Kasimirs verschollene Krieger - Benedikt Gomes - E-Book

Kasimirs verschollene Krieger E-Book

Benedikt Gomes

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Beschreibung

Wir schreiben noch immer das Jahr 2039. Das Chaos von Soltau hinterlässt vielerorts seine Spuren. In der durch das geheimnisvolle Virus dahingerafften Kleinstadt Munster gestrandet, verlassen Dimitri Jerschow und seine Gefährten erst nach einigen Tagen ihren Unterschlupf, um ihren Weg ins Ungewisse fortzuführen. Ex-Soldat Alexander Heine entwickelt schließlich einen Plan, der sie aus der Sperrzone rausschaffen soll. Durch Zufall treffen sie auf eine Reihe weiterer Überlebender und machen sich auf in Richtung Norden. Als jener Plan jedoch auf katastrophale Weise nach hinten losgeht, ist es ein geheimnisvoller Deserteur namens Henrik Dimitrios, der sich Dimitri und dem Rest annimmt. Aufgrund einer ganz persönlichen Mission verleitet er die Gruppe dazu, an einen Ort zurückzukehren, an welchem sowohl alte als auch neue Feinde auf sie warten.

Zugleich stößt der Uelzener Mordkommissar Jan Decker, als er einen ehemaligen Kollegen von der Streife bei einem Routineeinsatz begleitet, nahe der östlichen Grenze der Sperrzone auf ein ermordetes Bataillon. Wenig später taucht in einem Waldstück die Leiche eines jungen Mannes auf, welcher augenscheinlich auf grausame Weise hingerichtet worden ist. Die ersten Spuren führen zu der wegen Mordes in Untersuchungshaft sitzenden Drogenhändlerin Leslie Kuhn und wenig später zum Multimillionär Rafet Aydin, Inhaber der größten Clubkette Deutschlands. Doch erst vermehrte Hinweise auf einen gewaltsamen Terroristen mit Augenklappe und das Aufdecken der letzten Onlineaktivitäten des Ermordeten machen Jan Decker klar, dass er womöglich auf eine Verschwörung gestoßen ist, die eine mehr als beängstigende Tragweite besitzt.

In der neuen Hauptstadt Hamburg erfährt Patrick Duval, Leibwächter des Bundespräsidenten David Fechter, wie der zwielichtige Innenminister Emil Brandauer das Massaker von Soltau zur Untermauerung seiner populistischen Thesen nutzt. Noch mehr verwirrt es ihn, als Fechter plötzlich einen Pakt mit Rafet Aydin zu schließen scheint. Während das politische Klima mit der Zeit immer angespannter zu werden scheint, ist es schließlich eine schicksalshafte Begegnung mit einer jungen Frau, die Patrick Duval aus der Bahn wirft.

Fernab vom sich stets aufbauschenden Chaos jedoch, an einem unbekannten Ort, umgeben von Maschinen, öffnet Frederik Hoffmann schließlich seine Augen und sein einziger Gedanke ist es, Rache an Vincent Marchetti zu nehmen.

-zweiter Teil der Kasimir-Trilogie- 

  

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Veröffentlichungsjahr: 2018

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Benedikt Gomes

Kasimirs verschollene Krieger

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Freddi: Nur ein Spiel (Prolog)

Greller Mondschein erfüllte meinen Raum mit einer mystischen Atmosphäre. Hatte ich dort eben ein Geräusch vernommen? Warum war ich sonst aus meinem Schlaf gerissen worden? Mit verklebten Augen ließ ich meinen Blick gemächlich umherwandern und krallte mich dabei fest an meine Bettdecke. Wie spät war es? Blitzartig drehte ich mich nach rechts zu meiner alten Digitaluhr, die wie immer auf meinem beschaulichen, runden Nachttisch residierte, und kniff mein rechtes Auge mit aller Kraft zu, um für das linke genügend Sehschärfe hinzuzugewinnen. Es war kurz nach Mitternacht, die Geisterstunde hatte soeben begonnen.

Eine zornige Brise preschte mit einem Mal gegen mein durch den starken Nachtfrost beschlagenes Fenster, woraufhin ich mir die Decke schreckhaft über das Gesicht zog. Doch war es wirklich nur der Wind? Gab es vielleicht tatsächlich so etwas wie Geister? Waren alle diese Gruselgeschichten in ihrem Kern eventuell wahr?

Nur selten war ich zu jener Stunde wach gewesen, ehrlich gesagt konnte ich mich in diesem Moment an keinen weiteren Fall erinnern. Meine Mutter hatte immer darauf bestanden, mich um spätestens neun Uhr ins Bett zu schicken. Seit ein paar Monaten aber war es öfters vorgekommen, dass es ihr nichts ausgemacht hatte, wenn ich erst um zehn in meinen Schlafanzug geschlüpft war. Ich wurde eben älter, war auf dem Weg, ein großer Junge zu werden. Zehn Jahre war ich nun schon alt, und zwar seit genau einem Monat und elf Tagen. Oder waren es zwölf? Verträumt begann ich zu zählen, doch mein Kopf schien gerade nicht so wirklich zu funktionieren.

Plötzlich schreckte ich erneut auf. Schnelle Schritte im knisternden Schnee. Die Person war ganz nah, wahrscheinlich sogar in unserem Vorgarten. Panisch warf ich mich auf den Bauch und drückte mein Gesicht in das weiche Laken. Wer konnte das sein? War es vielleicht schon meine Mutter? Sie hatte doch eigentlich gesagt, sie würde die ganze Nacht arbeiten gehen, um uns ordentlich für den Winter versorgen zu können. Ich wusste, sie tat ihr Bestes für uns. Sie hatte es wahrscheinlich auch leid, sich fast ausschließlich von vertrocknetem Brot, abgelaufener Wurst und schlecht gereiften, mehligen Kartoffeln zu ernähren. Bestimmt hatte sie auch mal wieder das Verlangen nach Schokolade, genau wie ich. Ich hatte bestimmt schon zwei Monate keine mehr gegessen. Meine Mutter hatte mir früher öfters Riegel mitgebracht, um mich glücklich zu machen oder mich für irgendetwas zu belohnen, doch nun war das Geld zu knapp. Jedenfalls hatte mir meine Mutter das so erklärt.

Vorsichtig entfernte ich die Decke von meinen Ohren und lauschte erneut nach draußen. Das Versteckspiel hatte anscheinend etwas bewirkt, die Schritte waren nicht mehr zu hören. Erleichtert atmete ich auf und wagte einen kurzen Blick zum Fenster. Es hatte soeben angefangen zu schneien, mehrere feinste Schneeflocken hefteten sich wie Magnete an das kühle Fenster. Es schien eine friedliche Nacht zu sein, so friedlich wie schon seit Wochen nicht mehr. Endlich gab es mal keine Pistolenschüsse, keine Hilfeschreie und keine wilden Krawallhymnen hier in diesem Scheißloch von Schneverdingen.

Warum konnten wir nicht einfach von hier weg? Meine Mutter hatte mir doch schon so oft versprochen, dass sie uns eines Tages hier rausbringen würde. Warum ging das denn nicht? Ich war mir sicher, dass sie alles daran tat, aber warum wollten diese Soldaten uns nicht herauslassen? Was hatten wir denn verbrochen? Wir waren keine bösen Menschen, so wie dieser Kasimir oder wen auch immer die hier festhalten wollten. Ich konnte es nicht mehr ertragen, meine Mutter deswegen trauern zu sehen. Sie bereute es, damals, als wir noch Krieg gehabt hatten, nicht nach Hamburg gegangen zu sein, zusammen mit meinem Vater. Aber er hatte sie auch einfach im Stich gelassen, hatte nichts mehr von ihr gewollt. Warum hatte er das getan? Hatte es an mir gelegen? War ich ihm ein Dorn im Auge gewesen? Hatte er mich etwa nicht haben wollen? Aber nichtsdestotrotz hatte sich meine Mutter dagegen gewehrt, nach Hamburg zu gehen, obwohl es hier so gefährlich gewesen war. Das war es, was sie nun bereute, dachte ich. Doch hätte mein Vater sie geliebt, dann hätte er sie um jeden Preis mitgenommen. Dieser Kasimir hatte in Hamburg ein paar Häuser in die Luft gesprengt und viele Menschen getötet, doch das war nichts im Vergleich zu hier gewesen. Zu lange hatte meine Mutter gezweifelt, und als dann schließlich der Zaun errichtet worden war, hatte sich mein Vater wenige Tage später alleine freigekauft, ohne uns auch nur irgendetwas zu hinterlassen. So hatte es mir zumindest meine Mutter erzählt, denn ich war damals erst drei Monate alt gewesen. Ich hatte das alles noch überhaupt nicht erfassen können, erst Jahre später hatte ich die Situation unserer Stadt zum ersten Mal einzuschätzen gelernt.

