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Wir schreiben das Jahr 2039. Nach einem Bürgerkrieg vor achtzehn Jahren sind in Niedersachsen über ein Dutzend Kleinstädte abgeriegelt worden, um die damals dort entstandene aggressive Bewegung im Zaum zu halten. Als besonderer Krisenherd hat sich die Stadt Soltau entpuppt, die seit jeher von den zwei verfeindeten Gangs Unity und Black Sheep kontrolliert wird, die sich immer wieder blutige Auseinandersetzungen liefern. Dimitri Jerschow, hartgesottenes Mitglied der Black Sheep, soll nach einem Abkommen mit Drogenbaron Rafet Aydin mehrere Kilogramm Drogen an Unity verkaufen. Jedoch geht der Deal schief und Dimitri und sein guter Freund Angel werden niedergeschossen, wobei letzterer ums Leben kommt. Gangoberhaupt Mark Holm, welcher gleichzeitig auch Angels Onkel war, schickt Dimitri daraufhin auf einen blutigen Rachefeldzug. Dieser begrüßt zunächst die Pläne seines Befehlsgebers, doch bald merkt er, dass er und sein Umfeld in eine Spirale aus Hass und Gewalt gezogen werden, aus der es so leicht kein Entkommen gibt. Gleichzeitig wird dem siebzehnjährigen, unter Wahnvorstellungen leidenden Frederik Hoffmann nach dem Tod seiner Mutter eine Übersiedlung aus der Nachbarstadt Schneverdingen nach Soltau zu seinem Onkel genehmigt. Doch kaum ist er angekommen, wird er bereits mit vielen heiklen Umständen konfrontiert. Er trifft seine schwerverletzte Cousine, freundet sich mit dem unberechenbaren Draufgänger Manuel Rodriguez an und verliebt sich in seine Zimmernachbarin. Zugleich soll er außerdem in die Gang Unity eingegliedert werden, in der sein Onkel ein hohes Ansehen genießt. Doch als der Konflikt der beiden verfeindeten Parteien zu eskalieren droht, berichtet der von Unity bei den Black Sheep als Maulwurf eingesetzte Vincent Marchetti von einem Plan, der sowohl Dimitris als auch Frederiks Leben für immer verändern würde. -erster Teil der Kasimir-Trilogie-
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Veröffentlichungsjahr: 2016
Nun saß ich hier. Die tristen grauen Betonwände des kleinen, quadratischen Raumes schienen mich zu erdrücken und der von der Decke bröselnde und in der Luft verteilte Putz kratzte meine Lunge. Die schwere Eisentür am gegenüberliegenden Ende des Raumes stand da wie ein gewaltiger Koloss, bedrohlich und unbezwingbar.
Dies war das erste Mal, dass ich diesen Raum wirklich aktiv nutzte, und ich war froh, dass ich nicht derjenige war, der ihn eigentlich zu fürchten hatte. Steif presste ich mich in meinen Stuhl und klopfte ungeduldig meine Fingerkuppen auf den maroden Kiefernholztisch in der Mitte des Raumes.
Von der Decke herab hing die einzige Lichtquelle, eine heruntergekommene, staubige Lampe, in der eine alte Glühbirne festgeschraubt war. Es war noch eine dieser fast schon antiken, energiefressenden Birnen, die in Deutschland schon seit mindestens fünfzehn Jahren verboten waren.
Doch wen kümmerte das? Wem lagen wir ernsthaft noch am Herzen? Die Regierung interessierte sich einen feuchten Dreck für unsere Probleme und hätte uns in diesem Scheißloch am liebsten gleich elendig verrecken lassen.
Ich verschränkte meine Arme und setzte meinen ernsten Blick auf. Dieser zog bei den meisten Ratten, die sich in diesem Loch tummelten, und ich setzte viel Vertrauen in ihn. Diese Ratte jedoch war zu groß und mächtig. Ich hätte es schon vorher wissen müssen, ehrlich gesagt war ich schon gefasst auf eine ausbleibende Reaktion. Statt einem eingeschüchterten Blick kam mir lediglich der Rauch einer edlen und reichlich fetten kubanischen Zigarre entgegen.
Und da saß er, dieser Mistkerl, direkt gegenüber von mir am anderen Ende des Tisches. Sein markantes, südländisches Gesicht wurde unterstützt durch einen Dreitagebart und sein schwarzes, perfekt nach hinten gegeltes Haar schimmerte im grellen Licht der Lampe. An seinen Ohren blitzten zwei winzige silberne Steckohrringe auf und seine tiefblauen Augen strahlten eine bedrohliche Aura aus, während er sein hämisches Grinsen aufsetzte. Sein durch rosa Hemd und schwarze Krawatte ergänzter, blitzblank polierter weißer Anzug passte perfekt zu seiner stämmigen Figur und sah unverschämt teuer aus. Vermutlich war es einer dieser Gucci- oder Armani-Anzüge, oder wie diese ganzen verfluchten Marken auch hießen.
Sein Name war Rafet Aydin. Er war meines Wissens nach um die dreißig und war durch das Geschäft mit Drogen reich geworden, sehr reich. Seine Haupteinnahmequelle und der Grund für seinen abartigen Reichtum war die von seinem Vater Tayfun Aydin eigens entwickelte Droge Desiderium, auch Dess oder ganz einfach D genannt.
Ich hatte es nie genommen, doch ich wusste, dass es ein sehr starkes Halluzinogen war, welches dich in eine Art Trance versetzte und in eine nach deinen Sehnsüchten gestaltete Traumwelt ziehen konnte. Aber wie bei jeder Droge hatte D auch seine Schattenseiten, und zwar heftige. Während des kurzweiligen Rauschzustands griff die Droge die Organe an und ließ sie langsam, aber sicher verfaulen. Dieser innere Zerfall zeichnete sich auch äußerlich ab, sodass die Opfer dieser Droge immer mehr eingingen, bevor sie einen qualvollen Tod starben. Obwohl D zu vergleichsweise teuren Preisen vertickt wurde, hieß es, Tayfun Aydin hätte die Droge einst mit den einfachsten und billigsten Mitteln zusammengebraut, ganz ohne viele teure Chemikalien und aufwendige Prozesse. Deshalb war wahrscheinlich auch sein Gewinn damals so hoch gewesen.
Ich richtete noch immer meinen finsteren Blick auf dessen Sohn, voller angespannter Stille auf meinem Stuhl sitzend und die verschränkten Arme fest an meine Brust gepresst. Aydins hämisches Grinsen hielt noch immer an und in seinem Gesicht zuckte kein Muskel.
"Du hast mir etwas zu erklären, Aydin", presste ich aus meinen Lippen hervor.
Dieser zeigte sich zunächst schweigend, nahm einen gierigen Zug seiner Zigarre, lächelte mich wie ein kleines Kind an und stieß ein unterdrücktes, aber zugleich kraftvolles Lachen aus.
"Ich hoffe, es ist eine wichtige Angelegenheit, mein Freund. Ich will nicht umsonst hierhergekommen sein", sagte er mit beinahe beunruhigender Souveränität und einem Unterton, der mich ins Lächerliche zu ziehen schien. "Hab ich etwa dich, deine minderbemittelte Gang oder deinen ach so glorreichen Boss, Mark fucking Holm, verärgert? Sag mir, Dimitri Jerschow, Obermacker des gesamten Süd- und Ostbezirks und Holms bestes Schoßhündchen, was genau ist heute dein Problem?"
Diese arrogante Art, dieses Herabschauende, ins Lächerliche ziehende, es machte mich verrückt. Ich fletschte die Zähne und mein Gesicht zuckte vor Wut.
"Du wirst es dir sicher denken können, Rafet Aydin!", grummelte ich und es kochte in mir hoch wie in einem brodelnden Kessel.
Ich hatte diesen Typen nie besonders leiden können, doch in letzter Zeit war er zu einem echten Problem geworden. Dies hatte so seine Gründe, doch nachher mehr dazu.
"Wir hatten eine Vereinbarung!", donnerte ich schließlich los. "Und du hast dich nicht daran gehalten! Gerade vor wenigen Stunden haben wir nur wenige Straßen von hier mal wieder eine deiner dreckigen Sumpfratten beim Dealen erwischt!"
"Warte, warte", unterbrach mich Aydin. "Von einer Vereinbarung war nie die Rede. Ihr habt mich mehrmals aufgefordert, die Drogengeschäfte in eurem Bezirk einzustellen, aber das habe ich eher als Drohung aufgefasst als eine vernünftige Vereinbarung. Im Prinzip habe ich mich keiner eurer Forderungen zu beugen und das ist auch ganz und gar nicht meine Art."
Arroganz und Überheblichkeit. Ich hasste diesen Kerl. Doch ein Risiko einzugehen wäre unvorteilhaft gewesen, besonders aufgrund seiner Kontakte. Diese Machtlosigkeit quälte mich, mit breitem Grinsen zerschlug sie alles in mir und ich fühlte mich schwach.
Ich stützte meine leicht verschwitzte Stirn auf meine rechte Hand und erwiderte schwer atmend: "Hör mir verdammt nochmal zu, Aydin! Das hier ist nicht mehr Meyers Herrschaftsgebiet, hier herrschen nun andere Regeln. Vielleicht hast du dich noch nicht an unseren Flächengewinn gewöhnt, aber zum hundertsten Mal: Wo Holm regiert, wird kein Desiderium verkauft! Diese verfickte Droge zieht uns in den Abgrund, sie macht noch größere Wracks aus den Menschen hier als sie es ohnehin schon sind. Und dein Einkommen hängt verdammt nochmal nicht vom Drogenhandel hier in Soltau ab! Ich weiß durchaus Bescheid über deine großen Deals in Schneverdingen, Munster, Walsrode und sogar die Ausfuhr in die großen Städte wie zum Beispiel Hamburg, Hannover oder Bremen. Soltau bedeutet kaum einen Gewinnverlust für deine schmutzigen Geschäfte und es wäre auch besser für dich, diese hier zu unterlassen, glaub mir! Nichts bleibt ohne Konsequenzen!"
