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Ein altes Schulspiel. Vier harmlose Linien. Und ein Stück Papier, das sich mit Blut füllt. Als eine Gruppe Jugendlicher in einer verregneten Nacht das scheinbar harmlose Käsekästchen-Spiel wiederentdeckt, beginnt ein Albtraum, der nicht mehr endet. Jede gezogene Linie, jedes fertige Quadrat bringt etwas Dunkles hervor – etwas, das zwischen den Linien lauert und nur darauf wartet, in die Wirklichkeit zu kriechen. Was als kindische Mutprobe beginnt, wird zu einem psychologischen Höllentrip zwischen Schuld, Wahn und Realität. Die Grenzen zwischen Spiel und Leben verschwimmen, und bald wird klar: Das „Käsekästchen des Grauens“ spielt selbst mit seinen Spielern. Astrid Wellmann (alias Andre Wellmann) verbindet in diesem Horrorroman klassische Spannung mit verstörend realistischer Splatter-Ästhetik. Die Figuren sind komplex, ihre Ängste fühlbar, ihre Entscheidungen fatal. Das Buch schlägt eine Brücke zwischen Jugendtrauma, Dämonologie und moderner Folterpsychologie – intensiv, brutal und tief verstörend. Ein Roman über das, was passiert, wenn das Unschuldige sein Gesicht verliert. Und das Spiel erst dann endet, wenn du den letzten Zug machst.
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Seitenzahl: 169
Veröffentlichungsjahr: 2025
Käsekästchen des Grauens
Impressum:
© 2025 Andre Wellmann
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: Andre Wellmann, An der Tiergartenbreite 18, 38448 Wolfsburg, Germany .
Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]
Ein Buch für alle Horror Fans
von Andre Wellmann
Sie nannten es die Harfe, weil es sang, wenn Stahl durch Bruch ging.
Heute sang es anders. Lina stand im Reifegang, Notizblock an der Hüfte, und roch den Fehler, bevor sie ihn sah: nicht nur Ammoniak, sondern etwas Süßliches, warm wie Atem. Die Luft war feucht. Die Steine schwitzten. Zwischen den Regalen hing ein Brett an zwei Nägeln. Ein Kästchenraster, eingeritzt in Fichtenholz, die Punkte kleine Brandlöcher. Jemand hatte die Linien mit dunkler Paste nachgezogen. Nicht Tinte. Zu klebrig.
„Nur ein Spiel“, sagte Jannik hinter ihr. Seine Hände waren salzweiß, die Finger eingerissen. „Die Alten spielen in der Pause. Wer ein Kästchen macht, kriegt den Anschnitt.“
„Wer hat’s angebracht?“ Lina tastete an den Nägeln vorbei. Das Holz vibrierte, als atmete etwas dahinter.
„War schon da“, sagte Jannik. „Seit… immer?“
Ein Schrei von der Harfe schnitt ihm das Wort ab.
Unten am Bottich stand Meo, der kräftigste unter den Waschern. Er führte die Harfe durch den Bruch, Stahlfäden unter Spannung, eine glänzende Gitternarbe. Der Käsebruch trennte sich sauber, fiel in wolkigen Würfeln auseinander. Meo grinste, weil der Schnitt gut war. Dann rutschte sein rechter Stiefel auf der nassen Stufe weg. Er suchte Halt, bekam den Rahmen, bekam die Saiten.
Lina rannte.
Die Harfe sang wieder, hell, falsch – die Saiten bogen sich um Fleisch. Meos Unterarm lag im V und die Fäden schnitten Kerben, erst oberflächlich, dann tiefer, als wäre er selbst Bruch. Haut wurde unausweichlich zu Rinde; Fett perlte, warm wie Molke. Er zog, und die Saiten gaben nach, sprangen zurück, rissen eine Leiter roter Kerben bis zum Ellbogen. Meo keuchte. Ein Faden war in der Ellenbeuge, ein anderer in der Achsel. Die Kanten waren sauber. Zu sauber.
„Nicht bewegen“, sagte Lina, hörte die Nutzlosigkeit in ihrer Stimme. „Jannik, Wasser, trockenes Tuch, schnell!“
Jannik stand starr.