Doch all die Unruhen, all das Chaos und all das Leid, die dieser Krieg über uns gebracht hatte, schienen heute stumm unter dem finsteren Schleier der Nacht verborgen zu sein. Die einzige Gewalt, die Schneverdingen nun etwas abzuverlangen schien, waren die eisigen Böen, die wie tobende Kinder draußen umher wüteten. Noch immer starrte ich nach draußen und versuchte aus irgendeinem idiotischen Grund, über den ich nicht weiter nachzudenken vermochte, die Schneeflocken zu zählen, die hinter der beschlagenen Scheibe zu Boden gingen. Auf irgendeine besondere Art wirkte alles so friedlich, so harmonisch. Bald würde ich wieder einnicken können, das Gezähle machte mich schon ganz schläfrig.

Doch plötzlich ein lauter Knall. Eine Gestalt erschien vor dem Fenster. Das Geräusch einer hämmernden Faust auf das stabile Glas. Ich zuckte zusammen und mein Atem blieb aus. Ein erneuter Schlag gegen das Fenster. Ich wollte schreien, jedoch hielt ich mir im letzten Moment die Hand vor den Mund.

"Hilfe!", hörte ich die finstere Gestalt von draußen rufen.

Mein Herz stand still und ich wusste nicht, was ich tun sollte.

"Freddi, du musst mir helfen!"

Wer war das? Ich konnte nichts erkennen. Kannte diese Person mich etwa? Anscheinend schon. Mit bis zur Überreizung angespannten Gliedern klammerte ich mich an meine Decke und schaute mit weit aufgerissenen Augen weiterhin gen Fenster.

"Wer ist da?", rief ich mit zittriger Stimme.

Ich brauchte keine Sekunde zu warten, da erwiderte die Gestalt von draußen durch das abdämpfende Glas: "Ich bin's, Egon! Bitte, du musst mir helfen! Sie werden mich sonst finden!"

Was zur Hölle? Was ging hier vor sich? Wer war denn bitteschön hinter Egon her? Ruckartig sprang ich von meinem Bett und stolperte überhastet in Richtung Fenster. Eine unangenehm frostige Brise schoss mir augenblicklich ins Gesicht, als ich es rasch öffnete. Ich konnte gerade die unvorstellbare Angst in Egons Augen erfassen, da schwang er sich hektisch atmend auf die Fensterbank und hinein in mein kleines Kinderzimmer. Fast hätte er mich dabei umgestoßen, doch ich hatte gerade noch rechtzeitig ausweichen können. Mit hämmerndem Puls knallte ich das Fenster zu und verschloss es so schnell wie möglich.

"Vorsicht!", krächzte Egon daraufhin unterdrückt und packte mich fest am Oberarm. "Du musst leise sein, Freddi! Sie dürfen uns nicht hören!"

"Wer?", fragte ich völlig verwirrt und wandte mich mit zittrigen Gliedern und einem unheilvoll flackernden Augenlicht Egon zu.

Dessen schütteres, blasses braunes Haar war völlig zerzaust und ausgefranst und seine hellblauen Augen waren weit aufgerissen vor Schrecken, während sein gesamter Körper oberhalb der Taille durch die ungeheure Angst förmlich durchgeschüttelt wurde. Fast schon haltlos warf sich Egon mit dem Rücken gegen die Wand und sackte unkontrolliert herab, während eine glänzende Träne seine erblasste rechte Wange herunterglitt.

"Ein paar böse Männer", begann Egon nun zu erklären und seine zittrigen Fäuste waren fest geballt. "Sie wollen mir wehtun, Freddi. Ich habe etwas wirklich sehr Dummes getan und jetzt wollen sie mich dafür bestrafen."

"Was hast du getan?", hakte ich vorsichtig nach und mich durchfuhr ein heftiger Schauer bei dieser Frage.

"Ist doch ganz egal", winselte Egon und seine Visage wurde immer weinerlicher, während er immer wieder panisch in Richtung Fenster zu lauschen schien. "Es tut mir so leid, dass ich mich in den letzten Monaten nicht habe blicken lassen, mein Junge. Es sind ein paar sehr schlimme Dinge passiert, ich hoffe, du verstehst das. Diese verfluchten Skinheads, sie haben meinen Sohn getötet!"

Auf einmal fing Egon bitterlich zu weinen an und der Schmerz in seinen feuchten Augen entzog mir jegliche Fähigkeit zu atmen.

"Die ganze Zeit über habe ich mich versteckt, zusammen mit meiner Tochter", fuhr er fort und schluckte fortlaufend Tränenflüssigkeit hinunter. "Ihr geht es immer schlechter, sie wird den Winter niemals überleben, wenn ich keine Lösung finde. Freddi, ich habe sogar eine Waffe gestohlen. Ich wollte nie etwas Schlimmes tun, doch ich war so verzweifelt. Dann habe ich neulich Nacht diese Typen gefunden, in Richtung Zahrensen in einem kleinen Hinterhof. Ich hätte schwören können, dass zwei von ihnen auch zu diesen Skinheads gehörten. Auf einmal kannte ich keine Skrupel mehr, schließlich waren das böse Menschen, ich wusste das."

War Egon jetzt doch dabei, mir den Grund seiner panischen Flucht zu nennen? Was hatte er denn nun getan? Hatte er tatsächlich...?

"Ich habe sie erschossen!", schluchzte er wie aus der Pistole geschossen, meinen Gedanken zuvorkommend. "Alle fünf, ich habe sie einfach abgeknallt! Dann habe ich alles gestohlen, was sie hatten. Ich wollte mich auf keinen Fall mit irgendwelchen Gangs anlegen, doch sie haben es herausgefunden. Sie wissen verdammt nochmal, was ich getan habe!"

Egon wirkte fast schon wie ein hilfloses Kleinkind, als er sich kläglich wimmernd die Hände vors Gesicht schlug und noch weiter in sich zusammensackte. Nur die Front seiner etwas kartoffelartigen Nase war von seinem Gesicht jetzt noch zu sehen, sowie seine länglichen, abstehenden Ohren. Vom bereits fortschreitend zurückgetretenen Haaransatz perlte der Schweiß unaufhörlich herab und suchte sich seinen Weg nach unten.

Behutsam näherte ich mich Egon auf weniger als zwei Schritte und fragte mit nervöser Stimme: "Verfolgen diese Männer dich gerade?"

Egon jedoch legte lediglich sein rechtes Auge für einen kurzen Moment frei und ließ mich dessen Fassungslosigkeit und Verzweiflung ausstrahlende Kälte spüren. Eine Antwort war wohl überflüssig. Panisch rang ich nach Worten, wusste nicht, wie ich mit dieser ungewohnten Situation umgehen sollte. Damals hatte ich Egon kennengelernt, es war noch nicht einmal ein Jahr her, und dann war er eines Tages einfach verschwunden, nur, um jetzt, in dieser unfreundlichen Winternacht, vor meinem Fenster aufzukreuzen?

Mit fassungslosen Augen musterte ich ihn, wie er dort weiterhin in der Ecke verweilte, leise in sich hinein wimmernd. Seine hellblaue Jeans war nass und schmutzig und sein hellbrauner Wintermantel löchrig und modrig. Doch was war das? Aus einer geräumigen Seitentasche dieses abgenutzten Dings schaute etwas hervor, etwas Gelbes. Es sah in etwa so aus wie ein Kopf, versehen mit kleinen schwarzen Augen und einem breiten Maul, gefüllt mit abgestumpften, halbkreisförmigen Zähnen. War es ein Kuscheltier? Irgendetwas an diesem Ding kam mir bekannt vor. Vielleicht war jetzt der richtige Augenblick, um irgendwie abzulenken, die Gefahr vergessen zu machen. Eventuell waren diese bösen Männer ja schon längst über alle Berge. Sollte ich Egon also einfach mal auf dieses Kuscheltier ansprechen? Warum denn nicht?

Entschlossen trat ich noch einen Schritt vor und krächzte mit mäuseartiger Piepsstimme: "Was hast du da in der Tasche, Egon?"

Jener nahm augenblicklich die Hände vom Gesicht und schaute mich mit verwundertem Blick an.

"Nur ein dämliches Kuscheltier", entgegnete er mir mit zerbrechlicher Stimme und richtete seinen Blick herab auf das gelbe Ding, worauf er es mit der einen Hand ein Stück hervorholte. "Meine Tochter ist zwar schon etwas zu alt für sowas, doch es würde ihr mit Sicherheit trotzdem eine Freude machen. Ein Bekannter hat es mir geschenkt. Schmu heißt dieses Ding, glaube ich. Im Prinzip nur ein Merchandise-Artikel von irgendeiner dämlichen Fernsehsendung, aber mir hat er sofort gefallen. Vielleicht wird meine Tochter in ihm ja so etwas wie einen Ersatz für ihren Bruder finden. Sie hatte es echt nicht leicht die letzten Monate. Wahrscheinlich wird es noch sehr lange dauern, bis sie darüber hinweg ist."