"Du hast teilweise recht", antwortete Aydin, sogar etwas einsichtig wirkend, weshalb ich ihm aber noch lange nicht trauen konnte. "Seitdem dieses östliche Ende Soltaus an euch gefallen ist, sind meine Erträge hier dramatisch gesunken, da auch der Handel immer verdeckter und aufwendiger betrieben werden muss. Als Meyer hier noch Einfluss ausgeübt und mir eine direkte Verbindung in sein Herrschaftsgebiet zur Verfügung gestanden hatte, ging alles noch ohne Probleme. Wir hatten den Drogenhandel auf sein Gebiet beschränkt und dieser war auch größtenteils toleriert von der Allgemeinheit. Wie du sicher weißt, ist Meyer auch selbst drogenabhängig, besonders D hat er mir sehr regelmäßig abgekauft und ordentlich dafür geblecht. In letzter Zeit aber konnte ich bis auf wenige Ausnahmen nicht wirklich in sein Herrschaftsgebiet vordringen, dafür habe ich einfach noch nicht genügend eurer starrköpfigen Grenzfutzis geschmiert."
Aydin stieß ein finsteres Lachen aus, nahm einen weiteren Zug seiner Zigarre und fuhr fort: "Es ist wirklich deprimierend, jetzt auf euren dreckigen Bezirk beschränkt zu sein, doch auch hier habe ich noch so den einen oder anderen Kunden: die alten von hier, denen die Gangzugehörigkeit wohl scheißegal ist, und eine ganze Reihe Zugezogener aus dem Südbezirk. Es ist zwar, wie schon gesagt, nicht viel Umsatz, aber ein paar meiner Männer können davon ganz gut leben. Und ein höherer Lohn stärkt nun mal die Arbeitsmoral und das ist wiederum sehr gut für mich. Ich kann mir mal überlegen, wie es hier weitergehen soll, doch ich lasse mir keine Vorschriften machen, schon gar nicht von euch Pissern!"
Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Ich war so unbeschreiblich wütend auf Aydins niederträchtige Art, doch sie hatte etwas an sich: Sie drückte Macht aus. Und das wusste Aydin ganz genau. Er wusste, wie man andere in Verlegenheit brachte und totredete, sogar Männer wie mich.
Doch zuerst zum Hintergrund seiner Aussage, um aufgeworfene Fragen aufzuklären:
Im seit knapp über siebzehn Jahren abgeriegelten Soltau hatten sich in anbrechenden Zeiten von großem Elend und steigender Kriminalität einzelne Gruppierungen gebildet, welche zwar untereinander gehandelt hatten, aber dennoch alle rivalisiert gewesen waren. Nur etwa zwei Jahre später allerdings hatte sich ein gewisser Phillip Meyer, Anführer der sogenannten "Slayers", erhoben und hatte die einzelnen Gangs vereinen können, indem er deren Handel vereinheitlicht und für alle eine bessere Versorgung sichergestellt hatte. Meyer hatte seine neu gegründete Gang darauffolgend auf den Namen "Unity" getauft.
Einzig und allein die überwiegend südländisch geprägte Gang "Yeni Dünya Düzeni (YDD)" unter Führung von Tayfun Aydin hatte sich nicht unter Meyers Schirm stellen wollen, da sie sich in ihrem florierenden Drogengeschäft gestört gesehen hatte. Da sich Aydin innerhalb Soltaus unsicher gefühlt hatte aufgrund seiner ausgegrenzten Position, hatte er die die Grenzen bewachenden Bundessoldaten unter Druck gesetzt, für seine Leute einen alternativen Platz zum Leben bereitzustellen. Nach endlosen Verhandlungen und einer gefühlt berghohen Summe an Bestechungsgeldern war Aydin und seiner Gang Harber, ein kleiner Vorort unmittelbar östlich von Soltau, bereitgestellt und zusätzlich abgeriegelt worden.
In Soltau hingegen hatte es innerhalb der neuen, vereinheitlichten Gang Unity vermehrt Unruhen gegeben. Besonders ein früheres Mitglied der Slayers, der noch relativ junge Mark Holm, hatte kräftig Feuer geschürt und mit seiner damals noch geringen Zahl an Anhängern mehrere Anschläge auf wichtige Mitglieder von Unity verübt. Meyer hatte Holm mit allen Mitteln bekämpft, doch bald hatte er dessen Potenzial erkannt und hatte aus Angst versucht, einen Deal mit Holm zu vereinbaren.
Da dessen Anhängerschaft mittlerweile auch schon auf eine beträchtliche Zahl geklettert war - die meisten waren Überläufer gewesen - hatte Meyer Holm 2031 das gesamte Gebiet südlich der Amerikalinie zur Verfügung gestellt mit all seinen Wohnvierteln, Gewerbegebieten und Waldstücken. Doch mit der Zeit waren die sogenannten "Black Sheep" mehr und mehr gewachsen und Holms Einfluss war immer größer geworden.
Vor etwa einem Jahr hatte er Meyer eine hohe Summe an Geld angeboten, um von ihm das östliche Ende Soltaus, östlich der Nord-Süd-Verbindung Hannover-Buchholz, zu erwerben. Dieser hatte sich aber vehement geweigert und mit einem Bandenkrieg gedroht. Zwar hatte Holm darauf erst mal einen Rückzieher gemacht, doch hatte er kurze Zeit später bei den Soldaten angefragt. Die Verhandlungen waren nicht leicht gewesen aufgrund schwerer Bedenken von Seiten des deutschen Innenministers und es hatten eine Menge Geld, Schweiß und Blut fließen müssen, bevor die "Black Sheep" den Osten Soltaus unter der Erlaubnis der Regierung hatten einnehmen können. Darüber hinaus waren die Grenzen innerhalb Soltaus ausgebaut und die Kontrollen verschärft worden. Offiziell war die neue Verteilung der Herrschaftsgebiete nun seit fast schon fünf Monaten und der Konflikt beider Gangs hatte sich seitdem dramatisch zugespitzt.
So liefen die Dinge hier bei uns. Aber nun zurück zum Verhör:
Ich saß noch immer stillschweigend Aydin gegenüber und guckte in seine rotzfreche Visage, die ich zutiefst verachtete. Ich hasste diesen Typen wie die Pest, und trotzdem beeindruckte er mich, wie er dort so selbstsicher auf seinem Stuhl hockte und genüsslich an seiner Zigarre zog. Ich wusste, dass er sehnsüchtig auf meinen Konter wartete, doch seine Aura hüllte mich ein wie ein schwarzer Nebel.
Ich konnte einfach nichts sagen, mir fiel nichts ein. Forderungen stellen, Befehle erteilen, das konnte ich. Aber Argumentationen? Ich wusste mich einfach nicht zu rechtfertigen, obwohl ich klar die vertretbarere Position einnahm. Im Prinzip konnte er mir nichts, ich war im Recht. Doch Aydin war der einzige, bei dem ich wirklich Schwierigkeiten hatte, meine Position auch durchzusetzen. Er war einfach zu mächtig.
"Du sagst ja gar nichts, Dimitri", bemerkte er plötzlich mit siegesbewusster Stimme. "Pupsi, hat es dir etwa die Sprache verschlagen?"
So, das war zu viel! Er stellte mich als Weichei dar. Ich war nicht schwach. Ich hatte schon immer als der harte, respektabler Typ gegolten, als der mit den vielen Muskeln, der mit den Tattoos, den kurzen Haaren und dem bösen Blick, so albern und selbstgefällig das auch klingen mochte. Physisch war ich wahrscheinlich sogar Aydin überlegen, und ich war kurz davor, ihm die Fresse zu polieren. Die Wut schoss in mir hoch wie Sekt nach dem Schütteln, und schließlich schoss sie aus mir heraus.
"Es reicht jetzt, du verficktes Arschloch!", brüllte ich, sodass es im Raum widerhallte. "Durch deine verdammte Droge gehen die Menschen hier zugrunde. Sie sterben! Sie sterben einen langsamen, schmerzhaften und elendigen Tod! Eltern wie Kinder, Männer wie Frauen! Das Leben ist schon beschissen genug hier in dieser gottverlassenen Stadt, zerstör nicht noch das Wenige, das wir noch übrighaben! Dieses scheiß Desiderium lässt uns und unsere Mitmenschen zu Ruinen verfallen, Krankheit befällt uns und unsere Neugeborenen sind missgestaltet. Es zerstört einfach alles!"
"D gibt den Menschen Hoffnung! Es gibt ihnen die schönen Momente zurück!", argumentierte Aydin in einem lauten Ton und ich antwortete mit hochrotem und vor Wut zusammengepresstem Kopf, schreiend:
"Wie kannst du es wagen, so etwas zu behaupten? Es hält uns eine Illusion vor, die uns ins Verderben führt! Wir versuchen dem echten, trostlosen Leben zu entfliehen und lassen es deshalb von Halluzinationen bestimmen, die uns eine kurzweilige Befriedigung einbringen. Doch dann ist es vorbei und wir wollen zurück, also brauchen wir mehr und mehr. Und während wir immer wieder in diese fadenscheinige, falsche Traumwelt eintauchen, verfällt unser Körper zu einem Wrack und lässt uns elendig verrecken!"
Ich redete mich in Rage, die Leidenschaft brannte in mir, und der Hass war die Kohle, die das Feuer dieser Leidenschaft immer wieder schürte.
"Also lass es sein!", brüllte ich, sodass mir fast die Stimmbänder zu explodieren schienen. "Du kannst dich glücklich schätzen..."
Ich bekam keine Luft mehr und musste kurz durchatmen.