Das Brett an der Wand knackte. Eine Linie schob sich wie feuchter Strich nach – niemand hielt Kreide, niemand zog. Das Kästchen in der Ecke schloss sich, ein Hauch dunkler Paste floss in den Spalt, als ob das Holz geschwitzt hätte.
Der Reifegang sog Luft. Ein Regal ächzte. Über den Laiben blühte orange Rotschmiere in Sekunden, als rieben unsichtbare Hände sie wach. Meos Schrei wurde gurgelig, ein Ton, den man nur in Schlachthäusern hört. Die Harfensaiten hatten jetzt Wege. Sie fanden sie in ihm.
Lina packte einen Faden mit dem Tuch, zog ihn vom Fleisch – der Faden schnitt das Tuch durch, spannte sich kristallklar und setzte unter ihrer Hand eine neue Kerbe in Meos Oberarm, bis etwas aufplatzte, das nicht hätte aufplatzen dürfen. Molke mischte sich mit Blut, gelb und rot, Salzlake im falschen Eimer.
„Schneid ihn raus!“, brüllte jemand. „Das Ding! Nimm’s ab!“
Sie nahm das Dienstmesser. Keine Zeit, zu überlegen. Der Rahmen war Holz, altes, gutes Holz, mit Salz getränkt. Sie setzte an, das Messer zitterte, die Harfe sang ihr ins Gelenk.
„Nicht den Rahmen“, keuchte Meo, als ob das irgendeine Bedeutung hätte.
Sie schnitt den ersten Draht. Ein Sprung durch die Luft, ein leiser Schlag. Meo sackte. Der Schnitt war wie ein Riss in nassem Tuch. Der zweite Draht. Der dritte. Ihre Finger brannten, als die Saiten zurückschnappten, und irgendwo hinter ihr setzte jemand einen Eimer ab. Das Geräusch war zu laut, zu endgültig.
Das Brett an der Wand zog die nächste Linie. Ein zweites Kästchen schloss sich. Der Punkt am unteren Rand – die südliche Brücke im Dorf, dachte Lina völlig absurd – glomm kurz.
Jannik riss sie am Ärmel. „Frau Grell— Lina — da…“ Er zeigte auf Meos Haut.
Haut darf nicht schäumen, dachte sie. Und doch tat sie es. Winzige Blasen unter der Oberfläche, die platzten und Ränder hinterließen wie Käserinde. Ein orangefarbener Schimmer lief über die Kerben, brannte sich in die Poren, färbte die Fasern. Der Geruch war auf einmal alles: feuchtes Tuch, Salz, Schinken, dann beißend, ammoniakalisch, scharf genug, um Tränen zu treiben.
„Lake!“, sagte Lina. „Nicht auf die Wunden, auf die Saiten!“
Jannik goss. Der Stahl sang noch einmal – dann verstummte er, als wäre etwas satt geworden.
Meo atmete in Stößen. „Hab… gewonnen…“ Er lachte, ein brüchiger Laut. „Zwei Kästchen… mein Anschnitt…“ Blut trat ihm in die Mundwinkel. Er sah an Lina vorbei, zum Brett. „Noch eins… und der Block gehört uns…“
„Wem gehört was?“, zischte Lina. „Wer hat euch das erzählt?“
Er deutete mit dem Kinn. Konrad Bel stand im Türrahmen. Er hatte nicht gelaufen, aber er war da, wie Leute da sind, die immer schon im Raum waren. Mantel trocken, Schuhe sauber.
„Demütigt den Bruch“, sagte Konrad ruhig, als spräche er mit Lehrlingen. „Dann trägt er. Jeder Schnitt ist ein Versprechen. Heute hat das Haus am Fluss sein Versprechen eingelöst.“
„Sie haben—“ Lina hielt inne. Sie kannte Konrad. Früher hatte er ihr Bonbons zugesteckt, wenn sie wartete, dass ihr Vater die Lieferpapiere unterschrieb. Er lächelte, dieselbe Falte neben dem Auge, nur tiefer.
„Ihr werdet das Brett abnehmen“, sagte sie, und hörte, wie leer das klang.