"Sie wird sich bestimmt freuen", erwiderte ich mit einem leicht gezwungenen Lächeln und fixierte meinen Blick weiterhin auf Schmu.

Daraufhin schienen sich mit einem Mal sogar Egons Mundwinkel ein wenig anzuheben und mit einem Hauch von Stimme sagte er: "Ich würde in diesem Moment so viel für ein Lächeln in ihrem Gesicht geben. Es gibt einfach keinen schöneren Anblick für mich auf dieser Welt. Würde sie doch bloß wieder gesund werden."

"Ich hoffe es", flüsterte ich mit auf seltsame Weise unterdrückter Stimme und schaute nachdenklich zu Boden.

Doch plötzlich fuhr ich panisch hoch. Schnelle Schritte im Schnee. Ein ohrenbetäubendes Scheppern. Scherben flogen in meine Richtung und ich hielt mir schützend den Arm vors Gesicht, während ich haltlos zu Boden ging. Egon brachte einen gepressten Schrei heraus und aus den Augenwinkeln konnte ich ihn unkontrolliert zappeln sehen, als ich direkt darauf mit dem Kopf auf das harte Parkett aufschlug.

Was geschah hier? Wie hatte das passieren können? Mit ausuferndem Puls haftete ich meine Handflächen auf das glatte Holz und zog mich nach vorn, weg vom Fenster. Wie ein verwundeter Soldat kroch ich rasch und überhetzt über den Boden und die spitzen Krallen atemloser Panik bohrten sich in meinen Hinterkopf.

Jemand stieg durchs Fenster. Ich hörte einen überspitzten Jubelschrei. Plötzlich ein weiterer Knall. Die Haustür. Bitte nicht! Es waren noch mehr. Bald würden sie auch hier durch die Tür kommen.

Ich wollte mich nicht umdrehen, konnte es nicht. Ich vernahm, wie Egon beim Versuch, sich aufzurichten, mit dem Rücken gegen die Wand knallte und ins Straucheln geriet.

"Du bleibst hier, Freundchen!", knurrte eine finstere Stimme und schockartig kniff ich meine Augen zu bei dem Geräusch der auftreffenden Faust.

Egon schrie laut auf, ging hörbar zu Boden und ächzte gequält. Noch ein Schlag. Das Geräusch zerschmetterter Knochen. Ich versuchte, nicht in Tränen auszubrechen, sondern Halt zu finden und mich aufzurichten.

"Freddi!", hörte ich Egon hinter mir röcheln, doch ein dritter Schlag, vermutlich in die Bauchgegend, unterdrückte seine Stimme.

"Du bist verdammt nochmal fällig, du jämmerliche Ratte!", brüllte der Eindringling mit solch einer bebenden Stimme, dass mein gesamter Körper zu gefrieren schien und ich mich mit einem Mal nicht mehr vom Fleck bewegen konnte.

Doch wie viele Füße traten da wirklich gerade auf das Parkett? Waren sie bereits jetzt zu zweit?

"Nicht so schnell, Kleiner!", rief plötzlich eine zweite Stimme, hörbar jünger, doch mindestens genauso bedrohlich und einschüchternd.

Mein Herz stand still, jetzt war es gelaufen. Kräftige Hände packten meine Fußgelenke und zerrten mich zurück in Richtung Fenster. Ich schrie laut auf und Tränen schossen aus meinen Augen. In letzter Not versuchte ich mich im Parkett festzukrallen, doch sofort bohrten sich Splitter in meine Nagelbetten und ein stechender Schmerz schoss in Windeseile hoch in meinen Kopf. Ich zappelte wie verrückt, trat aus, schlug um mich. Sporadisch erblickte ich Egon, wie er dort am Boden lag. Aus Mund und Nase trat Blut aus und sein linkes Auge war stark gerötet und angeschwollen. Ein eiskalter Schauer lief mir über den Rücken.

Ich wollte mich umdrehen, meinem Angreifer Paroli bieten. Allerdings war dies alles andere als einfach. Hilflos ächzend schwang ich mich hin und her und versuchte mich weiterhin mit allen Kräften zu wehren.

Trotzdem konnte ich bereits einen kurzen Blick auf den Mann werfen, der seine Hände um meine Fußgelenke geschlossen hatte. Ich erkannte einen schwarzen Mantel, fast trocken und äußerst gepflegt, aus welchem ein kantig geschnittener Kopf ragte, die untere Gesichtshälfte ausgefüllt von einem dichten schwarzen Stoppelbart, ein starker Kontrast zur eher blassen Gesichtshaut. Der Mann hatte fast schulterlanges, leicht gelocktes und ebenfalls schwarzes Haar und seine Nase hatte eine äußerst markante Form. Doch was mir als Allererstes aufgefallen war, war die große, dunkle Augenklappe, die einen erheblichen Anteil der bedrohlichen Aura dieses Mannes ausmachte. Er wirkte fast schon wie eine Art Bösewicht aus der kriminellen Unterwelt, wie sie in den Geschichten immer beschrieben wurden. Nur schien er noch gar nicht so alt zu sein, höchstens Mitte zwanzig.

"Lass mich los!", fauchte ich ihn an und streckte mich bis zum Anschlag, um mit den Fäusten auf die Hände dieses Widerlings schlagen zu können.

Eine schaffte ich zu treffen. Doch dann der Schlag mit der flachen Hand. Ein Klatschen hallte von den Wänden wider. Ein betäubender Schmerz fraß sich in meine linke Wange und in mein Ohr drang nichts als grässliches Piepen.

Mit einem Ruck zog mich der Einbrecher das letzte Stück zu sich heran, packte mich so grob unter den Achseln, dass er mir gefühlt mehrere Rippen brach, was mich wie am Spieß schreien ließ, und richtete mich schließlich auf, wobei er weiterhin nicht lockerließ und mir keinerlei Bewegungsfreiheit gewährte.

Mein Blick war nun geradewegs auf Egon und den zweiten Einbrecher gerichtet, doch der Schock ließ meine Sicht verschwimmen. Mir war unfassbar schwindelig und Übelkeit breitete sich in meinem Magen aus. Ein schleichendes Schwarz drang in mein Blickfeld und nahm es von den Rändern aus langsam ein. Ich konnte meinen Tränenfluss nicht kontrollieren, unaufhörlich strömten sie meine glühenden Wangen hinunter und versorgten diese mit noch mehr unbekömmlicher Wärme.

"Wag es ja nicht, dich zu wehren, du kleiner Scheißer!", giftete der Mann mit der Augenklappe mich an, sodass sein Speichel in meinen Nacken spritzte, und packte noch fester zu, sodass sich mein Gesicht vor Schmerz krampfhaft verzog.

Ich zitterte mittlerweile am ganzen Körper, fühlte, wie ich schwächer und schwächer wurde. Nichtsdestotrotz aber klarte mein Blickfeld mit einem Mal wieder auf und endlich konnte ich den Mann erkennen, der Egon dort drüben in seiner Mangel hatte. Seine kräftigen, haarigen Unterarme, die unterhalb der hochgezogenen Ärmel des dünnen schwarzen Pullovers zu sehen waren und nun Egons hocherröteten, blutüberströmten Kopf fest umschlungen hatten, waren von mehreren seltsamen, angsteinflößenden Tattoo bedeckt, darunter etwas, das aussah wie ein Totenkopf mit Ziegenhörnern. Mit seinen leeren Augenhöhlen starrte mich dieses Viech an und es wirkte fast, als würde es mich hämisch angrinsen. Den Torso des Mannes bedeckte zusätzlich noch eine ausgesprochen hässliche dunkelblaue Winterweste, die farblich fast genau mit der dunklen, zerschlissenen Jeans übereinstimmte, die er oberhalb seiner ausgelatschten grauen Wanderstiefel trug. Zu Schlitzen geformte, bedrohlich finster leuchtende Augen dunkelbrauner Farbe wanderten zwischen Egon und mir hin und her und darunter befanden sich eine reichlich platte, vermutlich schon mehrfach kaputtgeschlagene Nase und zu einem widerlichen Lächeln geformte, aufgeraute Lippen. Sowohl das zerzauste dunkelbraune Haar als auch der dichte Schnurrbart des Mannes hatten bereits leichte Graustiche, was auf ein Alter in der Nähe der Fünfzig deutete.

Langsam stellte ich das Gezappel ein, es hatte doch sowieso keinen Zweck. Flüssiger Rotz lief mir aus der Nase und glitt stürmisch in meinen Mund, wo er auf meiner Zunge einen salzigen Geschmack hinterließ.