"Du kannst dich glücklich schätzen, dass du bei mir gelandet bist und nicht beim Chef persönlich. Glaub mir, er hätte dich schon längst auseinandergenommen und an die Hunde verfüttert! Falls du noch einmal auch nur in geringster Weise hier in unserem Bezirk mit Drogen in Verbindung gebracht wirst, dann wird Krieg herrschen. Und es wird nicht gut für dich ausgehen, Aydin. Das wird ein gottverdammtes Massaker, oh ja, und dein Blut und das deiner Kumpanen wird unsere Straßen zieren!"
Nun musste ich ihn eingeschüchtert haben, davon war ich fest überzeugt. Jeder hatte Angst vor ihm, vor Holm. Seine Feinde sowie seine eigenen Männer. Er war berüchtigt, gefürchtet, unberechenbar. Selbst hohe Tiere wie Aydin hätten einen gewissen Respekt für ihn empfinden müssen.
Ich saß angespannt auf meinem Stuhl, die Ellenbogen auf dem Tisch und die Fäuste zusammengepresst. Doch Aydin lehnte sich nur entspannt zurück und zuckte herablassend mit der rechten Augenbraue.
"Er würde mir nichts tun", sagte er plötzlich mit einer weltfremden Emotionslosigkeit und Langeweile in der Stimme. "Er hat so seine Gründe. Anscheinend teilt er sie nicht mit euch, was ist da los?"
Ich war sprachlos. Was laberte dieses Arschloch da für eine Scheiße? Meinte er das gerade wirklich ernst?
"Wie bitte?", ächzte ich verwundert und kam mir vor wie ein Narr, mit dem Aydin sein merkwürdiges Spiel trieb.
"Er hat mir etwas angetan, für das er sich heute schämt, sagen wir so", erklärte dieser und etwas schien in seinen grellblauen Augen zu funkeln.
Es musste etwas Bedeutendes sein, etwas Hochpersönliches, etwas Erschütterndes.
"Dimitri, eins musst du wissen. Vielleicht ist es dir auch schon durchaus bewusst, doch du willst es nur nicht wahrhaben. Eventuell hast du aber auch nur Angst. Holm ist ein gottverdammter Psychopath und er scheißt auf alle Anderen. Auch seine Leute, Männer wie du, sind ihm völlig egal. Er ist ein mordlüsterner Teufel, er liebt es zu töten. Je machtloser seine Opfer, desto mehr kann er sich daran aufgeilen. Ihm macht es auch nichts aus, seine eigenen Gefolgsleute zu töten. Gibt es nicht immer wieder bei euch arme Schweine, die plötzlich auf mysteriöse Art verschwinden und einige Zeit später tot im Fluss wiedergefunden werden? Arme Schweine, die zufällig alle vorher irgendwie in Ärger geraten sind? Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass all diese Leute durch Anschläge von Unity umgekommen sind, wie es euch immer so hübsch erzählt wird, oder?"
Ich war im Zwiespalt. Aydin hatte teilweise recht, das musste ich mir eingestehen. Holm war eben sehr unberechenbar und seine Launen konnten tiefgreifende Folgen haben.
"Damit muss man eben leben, das lernt man mit der Zeit", erwiderte ich also. "Holm ist ein launischer Zeitgenosse und er duldet keine Fehler. Aber genau dieses Verhalten verleiht ihm diese unglaubliche Macht und wir respektieren ihn alle und geben unser Bestes."
"Geblendeter Vollidiot!"
Aydins donnernder Schrei hallte von den Wänden wider.
Ich kannte solch ein Verhalten, wenn es um Holm ging, doch nur bei Aydin löste es eine gewisse Furcht bei mir aus. Es war die Furcht, dass er recht hatte und dass am Ende er derjenige sein würde, der über uns alle triumphiert.
Ich vertraute Holm als Privat-, allerdings nicht so sehr als Autoritätsperson, und ich hatte Verständnis für Aydins Meinung. Holm hatte, einige Dinge betreffend, nicht mehr alle Latten am Zaun und ich konnte mich oft nicht mit seinen Vorgehensweisen anfreunden, doch tief im Inneren hatte ich schon immer über das Gute in ihm Bescheid gewusst, denn ich hatte seinen Charakter durchschaut. Er war kein böser Mensch, er verfolgte nachvollziehbare und gute Ziele.
"Deine Worte prallen an mir ab wie ein Ball an einer Mauer!", brachte ich heraus und lehnte meinen Körper angespannt nach vorn, um krampfhaft Mut auszudrücken. "Geblendet bin ich also? Geblendet und ohne Verstand? Sehe ich etwa aus wie jemand, der jemandem nur aus Furcht blind gehorcht? Sehe ich aus wie jemand, der sich von jedem beliebigen bekloppten Wahnsinnigen leiten lässt? Also ich würde behaupten, dass es nicht so ist. Ich habe meine Seite gewählt und dafür habe ich wohlüberlegte Gründe. Und deshalb solltest du mich fürchten, und zwar nicht als Holms Bimbo, sondern als echte Persönlichkeit!"
"Tut mir leid, mein Freund, aber du lässt mich kalt", schnaufte Aydin mit einem lässigen Grinsen, gefolgt von seinem typischen herablassenden, in sich gekehrten Lachen.
"Verfluchter Wichser!", dachte ich und ohne groß zu zögern griff ich an meine linke Hüfte, zog meine Pistole und richtete sie direkt auf Aydins Gesicht.
Dessen Grinsen verflog binnen einer Sekunde und er starrte fassungslos und überrascht in den tiefschwarzen Lauf meiner altbewährten VI-18. Für einen Augenblick dachte ich, ich hätte gewonnen, doch binnen weniger Sekunden kehrte sein altbewährtes Grinsen wieder zurück.
Mit einem kühlen Schmunzeln brummte er: "Das würdest du dich nicht trauen, glaub mir! Wenn du mich erschießt, hast nur wenige hundert Meter von hier entfernt einen Haufen von etwa dreihundert wütenden Motherfuckern, die dich innerhalb weniger Sekunden in Pastete verwandeln würden. Also nimm die verdammte Knarre aus meinem Gesicht, Dimitri, das wäre das Beste für uns alle!"
Diese unerschütterliche Ruhe und emotionale Kälte Aydins frustrierte mich mehr und mehr. Diesen Mann schien wirklich nichts aus der Fassung bringen zu können.
"Dass ich nicht lache!", fauchte ich ihn an und drückte meinen Zeigefinger leicht gegen den Abzug. "Ich traue mich einiges, das kannst du mir glauben! Frag doch deinen kleinen Freund von Straßendealer! Ich denke, ich hab ihn schon recht gut bearbeitet!"
"Hat er auch verdient, die kleine Mistsau!", warf Aydin ein, begleitet von einem lächerlichen Gackern. "Es war Ata, hab ich recht? Ata Gin?"
Ich nickte stumm und ließ mich von Aydins Versuch, mich von meiner Anspannung und Wüterei runterzubringen, nicht beeinflussen.
"Er hat schon oft Mist gebaut, diese kleine nutzlose Kröte", fuhr er mit giftigem Ekel in der Stimme fort. "Schon mehrmals hat er größere Mengen an D einfach verschwinden lassen. Angeblich wurde es ihm alles gewaltsam und unter Drohung abgenommen, aber ich glaube ihm kein Wort. Er hatte jetzt seine letzte Chance, doch die hat er verspielt, der Bastard."
"Schön für dich!", brummte ich mit tiefer und so bedrohlich wie möglich klingender Stimme, während ich noch ein wenig mit meiner Knarre in Aydins Gesicht rumfuchtelte.
Dieser zeigte sich noch immer nicht sonderlich eingeschüchtert, und immer mehr Gelassenheit kehrte in sein Gesicht zurück.
Mit größtenteils wiedergewonnener Sicherheit erklärte er mir: "Ich bin gerne dazu bereit, mit dir zu verhandeln. Ata Gin führte einen Koffer mit sich. Ihn ihm müsste sich D im Wert von achtzig Riesen befinden. All diesen Stoff biete ich dir an, um ihn an Unity zu verhökern. Im Gegenzug dafür hätte ich gerne diesen Volltrottel von Dealer wieder, denn ich muss mich wohl nochmal mit ihm unterhalten."
Ich konnte mir ein leichtes Schmunzeln nicht verkneifen. Irgendwie war es richtig so, ich verstand Aydins Bezugspunkt.
Rasch sanken meine Mundwinkel wieder herab und jener fuhr fort: "Außerdem möchte ich, dass der heutige Vorfall unter den Tisch fällt und dass Holm, wenn es nicht schon zu spät ist, so wenig wie möglich über die Einzelheiten erfährt. Es darf keine große Sache daraus gemacht werden, um unser aller Wohlergehen Willen."
Ich wurde stutzig.
"Soll ich die Sache etwa unter den Teppich kehren, damit du deine dreckigen Geschäfte weiterhin ungestört fortführen kannst?", hakte ich nach. "Willst du nur keinen Stress mit meinem Boss? So ganz überzeugt bin ich noch nicht von deinem Angebot."
Aydins Miene wurde zunehmend ernster und seine Augenbrauen verzogen sich zu einem buschigen V.
"Es ist notwendig, um den Frieden zu bewahren. Holms Reaktionen sind oft unvorhersehbar und überzogen grausam", rechtfertigte er sich. "Und ich bezwecke außerdem auch nicht, meinen Drogenhandel ungestört fortzuführen. Vielmehr akzeptiere ich jede Konsequenz, sollte noch einmal etwas auffliegen."
Ich kam ins Grübeln. Eigentlich war dies ein nachvollziehbares Angebot und ich hatte aufs erste nichts daran auszusetzen. Nur eine Sache störte mich: Aydin. Das Angebot kam von Aydin, der wahrscheinlich vertrauensunwürdigsten Person im gesamten Soltauer Ghetto. Ich war unsicher. Stille. Hektisch drängte ich mich zu einer schnellen Entscheidung. Ich wollte Aydin nicht vertrauen, doch ich konnte einfach keine Argumente gegen das Angebot finden, schließlich konnte ich diesen Schleimbeutel sogar ganz gut verstehen.