„Man nimmt die Grenzen nicht ab, Kind“, sagte Konrad. „Man zieht sie. Das ist unsere Arbeit.“
„Das ist Mord.“
„Das ist Affinage.“
Die Lampen flackerten. Irgendwo draußen heulten Sirenen, aber sie klangen gedämpft, als würden sie durch Stoff wehen. Lina wusste warum, bevor sie es zuließ: Wenn das Raster das Dorf war, dann war eben ein Kästchen geschlossen worden. Türen würden klemmen. Telefone rauschen. Und irgendwo an der südlichen Brücke würde etwas rindig werden.
Sie steckte das Messer weg. „Jannik. Die Harfe in den Ofen. Jetzt.“
„Das Holz—“
„In den Ofen.“
Er nickte, nahm den Rahmen wie etwas Heiliges, das man trotzdem töten musste, und verschwand. Lina kniete bei Meo. Sein Puls war ein flatternder Fisch.
„Wer hat das Brett gezeichnet?“, fragte sie leise.
„War da“, flüsterte er. „Schon immer…“ Er hustete. Rote Molke spritzte ihr gegen das Kinn. „Dein Bruder hat’s gemocht.“
Es wurde still im Gang. Nur Tropfen. Nur ihr Atem.
„Wie bitte?“
Konrad verschränkte die Hände. „Er war der beste Spieler, Lina. Damals. Ein Naturtalent. Hat die Linien gesehen, bevor sie da waren.“
„Er ist tot.“
„Alles, was reift, kommt wieder.“
Hinter ihr rollte der Ofen an. Holz krachte. Ein kurzer Aufschrei, als eine Saite riss und einen Funken schluckte. Der Geruch wechselte, wurde trocken, rußig, fast normal. Die Paste auf dem Brett begann zu reißen, als ob die Wärme sie scheuchte.
Lina stand auf. „Noch eine Linie“, sagte sie, „und ich reiße euch den ganzen Keller raus.“
Konrad lächelte milde. „Kind, du wirst spielen.“
Sie ging näher. So nah, dass sie die Salz Furchen in seiner Unterlippe sehen konnte. „Dann spiel ich schmutzig.“
Er sah an ihr vorbei zum Brett. „Zu spät. Zwei Kästchen. Der Block gehört uns.“
„Wem ist ‚uns‘?“, fragte sie.
Er hob die Hände. Zwischen den Fingern klebte Rotschmiere. „Uns allen, die wir rinden.“
Meo machte ein letztes, nasses Geräusch. Dann war nur noch Molke auf Stein.
Lina trat zurück. Jannik kam mit Ruß im Gesicht und schwarzen Fingerkuppen zurück. „Die Harfe brennt.“
„Gut“, sagte sie. „Dann brennen wir das Spiel mit.“
Das Brett knackte, als wäre es beleidigt. Eine der Linien hob sich minimal vom Holz, als wolle sie Luft holen. Lina legte die Hand darauf. Warm. Kein Holz hat so warm zu sein.
„Hol mir Kreide“, sagte sie. „Wenn sie Linien wollen, kriegen sie welche.“
Konrad blinzelte. Zum ersten Mal wirkte er unsicher. „Wer eine Linie zieht, macht sich zum Spieler.“
„Ich weiß.“ Lina sah ihn an. „Und Spieler können auch verlieren.“
Der Morgen hing feucht über Hintertrift. Nebel stieg aus dem Fluss wie Atem, die Glocke der Kirche klang dumpf durch Watte. Lina Grell ließ den Motor ausrollen, parkte schräg vor der Käserei Bel & Söhne und blickte auf die Fassade: Kalk, Risse, nachgestrichen. Der Schriftzug war sauber. Zu sauber. Jemand hatte die Jahre darüber gestrichen.
Im Kofferraum lagen Probenröhrchen, sterile Tupfer, Indikatorstreifen, ein Messschieber, Einmalhandschuhe. Sie hängte sich die Fotokamera um. Dienstmarke in die Jackentasche. Der Ammoniakgeruch griff schon auf dem Parkplatz nach ihr. Unter dem stechenden Ton lag etwas Weiches, Warmes, Zuckriges. Falsch.