Ich sah, wie Egons Gesicht innerhalb des festen Klammergriffs unaufhörlich zitterte, und merkte, dass er eigentlich etwas sagen wollte, es scheinbar aber nicht konnte. Wahrscheinlich bekam er nicht einmal richtig Luft. Waren das wirklich die Männer, die er beklaut hatte? Wenn ja, dann gab es keine Hoffnung mehr für ihn. Die dunkle Erkenntnis biss sich sofort in meinem Kopf fest, nahm mir erneut den Atem und bereitete mir Schwindel.

Doch trotzdem versuchte ich, irgendwie meinen gesamten Mut zusammenzunehmen, und krächzte verzweifelt: "Lass sofort Egon los, du mieses Arschloch! Du sollst sofort aufhören, ihm wehzutun!"

Es dauerte keine Sekunde, da bohrten sich die finsteren Augen des tätowierten Mannes in meine, was mich tief erschaudern ließ, und mit eiskalter Stimme brummte er: "Was denkst du eigentlich, wer du bist, du kleiner Hosenscheißer? Hat dich etwa irgendwer ums Wort gebeten? Aber gut, irgendwann muss der arme Kerl ja schließlich wieder etwas Luft kriegen."

Mit einem heftigen Ruck beförderte der Mann, nachdem er seinen Griff gelöst hatte, Egons Kopf gen Boden und dieser schlug mit einem grässlichen Knall auf, welcher mich schockartig zusammenzucken ließ. Egon schrie kurz auf und schnappte daraufhin krampfhaft nach Luft, während er gleichzeitig große Mengen an Blut auf das Parkett spuckte.

Plötzlich knurrte der Mann mit der Augenklappe boshaft, sodass ich deutlich seinen Atem auf meinem Hinterkopf verspüren konnte: "Ich würde lieber nichts mehr sagen, Junge. Scheinbar hast du keine Ahnung, wer wir sind. Ganz besonders, wer dieser Mann gegenüber von dir ist."

"Ganz genau", entgegnete dieser mit einem zufriedenen, sadistischen Lächeln, richtete sich stramm auf und spannte energisch seine Gliedmaßen. "Ich bin Christopher Riemann, vielleicht hast du ja schon von mir gehört. Und glaub mir, mein Junge, mit mir legt sich keiner so schnell an. Ich bin das Herzstück der Schneverdinger Unterwelt, der leibgewordene Antichrist und seit neuestem Egons schlimmster Albtraum. Keine Sorge, Freundchen, falls dir mein Name doch nichts sagt, wirst du mich jetzt kennenlernen. Du wirst bestimmt Augen machen, wenn du erfährst, wie ich meine Feinde am liebsten ausschalte."

Mein Herz stand still und ich wollte schreien, konnte es jedoch nicht. Die reine Furcht lähmte mich, ließ mich nicht einmal zucken.

Plötzlich sprang links von mir die Tür auf. Unter krampfhaften Schmerzen gelang es mir, meinen Hals ein kleines Stück zu drehen, und ich sah zwei weitere Gestalten im Türrahmen stehen. Sie waren allerdings durch die Schatten stark verdunkelt, weshalb ich nicht besonders viel erkennen konnte.

Der Linke aber schien kurze, gestylte schwarze Haare zu haben und war von dezent stämmiger Statur. Er war augenscheinlich Südländer und geschätzt erst um die Anfang zwanzig. Der Rechte allerdings sah von hier ein kleines Stück älter aus und hatte etwas längere, zerzauste dunkelblonde Haare und ein recht spitz zulaufendes Gesicht. Sie beide trugen dunkelgraue Winterjacken, dunkle Jeans und klotzartige Winterstiefel.

"Vince, gib mir den Säurebehälter!", wies Riemann den Rechten an und dieser holte augenblicklich eine Art großes Glas hinter seinem Rücken hervor.

Mir gefror augenblicklich der Atem und meine Tränen schienen sich in scharfe Eiszapfen zu verwandeln.

"Bitte nicht!", flehte ich diesen elendigen Schweinehund an. "Bitte töten Sie ihn nicht!"

Eiligen Schrittes trat der Dunkelblonde - Vince war offenbar sein Name - zu Riemann heran und legte den Behälter behutsam neben ihm ab.

Daraufhin bohrten sich erneut dessen beißende, dunkle Augen in meine und mit einem psychopathischen, vorfreudigen Lächeln erklärte er: "Keine Sorge, Jungchen, das werde ich auch nicht. Du wirst den Job für mich erledigen."

"Was?", ächzte ich und ein brennendes Stechen jagte mir in Lichtgeschwindigkeit durch alle Körperregionen.

Mein Schädel schien gewaltsam zu implodieren und kochende Lava brodelte in meinem Magen.

"Du hast mich schon richtig verstanden", drängte Riemann und sein Tonfall wurde um einiges energischer. "Also nimm dir gefälligst diesen scheiß Säurebehälter und kipp ihn über diesem Bastard aus!"

"Aber...", stotterte ich unter Tränen, doch sofort wurde meine Klage abgeblockt und Riemann brüllte:

"Kein Aber, du wertloser Haufen Dreck! Ich bring’ dich verdammt nochmal um, wenn du mir nicht gehorchst!"

Auf mich war eine Pistole gerichtet. Mit eiserner Hand richtete er sie auf meinen Kopf. Ich weinte bitterlich, konnte kaum meine Körperfunktionen kontrollieren. War das alles vielleicht nur ein böser Traum? Wann würde ich endlich aufwachen?

Mit der anderen Hand griff Riemann auf umständliche Weise den recht voluminösen Glasbehälter, welcher eine bedrohlich zischende lilafarbene Substanz enthielt, und hievte ihn mit viel Geschick über Egons am Boden liegenden Körper. Dieser schaute mich mit entsetztem, ungläubigem Blick an, doch herausbringen konnte er nichts. Aber die aufschimmernden Tränen in seinen geschwollenen Augen verrieten mir genug.

"Das ist doch krank, Christopher!", meinte auf einmal der Südländer in der Tür und trat mehrere Schritte näher, wie ich aus dem Augenwinkel heraus erkennen konnte. "Das ist ein kleiner Junge, verdammt! Du kannst ihn doch nicht zu so etwas zwingen! Das ist unmenschlich!"

"Lass dir verdammt nochmal Eier wachsen, Rafet!", erwiderte Riemann mit enttäuscht wirkender Visage und anklagender Stimme und ließ seinen Blick schnurstracks zu dem Schwarzhaarigen wandern. "Man, das Leben ist hart, da kann es jeden treffen. Find’ dich damit ab, Kamerad! Wie alt war denn dein Cousin, als Holm ihn zusammen mit all dem Desiderium abgefackelt hat?"

"Elf", antwortete Rafet ein wenig eingeschüchtert und schaute nachdenklich zu Boden.

"Siehst du?", prustete Riemann daraufhin los, unterstützt durch wilde, überzogene Gesten. "Wahrscheinlich kaum älter als dieser Knirps hier. Verfluchte Scheiße, du hast ja auch nicht mal den Mumm, ihn zu rächen! Wer bist du eigentlich? Ich dachte, du wärst ein knallharter Bursche. Fast fünf Monate ist es jetzt her und du hast nichts unternommen."

"Mein Vater hat es mir verboten, Christopher", versuchte sich Rafet notgedrungen zu rechtfertigen. "Die Diagnose hat ihm einen plötzlichen Sinneswandel verpasst. Er glaubt nicht mehr an Vergeltung und sieht Rachedurst mittlerweile als Schwäche an. Er sagt, Holm wird früher oder später seine gerechte Strafe erhalten. Und weißt du was? Ich bin fest davon überzeugt."

"Idiot", murmelte Riemann nur abfällig und schüttelte den Kopf. "Hör mal auf, dich von deinem scheiß Vater abhängig zu machen! Vor einem Jahr noch hätte er diesem Bastard eigenhändig das Herz rausgerissen! Mittlerweile aber ist er zu senil und benebelt, um richtig handeln zu können. Sehr lange wird er’s bestimmt nicht mehr machen. Tja, anscheinend stand er bei Allah doch nicht so hoch im Kurs."

"Wag es ja nicht...", begann Rafet verbissen, doch sofort hielt er inne, da scheinbar auch er nun die Sinnlosigkeit dieser Debatte erkannte.

Meiner Meinung nach hätte sie aber endlos weitergehen können. Noch immer liefen die Tränen unaufhörlich aus meinen Augen. Ich hoffte innig auf eine weitere Ablenkung, doch nichts kam.

"Treib es nicht zu weit, man!", hörte ich Vince noch vorsichtig beklagen, doch es folgte keine Reaktion Riemanns.