"Also gut", sagte ich fest entschlossen und reichte ihm meine rechte Hand.
Er erwiderte dies und wir tauschten die gegenseitige Bestätigung mithilfe eines festen Händedrucks aus.
"Ich bin dir dankbar, dass du dich zu diesem Geschäft bereiterklärt hast", fügte Aydin noch hinzu und drehte sich mit befriedigtem Gesichtsausdruck zur Tür. "Und jetzt gib mir diesen Wichser!"
Gerne erfüllte ich ihm diesen Wunsch. Rasch hob ich meine rechte Hand in die Nähe meines Mundes und tippte mit meinem linken Zeigefinger auf den auf meinem Handrücken befestigten, kaum einen Quadratzentimeter großen Funk-Chip.
Ein dezentes rotes Licht blinkte auf und ich sprach: "Angel! Bring ihn rein!"
Wenige Augenblicke später vernahm ich schließlich das sehnsüchtig erwartete Quietschen und Schaben der schweren Eisentür. Sie war noch nicht einmal halb geöffnet und ich hatte Angel noch nicht zu Gesicht bekommen, da wurde mit einem kräftigen Ruck ein armseliges, schwer zugerichtetes Etwas von Person in den Raum befördert und fiel mit dumpfem Aufprall und unterdrücktem Schrei zu Boden.
Es war Ata Gin. Er war komplett entkleidet, bis auf eine lange weiße Boxershorts. Sein gesamter Körper, besonders Bauch und Rücken, war geziert von teilweise immer noch blutenden Schlitzwunden und blauen und grünen Schwellungen. Seinem schmalen Mund entrann Blut in kräftigen Schüben und tropfte von seinem spitzen Kinn hinunter auf den kalten Betonboden. Ata Gins mittellange, fettige und schwarze Haare waren zerzaust und sein Körper glänzte vor lauter Schweiß.
Die Tür war nun vollständig geöffnet und dort stand Angel, seine Pistole auf Ata Gin gerichtet. Dieser versuchte unter Schmerzen, von ihm wegzukriechen und winselte dabei wie ein kleines Kind.
"Du bleibst schön hier!", brüllte Angel und plötzlich erschreckte ich fürchterlich.
Der Widerhall des Geräuschs betäubte meine Ohren für einen Augenblick. Er hatte geschossen. Blitzschnell schaute ich nach links zu Ata Gin, wie er seinen Kopf ängstlich an die Wand presste und verzweifelt aufschrie. Ihm war nichts geschehen. Dann entdeckte ich das Einschussloch im Boden. Es war nicht viel mehr als eine Daumenlänge von Ata Gins Arsch entfernt. Ich war beeindruckt.
"Das war sau knapp", bemerkte ich, begleitet von einem leichten Schmunzeln.
"Du kennst mich, Dima", erwiderte Angel in einem abgeklärten Ton und grinste.
Ich grinste zurück.
Auch Aydin musste leicht lächeln, doch ich erkannte die Enttäuschung, die seinen Gesichtsausdruck untermalte. Der Enttäuschung wich nun aber Finsternis, eine gewisse Boshaftigkeit wurde sichtbar. Und dann noch Vorfreude, makabere Vorfreude. Aydins Grinsen wurde immer breiter.
"Nun, was jetzt, mein Lieber?" fragte er mit sarkastischem Unterton.
Ata Gin schien das aber nicht wirklich mitzubekommen, sein Bewusstsein war gedämpft durch den Schmerz.
Kläglich flennte er: "Rafet, bitte hilf mir! Du musst mir helfen, ich flehe dich an! Guck, was sie mir angetan haben!"
Ata Gins vor Tränen schimmernde braune Augen weiteten sich und er presste seine Handflächen gegeneinander und richtete sie auf Aydin, als würde er einen Gott anflehen. Dieser hatte immer noch sein makaberes Grinsen aufgesetzt und drehte seinen Kopf voller bösartiger Vorfreude in Richtung Ata Gin.
"Warum so weinerlich?", brummte er. "Das war doch erst das Vorspiel."
Eine Bombe schien in Ata Gin einzuschlagen.
"Nein! Bitte nicht!"
Verzweifelt schrie er um Gnade und die Tränen schossen auf den Boden.
"Es tut mir leid, Rafet! Es tut mir le-he-he-he-id!"
Er fing bitterlich zu weinen an und schlug die Hände vors Gesicht.
Aydin aber ignorierte ihn und rief laut: "Oi!"
Augenblicklich stürmten zwei dunkle Gestalten durch die Eingangstür, über den langen Gang, an Angel vorbei, bis hinein in den Verhörraum. Sie hatten eine ähnliche Statur und ähnliches Aussehen wie Aydin, nur waren ihre Anzüge schwarz. Ruckartig packten die beiden Ata Gin bei den Armen und schleiften ihn nach draußen.
Dieser, immer noch Tränen vergießend, brüllte wie am Spieß: "Ich werde es wiedergutmachen! Verzeih mir, Rafet! Bitte verzeih mir! Tu mir das nicht an, ich habe eine schwangere Freundin!"
Die Schreie wurden immer leiser, als Ata Gin in Richtung Eingangstür gezerrt wurde.
Draußen auf der Straße war der letzte von ihm vernehmbare Ausruf: "Das wird euch allen noch leidtun!"
Darauf folgte das dumpfe Geräusch eines zugeschlagenen Kofferraums.
Aydin konnte sich das Lachen nicht verkneifen. Es hatte schon etwas Wahnsinniges an sich, was mir etwas Angst einjagte. Sogar ich musste schlucken bei diesem grausamen Spektakel, doch Aydin schien sich wirklich daran zu belustigen. Er genoss es richtig, seine Macht unter Beweis zu stellen.
Als er sich wieder eingekriegt hatte, streckte er sich nach hinten aus, presste die durchgedrückten Arme gegen die Tischkante, richtete sich stöhnend auf und seufzte: "Also gut. Dann will ich euch mal nicht länger aufhalten."
Mit pompösem Gang marschierte Rafet Aydin aus unserem Verhörraum und strich sich vor lauter Eitelkeit noch einmal über seine perfekt gestylten Haare.
Als er an Angel vorbeiging, boxte er diesem leicht auf die Schulter und murmelte leise, gerade noch so für mich hörbar: "Gar nicht mal so übel, Junge."
Das stimmte. Angel war ein guter Junge. Tatsächlich, ich musste Aydin wieder recht geben. Auch wenn er ein Arschloch war, hatte ich dennoch ein paar winzige Fünkchen Sympathie übrig für ihn. Er wusste halt, wie man sich Freunde machte.
Naja, nun war die Sache gegessen. Jetzt musste sich um den Deal gekümmert werden.
"Hast du noch Ata Gins Koffer?", fragte ich Angel mit ernster Miene und dieser antwortete mit seiner angenehm hellen Stimme:
"Warte, ich hole ihn kurz von drüben."
Endlich ließ meine Anspannung nach.
Motiviert klatschte ich in die Hände und rief mit breitem Lächeln: "Kumpel, wir haben einen astreinen Deal am Laufen! Möge das Glück mit uns sein!"
Es war ein heißer Mittsommernachmittag. Die am wolkenlosen hellblauen Himmel grell leuchtende Sonne knallte erbarmungslos auf meinen Hinterkopf, sodass ich immer wieder meine strohigen dunkelblonden Haare durchwuscheln musste, um mich vor einem regelrechten Kollaps zu schützen. Es waren weit über dreißig Grad, daran bestand kein Zweifel. So einen heißen Sommer hatte es hier in der Gegend schon seit Jahren nicht mehr gegeben.
Die verlassenen, zugewucherten Weiden, die fast dauerhaft links und rechts neben mir auftauchten, sahen vergilbt und vertrocknet aus. Hier und dort erblickte ich einzelne Rehe, die sich erschöpft in den Schatten gelegt hatten, um weiterhin von der unsagbaren Hitze verschont zu bleiben. Nur die Bäume, die Birken, die Buchen, die Eichen und so weiter trugen knallgrüne, saftige Blätter und standen da wie stolze und mächtige Soldaten auf einem von besiegten Feinden übersäten Schlachtfeld. Eine Ausnahme höchstwahrscheinlich. Hier waren die Bäume scheinbar noch nicht ganz so verschandelt von Krieg, Feuer und Schadstoffen. Vermutlich war es der schönste Landstrich weit und breit, ich konnte es mir gut vorstellen.
Das Einzige, was mir mein ganzes Leben über bekannt gewesen war, war die deprimierende Tristesse von Schneverdingen. Von dort kannte ich nur die verrotteten Baumleichen, die vereinzelt und verkümmert dahinvegetierten, doch einen lebendigen Baum mit Blättern und dem ganzen Zeugs hatte ich zuvor in meinem Leben so gut wie noch nie gesehen. Früher hatte es bei uns eine Menge Bäume gegeben, wir hatten sogar einen großen Park gehabt. Doch durch einen großen Brand im Jahr 2022 war fast alles vernichtet worden.
Damals war ich gerade einmal sechs Monate alt gewesen. Es war direkt nach der Abriegelung unserer Stadt geschehen, bei einer heftigen Auseinandersetzung zwischen wütenden Protestlern und Bundessoldaten war das Feuer ausgebrochen und hatte sich unkontrolliert über die Stadt gelegt. Den Rest hatten giftige Gase und Rodungen für neue kleine Slums erledigt.
Doch nicht nur wir waren davon betroffen gewesen, auch viele andere Kleinstädte in unsere Umgebung waren von der Regierung abgeriegelt worden. Munster war als Erstes dran gewesen, dort hatte alles begonnen. Danach Bad Fallingbostel und wenig später auch noch Kleinstädte wie zum Beispiel Walsrode, Bergen, Bispingen, Schneverdingen und schließlich Soltau.
