

Freddy behielt sein Grinsen bei. »Ich sage ja auch nicht, dass das etwas für jeden dahergelaufenen Schlappschwanz ist. Das ist nur was für Männer mit Mumm! Für echte Männer, sozusagen!«

»Was versprichst du dir davon, in diese alte Villa einzusteigen?«, fragte Lea. »Ich meine, hoffst du da einen Schatz zu finden, oder so etwas? Außer dem Risiko, sich die Knochen zu brechen, ist da doch nichts mit verbunden.«

»Er will zeigen, dass er der mutigste Typ aus dem Regierungsbezirk ist. Toughest man fifty miles around!« Babs schüttelte leicht den Kopf. »Du bist nicht mutig, du bist einfach nur doof.«

Fritzi legte ihre Arme auf Freddys Schulter und schmiegte sich an ihn. »Freddy, ich möchte nicht, dass du dort hin gehst. Vor allem nicht jetzt in der Nacht!«

Großspurig meinte Freddy: »Vor allem nicht in der Halloweennacht, meinst du wohl? Nico, alter Junge, das sind doch alles Memmen, oder?«

Nico grinste, doch er verspürte in seinem Innersten nicht den geringsten Wunsch, sich der Villa zu nähern. Er wollte aber auch nicht als Feigling dastehen. Schon gar nicht, wo er doch heute volljährig geworden war. Jetzt war er doch ein Mann, oder? Aber zunächst beschränkte er sich aufs Grinsen und schwieg.

Auch Lea meldete sich in dieser Sache zu Wort und wandte sich an Nico. »Tu mir einen Gefallen, ja? Lass diesen Unsinn. Das bringt nur Ärger ein. Du brauchst mir nicht zu beweisen, dass du Mut hast. Mit so einer Aktion schaffst du das ohnehin nicht. Das ist nur was für dumme, kleine Jungs!«

Babs legte eine neue CD ein und drehte die Lautstärke wieder ein wenig auf. Freddys Vorschlag wurde von niemandem befürwortet. Für den Augenblick war das Thema alte Villa auf der Vellbrüggener Straße vom Tisch.

Der Traum kehrte immer wieder zurück. Im Grunde genommen war es pure Erinnerung, daher veränderte er sich kaum, eigentlich gar nicht. Das Grundthema war immer dasselbe. Das kleine Mädchen von acht Jahren ging an einem trüben Abend Anfang November über die Straßen des Dorfes nach Hause. Es war noch nicht wirklich spät, doch aufgrund der Jahreszeit und des Wetters war es längst stockdunkel. Sie hatte noch keine Angst. Die Straßen waren ihr vertraut. Sie war klug genug zu wissen, dass die Umgebung bei Dunkelheit nur anders aussah, aber nicht anders war als am Tag. Sie war auch nicht mehr weit von zu Hause entfernt. Nur einige hundert Meter noch, und sie würde an die Tür des elterlichen Hauses klopfen. Und sie würde eingelassen werden, ein Lob für den abendlichen Botengang bekommen und heißen Tee und ein Butterbrot. Und Brot war in diesen Zeiten keineswegs etwas Selbstverständliches.

Nebel trieb über die Felder und schlich dann wie ein Dieb über die teils unbefestigten Straßen zwischen den Bauernhöfen und Wohnhäusern. Das Geräusch ihrer alten, mehrfach geflickten Schuhe auf dem ungepflasterten Boden schien gedämpft zu werden. Vom Norfbach trieben noch dichtere Schwaden herein. Es war kalt, und dem Kind lief die Nase. Grund genug, den Schritt zu beschleunigen. Nicht aus Angst, nur wegen der Kälte.

Und dann ging das Mädchen an einigen alten Kopfweiden vorbei, die ihre knorrigen Stämme und Zweige über den Bach beugten. Nebelfetzen hingen an und in ihnen. Diese Bäume sahen schon am Tag etwas unheimlich aus und jetzt erst recht. Sie erinnerten an verkrüppelte Gestalten. Die Phantasie spielte dem Blick des Kindes Streiche. Sah das da nicht aus wie eine bucklige Hexe? Und da, war das nicht ein Gnom oder Troll? Nun wurde sie doch ein wenig furchtsam. Hatten nicht die anderen Kinder in der Schule erzählt, dass hier immer wieder Fledermäuse jagen würden? Und dann diese Sache mit der Abendmutter, die die Kinder mitnehmen würde, die abends nicht zu Hause waren. Die eigenen Eltern erzählten so etwas nie, aber die der Mitschülerinnen schon, um die Töchter nach Einbruch der Dunkelheit im Hause zu halten. Und diese Kinder erzählten es untereinander. Und vor allem war da noch die Sache, über die die Erwachsenen murmelten und munkelten und von der die Kinder nichts Genaues wussten. Die Sache mit der Krankenschwester. Aber was sollte mit der eigentlich sein?