Jannik Rupp öffnete ihr das Metalltor. Zweiundzwanzig, Salz an den Wimpern, eingerissene Finger. „Morgen, Frau Grell. Wir wussten nicht… also, Herr Bel wusste schon, aber…“
„Heute ist angekündigt,“ sagte Lina. „Routine. Listen, Kühlung, Reifekeller. Und ich nehme extra Abstriche.“ Sie hielt inne. „Und Sie sagen Lina. Das spart Luft.“
Er nickte, etwas zu eifrig, und drehte den Schieberiegel zurück. Der Hof glänzte nass. Ein Schlauch sickerte am Gully. Milchgeruch, heißer Stahl, nasse Holzpaletten. Jannik redete weiter, die Stimme aufgedreht, wie man redet, wenn man Lücken stopfen will. „Frühe Lieferung. Wir sind im Verzug. Der Rotschmier Gang läuft, aber die Lake—“
„Zuerst Büro.“ Lina schnitt ihm die Worte ab, ohne scharf zu werden. Sie ging die Stufen hoch, zog den Handschuh an der Türklinke straff. Drinnen: Aktenschränke, Staub, ein vergilbter Kalender mit Kühen und Schönwetter. Ein Kruzifix. Ein Hygiene Schaukasten mit laminiertem Lametta: „Hände waschen“, „Haarnetz“, „Besucher anmelden“. Haken an der Wand, ein Mantel: dunkel, trocken, falsch im nassen Morgen.
„Herr Bel?“ rief sie.
„Er ist im Keller,“ sagte Jannik. „Er macht… die Affinage.“
Sie unterschrieb die Besucherliste in sauberer Schrift. Datum. Uhrzeit. Ihre Hand roch schon nach Salz. Sie bat um die Produktions- und Temperaturprotokolle. Jannik reichte Mappen, zu schnell. Sie blätterte. Zahlen, die zu ordentlich wirkten. Durchgehend 11,5 °C. Luftfeuchte 92 %. Ohne Einbruch, ohne Schwankung. Wie aus einem Lehrbuch, das niemand liest.
„Sind die Daten digital?“ fragte sie.
„Ja. Auch. Aber die Handschrift—“
„Dann will ich beides.“ Sie steckte die Mappen ein. „Jetzt Keller.“
Die Treppe war steil, der Putz salzig. Wasserperlen standen an der Wand, als schwitze der Berg. Im Reifegang hing die Luft schwer. Reihen von Laiben auf Fichten Regalen. Orange Schlieren an manchen Rinden, bei anderen schimmerte milder Schimmel wie Frost. Der Boden klebte. Der Geruch war eine Decke.
„Hier sind wir,“ sagte Jannik. Seine Stimme wurde kleiner.
Lina ließ die Kamera klicken. Regalnummern. Thermometer. Hygrometer. Schimmelspuren. Sie nahm Abstriche von einer Rinde, wischte den Tupfer in den Röhrchen-Bauch, knackte zu, beschriftete: R1–08/01, Rotschmiere. Zwei weitere Abstriche von einem Laib, der zu schnell gewachsen schien. R2–09/01, Hefen. Ein Streifen für Oberflächenprotein. Sie arbeitete ruhig und schnell. Die Routine hielt die Welt zusammen.
Dann sah sie das Brett.
Es hing an zwei Nägeln, zwischen zwei Regalen, dorthin gehängt, wo der Gang sich verengte. Fichtenholz, dunkel vom Salz. Ein Kästchenraster eingeritzt, Punkte als kleine Brandlöcher. Die Linien mit dunkler Paste nachgezogen. Kein Lack. Zu klebrig. Auf dem Rand Kerben, als hätte jemand mit einem Messer gezögert. Über zwei der Punkte waren winzige Nägel geschlagen, schief, als wären sie selbst gelaufen.
„Nur ein Spiel,“ sagte Jannik, zu schnell. „Für die Pause. Wer ein Kästchen macht, kriegt den Anschnitt.“
„Wessen Spiel?“ Lina trat näher. Kleine Einkerbungen an den Punkten, als wären die Punkte Dinge gewesen, keine Zeichen. Zwischen zwei Linien: ein eingeritztes E.G. Die Buchstaben waren alt. Das Holz drumherum glatter als anderswo, poliert von Fingern.