Dorthin war ich auf dem Weg. Weit konnte es nicht mehr sein.
Bumm! Mein Herz stockte für eine Sekunde. Es hob mich für den Bruchteil einer Sekunde wieder von der Ladefläche des Geländewagens und mit einem unangenehmen Aufprall landete ich auf dem Arsch. Es musste wohl schon wieder ein Schlagloch gewesen sein. Kein Wunder, wenn sich seit mehr als zwanzig Jahren niemand mehr um diese verdammte Straße gekümmert hatte.
Ich lehnte mich wieder gegen das Hinterfenster und kaute verträumt auf meinem Zahnstocher herum. Ich konnte mich glücklich schätzen, dass meine zwei kleinen lausigen Gepäcktaschen nicht runtergeflogen waren, das wäre für mich nämlich nicht so lustig gewesen.
Naja, Beamter Müller hätte sicher für mich angehalten. Er war ein vernünftiger Mensch, ein wirklich angenehmer Zeitgenosse. Er war einst ein einfacher Streifenpolizist gewesen, mittlerweile um die fünfzig Jahre alt, klein, dick und glatzköpfig. Er war einer von diesen, die man eigentlich gar nicht ernst nehmen konnte, aber trotzdem war er wirklich nett und ich respektierte ihn für das, was er tat, denn als Polizist in diesem Drecksloch von Schneverdingen hatte man kein leichtes Leben.
Zudem musste man noch bedenken, dass es in Schneverdingen eigentlich schon lange gar keine offizielle Polizei mehr gab. Müller hatte den Job nur mehr oder weniger freiwillig beibehalten, seiner Ehre zuliebe. Er hatte auch immer einen recht guten Ruf genossen.
Doch heute konnte er sich endlich glücklich schätzen, denn er wurde als Ehrenbürger nach Hamburg versetzt. Dies hatte er sich meiner Meinung nach redlich verdient und es war echt höchste Zeit, denn in Schneverdingen war er schon seit über zwanzig Jahren im Amt gewesen. In ein paar Tagen sollte er von Soltau aus ausgeflogen werden.
So hatte es sich dann ergeben, dass er mich dorthin mitnehmen konnte. Wir kannten uns schließlich recht gut und meine Umsiedlung war auch durch die externe Stadtverwaltung genehmigt geworden.
Rechts neben Müller saß ein junger Soldat, dunkelhaarig, von guter Statur und relativ gutaussehend. Ich kannte ihn nicht wirklich, doch vermutlich war er auch versetzt worden oder so.
Entspannt schloss ich die Augen und fing an nachzudenken, während das kontinuierliche Brummen des lauten Motors meinen Ohren schmeichelte.
Müllers Auto war ehrlich gesagt eine ziemliche Schrottkiste und sehr, sehr alt. Doch genau das fand ich so reizvoll. So ein unglaublicher, von einem Automotor ausgehender Radau war schon eine Seltenheit für mich. Ich war schon längst an das fast lautlose Gleiten der 2019 allgemein eingeführten Elektroautos - hauptsächlich kannte ich von dieser Art Polizei- bzw. Regierungsfahrzeuge - gewöhnt und die wenigen älteren, durch einen Benzinmotor betriebenen Autos, die ich einige Male noch in Schneverdingen gesichtet hatte, waren ebenfalls relativ sparsam und leise. Müllers Wagen hingegen war schon mindestens vierzig Jahre alt, irgendwann in den Neunzigern war er hergestellt worden.
Alte Zeiten. Bessere Zeiten. Ich dachte darüber nach, wie es sich wohl angefühlt hätte, in dieser Zeit zu leben, frei und wohlhabend zu sein.
Meine Mutter hatte sich immer dafür geschämt, dass ich in solch einer Umgebung, unter solchen Umständen, hatte aufwachsen müssen. Aber es war nicht ihre Schuld gewesen, sie hatte einfach nur Pech gehabt. Sie hatte mich zur falschen Zeit am falschen Ort geboren. Oder konnte man ihr doch Schuld anrechnen? Sie war nämlich diejenige gewesen, die darauf bestanden hatte, in Schneverdingen wohnen zu bleiben und nicht nach Hamburg zu ziehen, wie mein Vater es gerne gewollt hatte. Das Geld dafür hätten wir gehabt, denn mein Vater war ein sehr guter Verdiener gewesen. Na gut, er hatte sein insgesamt zwei Millionen UN-Dollar schweres Vermögen als Öllobbyist verdient, nicht immer ein besonders ehrenwerter Beruf. Genau genommen war er ein ziemliches Arschloch gewesen. Deshalb hatte er uns auch verlassen. Mein Vater hatte eben seine Connections gehabt und nach nur kurzer Zeit der Verhandlungen hatte er sich in Hamburg eine noble Immobilie leisten und sich aus der Sperrzone freikaufen können. Natürlich nur sich selbst, wir waren in diesem Scheißhaufen zum Versauern zurückgelassen worden. Wie gesagt, er hatte auf uns geschissen und uns einfach so verlassen. Er war in der Tat ein Arschloch gewesen. Er hatte uns nicht geliebt, ihn hatte nur das Geld interessiert.
Meine Mutter hatte damals schon einige Jahre keinen Job mehr gehabt, sie war eines der ersten Opfer der Krise gewesen. Sie war als Krankenschwester im Rotenburger Krankhaus angestellt gewesen, doch als Anfang 2016 die Krankenkassen zusammengebrochen waren, hatte sie nicht mehr bezahlt werden können und war daraufhin entlassen worden.
Wenige Monate später war dann das Chaos in der EU ausgebrochen. Griechenland, Portugal, Irland, Spanien, Italien und noch weitere Länder hatten sich endgültig in den Ruin getrieben, sodass der Euro als Währung zusammengebrochen war. Es war zu so einem heftigen finanziellen Eklat gekommen, dass unzählige große Unternehmen hatten schließen müssen und die Löhne ins Bodenlose gestürzt waren. Die Menschen waren erzürnt gewesen, es hatte Unruhe geherrscht. Es war einfach alles zusammengekommen: das finanzielle Chaos, die niedrigen Löhne, Massenarbeitslosigkeit, Klimawandel, Ölknappheit, die Einführung verschiedener Abkommen zur Internetzensur und Totalüberwachung, und die Manipulation und Kontrolle der Medien durch Staat, Lobbyisten und Geheimorganisationen, welche ungeahnte Ausmaße angenommen hatte.
Spätestens im Dezember 2016 war halb Deutschland auf der Straße gewesen und hatte protestiert. Blutige Straßenschlachten, eine hohe Kriminalitätsrate und Bandenbildung waren die Folgen gewesen. Die Leute hatten Tag ein Tag aus um ihr Leben gefürchtet. Wenn man allein im Dunkeln nach Hause gegangen war, hatte man froh sein können, wenn man am Ende überhaupt noch seine Unterhose gehabt hatte, ja sogar komplett nackt hätte man sich noch glücklich schätzen können. Es war geraubt, geprügelt und gemordet worden.
Damals war es allerdings, um ehrlich zu sein, in kleinen Städten wie Schneverdingen bei weitem nicht so schlimm gewesen wie zum Beispiel in Berlin oder Hamburg.
Doch dann hatte der "Rote August" 2019 das Land in seinen Grundfesten erschüttert. Es war eine riesige Operation von Seiten der Regierung gestartet worden, eine Säuberung aller Städte. Wie mit einem Besen war einmal übers ganze Land gefegt worden, um den ganzen Dreck, den ganzen verfluchten Bandenabschaum vom Teppich zu kehren. Dieser "Rote August" war in meinem Umfeld von den meisten totgeschwiegen worden, keiner hatte ein Wort darüber verlieren wollen. Doch Eines wusste ich: Es war blutig gewesen. Hauptsächlich in den großen Metropolregionen Deutschlands waren all die Gangs so brutal zerstört worden, dass die meisten von ihnen ohne auch nur irgendwelche Hinterlassenschaften von der Bildfläche verschwunden waren.
Naja, dann hatte es auch noch uns gegeben: die Heide. Wer hatte sich für uns, diese paar kleinen Nester mitten in der Pampa, diese eher unterdurchschnittlich wohlhabende Gegend mitten in Niedersachsen, interessiert? Hier hatte nichts stattgefunden, es war alles beim Alten geblieben.
Nein, es war sogar noch schlimmer geworden. Alles, was von den urbanen Straßengangs in Hamburg, Hannover, Bremen und so weiter übriggeblieben war, hatte sich bei uns eingenistet. Wir waren vom Abschaum nur so überrannt worden. Ab diesem Zeitpunkt wurde die Heide komplett von Kriminellen kontrolliert, von Dieben, Dealern, Betrügern und Mördern.
Und aus genau diesem Haufen von Halunken hatte sich mit der Zeit eine aggressive Bewegung entwickelt, ein Widerstand gegen die Regierung.
Angeführt worden war diese Vereinigung von einem gewissen Kasimir Petric, ein raffinierter Stratege und durchtriebener Terrorist von auf Anhieb überzeugender, einen sofort in den Bann ziehender Eloquenz. Er, ein in die Jahre kommender Serbe, der einst in den Balkankriegen gekämpft hatte, hatte aus diesem zusammengewürfelten Haufen von Gangstern, Perspektiv- und Arbeitslosen und Fanatikern eine gefährliche Streitkraft geschaffen. Im Vornherein schon versorgt durch den blühenden Waffenhandel, hatte dann am 21. September 2021 der Überfall auf den Militärstützpunkt Munster stattgefunden.
Der Krieg hatte begonnen, und eine Aussicht auf Erfolg hatte es nicht gegeben. Wer nicht gefallen war, war entweder gefangen genommen und in die einzelnen Kleinstadtghettos verfrachtet worden oder hatte sich bereits vorher freiwillig dorthin begeben.