Sie hielt die Augen starr auf den Nebel gerichtet, der nun von den verkrüppelten Bäumen genau auf sie zuzuwehen schien, als wolle er sie mit seinen kalten und feuchten Armen festhalten. Du kommst nicht nach Haus, du kommst nicht nach Haus!, schien der Nebel lautlos zu flüstern. Etwas schien ihr Tempo bremsen, ihre Beine langsamer machen zu wollen, aber sie riss sich trotzig zusammen. Ich hab keine Angst, ich hab keine Angst!, antwortete sie lautlos dem Nebel. Aber so ganz stimmte das nicht mehr. Eigentlich wusste sie, dass sie Angst hatte, aber sie gab es sich nicht zu. Denn dann wäre es noch schlimmer gewesen. Das betont sorglose Pfeifen im Walde!

Ein undeutliches Schemen tauchte im Nebel am Bach auf, vielleicht fünfzig Meter seitlich vor ihr. Etwas bewegte sich langsam und verstohlen, so, als wolle es nicht gesehen werden. Dann war es wieder im Nebel verschwunden oder eins geworden mit der Kontur einer Weide. War es überhaupt da gewesen? Oder hatte es nie existiert? Bestimmt war gar nichts da gewesen!

Aber der Blick blieb furchtsam auf die Stelle geheftet, wo das Ding aufgetaucht war. Und nun schien dort wieder eine kleine Bewegung zu sein. Was war das denn gewesen? Eine Frauengestalt? Wer ging hier bei Dunkelheit und solch einem Wetter zwischen den Weiden am Norfbach entlang? Und warum? Das kleine Mädchen merkte nicht, dass die Bewegungen ihrer dünnen Beine langsamer wurden. Aber das Zittern im Innern, das entging ihr nicht. Sie konnte das Zittern nicht leugnen und sie hasste es.

In einem der Höfe in der Nähe schlug ein Hund an. Vielleicht kam das heisere Grollen und Bellen vom Gut Vellbrüggen. Wenn es eine Frau gewesen war, dann hatte sie nichts zu befürchten! Frauen waren gute Menschen. Ihre Mutter war doch auch eine Frau. Frauen waren Mütter und Großmütter, freundliche Tanten, Köchinnen, Lehrerinnen, Krankenschwestern, Hexen …

Was, wenn es die Abendmutter war? Was, wenn es die Abendmutter doch gab, wenn auch die Eltern versicherten, dass sie gar nicht Wirklichkeit war, sondern nur ein Märchen? Den eigenen Eltern konnte man glauben und vertrauen, aber die eigenen Eltern waren jetzt nicht hier. Das Gebell des Hundes wandelte sich in ein Heulen und Winseln, das nach Angst und Furcht klang. Von irgendwo wurde es beantwortet. Ein schauerliches Duett. Vielleicht war es aber auch die seltsame Krankenschwester, über die die Großen hinter der vorgehaltenen Hand redeten. Dass sie sich mit dem falschen Mann eingelassen hätte, hatte sie mal jemanden reden hören. Und dann war die kleine Agnes entdeckt worden, und die Großen hatten geschwiegen, bis sie außer Hörweite war. Und sie wusste, dass sie sofort weiter über die Krankenschwester reden würden, sobald sie die nächsten drei Schritte gemacht hatte. Was hieß das überhaupt, mit einem Mann einlassen? Und wieso war es ein falscher gewesen? War es ein schlechter Mann gewesen? Wann war ein Mann schlecht?