„Schon immer da,“ murmelte Jannik. „Seit… immer?“
„Immer ist kein Datum.“ Lina hob den Blick. „Wer hat’s aufgehängt?“
„Keiner. War—“
Ein Schrei von unten schnitt ihm das Wort ab. Ein Saiten Ton, der durch Knochen ging, zu hell.
„Harfe,“ sagte Jannik und lief los.
Sie rannte hinterher. Der Reifegang öffnete sich zum Produktionsraum. Ein Bottich, so groß wie eine Badewanne für ein Pferd, schäumte weiß. Ein Mann stand mit der Käseharfe über dem Bruch, ein Rahmen aus Holz, Stahlfäden wie Gittern. Meo. Der kräftigste unter den Waschern. Er lachte, weil der Schnitt gut war. Dann rutschte sein rechter Stiefel auf der nassen Stufe weg. Er suchte halt, bekam den Rahmen—bekam die Saiten.
Der Ton, der dann kam, ließ das Licht an der Decke kurz dunkler erscheinen.
Die Stahlfäden bogen sich in Fleisch. Erst Kerben, dann Stufen. Die Reihen der Saiten zeichneten Leitern in Meos Unterarm, stiegen sauber zur Achsel. Der Schweiß auf seiner Haut machte alles schneller. Das Geräusch war kein Schrei mehr. Es war ein Schlucken. Die Harfe sang, wie man nur singt, wenn etwas durch etwas geht.
„Nicht bewegen,“ sagte Lina und wusste, wie lächerlich das klang. Sie war schon bei ihm, Tuch in der Hand, Messergriff spürbar am Rücken. „Jannik! Trockenes Tuch! Keine Lake!“
Jannik stand starr.
An der Wand, im Augenwinkel, klackte etwas. Das Brett. Eine Linie schob sich weiter, feucht, ohne Hand, als würde jemand von hinten drücken. Ein Kästchen schloss sich. Die Paste glänzte einen Herzschlag lang wie frisch geschmiert.
Der Reifegang zog Luft. Regale ächzten. Ein Laib blühte in Sekunden orange, als hätte jemand ihn massiert. Meo gurgelte. Molkegeruch kippte zu scharf. Lina packte einen Draht mit dem Tuch, zog—und schnitt das Tuch durch. Der Draht sprang, setzte eine neue Kerbe, sauber wie ein Chirurg. Blut mischte sich mit Molke. Es wurde rosa, dann gelb mit Schlieren, dann wieder rot. Eine falsche Suppe.
„Schneid ihn raus!“ schrie jemand. „Das Ding!“
Sie nahm das Messer, setzte am Holzrahmen der Harfe an. Das Holz war alt, mit Salz getränkt, es atmete. Der Stahl sang ihr ins Gelenk, als sie den ersten Draht durchtrennte. Ein leiser Schlag. Meo sackte. Der zweite Draht, der dritte. Jeder Sprung war ein Insekt, das gegen die Lampe flog.
Das Brett klackte ein zweites Mal. Noch eine Linie. Das nächste Kästchen hatte einen Rand. Einer der Punkte glomm kurz. Südliche Brücke, dachte Lina, und wusste nicht, warum.
„Lake—auf die Saiten,“ sagte sie. „Nicht auf die Wunden!“
Jannik goss. Die Saiten zuckten, wurden stumpf. Meo keuchte. Auf seiner Haut liefen kleine Blasen, die platzten und Krusten hinterließen, orange an den Rändern. Rinde. Das durfte nicht so schnell gehen. Aber es ging.
„Demütigt den Bruch,“ sagte eine Stimme aus der Tür, ruhig, als erklärten die Lippen eine Handbewegung. Konrad Bel stand dort. Mantel trocken, Schuhe sauber. Niemand hatte ihn kommen hören.