Dieser wandte sich nun nämlich wieder mir zu mit seinem perversen Grinsen und sprach: "Tritt näher, kleiner Mann! Du brauchst wirklich keine Angst zu haben. Betrachte es einfach als Spiel. Ganz genau, es ist einfach nur ein Spiel. Also mach schon!"

Endlich ließ mich der Mann mit der Augenklappe los und meine Lungenflügel konnten sich wieder gesund ausweiten. Ich nahm einen tiefen Atemzug und trat vorsichtig näher. Rotierende Kreissägenblätter schienen meinen Magen von innen zu zerfleischen und jeden Moment konnten mir die letzten zwei Mahlzeiten hochkommen.

Auf einmal sah ich, wie Riemanns Blick auf etwas in Richtung Egons unterer Körperhälfte gelenkt wurde, und mit einem stillen Lachen griff er danach. Es war Schmu, dieses gelbe Wesen. Was zum Teufel hatte er damit vor?

"Mein armer Junge", begann Riemann nun mit gespielt fürsorglicher Stimme. "Mache ich dir vielleicht zu viel Angst? Findest du mich etwa gruselig? Naja, daran lässt sich dann wohl nichts ändern. Aber sag mal: Was hältst du davon, wenn dieses hässliche gelbe Ding stattdessen zu dir spricht?"

Mit viel Kraft presste Riemann seine Finger in Schmus kleinen Körper und streckte seine Hand in meine Richtung aus. Was zur Hölle sollte das jetzt werden? Mein gesamter Körper bebte vor Furcht und Verunsicherung und ich konnte kein einziges Wort herausbringen.

Doch dann öffnete dieser Mistkerl wieder seinen Mund und sagte mit schrill verstellter Stimme: "Hallo, mein Junge, ich bin dein kleiner Monsterfreund. Vielleicht findest du den Mann hinter mir ja ein bisschen blöd, aber er hat etwas Wichtiges zu erledigen. Deswegen bitte ich dich darum, mir einen klitzekleinen Gefallen zu tun. Dieser Mann, der da liegt, ist ganz böse und ich will, dass du ihm eine kleine Dusche verpasst."

Ich konnte meine Gliedmaßen nicht mehr kontrollieren und alles wurde von Sekunde zu Sekunde schwärzer um mich herum. Ich schluchzte wie ein Baby, kriegte mich einfach nicht wieder ein.

"Christopher, Alter, jetzt drehst du ja völlig ab!", lachte der Mann mit der Augenklappe hinter mir und schubste mich ein weiteres Stück nach vorn, sodass ich unsanft direkt vor Egons Körper zu Boden ging.

"Bitte, tu's für mich!", flehte Riemann mit noch immer verstellter Stimme und hielt mir weiterhin dieses gelbe Monster ins Gesicht. "Ich bin doch dein Freund, mein Junge. Und du willst doch auch nicht, dass der Mann hinter mir sauer wird, oder?"

"Nein", wimmerte ich und klatschte mir die Hände vors Gesicht, als ich mich wieder zur Hälfte aufgerichtet hatte. "Aber ich werde Egon nichts tun."

"Jetzt tu's endlich!", brüllte Riemann mit donnernder Stimme, sodass es von den Wänden widerhallte.

Mein Herz hatte sich dabei angefühlt, als würde es in tausend Stücke explodieren, und mein Blutkreislauf schien zum völligen Erliegen gekommen zu sein. Auch sah ich wieder die Pistole, die noch immer erbarmungslos auf meinen Kopf gerichtet war.

"Ich hab’ dich auch ganz doll lieb, wenn du es machst", fuhr Riemann dann fort, diesmal wieder mit grotesk erhöhter Stimme. "Siehst du denn nicht, dass der Mann da unten böse ist? Er hat ganz viele Menschen umgebracht. Das findest du doch nicht etwa gut, oder?"

"Nein", antwortete ich unter heftigen Tränen und schüttelte meinen Kopf. "Nein, nein, nein."

"Dann sei bitte ein guter Knuddelfreund", krächzte schließlich die hohe Stimme und Riemann ließ das gelbe Monster in seiner Hand fröhlich hin und her schaukeln. "Wir sind auch alle stolz auf dich, wenn du es machst. Aber wenn nicht, dann wird der Mann hinter mir ganz böse und knallt dich ab. Ich weiß, das ist echt gemein, aber ich kann nichts dafür."

"Hör lieber auf den kleinen gelben Scheißer, Junge!", fügte der Mann mit der Augenklappe schließlich noch hinzu und aufgrund seines Tonfalls konnte ich auf ein hämisches Grinsen deuten.

Ich zitterte am ganzen Körper, wurde kreidebleich, erstickte beinahe an meinen eigenen Tränen. Trotz erheblich gefrorener Gelenke schaute ich herab und sah Egons angsterfüllten Blick, irgendwo zwischen all dem Blut herausstechend.

"Christopher, bist du dir bei dem Scheiß echt sicher?", hörte ich Vince zweifeln und auch Rafet klagte, einen äußerst skeptischen Blick aufsetzend:

"Das ist nicht menschlich, man! Mach es lieber selbst!"

Doch Riemann antwortete nicht. Er blieb vollkommen still, das Gesicht zu einer finsteren Miene erstarrt. Die Pistole zeigte noch immer auf mich. Niemals würde dieses Schwein seine Meinung ändern. Mein Verstand wehrte sich mit aller Kraft, doch nichtsdestotrotz wanderten meine Hände langsam, aber sicher in Richtung Behälter. Ich schluchzte ungehemmt, versuchte diese innere Blockade aufzurüsten, doch es musste irgendeine Art von Instinkt sein, der mich die Säure nun aufnehmen ließ.

Ich durfte es nicht tun, auf gar keinen Fall. Doch warum schien ich nun doch einzuknicken? Was war ich nur für ein Mensch? Aber ich hatte keine andere Wahl, sterben musste Egon sowieso. Immer wieder redete ich mir das ein und gnadenlos fraß es sich als unerträgliches Echo in meinen Kopf. Doch würde ich damit leben können, ein Mörder zu sein? Wäre es vielleicht nicht sogar besser, an Egons Seite zu sterben? Den Bruchteil einer Sekunde spielte ich mit dem Gedanken, doch dann schoss es mir durch den Kopf wie ein spitzes Projektil. Konnte ich den Tod wirklich auf mich nehmen? Was, wenn es so etwas wie einen Himmel nicht gab? Ich würde einfach verpuffen, vom Angesicht dieser Erde verschwinden. Mein Bewusstsein würde komplett aufhören zu existieren, ich wäre einfach nicht mehr da. Nein, das konnte ich nicht zulassen, ich war noch nicht bereit dafür. Egon würde sowieso sterben, wieder und wieder ging mir das durch den Kopf. Ich musste es tun, musste es jetzt hinter mich bringen. Die Zeit war gekommen, ich durfte nicht länger warten.

Mit zitternden Händen hob ich den Behälter in die Höhe, direkt über Egons Brust. Ich wagte es nicht, ihm noch einmal in die Augen zu schauen, wollte den dort festsitzenden Schmerz mich nicht noch einmal quälen lassen.

"Freddi", hörte ich ihn noch gequält röcheln und ich musste kurz zusammenzucken, als seine Hand meinen Oberschenkel griff. "Freddi, du bist ein guter Junge. Bitte..."

Ich konnte ihn nicht fertig sprechen lassen, die Last des Behälters war einfach zu groß. Beinahe entglitt er meinen verschwitzten Fingern und kippte über. Die Säure ergoss sich in Windeseile über Egons Körper. Meine Augen weiteten sich vor Schreck. Ein lautes Zischen. Ein schriller, ohrenbetäubender Schrei. Ich hielt es nicht aus, es war unerträglich. Mit einem Klirren ging der Behälter zu Boden. Sofort fiel ich zurück, robbte mich rückwärts von Egon weg. Aus dem Augenwinkel sah ich seine Brust verätzen. Es blubberte und schäumte und sein Fleisch wurde zu Matsch und sackte in Richtung Boden herab. Das Schreien wurde lauter. Auch ich schrie. Panisch hielt ich mir die Hände vors Gesicht. Riemann lachte. Ich hielt es nicht aus. Dieses Zischen, das Auflösen von Knochen und Fleisch. Wie eine Kugel kauerte ich mich auf das Parkett. Ich wollte es verdrängen, wollte ganz woanders sein. Hemmungslos brüllte ich mir die Seele aus dem Leib. Alle meine Körperfunktionen schienen in einem Inferno auszusetzen.

Plötzlich überkam mich Dunkelheit. Alles war schwarz.

 

Das Erste, was ich verspürte, als ich wieder zu mir kam, waren die unerträglichen Kopfschmerzen. Was zur Hölle war geschehen? Warum lag ich auf dem Boden? Ich war ratlos, und noch dazu unfähig, über auch nur irgendetwas nachzudenken. Dieses penetrante Stechen in meinem Schädel raubte mir einfach jegliche Denkfähigkeit.