Wieder sah sie niemanden mehr, nur den Nebel, den Graben des Baches, die Kopfweiden am Ufer und die gedrungenen Gebäude der Bauernhöfe, nur schwarze Silhouetten. Und die hohen, herrschaftlichen Gebäude der Villen, die schon seit Jahrzehnten hier standen. Vielleicht war es ja nur ein etwas dichterer Nebelfetzen gewesen, der ihr die Frauengestalt vorgegaukelt hatte. Bei diesem Wetter und zu dieser Stunde war niemand ohne Grund unterwegs. Und sie würde auch bald zu Hause sein, behaglich in der Nähe des Herdes sitzend, dessen Klappe offen stehen und dessen Kohlenglut sein rotes Licht in die Wohnküche werfen würde, Tee schlürfend, das köstliche Gefühl der Sicherheit verspürend.

Die Gestalt trat so unmittelbar aus Nebel und Schatten hervor, dass das kleine Mädchen wie angewurzelt stehen blieb. Wie ein Turm ragte sie vor ihr auf, nicht gebeugt wie eine böse Hexe, sondern gerade und aufrecht, aber so dünn und dürr, als hätte sie noch nie genug zu essen gehabt. Sie lächelte. Das Kind konnte den Ausdruck des Lächelns nicht deuten, fragte sich furchtsam, warum die Frau schwieg und lächelte. Und dieser Blick! Wenn sie doch nur woanders hinschauen wollte. Das Kind ertrug weder den Blick noch das Lächeln, hätte aber auch nicht zu sagen gewusst, was daran so grässlich war. Und so standen sie einander gegenüber, bewegungslos, Ewigkeit um Ewigkeit, bis die Kleine zaghaft rückwärts zu gehen begann.

Da schien der Mund der Frau noch größer zu werden, das Lächeln noch grausiger, die Zähne noch länger. Sie streckte eine Hand aus mit Fingern wie Klauen. Das Mädchen hatte einmal die Klauen eines Falken aus der Nähe gesehen; spitz, scharf, kraftvoll, tödlich! So wirkten die Finger der Hand. Sie konnte plötzlich nicht mehr rückwärts gehen. Nun schien die Distanz zwischen ihr und der Frau kürzer zu werden. Und die Zähne schienen im gleichen Maße zu wachsen und das Grinsen, das jetzt auf ihrem Gesicht lag, noch schrecklicher zu werden. Das Mädchen hätte schreien wollen, wagte es aber nicht. Sie hätte sich zur Flucht umwenden wollen und konnte es nicht. Das freundliche und sichere Heim schien plötzlich unendlich weit weg zu sein, denn die Frau versperrte ihr den Weg dorthin.

Ein Gefühl der Einsamkeit und der unendlichen Traurigkeit mischte sich plötzlich unter die Angst. Sie würde das Heim nie mehr wieder sehen. Es gab das Zuhause gar nicht mehr. Auf der ganzen Welt gab es nur noch diese grausige Frau und sie selbst. Und bis an das Ende der Zeit würde es so bleiben. Und alles, was diese Frau mit ihr würde machen wollen, würde sie ertragen müssen. Angst und Qual für immer, endlos.

Die Rettung kam völlig unvermittelt. Sie hatte den Mann nicht bemerkt, der sich ihr von hinten genähert hatte. Aber plötzlich war der Bann gebrochen, denn die Frau fletschte nun die Zähne in einer Gebärde grimmiger Wut. Das böse Grinsen war weg, dafür zeigte ihr Gesicht bösartigen Hass. Und der galt dem Mann, der das Mädchen von hinten gepackt hielt, an sich zog, hochhob. Sie hörte eine vertraute Stimme.

»Komm weg hier, Agnes, komm hier schnellstens weg!« Die Stimme des Bruders ihres Vaters, Ohm Hermann, der wie fast alle Leute hier breiten rheinischen Dialekt sprach. Aber die Stimme war jetzt nicht ruhig und gemütlich, so wie sie Ohm Hermann kannte. Das Mädchen spürte das Grausen und die Panik des Mannes. Und dann tat er etwas Seltsames. Er setzte sie kurz ab, öffnete den Kragen ihres Mantels und schob den Schal beiseite. Warum tat er das? Und dann nahm er sie wieder auf und ging mit ihr vorsichtig rückwärts, ohne dabei die Frau aus den Augen zu lassen.

Deren Gesichtsausdruck wandelte sich erneut. Zum Hass gesellte sich Abscheu. Sie folgte ihnen nicht, blieb, wo sie war, sandte ihnen ihre hasserfüllten Blicke nach, die wie Pfeile durch Nebel und Dunkelheit zu jagen schienen. Und dann verschwanden ihre Konturen im Nebel, sie schienen sich aufzulösen, zu vergehen, aber ihre bösartige Gegenwart spürte die Kleine immer noch.