„Sie stoppen alles,“ sagte Lina. „Jetzt. Strom aus, Flame-off, alle raus, Keller sperren.“
„Man sperrt keine Grenzen,“ sagte Bel. „Man zieht sie.“
„Das ist Mord.“
„Das ist Affinage.“
Meo machte ein nasses Geräusch. „Hab… gewonnen…“ Seine Lippen schäumten roter Molke. „Zwei Kästchen… der Anschnitt…“ Er lachte erschöpft. Es klang, als knipse jemand Licht an und aus.
„Jannik! Ofen!“ Lina zeigte auf den Nebenraum. „Den Rahmen. In den Ofen. Jetzt.“
„Das Holz—“
„In den Ofen!“
Jannik griff nach der Harfe, als trage er ein Sakrament, das man trotzdem töten muss. Er lief, stolperte, fing sich. In der Ofenkammer sprang die Flamme auf wie ein Tier. Holz krachte. Ein Draht riss, schlug irgendwo auf, ein Funke verschwand mit einem Zischen, als hätte ihn jemand getrunken.
Der Geruch änderte sich. Von feucht und scharf zu trocken und rußig. Das Brett atmete flacher. Die Paste an den Linien bekam Klüfte, als trockne sie.
Meos Puls flackerte gegen Linas Finger. „Wer hat das Brett aufgehängt?“ fragte sie leise.
„War da…“ Ein Husten. Rote Sprenkel auf ihrer Wange. „Seit immer… Dein Bruder… mochte es.“
Das Wort traf sie fast körperlich. „Wie bitte?“
Bel trat einen Schritt in den Gang, hob die Hände. Zwischen den Fingern klebte orange Rotschmiere wie Salbe. „Er war der beste Spieler, Lina. Damals. Ein Naturtalent. Er hat Linien gesehen, bevor sie da waren.“
„Er ist tot.“
„Alles, was reift, kommt wieder.“
Sirenen jaulten draußen. Gedämpft, wie durch nasses Tuch. Eine Tür irgendwo drückte gegen ihren Rahmen. Nicht auf, nicht zu. Die Luft im Gang schob, als hätte jemand einen Schrank verrückt.
„Alle raus,“ sagte Lina. „Das hier ist eine Gefahrenlage. Ich sperre.“
Niemand bewegte sich. Die Arbeiter blickten zwischen ihr, Bel und Meo hin und her, als seien sie Laibe, die auf die nächste Drehung warteten. Bel lächelte mild, als wüsste er etwas über Schwerkraft, das die anderen nicht wussten.
Lina stand auf. Sie ging zum Brett. Legte die Hand auf das Holz. Warm. Holz war nicht warm. Nicht so. In einer Ecke, an der eine Linie endete, steckte ein blanchierter Splitter unter der Paste. Knochen, dachte sie, und musste etwas schlucken, das nicht im Hals stecken durfte. Neben den eingeritzten Punkten, klein und hell: E. G. Sie fuhr mit dem Fingernagel drüber. Der Widerstand war vertraut. Dieselbe Unruhe im Z, mit der ihr Bruder als Kind seinen Namen geschrieben hatte. Ein Fehler, der keiner war.
„Gib mir Kreide,“ sagte sie, ohne den Blick vom Brett zu nehmen.
„Wenn du—“ begann Bel.
„Kreide, Jannik.“
Er reichte ihr ein Stück, bröselig, aus einer Blechdose. Lina zog eine Linie – nicht dort, wo die Paste nachgab, sondern quer über zwei halbe Kästchen, wie ein Fehler im Heft. Kreide staubte. Die Paste darunter zitterte minimal, als müsse sie entscheiden, wem sie gehorcht. Nichts geschah. Gut. Sehr gut. Sie atmete wieder.
„Wer eine Linie zieht, macht sich zum Spieler,“ sagte Bel. Kein Vorwurf. Ein Fakt.
„Dann spiele ich sauber,“ sagte Lina. „Nach Regeln, die ich sehen kann.“
Sie steckte die Kreide ein. Nahm zwei Abstriche vom Brett – Paste und Rand – beschriftete: BR1–01/01, Paste, BR2–01/02, Holzrand. Sie klebte Beweis Siegelnummern auf die Blechdose, auf den Nagel unten links, auf die Kante des Bretts. Sie fotografierte: das Raster, die Nägel, die Initialen. Jannik hielt still, als hielte er seinen Atem an, damit das Bild nicht verwischt.