Vorsichtig drückte ich mich vom Boden ab und richtete mich in die Hocke auf. War ich etwa geschlafwandelt? So etwas hatte ich doch vorher noch nie getan. Es dröhnte und fiepte in meinem Kopf, es war einfach nicht auszuhalten. Mit schmerzverzerrtem Gesicht presste ich die Hände gegen meine Ohren und kniff die Augen unter einem gequälten Stöhnen zu.

War irgendetwas geschehen letzte Nacht? Ich konnte mich einfach nicht erinnern. Doch irgendein unbehagliches Gefühl in meinem Bauch sagte mir, dass irgendetwas nicht stimmte. Es musste etwas geschehen sein, irgendwie wusste ich das in meinem Inneren. Aber was? Ein finsterer Schleier schien sich davorgelegt zu haben, eine undurchdringliche Mauer des Verdrängens. Erinnerungsfetzen schossen wiederholt durch meinen Kopf, doch sie waren abstrakt, wie bei einem fast vergessenen Traum.

Was hatte ich denn überhaupt letzte Nacht geträumt? Verzweifelt versuchte ich mich zu entsinnen, doch ich drang nicht weiter als das verschwommene Bild mehrerer dunkler Gestalten vor. Ganz behutsam nahm ich die Hände wieder von meinen Ohren und begann, meinen Kopf in die andere Richtung zu drehen.

Plötzlich erschrak ich und der Schock beförderte mich ruckartig nach hinten. Wo kam dieses Loch im Boden her? Und war das etwa Blut an den Rändern? Ein erbarmungsloses Gefühl von herannahender Übelkeit wütete in meinem Magen, als ich mich vorsichtig näherte. Es wirkte fast, als hätte sich etwas in das hölzerne Parkett gefressen, die vielen glatten Rundungen an den Kanten widerlegten prinzipiell ein stumpfes Herausreißen. Sogar das Betonfundament unterhalb schien beschädigt worden zu sein, denn auch dort hatte sich eine nicht gerade kleine Wanne gebildet mit fast ebenem Untergrund.

Ängstlich zitternd musterte ich diese mysteriöse rote Flüssigkeit, die, wie sich nun herausstellte, nicht nur am Rand des Parketts vorzufinden war, sondern auch im Loch selbst nicht wenige Spuren hinterlassen hatte. Zweifellos war es Blut. Mein Atem stockte und ich erbleichte sofort.

Nun stand es fest: Gestern Nacht war tatsächlich etwas Schlimmes geschehen. Wieder versuchte ich verzweifelt, mich zu erinnern, doch wollte ich das wirklich? Wo war meine Mutter? War sie noch immer nicht zurückgekehrt?

"Mama!", rief ich in einem hysterischen Ton. "Mama, bist du schon da?"

Doch es kam keine Antwort. Nur das ständige Rauschen des unfreundlichen Dezemberwinds drang in meine Ohren und aus weiter Ferne das Geschnatter der Menschenmassen.

Ich wollte gerade aufstehen und in ein anderes Zimmer flüchten, da sah ich in der Nähe des Fensters plötzlich irgendetwas Gelbes auf dem Boden liegen. War es etwa ein Kuscheltier? Es sah ganz danach aus. Irgendein Monsterviech aus irgendeiner alten Fernsehsendung, wenn ich mich nicht vollständig irrte. Doch was machte dieses Ding hier? Zuvor hatte ich es mit Sicherheit noch nicht besessen, es musste einfach aufgetaucht sein. War meine Mutter vielleicht doch schon da und hatte mir das Kuscheltier mitgebracht?

Nein. Plötzlich die schaurige Erkenntnis. Egon. Egon war hier gewesen. Etwas Furchtbares war geschehen. Männer, da waren Männer gewesen. Doch was hatten sie getan? Woher kamen das Loch und das viele Blut? Dieses gelbe Ungeheuer, irgendetwas hatte es damit zu tun. Es zehrte aus unerklärlichen Gründen an mir, wie es seelenruhig dalag, das breite Maul zu einem leichten Lächeln geformt.

"Was bist du?", murmelte ich starr vor mich hin, richtete mich vollständig auf und ging langsam darauf zu. "Was bist du und was hast du mir zu sagen? Du weißt mit Sicherheit mehr als ich."

Benommen trottete ich bis zu meinem Ziel, bückte mich und nahm das gelbe Ungeheuer in meine Hände. Es sah ja so freundlich aus, so kindlich und unschuldig. Hatte Egon es bei sich gehabt? War es vielleicht für seine Tochter bestimmt gewesen? Eine nebelartige Finsternis schien sich immer mehr in meinem Körper auszubreiten und mein Augenlicht trübte sich. Etwas Furchtbares war geschehen, daran bestand kein Zweifel. Doch wieso war es mir entfallen?

Mein Atem wurde schwer und mein Puls begann zu rasen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Würde diese Erinnerung irgendwann zurückkehren? Ratlos musterte ich das gelbe Monster und taumelte benommen und mit gedämpftem Augenlicht aufgrund des wiedereinsetzenden Blutkreislaufs nach links, wo in der Ecke mein beschauliches Holzregal stand, wo sich allerlei Bücher und hin und wieder auch etwas Spielzeug tummelten.

Was war nur mit mir los? Warum hatte ich vergessen, was letzte Nacht geschehen war? Dieses gelbe Ungeheuer, es musste Zeuge gewesen sein, es kannte mit Sicherheit die Antwort. Doch leider war es nichts als ein Kuscheltier, da konnte ich nun wirklich nichts erwarten.

Aus einem Hauch Neugierde drückte ich auf dessen Bauch, worunter ein kleiner Knopf eingebaut war, und das Monster sprach in schlechter Tonqualität: "Ich bin Schmu, dein kleines Kuschelmonster."

Schmu also, das war sein Name. Egon hatte ihn sicher letzte Nacht erwähnt. Sofort dachte ich wieder an das gewaltige Loch im Boden und das viele Blut, und der Gedanke allein bereitete mir höllische Schmerzen im Schädel. Ich hatte einen gewissen Drang, mich nochmals umzudrehen und diesen Schauplatz erneut zu begutachten, doch ich wehrte mich innerlich so lange, bis ich mich wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte.

Behutsam setzte ich Schmu auf das zweitoberste Regalbrett und schaute ihn einen Moment, der mir vorkam wie eine Ewigkeit, an. Diese gelbe Fratze, warum sah sie so heiter aus? Dieses Monster war an einem schrecklichen Verbrechen beteiligt gewesen, doch es versteckte dies ganz tief in sich.

Sachte verschränkte ich die Arme und sprach mit zittriger Stimme: "Schmu, ich weiß, dass du gesehen hast, was gestern Nacht geschehen ist. Bitte hilf mir, mich zu erinnern! Es muss nicht jetzt sofort sein, doch eines Tages möchte ich wissen, was es war. Und wenn jener Tag gekommen ist, Schmu, dann werde ich dich verbrennen."

Eine seltsame Leere fraß sich in meinen Körper beim Aussprechen dieser Worte. Es war wie ein Geschwür, das sich unaufhörlich ausbreitete. Zusätzlich drückte mich diese dunkle Last der Ungewissheit nach unten und ließ mir keine Chance auf Bewegungsfreiheit. Ich war nun fortan gefangen in einem Käfig aus Unwissenheit. Die Hoffnung auf eine baldige Erlösung war gering, das musste ich mir eingestehen. Würde ich dieses Ereignis je verkraften können? Mit weit aufgerissenen Augen stand ich da, bewegungslos. Die ersten Tränen kamen bereits hervorgekrochen und mein Blut gefror zu Eis.

Plötzlich hörte ich, wie die Tür knallte. Panisch zuckte ich auf und drehte mich um. Es musste wohl meine Mutter sein, die eben gerade nach Hause gekommen war. Was würde sie wohl sagen bei diesem Anblick? Ich würde es ihr niemals erklären können.