Der Onkel schien gleichfalls diese Empfindung zu haben, denn plötzlich drehte er sich um und rannte mit seiner Nichte davon. Sie näherten sich dem Elternhaus auf Umwegen, mieden den Bach, versuchten dem Nebel so gut es ging auszuweichen. Sie spürte den Herzschlag des Mannes, schnell, rasend, sie hörte seine keuchende Atmung, spürte, dass er trotz des kalten Wetters schwitzte. Immer wieder warf er Blicke um sich, auch nach oben. Wieso dorthin? Nanu, war dort etwas geflattert? Eine Fledermaus?

Es schien sehr lange zu dauern, bis endlich das Elternhaus erreicht war. Vor der Tür setzte er das Mädchen ab, klopfte nicht an, sondern hämmerte mit der Faust gegen das Holz und schrie: »Um Gottes Willen, macht schnell auf! Beeilt euch doch!«

Schon nach kurzer Zeit öffnete die Mutter, warf einen verwirrten Blick auf die, die vor der Tür standen, blieb vor Überraschung stehen. Onkel Hermann drängte seine Schwägerin ins Haus zurück, trat ein, zog die Nichte hinter sich her, und warf schließlich die Tür zu. Einen Moment lehnte er sich aufatmend gegen das Holz, die Augen geschlossen, stoßweise atmend. Das Kind sah die Schweißperlen über das Gesicht und den gereckten Hals laufen, wie der Adamsapfel auf und ab hüpfte, als der Onkel schluckte. Sie stand einfach nur da und wartete. Worauf?

Schließlich öffnete der Mann wieder die Augen, beugte sich zu seiner Nichte und sagte eindringlich: »Agnes, hör genau zu!« Und sein Zeigefinger berührte ihren Hals, dort, wo an einem kleinen, dünnen Goldkettchen das winzige und dünne Kruzifix aus Gold hing, das ihre Mutter ihr zum letzten Geburtstag geschenkt hatte. Sie spürte die raue Haut des Zeigefingers. Die Hände eines Mannes, der Feldarbeit verrichtete. »Du musst mir versprechen, dass du diese Kette mit dem kleinen Kreuz immer trägst. Immer! Du darfst sie nie ablegen! Versprichst du mir das?«

Die Kleine nickte und fragte sich, warum der sonst immer lustige und gemütliche Oheim heute so ernst sprach. Dann wandte sich Ohm Hermann an ihre Mutter. »Kümmere dich um sie! Wo ist Peter?«

An diesem Abend umsorgte die Mutter sie so liebevoll wie selten zuvor. Es gab Tee, sogar mit mehr Zucker als sonst, obwohl der doch so schrecklich teuer war. Und es gab Brot mit dem schwarzen, süßen, klebrigen Zuckerrübensirup, das sie so gern mochte. Aber es gab kein Lob; der Botengang wurde mit keiner Silbe erwähnt, sondern totgeschwiegen. Sie saß auf einem kleinen Stuhl in der Nähe des Herdes, und die Glut darin war so herrlich rot, wie sie erwartet hatte. Noch etwas stimmte nicht. Ihr Vater und der Oheim saßen zusammen am Küchentisch und redeten leise und sehr, sehr ernst. Nur ab und zu vernahm sie einige Worte, die so laut geäußert worden waren, dass sie sich bis zu ihr hin verirren konnten. »… es muss endlich was getan werden… - ich war ohnehin froh, dass ich nicht wie du in Frankreich war, sondern an der Südostfront war, aber … - … dem Pfarrer Bescheid sagen, und wenn er nicht glauben will … - … in Rom anfragen oder besser noch in Rumänien, die haben doch auch Geistliche …«

Sie wusste aus den Gesprächen ihres Vaters mit den anderen männlichen Verwandten, dass die Männer alle im Weltkrieg gewesen waren. Sie hatten dort sehr tapfer sein müssen, das wusste sie ebenfalls. Sie hatte nur eine ungenaue Vorstellung davon, was die Menschen einander mit Kanonen, Giftgas, Gewehren und Bajonetten antun konnten, aber die Erkenntnis, dass der Oheim sich genau wie sie selbst vor der Frau gefürchtet hatte, schockierte sie, ohne dass sie sich dessen voll und ganz bewusst war.