Im Februar 2022, drei Monate nach meiner Geburt, war es dann soweit gewesen. Schneverdingen hatte für die nächsten siebzehneinhalb Jahre mein Zuhause werden sollen und alles jenseits der Mauern das unbekannte weite Land, welches ich niemals betreten würde.
Es war fast schon ironisch. Endlich durfte ich nun jenes unbekannte Land zum ersten Mal begutachten, aber nur, um direkt wieder ins nächste Ghetto gesperrt zu werden. Ich wollte fast sagen, ich verfluchte den 3. November 2021, den Tag meiner Geburt.
"Die Großstadt ist nichts für Kinder", hatte meine Mutter immer gepflegt zu sagen. Wie falsch sie damit gelegen hatte.
Naja, damals war wenig über den Roten August bekannt gewesen und die Großstädte hatten sich äußerst verschlossen gehalten. Wäre sie nicht schwanger gewesen, wäre sie aber wahrscheinlich doch mit nach Hamburg gekommen, damals im Sommer 2021, als meinem Vater sich dieses schöne Haus angeboten hatte. Damals war es noch nicht zu spät gewesen. Wahrscheinlich wäre dann meine Mutter jetzt noch am Leben.
Häuser glitten langsam und geschmeidig an mir vorbei. Hier und dort hörte ich einige lautstarke Unterhaltungen zwischen einzelnen Soldaten, das laute Geschnatter mehrerer Gruppierungen und das monotone Marschieren einer Patrouille.
Ich fuhr gerade durch ein kleines Dorf namens Wolterdingen. Einst hatten hier noch ganz normale Menschen gewohnt, einst war es ein ganz gewöhnliches Dorf gewesen. Doch es hatte sich vieles geändert. Wolterdingen lag nicht weit weg von der Grenzmauer Soltaus. Es war eines der Dörfer, die nun als Soldatenstützpunkt dienten. Die Einwohner dieser Dörfer waren zusammen mit den Anderen, Leuten wie mir, in den Kleinstadtghettos eingesperrt worden, nachdem sie alle gewaltsam vertrieben worden waren. Die Menschen vom Lande waren oftmals jene gewesen, die es am härtesten getroffen hatte.
Als ich noch keine zehn Jahre alt gewesen war, hatte ich einst einen Mann aus einem kleinen Dorf namens Wesseloh getroffen, der mir verfaulte Äpfel hatte verkaufen wollen, die er irgendwo gestohlen hatte. Er hatte mir von seiner Notlage erzählt, davon, wie ihm sein Haus und sein gesamtes Eigentum weggenommen worden waren, wie er mit seiner Frau und seinen zwei Kindern und ohne Job nach Schneverdingen gekommen war und seitdem mit diesen in einem halb zerfallenen Lagerhaus hatte unterkommen müssen. Als ich ihn getroffen hatte, war seine Frau schon seit vier Jahren tot gewesen, eine unbekannte Seuche hatte sie dahingerafft. Er hatte mir viel von seinem Leben erzählt, ich konnte mich aber eigentlich an nichts mehr wirklich erinnern. Er war ein sehr kranker und verzweifelter Mann gewesen. Ich hatte Mitleid gehabt, und ein reines, gutes und unschuldiges Herz. Ich hatte mich eine lange Zeit mit dem Mann unterhalten, er hatte mir erzählt, er hieße Egon, und er hatte mir seinen Unterschlupf gezeigt, dort wo er und seine Kinder gezwungen gewesen waren, ihr Dasein zu verbringen. Es war dreckig, feucht und kalt gewesen. Und inmitten dieser lebensfeindlichen Umgebung hatte ich sie dann gesehen, die Kinder.
Es war ein Anblick gewesen, der mich auch heute noch zum Schaudern brachte, wenn ich es wagte, mich daran zu erinnern. Doch glücklicherweise würden mir höchstwahrscheinlich nie wieder solch heftige Schauer über den Rücken jagen wie damals.
Egons dreizehnjährige Tochter war wie eine Leiche an eine mit Graffiti beschmierte Betonwand gelehnt gewesen und hatte fürchterlich geächzt. Sie war dünn gewesen, sehr dünn. Sie hatte mich etwas an diese hungernden Kinder in Afrika erinnert, deren Bilder ich einmal in einem Magazin gesehen hatte. Egons Tochter war ein kleines Häufchen Elend gewesen, nichts als Haut und Knochen, und zudem hatten in ihrem Gesicht lauter riesige eitrige Geschwüre gewuchert. Egon hatte mir schon zuvor erzählt, seine Tochter wäre sehr krank, doch so schlimm hatte ich mir es wahrlich nicht vorgestellt.
Seinem sechszehnjährigen Sohn war es scheinbar aber noch etwas besser zu ergangen, bis auf seinen linken Arm, welcher komplett gefehlt hatte. Er war bei weitem auch nicht wohl genährt gewesen, doch bei ihm hatte es nicht ganz so schlimme Ausmaße angenommen.
Ich hatte die Bilder noch genau im Kopf. Ich konnte es deutlich vor meinen Augen sehen, wie sich Egons Sohn liebevoll um seine sterbende Schwester gekümmert hatte, indem er versucht hatte, sie mit einem Häppchen Brei zu füttern. Es waren Szenen, die mir immer im Gedächtnis bleiben würden, und die mich für immer verändert hatten. Mit meinen zarten neun Jahren hatte ich damals schon viel gesehen, doch diese Szene hatte für mich das Fass zum Überlaufen gebracht.
Ich hatte mir geschworen, Egon fortan immer zu helfen und ihm und seinen Kindern Essen von zu Hause mitzubringen. Mein kleines Herz hatte sich damals dazu verpflichtet gefühlt, denn mir war es im Vergleich zu Egon und seinen Kindern blendend gegangen. Ich war gesund gewesen und hatte in einem noch gut erhaltenen Haus gewohnt.
Schon am nächsten Tag hatte ich mich mit einem Rucksack voller Brot und Kekse, die ich aus unserer Vorratskammer entwendet hatte, auf den Weg zu Egon gemacht. Ich war voller Vorfreude gewesen, eine gute Tat zu vollbringen. Solche Gefühle hatte es eigentlich nicht mehr gegeben in Schneverdingen, wo auch heute jeder Schmarotzer nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht war und ihm andere egal waren. Ich wäre durch diese Tat wahrscheinlich zum großherzigsten Menschen Schneverdingens geworden, meine kindliche Unschuld war noch nicht verdorben.
Als ich das düstere Lagerhaus aber betreten hatte, hatte ich die ernüchternden Umstände erkennen müssen. Egon war nicht da gewesen, und seine Kinder ebenfalls nicht. Es hatte jede Spur von ihnen gefehlt.
Ich hatte plötzlich von hinten ein böse klingendes Gelächter gehört und ich wusste heute noch, wie damals mein Herz stillgestanden hatte. Was war passiert? Ich hatte mich ängstlich umgedreht und eine Gruppe von fünf jungen Männern erblickt. Sie waren alle kahl rasiert gewesen und hatten schwarze Bomberjacken und Springerstiefel getragen. Es hatten diese Neo-Nazis sein müssen, vor denen mich meine Mutter schon als kleines Kind gewarnt hatte. Sie hatten unheimlich bedrohlich ausgesehen und ich mit meinen neun Jahren war wie angewurzelt gewesen vor Angst.
Der in der Mitte, vermutlich der Anführer, hatte mich mit finsterem Gesicht angegrinst und mit ekelhafter Stimme gedonnert: "Verpiss dich von hier, du kleine Kröte! Das ist unser Revier! Willst du etwa, dass wir dich kaltmachen?"
Heulend war ich davongerannt, durch die zerstörten Türrahmen gesprintet, und panisch nach draußen gehechtet, ohne mich auch nur ein einziges Mal umzusehen.
Wo war Egon gewesen? Wohin hatte man seine Kinder gebracht? Ich hatte es mir nicht erklären können. Ich hatte es mir auch nicht ausmalen wollen.
Vollkommen verstört war ich nach Hause gegangen, hatte nächtelang nicht schlafen können und hatte immer wieder über Egon und seine Kinder nachdenken müssen, und was dort wirklich für eine Scheiße abgegangen war.
Ich hatte mir ganz schön viele Gedanken für so einen neunjährigen Pimpf gemacht, doch an jenem Tag hatte ich beschlossen, mein Leben von Grund auf umzukrempeln. Ich hatte ein guter Mensch sein wollen, jemand, der die Schwachen vor den Gangs beschützen und den Armen Essen geben würde. Ich hatte das Kämpfen lernen wollen und einen großen Drang nach Bildung verspürt. Doch genau dort hatten die Probleme gelegen. Wer hätte mich ausbilden sollen? Wer von all den zerstörten Seelen hätte mich nicht ausgelacht? Und Bildung? Ich hatte Bücher lesen wollen, doch ich war nicht in der Lage dazu gewesen.
Die Schulen waren hier schon seit Jahren geschlossen gewesen, und um ehrlich zu sein, ohne meine Mutter wäre ich komplett aufgeschmissen gewesen. Sie hatte nämlich das Lesen beherrscht, sie war noch in der Zeit aufgewachsen, wo es hier noch üblich gewesen war, zur Schule zu gehen.
Ich hatte mich herausgemacht, hatte schnelle Fortschritte gezeigt, und meine Mutter war sogar erfreut gewesen über meinen neuen Bildungs- und Trainingsdrang. Ich hatte Selbstbewusstsein erlangt. Egon und seine Kinder hatten sich langsam aus meinen Gedanken geschlichen, ich war darüber hinweggekommen, ob sie tot gewesen waren oder nicht. Aber jene Erfahrung war in jedem Fall Eines für mich gewesen: prägend. Ich war zu einem kleinen, charakterstarken und rotzfrechen Giftzwerg geworden. Vorerst.