Johannes Verbeek: Der Auserwählte (Prolog)

Wie ich diese wöchentlichen Ausflüge nach Hamburg hasste. Hier eine Pressekonferenz, dort eine Sitzung mit einem Haufen schleimiger Pharmaunternehmer und Politiker, jedes Mal schien dieser groteske Schwachsinn kein Ende zu nehmen. Am liebsten hätte ich diesem Posten als Medienrepräsentant für Sanicorps schon längst den Rücken gekehrt, wieder einmal aber hatte mich der großzügige Zuschuss in die Falle gelockt. Doch zusätzlich zur Position des obersten Laborleiters für die Entwicklung von Pharmazeutika bedeutete das natürlich einen rigorosen Zeitplan, der einem nicht selten den Verstand raubte. Allein fünfzig Stunden in der Woche fielen auf eben dieses Gebiet in der Forschung und fast jegliche mir bleibende freie Zeit musste nun für diesen Medienmist aufgegeben werden. Was nützte mir dann überhaupt noch der achtzigprozentige Gehaltsaufschlag? Meine Familie mit teuren materiellen Gütern zu beschmeißen, um von meiner Abstinenz abzulenken? Ich wusste genau, dass mein Fernbleiben ihnen überhaupt nicht in den Kram passte. Besonders meine beiden Töchter mussten dringend mehr Zeit mit ihrem Vater verbringen, schließlich hatte ich ihnen noch einiges beizubringen. Und dann war da ja noch Nele, meine geliebte Ehefrau. Die letzten Monate war ich - falls ich überhaupt daheim gewesen war - nicht vor Mitternacht nach Hause gekommen und hatte mich lediglich todmüde ins Bett plumpsen lassen, nur, um am nächsten Morgen um sieben Uhr wieder zu verschwinden.

Verdammter Mist, gleich würde sie mich bestimmt wieder anrufen. Ich konnte nicht schon wieder auflegen. Schon zweimal hatte ich den Anruf abgelehnt, so wie ich es leider viel zu oft tat. Ich wusste, dass sie mich dringend brauchte, die Nähe zu mir, die leidenschaftliche Liebe, die schon seit Jahren höchstens auf Sparflamme kochte. Ich wollte gar nicht erst über ihren unvermeidlichen sexuellen Frust nachdenken, der sie wahrscheinlich schon oft genug in Versuchung gebracht hatte. Zum Glück konnte ich diesen Gedanken immer schnell verdrängen, bevor ich mir genau ausmalte, wie jemand anders es ihr besorgte.

Doch was sollte man schon unternehmen, wenn der eigene Pharmakonzern - gerade einmal der fünftgrößte in Deutschland - kurz davor war, endlich das langersehnte Heilmittel für Krebs zu finden? Und das war nur der Anfang. Ein halbes Dutzend anderer für unheilbar erklärter Krankheiten sollte dieses Wundermittel erfolgreich bekämpfen können, so sagte es zumindest die Theorie. Allerdings hatte es bereits die ersten erfolgreichen Versuche an Ratten und Schweinen gegeben, die zuvor mit den neuartigen Viren Abyss und Calamitas versetzt worden waren. Als Grundlage für dieses Medikament hatte zudem nichts Geringeres als die Säure LH-15 gedient, eines der ätzendsten Erzeugnisse auf diesem Planeten. Mithilfe komplizierter chemischer Vorgänge war es uns allerdings gelungen, das Angriffsspektrum dieser Säure so zu fixieren und die Stärke so zu minimieren, dass sie nur noch spezielle schädliche Fremdkörper wie Tumore oder infizierte Zellen zerstörte.

Meine Güte, wer hätte denn jemals gedacht, dass die wahrscheinlich bedeutendste Entdeckung in der Geschichte der Medizin in so einem Loch wie Bremen stattfinden würde? Dieser Ort war wirklich einer der dunkelsten Flecke innerhalb der deutschen Großstadtlandschaft. Als die Wirtschaft damals zusammengebrochen war, hatte es Bremen mit am schlimmsten getroffen, ganz zu schweigen von dem Krieg, dessen westliche Front nur wenige Kilometer entfernt gelegen hatte. Durch eine Aufstockung des Landesbudgets durch die Regierung war vor etwa acht Jahren die Innenstadt etwas verschönert und modernisiert worden und auch wirtschaftlich hatte man sich etwas mehr ins Zeug gelegt, doch der Großteil der Stadt war ein hoffnungsloser Schandfleck geblieben. Armut und Kriminalität hatten schon längst überhandgenommen und das machte sich auch an der grauen und heruntergekommenen Fassade Bremens bemerkbar.

Rablinghausen, der kleine Stadtteil westlich der Weser, in welchem ich mein einigermaßen vernünftiges Heim besaß, war vergleichsweise aber noch ganz erträglich, auch wenn es mit Sicherheit schönere Ecken auf dieser Welt gab. Doch ich besaß ein nicht unbedingt kleines Einfamilienhaus in einer der stabilsten Gegenden der Stadt, was konnte ich also mehr verlangen?

Das einzig Nervtötende, wie ich jetzt wieder feststellen durfte, war leider, dass ich mich jedes Mal noch durch den dichten Stadtverkehr Bremens kämpfen durfte, wenn ich aus Richtung Hamburg kam, und zu bestimmten Tageszeiten war das nicht gerade witzig. Bis ich zur Weser vorgedrungen war, kam es nicht selten vor, dass ich mal durch Stau, Straßenschäden, Unfälle oder irgendwelche Ausschreitungen mehr als eine Stunde für etwa fünf Kilometer Strecke benötigte.

Heute, an jenem Sonntag, den 15. Juni 2036, fiel die Verkehrslage zum Glück nicht ganz so drastisch aus, was aber noch lange nicht bedeutete, dass es wie geschmiert voranging. Stocksteif saß ich in meinem brandneuen Audi Scavenger, die Hände nervös auf den Lenkhebel tippend, obwohl der Autopilot angeschaltet war. Ach ja, wie viele Nerven mir diese Funktion schon gerettet hatte. Jedoch ließ es meine geringe Vertrauensbereitschaft nicht zu, mich entspannt zurückzulehnen und gegebenenfalls ein Nickerchen zu halten oder so etwas in der Art. Nein, dafür hatte ich einfach viel zu viele Bedenken, denn ich glaubte nicht an so etwas wie das perfekte System. Irgendetwas konnte immer passieren und deshalb war ich aus meinem Inneren heraus dazu gezwungen, stets wachsam zu bleiben. Deshalb fragte ich mich auch wieder und wieder, warum ich überhaupt Gebrauch vom Autopilot machte. War es einfach nur Konformität, da eigentlich so gut wie jeder es nutzte und ich dieses einheitliche und harmonische System nicht durch manuelle Unprofessionalität stören wollte, oder einfach das mangelnde Vertrauen mir selbst gegenüber aufgrund meines nicht selten desaströsen Zustands?

So fertig und übermüdet wie heute war ich selten gewesen, doch trotzdem zwang ich weiterhin meine bereits schmerzenden Augen zum aufmerksamen Blick durch die blankpolierten, aufgrund ihrer stumpfen Pfeilform und ihres umgreifenden Panoramas an das Cockpit eines modernen Kampfjets erinnernden Scheibe auf die Straße. Ein wahres Meisterstück der Aerodynamik und die PS eines schwachen bis mittelstarken Sportwagens. Die genaue Zahl hatte ich vergessen, doch sie lag wohl irgendwo knapp unter dem vierstelligen Bereich. Relativ gesehen war es ein wahres Schlachtschiff von Auto, die Protzkarre der gehobenen Mittelschicht, wenn es so etwas überhaupt noch gab. Im näheren Bereich unter mir gab es kaum etwas, bloß vielleicht den einen oder anderen Kleinunternehmer und vielleicht noch gewisse Beamte. Darauf, irgendwo ganz unten, folgten dann die Armen, etwa achtzig Prozent der Bevölkerung, gedrängt an das Existenzminimum. In was für verkehren Zeiten wir doch lebten.

Nachdenklich wanderte ich mit meinem Blick über die hochmoderne, blitzblankpolierte Inneneinrichtung zwischen den beiden vorderen Sitzen, in dessen Mitte ein ovaler Holo-Bildschirm thronte. Der nächste Anruf würde mit Sicherheit bald kommen.

Ich hatte es nicht mehr weit, würde bald endlich nach Hause kommen. Es war schon wieder fast Mitternacht, höchste Zeit also. Draußen war es bereits dunkel und milder Frühsommerregen prasselte gemächlich auf die gewundene Scheibe herab. Hinzu kamen all die grellen Straßenlichter, die dem Ganzen eine hypnotisierende, metallene Atmosphäre verpassten.

Im schnellstmöglichen Tempo fuhr der Wagen die Bürgermeister-Smidt-Straße entlang, direkt hinein in Bremens Zentrum. Langsam wurden die verfallenen Bauten der letzten beiden Jahrhunderte durch pompös schimmernde Glasfassaden und in einem futuristischen Weiß erstrahlende Monumente der staatlichen Extravaganz abgelöst, und dieser abrupte Bruch machte sich auch auf den Bürgersteigen bemerkbar. Wo sich eben noch hauptsächlich die verlorenen Seelen der Stadt herumgetrieben hatten, Betrunkene, Junkies, Obdachlose und was es noch so gab, traf man hier eher auf geschniegelte und gestriegelte Anzugträger, die sich nun, in den letzten Augenblicken dieses angenehmen Junisonntags, in ihren Firmenwagen oder Taxen breitmachten, um sich vom Stress des verlängerten Arbeitstags zu verabschieden. Die Innenstadt Bremens, es war wie ein Portal zwischen zwei Welten.