Diesen schauerlichen Abend sollte das Mädchen bis an sein Lebensende nicht vergessen. Er sollte im Gegenteil ihr gesamtes weiteres Leben bestimmen. Schon allein deshalb, weil er als Albtraum immer wieder ihren Schlaf heimsuchte. Die Angst ist ein Virus, mit dem sich viele Menschen infizieren, um ihn nie mehr los zu werden.

Das Ende der Party

Ungefähr um zwei Uhr morgens brachen Sven und Babs auf ihrem Motorrad auf nach Weckhoven. Die anderen Partygäste begleiteten sie bis zur Maschine, denn die Jungs hatten beschlossen, die Mädchen bis zu ihren Haustüren zu eskortieren, sobald das andere Pärchen davon geknattert war.

Sven sah sich die Wetterbedingungen für die Fahrt an. Nebel, ab und zu Nieselregen, aber zum Glück nicht so kalt, dass mit überfrierender Nässe gerechnet werden musste. Carmen schien den gleichen Gedanken nachzuhängen.

»Fahrt bloß vorsichtig«, sagte sie leicht besorgt.

Sven schloss den Kinnriemen seines Helms. »Wird schon schief gehen«, murmelte er. »Ist ja nur ein kurzes Stück bis Weckhoven.«

»Ja, schon, aber ihr fahrt über Landstraßen, und das sind die gefährlichsten Straßen, die wir haben«, sagte Ronny, um sich Carmen gegenüber ein wenig hervor zu tun. Prompt erntete er Spott von Freddy, der noch so einiges an Bier konsumiert, aber keinen Schnaps bekommen hatte.

»Hört nur unseren Kenner und Könner des Auto- und Motorradfahrens«, höhnte er. »Hat noch nicht mal den Führerschein, aber er will gute Ratschläge geben.«

Ronny warf Freddy einen wütenden Blick zu, schwieg aber. Nico versuchte den Geräuschpegel zu dämpfen und gleichzeitig einen Streit zu vermeiden. »Mach nicht so einen Lärm, sonst bekomme ich Probleme mit meinen Alten, weil sich die Nachbarn beschweren.«

Sven schwang sich in den Sattel, ließ Babs aufsteigen und sagte: »Wir machen noch einmal kurz Krach und sind dann weg. Küss die Hand!«

Ein kurzer Druck auf den Startknopf, und die Maschine sprang mit einem aggressiven Bellen an. Sven legte mit dem linken Fuß den ersten Gang ein, der mit einem leisen Klacken einrastete, warf kurz einen Blick über die Schulter und fuhr mit Babs davon.

Die verbliebenen Partygäste schauten den beiden hinterher. Bald war das Motorengeräusch verklungen und das rote Rücklicht von der Dunkelheit geschluckt worden.

»Gar nicht so übel, die Maschine von Sven«, meinte Nico mit Anerkennung in der Stimme. »Ich glaube, ich werde auch den Führerschein für´s Motorrad machen.«

»Lerne erst mal Auto fahren, das ist viel wichtiger«, meinte Freddy anbringen zu müssen. Die Fahrstunden für den Autoführerschein hatte ihm sein Vater bezahlt, unter der Bedingung, dass er von Motorrädern die Finger ließe. Deswegen behauptete er gerne, dass ihn Zweiräder kalt ließen, obwohl er in Wirklichkeit von den Maschinen der Marke Harley-Davidson fasziniert war. Von den Maschinen und nicht zuletzt dem damit verbundenen Outlaw-Image.

Ein leichter Nieselschauer ging über die jungen Leute nieder. »Okay, wen bringen wir als Erste nach Haus?«, fragte Nico, der das Thema nicht weiter verfolgen wollte, denn er neidete dem Freund insgeheim die Fahrerlaubnis.