Meo starb leise. Es war fast unhöflich. Eine Blase unter der Haut platzte nicht mehr. Die Saiten sangen nicht mehr mit. Der Raum wurde größer.
„Tuch,“ sagte Lina. „Über ihn.“
Niemand rührte sich. Also machte sie es selbst. Sie deckte Meo zu, so weit man etwas zudecken kann, das noch warm ist und nicht mehr lebt. Dann wusch sie ihre Hände, gründlich, im kalten Wasser, ohne Seife, weil der Schaum das Falsche in die falschen Ritzen trägt. Handschuhe wechselte sie dreimal.
„Die Feuerwehr ist unterwegs,“ sagte eine Stimme aus der Ferne. „Aber die Brücke…“
„Die Brücke klemmt,“ sagte Lina automatisch und erschrak über sich selbst. Sie wusste Dinge, die sie nicht wissen durfte. Sie sah das glimmende Pünktchen wieder vor sich. Südliche Brücke. Ein Kästchen geschlossen. Ein Block „gehört“.
„Wir evakuieren über den nördlichen Hof,“ sagte sie und klammerte sich an Handlungsworte. „Fenster auf, Türen verkeilen. Der Reifegang bleibt, bis die Feuerwehr da ist. Jannik— Not-Aus an der Lake. Keine feuchten Schwaden mehr. Jetzt.“
Jannik nickte und lief. Der Schalter klackte, und der Nebel in der Luft fiel spürbar. Es war, als würde jemand eine nasse Decke abziehen, unter der noch eine nasse lag. Man sah wieder Konturen.
Bel blieb. „Du wirst wiederkommen,“ sagte er. Nicht drohend. Gewiss.
„Ich komme mit einem Beschluss und der Polizei,“ sagte Lina. „Und mit Leuten, die wissen, wie man ein Siegel zieht.“
„Das Siegel ist schon da,“ sagte Bel und deutete mit dem Kinn auf das Brett. „Wir pflegen nur die Rinde.“
„Dann trocknet sie,“ sagte Lina.
Er lächelte.
Sie packte ihre Proben sicher in den Koffer. Der Verschluss klickte wie ein Verstand, der etwas wegschließt, das gerade erst reingekrochen ist. Sie nahm noch zwei Oberflächenabstriche an der Tür, TÜR–01/01, TÜR–01/02, und ein Wasserprobenröhrchen aus dem Schlauch am Gully, WASS–01. Alles, was man in Zahlen pressen konnte, wurde zu Zahlen.
Als sie den Hof betrat, war die Welt wieder grau. Der Nebel hatte die Farben gefressen. Eine Sirene klang näher, dann nicht. Zwei Feuerwehrmänner standen jenseits der Brücke und gestikulierten, klein wie Figuren in einem Schaukasten. Die Brücke selbst hing offen, aber jemand hatte eine Karte über sie gelegt. Unsichtbar. Man wusste es im Bauch.
„Zum nördlichen Ausgang,“ sagte Lina zu den Arbeitern, die unsicher kauerten. „In Reihen. Keine Panik. Keine Lake. Kein Wasser auf den Boden. Trockene Tücher über Mund und Nase, wenn ihr Rotschmiere atmet.“
Sie folgten, weil Befehle manchmal Türgriffe sind. Jemand weinte. Jemand lachte zu hoch. Einer murmelte etwas, das wie ein Gebet klang. Rinde kam darin vor.
Lina blieb einen Moment allein im Gang, der jetzt leer war. Der Ofen grummelte. Das Brett war ruhig, Kreidestaub hing wie Pollen. Sie ging noch einmal näher heran. Die Initialen E. G. standen da wie Zähne. Sie fuhr mit dem Daumen über die Kante darunter. Dort, fast unsichtbar, ein zweiter Ritz: Z. Ihr Bruder hatte sein Z nie gerade geschrieben, immer ein Blitz. Sie spürte es blind.
„Alles, was reift, kommt wieder,“ hatte Bel gesagt.