Pechschwarze Wolken brausten durch meinen Kopf und ertränkten das Licht. Hier musste ein Stopp eingelegt werden, ich wollte nicht weiterdenken. Dieses Geschehnis wollte ich nur verdrängen und nicht darüber nachdenken. Dies gelang auch meistens, denn es war schon mehr als sieben Jahre her, einige Monate nach dem ersten Treffen mit Egon. Meine Gedanken mussten ausweichen und etwas Anderes finden. Doch wenn sie schon in diesem schwarzen Sumpf voller schlechter Erinnerungen feststeckten, kamen sie nur schwer wieder heraus.
Meine Mutter. Tot. Ein paar Wochen war es nun schon her, doch es kam mir vor wie gestern. Erst dieser dumpfe Knall der auf den Boden fallenden Kiste, dann die gedämpften Schreie. Ich konnte es noch genau in meinem Kopf hören, wie es gerumpelt hatte, als meine Mutter zu Boden gefallen war. Wo war ich nur gewesen?
Plötzlich hörte ich wieder Schmu in meinem Kopf sprechen, genau wie beim Tod meiner Mutter. Es war wie verhext gewesen, meine Mutter war zufällig auf ihn raufgefallen. Vier Jahre lang hatte er nicht mehr funktioniert.
Wieder spielte er die gleichen eingespeicherten Phrasen ab:
"Ich bin dein Kuschelmonster."
"Ich hab dich ganz doll lieb."
"Liebe ist für alle da."
"Lasst uns alle Freunde sein."
"Das Leben ist schön."
"Ich bin ein glückliches Kuschelmonster, also sei zusammen mit mir glücklich!" Aufhören! Ich ertrug diesen Schwachsinn nicht mehr.
Verzweifelt presste ich meine Augen zusammen und schlug mir gegen die Stirn. Diese Stimme in meinem Kopf musste endlich verschwinden. Schmu hatte mich schon immer verfolgt, schon seit dem Tag, als ich ihn bekommen hatte, der Tag, den ich am liebsten aus meinem Gedächtnis hätte streichen sollen. Doch es hatte niemals funktioniert. Ich konnte zwar verhindern, daran zu denken, aber vergessen? So etwas konnte man nicht vergessen. Das viele Blut. Das Geschrei.
Ich atmete tief ein und wieder aus und sackte zusammen, sodass ich nun flach mit dem Rücken unten auf der Ladefläche lag.
Ich hatte gerade eben noch das Ortsausgangsschild Wolterdingens vorbeigleiten sehen und wir waren vor einem kurzen Moment an einer Kreuzung rechts abgebogen. Es konnte also nicht mehr weit sein.
Ich versuchte mich zu beruhigen und biss fest die Zähne zusammen.
Das war ein heftiger Flashback gewesen, einer der heftigsten, die ich jemals gehabt hatte.
Schmus Stimme verzerrte sich, wurde lauter und greller, und keifte gegen mein Innenohr. Ich drückte meine Hände fest gegen beide Ohrmuscheln und stieß einen unterdrückten Schrei aus.
"Hör auf!", brüllte ich in Gedanken. "Lass mich in Ruhe!"
Was war mit mir los, was stimmte nicht mit mir? Ich war nicht verrückt, niemals! Aber wie konnte mich dann ein dämliches Kuscheltier dermaßen heimsuchen? Warum konnte es nicht einfach aufhören?
Einfach erheben und sich wieder auf die Umgebung konzentrieren, das war jetzt ein guter Plan. Ich drückte meinen Oberkörper nach oben, die Handflächen fest auf den Boden gepresst, und hob meinen Kopf, sodass ich geradewegs nach vorne schaute.
Rumms! Schnurstracks knallte ich wieder auf die Ladefläche, mit dem Kopf zuerst. Diesmal hielt der Wagen an.
"Diese verdammten Schlaglöcher!", hörte ich Müller gerade noch so aufgebracht rufen, bevor sich der von mir wahrgenommene Schall verflüssigte und mein Umfeld bis zur Orientierungslosigkeit verschwamm.
Sämtliche Farben und Formen verzerrten sich, feste Gegenstände schienen sich zu bewegen, auf- und abzuspringen. Das soeben noch nebensächlich begleitende Geräusch der kreischenden Raben und Krähen drückte sich immer weiter in den Vordergrund und bohrte sich in einer unerträglichen Lautstärke in meine Ohren hinein.
Nicht schon wieder! Wollten diese Trips denn niemals aufhören? Was war nur mit mir los? Oder war es doch die Realität?
Der Schmerz des Aufpralls schien mir den Schädel einzudrücken, immer fester und fester. Mein Kopf fühlte sich wahrhaftig an wie ein Auto in der Schrottpresse. Ich versuchte meine zitternden Hände in Richtung Geländer zu heben. Kraftlos war ich, etwas wie ein sehr unangenehmes inneres Jucken schoss durch meine Hände und schien mit aller Kraft zu versuchen, mich vom Geländer loszureißen. Ich wusste nicht, was ich tat, mein Körper war völlig außer Kontrolle, er entwickelte ein Eigenleben. Ich drückte und zog, drückte und zog.
Schmerzen. Unerträgliche Schmerzen.
Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit, auch wenn es wahrscheinlich nur wenige Sekunden waren.
Ich zog mich heran und drückte meinen Körper hoch, weiter und immer weiter. Dieses erdrückende Jucken der Kraftlosigkeit ließ meinen Körper unaufhörlich schütteln und meine Beine zuckten wild umher. Ich presste immer weiter und weiter, fester und fester.
Plötzlich spürte ich, wie mein Kinn auf einen harten Vorsprung herabfiel und meine Augen nahmen so etwas wie eine grüne Wand vor mir wahr, wahrscheinlich Wald. Ich konnte nach wie vor so gut wie nichts erkennen, doch es konnte eigentlich nur Wald sein. Hier waren doch Bäume.
Mein hastiger Atem beruhigte sich langsam und mein Puls schwächte sich ab. Doch dies war nur von kurzer Dauer. Schnurstracks schoss jener wieder in die Höhe, bis auf gefühlte zehntausend. Mein Herz schlug so schnell, dass es jeden Moment zu explodieren drohte, und mein Atem war kurz vorm Anhalten, als ich den gelben, leicht kegelförmig spitzen Kopf im Gestrüpp entdeckte. Die grellroten Augen, die zwischen all dem Haarwuchs hervorguckten, blendeten mich, sodass ich panisch versuchte, meine Augen zu schließen.
Es ging nicht. Der Schock hatte mich jeder Reaktionsfähigkeit beraubt.
Ich vernahm ein lautes Rascheln und Knistern, als auch der restliche Körper aus dem Unterholz stieg. Dick, gelb, pelzig und mit vier mächtigen Tatzen, von denen nur zwei dem Fortbewegen dienten.
"Verschwinde, Schmu! Bleib weg von mir!", schrie ich in meinem Inneren, doch in Wirklichkeit stammelte ich nur hilflos: "Was willst du von mir?"
Ich konnte im Gegensatz zur restlichen Umgebung klar und deutlich Schmus spitze weiße Zähne erkennen, als dieser sein Maul öffnete und mit relativ tiefer aber eigentlich eher wehleidiger und zutraulicher Stimme sagte: "Ich habe dich gesucht, Frederik. Wo warst du die ganze Zeit?"
Ich schwieg. Ich wollte das nicht, wollte, dass es aufhörte.
"Warum hast du mich zurückgelassen, Frederik?", setzte Schmu fort und seine Stimme wurde flehender. "Bitte komm mit mir! Ich möchte, dass wir wieder Freunde sind."
Mein Puls raste weiterhin ungebremst nach oben und mich schüttelte es mehr und mehr. So etwas wie elektrische Schocks schossen durch meine Beine und ließen sie unkontrolliert zappeln und austreten. Ich schien mich aufzurichten.
"Komm mit mir, Freddi!", wiederholte Schmu. "Ich will doch nur Zeit mit dir verbringen, schließlich bin ich doch dein bester Freund."
"Nein", murmelte ich, was mich schon an die Grenzen meiner Fähigkeiten brachte. "Nein!"
Diesmal wurde ich lauter und spürte wieder etwas mehr Beherrschung in meinem Körper.
"Du sollst mich in Ruhe lassen!"
Ich konnte klar und deutlich erkennen, wie sich Schmus Gesichtszüge trübten, und er flehte mit weinerlicher Stimme: "Bitte lass mich nicht allein, du bist alles, was ich habe!"
War das Mitleid in meinem Kopf? Vollkommener Schwachsinn. Dieses verdammte Wesen existierte nicht. Es war nur eine Wahnvorstellung. Ich wusste dies tief im Inneren, doch mein Körper blieb ahnungslos.
Wie von unsichtbaren Fäden gezogen erhob sich mein rechter Arm und erstreckte sich in Richtung des gelben Monsters. Heftige Schübe in meinen Beinen versuchten meinen Körper aufzurichten und plötzlich stand ich. Ja, ich stand . Ich hatte keine Idee, wie mir das hatte gelingen können. Mein rechter Fuß befand sich nun bereits auf dem Geländer und ich streckte auch den linken Arm nach Schmu aus.
"Sei frei!", hauchte dieser und seine Stimme traf mich wie ein sanfter Wind.
Ich war gerade dabei, meinen Mund zu öffnen und ihm zuzustimmen, als ich inmitten des Nebels meiner Wahrnehmung einen empörten Schrei vernahm: "Freddi, was tust du da?"
Ein brutaler Stich durchdrang meinen Kopf. Ich verlor das Gleichgewicht.
Das Erste, was ich fühlte, als ich wieder zu mir kam, waren extreme Kopfschmerzen. Auf der einen Seite war es dieser drückende Schmerz von innen, als auch ein stechender Schmerz von außen. Ich wollte schon einen Schrei ausstoßen, bevor ich überhaupt meine Augen geöffnet hatte, doch ich riss mich zusammen. Meine Augenlider waren verklebt und es war nicht leicht, sie voneinander zu lösen.