»Ich möchte, wenn´s geht, als Erste nach Haus«, sagte Carmen. »Ich bin müde.«

Da niemand Protest erhob setzte sich die Gruppe in Richtung Wisselter Weg in Bewegung, wo Carmens Eltern ein freistehendes Einfamilienhaus aus den dreißiger Jahren bewohnten. Kaum waren sie zweihundert Meter von Nicos Zuhause entfernt, sagte das Geburtstagskind grinsend: »So, jetzt können wir wieder lauter sein. Hier wohnen keine Nachbarn meiner Eltern mehr.«

Freddy fand diese Bemerkung so recht nach seinem Herzen und lachte los. »Hey, Ronny, du Kanonensohn, was hältst du davon, der alten Villa einen Besuch abzustatten, häh?«

Ronny war immer wieder das Ziel von Freddys Attacken, gerade weil er nicht wusste, wie er sich in der richtigen Art und Weise dagegen zur Wehr setzen sollte. Er versuchte es, indem er die noch größere Klappe beweisen wollte. Also sagte er trotzig: »Warum denn nicht? Wenn du meinst, dass ich mich das nicht traue, dann bist du schief gewickelt.«

Freddy lachte gackernd und meinte zu Nico: »Hast du das gehört? Ronny riskiert eine richtig dicke Lippe, oder?« Und dann wieder zu Ronny gewandt: »Wenn du tatsächlich Mut hast, dann gehst du sogar voran. Wirst du es tun?« Und als Ronny schwieg fuhr er fort: »Hey, Ronny, du Held, ich rede mit dir!«

Carmen mischte sich ein und sagte mit Nachdruck: »Ronny, wenn du wirklich Mut hast, dann hörst du nicht auf das Gelaber von Freddy, der ist nämlich voll wie eine Haubitze. Lass dich nicht provozieren.« Sie wandte sich an Lea und Fritzi mit den Worten: »Hört mal, versucht die beiden davon abzuhalten, in die Villa einzusteigen. Ich habe bei dieser Sache ein ganz mieses Gefühl.«

Lea nickte zustimmend. »Ich höre auch schon das Martinshorn vom Rettungswagen. Wenn die beiden tatsächlich mitten in der Nacht sich auf das Grundstück wagen sollten ist ein Unfall mit Knochenbrüchen vorprogrammiert. Ich hoffe, Nico und Freddy haben genug Hirn, diese dumme Sache zu unterlassen.«

»Aber was sollen wir den tun, wenn wir Mädels erst zu Hause sind?«, fragte Fritzi.

»Weiß ich auch nicht!«, murmelte Carmen leise. »Aber lasst euch etwas einfallen. Denn wenn die Jungs doch in die Villa einsteigen, befürchte ich Schlimmeres als Knochenbrüche.«

Freddy hatte das gehört und fiel sofort über diese Bemerkung her. »Ha! Was genau befürchtest du denn? Was könnte schlimmer sein als ein Unfall? Der Tod?«

»Tod und Verdammnis, aber nicht nur für dich oder Nico, sondern für so einige Personen mehr«, sagte Carmen leise, aber ernst. Es lag etwas in ihrer Stimme, dass selbst der mit Bier vollgepumpte Freddy einen Moment verstummte. Carmen nutzte diesen Augenblick und nahm Ronny beim Arm.

»Du bist zu schade, um bei so einer hirnrissigen Sache gefährdet zu werden. Versprich mir, dass du von der Villa fern bleibst! Nicht nur heute, sondern immer! Versprich es mir!«

Ronny schaute in Carmens Gesicht und war einen Augenblick von dem Mädchen so eingenommen, dass er seine Umgebung vergaß. Sie bedachte ihn mit einem Blick, der auf ihn wirkte wie Rauschgift, Hypnose, was auch immer. Er hätte ihr in jenem Moment versprochen, was immer sie wollte. »Okay, ich verspreche es dir!«, sagte er mit einem Lächeln.

»Das ist mir ein bisschen zu kurz«, sagte Carmen und packte Ronnys Arm fester.

Ronny verstand. »Ich verspreche dir, dass ich weder das Grundstück noch die Villa betreten weder, heute nicht und auch zu keinem anderen Zeitpunkt.«

Freddy beobachtete sprachlos die Szene. Ihm wurde klar, dass er mit all dem Hohn und Spott, den er aufbringen konnte, nie einen solchen Einfluss auf eine andere Person ausüben könnte. Carmen hatte etwas, was er nicht hatte. Sie besaß eindeutig den stärkeren Charakter und die bessere Überzeugungskraft. Diese Einsicht verdarb ihm gründlich die Laune.