Meine Sicht war im ersten Augenblick verschwommen, doch ich konnte sofort eine wuchtige Gestalt über mir erkennen. Es war Beamter Müller, der mir mit besorgtem Blick in die Augen schaute. Ich sagte nichts.
Wo war ich überhaupt?
Sorgsam strich ich mit der Fläche meiner linken Hand über den Boden und fühlte rauen Asphalt. Ich lag also auf der Straße.
"Was ist bloß los mit dir, Junge?", fragte Müller mit leiser Stimme, mehr an sich selbst gerichtet als an mich. "Du scheinst ein paar ernsthafte Probleme zu haben."
"Es geht mir gut", erwiderte ich stotternd und versuchte vergeblich, meinen Kopf zu heben.
Müller lachte nur in sich hinein, und dieses Lachen endete in einem besorgten Seufzer.
"Du hast anscheinend keine Ahnung, was vorhin geschehen ist, nicht?"
Ich schüttelte den Kopf. Dabei rieb meine Kopfoberfläche den Asphalt und plötzlich schoss wieder ein stechender Schmerz durch meinen Körper. Eine Wunde? Ich verzog mein Gesicht aufgrund der unangenehmen Qualen und unterdrückte meinen Drang aufzuschreien.
"Was ist passiert?", fragte ich ratlos und verwundert.
Müllers Blick wurde ernster und mit tiefer Stimme erzählte er: "Wir sind vorhin wieder durch ein Schlagloch gefahren. Diesmal war es so tief, dass durch die Wucht der Wagen abgeschmiert ist. Plötzlich habe ich dann sehr merkwürdige Geräusche von der Ladefläche mitbekommen und habe beobachtet, wie du dort wie wild gezuckt und dich gekrümmt hast. Dann auf einmal hast du es irgendwie hinbekommen, dich aufzurichten und wenige Sekunden später, als ich gerade dabei war, auszusteigen und dir zu helfen, bist du einfach vom Wagen gefallen, direkt auf den Asphalt."
Wie bitte? Ich konnte nicht glauben, was Müller mir da erzählt hatte. Ich erinnerte mich an nichts. So etwas konnte doch nicht passiert sein, nicht schon wieder.
"Wie lange habe ich hier gelegen?", wollte ich wissen und Müller antwortete:
"Eine knappe Stunde. Wir hatten wie gesagt einen Motorschaden und konnten deshalb noch nicht weiter. Heine hat den Schaden aber vor wenigen Minuten behoben. Und außerdem hielt ich es für eine bessere Idee, deine Platzwunde erst hier vor Ort zu behandeln, die ärztlich Versorgung ist in Soltau sowieso für'n Arsch."
Ich lächelte. Müller war zwar bierernst, aber als jemand, der ihn schon länger kannte, wurde man von allem erheitert, was dieser Mann sagte. Er hatte einfach diese Art, die einen fröhlich stimmte, denn in Müllers tiefer Brummbärenstimme fand man immer etwas Ironisches, mochte er das Gesagte auch noch so ernst meinen.
"Jetzt ist aber alles wieder gut", setzte dieser fort. "Es ist nur eine kleine Wunde, also besteht keine Notwendigkeit, sie zu nähen. Ich habe sie nur etwas abgetupft und Desinfektionsspray drauf gesprüht, das müsste eigentlich relativ schnell verheilen. Komm, ich helf dir hoch!"
Müller packte meinen Arm und zog mich mit aller Kraft hoch.
Die Wunde brannte fürchterlich. Es fühlte sich an, als würden sich tausende Maden durch meinen Kopf fressen. Aber irgendwie machte mir das nichts groß aus. Ich fühlte mich sogar frei in einer gewissen Weise.
Warum, wusste ich nicht, doch ich hatte eine Ahnung. Oder war es doch eine langsam wieder hochkommende Erinnerung? Sicher doch. Ich rekapitulierte grob, was geschehen war. Schmu hatte mich wieder heimgesucht. Doch jetzt war er fort und mir ging's gut.
Die Schmerzen, die meinen ganzen Körper durchzogen, ignorierend, hievte ich mich über das Geländer zurück auf die Ladefläche und lehnte mich vorsichtig an das Hinterfenster. Müller stieg ebenfalls zurück ins Auto, wo der Soldat - anscheinend hieß er ja mit Nachnamen Heine - schon auf dem Beifahrersitz auf diesen wartete.
Es dauerte keine zwei Minuten, da waren wir am Kontrollposten angelangt. Er befand sich wenige hundert Meter hinter dem ebenfalls als Soldatenstützpunkt dienenden Dorf Ahlften.
Eine massive rot-weiße Schranke, obenrum verstärkt durch spitzen Stacheldraht und untenrum durch ein hässliches, rostiges Stahlgitter, versperrte uns den Weg. Links und rechts dieser Schranke erstreckte sich so weit aus Auge reichte der etwa drei Meter hohe Gitterzaun aus massivem Stahl, ebenfalls mit Stacheldrahtaufsatz, welcher Soltau umschloss. Eine Flucht war so gut wie unmöglich. Außerhalb der Umzäunung erkannte ich außerdem auf den sich beidseitig erstreckenden ehemaligen Getreidefeldern mehrere Wachtürme mit Scharfschützen, jeweils einer davon nur etwa zwanzig Meter von der Schranke entfernt. Direkt neben dieser, auch eher außerhalb gelegen, stand ein kleines Grenzhäuschen aus weinroten Ziegelsteinen mit einem Flachdach und verdunkelten Fenstern.
Zwei Soldaten, schwer ausgerüstet mit gepanzerten schwarzen SEK-Anzügen und hochmodernen Schusswaffen - meines Wissens trugen sie beide eine erst seit ungefähr zwei Jahren erhältliche UGG17 - patrouillierten vor der Schranke und warfen dem Wagen finstere Blicke zu.
Einer der beiden trat zu Müller und forderte seinen Ausweis und die Einreisebescheinigung. Das gleiche verlangte er darauf von Heine, welcher ebenfalls Gehorsam leistete.
Ich fixierte meinen Blick auf den Wachturm zur linken Seite und war wie benebelt durch seine Bedrohlichkeit. Er war ein gewaltiger Betonklotz, der mehrere Meter in den Himmel ragte, oben abgelöst durch vollkommen verdunkelte und verschiebbare Fenster. Hineingucken konnte man nicht, doch hinaus wahrscheinlich nur zu gut. Und erblickte man einen unerwünschten Gast, konnten die Fenster geöffnet und auf den Störenfried geschossen werden.
"Hey, Junge!", rief der eine Soldat plötzlich und seine muskulöse Figur warf einen breiten Schatten auf mich. "Deine Papiere!"
Panisch drehte ich meinen Kopf zu diesem hin und griff in die Seitentasche meiner zerlöcherten Jeans. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich meinen Ausweis fand und ich war erleichtert, als ich ihn schließlich zwischen meiner Brieftasche und irgendwelchen alten Unterlagen fühlte. Ich zog ihn heraus und warf einen obligatorischen, prüfenden Blick auf ihn:
Frederik Hoffmann.
Geboren am 3.11.2021 in Schneverdingen.
Männlich.
177 cm groß.
Nationalität deutsch.
Hier war meine komplette Identität protokolliert. Doch was war die überhaupt noch wert? Im Prinzip war ich doch nur ein Schädling von vielen, welcher ausgeräuchert werden musste. Eine wirkliche Identität war da doch nur überflüssig und störend.
Mit skeptisch und nachdenklich umherschweifenden Augen reichte ich dem Soldaten meinen Ausweis. Dieser warf einen kurzen Blick darauf und gab ihn mir zurück.
Mit einem lauten Quietschen öffnete sich die Schranke und die beiden Soldaten winkten uns durch. Müller trat aufs Gaspedal und der Motor bellte laut auf.
Nun war es an der Zeit, die Reise zu Ende zu bringen.
Ich spürte, wie die Straße langsam unebener und zersprengter wurde, denn sie war gezeichnet von Krieg und Konflikten. In der Ferne, hinter den Bäumen, sah ich Rauch aufsteigen und hörte das tiefe Brummen alter Motoren.
Und je näher wir uns dem Ortseingangsschild näherten, desto stärker konnte ich diesen einen Geruch wahrnehmen: den Gestank des Elends. Es war dieser eine charakteristische Geruch, den ich schon aus Schneverdingen kannte, nur nicht ganz so schlimm. Schließlich wurde er hier ja noch ein wenig durch das Grün kompensiert. Aber trotzdem war dieser räudige Gestank unverkennbar. Es war eine Mischung aus Feuer, Abfall, Abgasen, Angst und Tod. Je stärker der Geruch wurde, desto heftiger bohrte er sich energisch in meine Nase und biss sich dort renitent fest.
Zur rechten Seite passierten wir innerhalb einer Minute die beiden kleinen Siedlungen Einfrielingen und Ebsmoor und nur wenige Augenblicke später war es dann soweit: Wir waren in Soltau.
Eine durchaus familiäre Atmosphäre legte ihren Mantel um mich und das damit herbeieilende Gefühl der Hoffnungslosigkeit drückte seine Finger in meine Wunden und gab mir ein unangenehmes Gefühl. Der stechende Schmerz in meinem Kopf schien mich zu erdrücken und mein Kopf wurde wie von unsichtbaren Fäden von der ach so gemütlich aussehenden Ladefläche angezogen.
Verdammt! Ich musste stark sein! Mit aller Kraft schlug ich mir diese Fuseln aus dem Kopf.
"Noch einmal drehst du heute nicht durch!", sagte ich mir wieder und wieder, während ich mit nur halb geöffneten Augen rechts zum verfallenen Turm des Mundschenk-Gebäudes hinaufblickte.
Hier musste so etwas wie eine große Nahrungslagerungsstätte sein, denn es roch stark nach halb vergammeltem Essen und ich konnte das laute Schnattern einer größeren Menschenmenge hören.