»Wow, das war ja wohl die große Liebesszene«, lästerte er. »Nico, lass die Kamera mitlaufen. Das ist reif für Hollywood. Hurra, wir kriegen den nächsten Oscar!«

»Hör auf zu ätzen!«, schnauzte Carmen ihn mit gedämpfter Stimme an. »Wenn du schon unbedingt in dein Unglück rennen musst, dann zieh wenigstens nicht noch andere Leute mit hinein, du Holzkopf! Es ist doch immer wieder dasselbe mit dir, wenn du besoffen bist!«

»Hoho, hoho, Carmen denkt, ich wäre besoffen!«, machte Freddy, aber er traute sich nichts Weiteres zu sagen und ihm fiel auch nichts ein. Das Mädchen hatte eine unerklärbare Stärke. Verdammt, woher hatte sie die bloß? Und wieso kam er nicht dagegen an?

Mittlerweile war Carmens Zuhause erreicht. Sie zog den Schlüssel aus der Hosentasche und öffnete die Tür. Sie schaltete die Außenbeleuchtung ein und wandte sich der Gruppe noch einmal zu.

»Gute Nacht, Leute! Macht, dass auch ihr nach Hause kommt. Und du, Ronny, denk an das Versprechen, das du mir gegeben hast.«

Ronny lächelte. »Gute Nacht! Ich werde dran denken. Bestimmt sogar!«

Carmen sandte Ronny ein weiteres warmes Lächeln zum Abschied, und Freddy wusste nun mit letzter Sicherheit, dass er Ronny nicht weiter provozieren konnte. Als die Haustür geschlossen und das Licht erloschen war, zog die kleiner gewordene Gruppe weiter.

Lea legte ihren Arm unter den von Fritzi und raunte ihr zu: »Hör mal, ich glaube, dass Carmen Recht hat. Nico und vor allem Freddy haben ganz schön einen im Zylinder. Wenn die gleich allein sind, dann machen die womöglich einen Riesenscheiß. Wie können wir das verhindern?«

Fritzi biss sich auf die Lippe. »Ich weiß, was du meinst. Aber was sollen wir denn tun? Ich hab schon überlegt, Freddy heimlich in mein Zimmer mitzunehmen. Ich würde eher mit ihm vögeln, wenn er besoffen ist, als zuzulassen, dass er Unsinn macht, aber wenn das meine Eltern merken, dann bekomme ich einen Ärger, der sich gewaschen hat.«

Lea nickte besorgt. Sie hatte schon häufig bemerkt, dass Freddy einen unheilvollen Einfluss auf Nico ausübte. Gerade wenn Alkohol mit im Spiel war, neigte dieses Duo unvernünftiger Jungs zu Streichen, die absolut hirnrissig waren. Aber sie sah dasselbe Problem wie Fritzi. Diese war erst sechzehn und ihre Eltern waren von ihrem Boyfriend ohnehin nicht angetan. Leas Eltern sahen Nico zwar weniger kritisch, aber auch sie war noch nicht volljährig, und selbst wenn sie es wäre: Den Jungen über Nacht mit nach Hause zu bringen würde sie auch dann nicht wagen, es sei denn, die Eltern wären verreist.

Wie bei den zehn kleinen Negerlein wurde die Gruppe immer kleiner. Fritzi wurde an der Haustür von einem grimmigen Vater empfangen, der Freddy nur wortlos anstarrte. Unter diesem strengen Blick des Erziehungsberechtigten verging dem Jungen mit der Elvistolle und der schwarzen Lederjacke sogar der Wunsch, seiner Liebsten einen dicken Gutenachtkuss zu geben. Kleinlaut ging er mit den Jungen und dem einzig verbliebenen Mädchen weiter.

Lea wohnte nur wenige hundert Meter entfernt. Nun waren die Jungs unter sich. Freddy, der sich noch des Unterlegenheitsgefühls gegenüber Carmen erinnerte und der die Schmach, Fritzi ohne Kuss gehen lassen zu müssen, noch längst nicht verwunden hatte, suchte ein Ventil für seine Frustration.

»Na, Ronny, Carmen frisst du ja schon aus der Hand, habe ich Recht? Meinst du, die lässt dich `ran, wenn du ihr immer schön nach dem Mund redest?« Er grinste gehässig.

Nico sah eine Konfrontation zwischen den beiden Jungen heraufziehen. So wollte er seine Geburtstagsparty nicht beenden. »Komm schon, Freddy, sei friedlich. Carmen ist ein verdammt nettes Mädchen, und Ronny versucht sie anzugraben. Ist doch vollkommen in Ordnung! Du würdest auch nichts anderes tun, wenn du noch um Fritzi baggern müsstest.«

»Aber der bemüht sich doch umsonst«, ätzte Freddy, um seine Wut los zu werden. »Du glaubst doch wohl nicht, dass der kleine Pisser bei Carmen eine Chance hat?«

Doch Carmens freundliche Worte an Ronny hatten dem Jungen einen Panzer verliehen, an dem Freddys Bosheit fast wirkungslos abprallte. »Ich wünsch euch noch einen schönen Spaziergang, wo immer ihr hin geht. Und ich geh jetzt nach Hause!« Damit wandte sich Ronny um und ging davon. Auch er hatte nur noch einen Weg von einigen Minuten Länge zurückzulegen.

Verblüfft sah ihm Freddy hinterher. Er hatte wenigstens erwartet, den Jungen, den er nicht für ganz voll nahm, noch tüchtig ärgern zu können. »Na, hau schon ab, du Wichser!«, schrie er ihm hinter her. »Hau ab in dein Bett, träum von Carmens Titten und Möse und hol dir dabei einen nach dem anderen runter, bis du einen Tennisarm hast!«

Ronny ging weiter, ohne den gehässigen Worten Beachtung zu schenken. Nico zog Freddy an der Schulter herum und fauchte: »Mann, halt die Klappe, du kannst doch hier nicht so herum brüllen! Hast du eine Ahnung, wie spät es ist?«

Aber Freddy war stocksauer. Er sah das Gesicht von Fritzis Vater vor sich und wusste, dass der Mann ihm am Liebsten eine Tracht Prügel verabreicht hätte, weil er die minderjährige Tochter zu so später Stunde erst nach Hause brachte. Er wusste, dass der blöde Alte ihn nicht mochte und als wertlosen Rotzlöffel ansah. Und im Grunde seines Herzens wusste Freddy auch, dass Fritzis Vater damit gar nicht einmal so sehr Unrecht hatte. Obwohl er sich diesen Gedanken nicht bewusst eingestand, steigerte er dennoch seine Wut.

»Scheiße!«, brüllte er, sich aus der Hüfte nach vorn neigend. »Verfluchter Hosenscheiß! Randvoll!«

Nico beobachtete mit wachsender Nervosität, dass in einem der nächstgelegenen Häuser Licht eingeschaltet wurde. Er musste sich unbedingt etwas ausdenken, womit er sich Freddy gefügig machen konnte. Und plötzlich hatte er auch die passende Idee.

»Hey, hör mal, Alter! Weißt du, was wir jetzt machen? Wir gehen zur Tankstelle auf der Nievenheimer Straße. Die ist durchgehend geöffnet. Du wolltest doch einen Schnaps kippen, oder? Wir holen uns da einen Flachmann.«

Diese Aussicht ließ Freddy verstummen. Den ersehnten Schnaps hatte er auf Nicos kombinierter Geburtstags- und Halloweenparty nicht bekommen. Aber jetzt war er in greifbare Nähe gerückt.

»Superidee, alter Junge, lass dich umarmen!« Und er riss Nico an sich, dass der beinahe das Gleichgewicht verlor. »Aber warum denn nur einen Flachmann? Wir kriegen doch auch eine normale Flasche Schnaps platt, wir zwei, oder etwa nicht?«

Nico, der nicht so betrunken wie Freddy war, sondern im Gegenteil langsam wieder nüchtern wurde, verfluchte sich im Stillen schon für seinen Einfall, denn er sah bereits den Freund mit einer Alkoholvergiftung auf dem Bürgersteig liegen. Wie bekam er nun diesen Unfall wieder ausgebügelt?

Freddy schlug bereits den Weg zur Nievenheimer Straße ein. »Hähä, Tankstelle!«, blödelte er. »In doppelter Hinsicht, oder? Da kann man Autos voll tanken und Männer voll tanken. Hihi!«

Nico grinste über Freddys flachen Witz, da er den Freund unbedingt bei Laune halten wollte. Wohl war ihm allerdings nicht dabei. Wie konnte er erreichen, dass es bei einem Flachmann blieb und es nicht dazu kam, dass Freddy praktisch allein eine Flasche Schnaps leer machte? Denn mehr als einen oder zwei Schlucke würde Nico nicht trinken. »Sag mal, hast du Geld dabei?«