Doch dabei blieb es nicht. In wenigen Augenblicken würde ich die Weser überqueren, wo eine dritte Welt auf mich wartete: Bremens neues Vergnügungsviertel. Bunte Hologramme tanzten in der Luft, meist irgendeine Reklame. Nachtclub grenzte an Nachtclub und auch nach den Bordellen musste man nicht lange suchen. In diesem Bezirk trafen beide Welten aufeinander, was nicht selten viele Probleme mit sich brachte. Raubüberfälle und Schlägereien bis hin zu Tötungsdelikten geschahen jede Woche. Selbst in den zahlreichen Einkaufsläden und Malls in diesem Bezirk, wo sich tagsüber das Leben abspielte, war man oft nicht sicher vor sozialem Unmut. Das Einschlagen von Glasfassaden in der protzigen, vor fünf Jahren fast vollständig sanierten Westerstraße war da noch das Harmloseste.

Schon von hier aus konnte ich jenseits des Flusses das bläulich angefärbte Hologramm einer halbnackten Frau, die sich lasziv um eine Stange bewegte, erkennen, darüber der Schriftzug Zulu Cave. Dieser Club gehörte zur größten Kette Deutschlands, zudem eine der größten Europas. Und obwohl deren Besitzer, ein türkischer Multimillionär namens Tayfun Aydin, bereits letztes Jahr einer langjährigen Krankheit erlegen war, machte die Zulu-Kette Umsatz wie nie, und zwar einen fast neunstelligen Betrag jährlich, wenn ich mich nicht irrte. Aydins Sohn hatte wohl nach dessen Tod die Kette übernommen, hatte ich im Netz gelesen, auch wenn dieser erst Mitte zwanzig war. Doch scheinbar hatte er von seinem Vater viel über das Geschäft gelernt, sonst hätte er die Zulu-Clubs schon längst in den Ruin getrieben.

Ich merkte, wie ich schon wieder in Gedanken abschweifte. Verdrängte ich nur die bevorstehende Konfrontation mit meiner zweifellos erzürnten Ehefrau und die Rechtfertigung vor meinen Kindern? Schließlich hatte ich doch versprochen, zumindest dieses Wochenende mal etwas früher da zu sein. Aber was brachte das schon? Meine Töchter waren mit Sicherheit schon im Bett und Nele hatte wahrscheinlich gar keine Lust mehr, sich mit mir zu streiten. Doch irgendwann musste ich endlich mal aufhören, mich wie ein feiger Waschlappen zu verhalten, das war mir leider bewusst.

Zum Glück hatte sich der Verkehr bereits verdünnt und ich konnte ungestört die Brücke überqueren. Keine lästigen Staus mehr oder sonstige Unannehmlichkeiten, einfach nur durchfahren und sich zuhause aufs Ohr hauen.

Plötzlich ertönte die schrille Melodie des Videotelefons und riss mich komplett aus meinem fast schon meditativen Zustand. Ich hätte diesen verdammten Klingelton schon längst ändern sollen, er war einfach nicht mehr auszuhalten.

"Annehmen", sprach ich zum System und den Bruchteil einer Sekunde später ertönte ein sanftes Piepen.

"Tut mir leid, dass ich nicht rangegangen bin, Schatz", prustete ich sofort los, den Blick noch immer auf die verregnete Straße gerichtet, nur halb im Fokus der gegenüber von mir angebrachten Kamera, die mir als winziger schwarzer Punkt auf einer kleinen Rampe hinter dem Lenkhebel entgegen schimmerte. "Ich hatte leider noch eine Menge Scheiße zu klären, du weißt schon, wegen dem Heilmittel und so weiter. Die Vorgesetzten in Hamburg wollten mich einfach nicht gehen lassen. Ich habe wirklich alles getan, um früher nach Hause zu kommen, doch es ging einfach nicht. Aber ich verspreche, dass ich mir sehr bald Urlaub nehmen werde, dann, wenn sich dieser ganze Trubel ein wenig gelegt hat. Sag das bitte auch den Kleinen! Ich will nicht, dass sie denken, ihr Vater wäre nicht für sie da. Schatz, bitte raste nicht aus, ich bin in ein paar Minuten da!"

Mein Atemrhythmus stolperte beinahe beim Abrattern dieser Worte und ich musste mich kurz fangen.

Doch auf einmal antwortete eine aufgebrachte Stimme: "Johannes, verdammt! Bist du etwa blind? Ich bin nicht deine Frau!"

"Hä?", krächzte ich verwirrt und schoss mit meinem Blick sofort in Richtung Bildschirm.

Tatsächlich, es war keineswegs meine Frau, die mich von dort aus anstarrte. Stattdessen erkannte ich meinen Freund und Kollegen Leo Schmelzer, wie er erschöpft in Richtung Kamera keuchte. Sein rundes, von einem üppigen Doppelkinn unterstrichenes Gesicht war noch verschwitzter als sonst, was wohl auf überdurchschnittlichen Stress hindeutete, und seine sonst schon so ausgeprägten Glubschaugen traten ihm beinahe aus dem Kopf. Nervös vor- und zurückwippend fasste er sich an das, was von seiner dunklen Haarpracht noch übrig war, und ich meinte fast zu erkennen, wie seine Hände auf dem Schweiß seiner Halbglatze wegrutschten. Die breiten Nasenlöcher seiner gnubbelartigen Nase blähten sich immer wieder auf, sodass Leos lautes Schnauben deutlich zu mir herüberdrang.

"Johannes, du musst dich jetzt konzentrieren!", wies er mich hektisch an und dem Glänzen in seinen Augen konnte ich etwas Unheilvolles entnehmen.

"Was zur Hölle ist denn los?", wollte ich also wissen und konnte einen leicht genervten Unterton nicht unterdrücken.

"Etwas ist schiefgelaufen", begann Leo also zu erklären. "Niemand hätte es vorausahnen können. Johannes, du musst sofort zu Sanicorps kommen!"

Das durfte doch wohl nicht wahr sein. Warum musste immer mir so etwas passieren?

Fast schon zitternd vor aufkochender Wut warf ich Leo einen stechenden Blick zu und keifte: "Leck mich am Arsch, Leonard, das meinst du nicht ernst! Weißt du etwa nicht, was ich die ganze Woche schon alles um die Ohren hatte? Ich brauche Schlaf, verdammt, und meine Familie braucht mich! Was ist denn jetzt so wichtig?"

In meinem Inneren wusste ich, dass es höchstwahrscheinlich äußerst unangebracht gewesen war, so mit Leo zu sprechen. Mir war schon klar, dass sein Anruf nicht ohne Grund sein konnte. Also wartete ich voll Anspannung auf seine Antwort, die auch nicht lange auf sich warten ließ.

"Die Probanden", keuchte er atemlos, als würde er gleich einen Herzanfall erleiden. "Sie sind fast alle gestorben. Niemand weiß, wieso. Wir waren uns doch so sicher!"

"Du verarschst mich!", krächzte ich reflexartig. "Das ist völlig unmöglich! Wir haben das Mittel mehrfach auf seine Unbedenklichkeit überprüfen lassen!"

Alle meine Gliedmaßen spannten sich an vor Zorn. Ich wollte nicht glauben, was ich da gerade gehört hatte. Erst recht nicht wollte ich über die Konsequenzen nachdenken, die dieser Vorfall mit sich ziehen konnte.

"Ich verstehe es ja auch nicht!", schnaufte Leo niedergeschlagen. "Keiner hier tut es. Es ist wirklich ein Rätsel. Doch wir haben noch ein Problem. Es gibt einen einzigen Überlebenden, der es irgendwie geschafft hat, aus seiner Zelle auszubrechen, und jetzt im Labortrakt Amok läuft. Vier Menschen hat er schon umgebracht. Johannes, du musst sofort kommen und uns helfen, ihn in den Zaum zu kriegen! Ist das möglich für dich?"

Ich war fassungslos vor Unglaube. Wie konnte das sein? Wie konnte schon wieder so eine Scheiße passieren? Mir blieb fast die Sprache weg, so sehr bebte ich innerlich.

Doch schließlich konnte ich mich zusammenreißen und antwortete in einem erniedrigten Ton: "Ja, ich kann nochmal umdrehen. Bin gerade erst über die Bürgermeister-Smidt-Brücke rüber, sollte also nicht allzu lange dauern."

Ich hörte, wie Leo erleichtert aufatmete, und mit versucht gefasster Stimme sagte er: "Sehr gut. Ich erwarte dich."

"Bis gleich", erwiderte ich und gab der Spracherkennung anschließend den Befehl zum Auflegen.

Es würde wohl keine zwei Minuten dauern, um zu Sanicorps zu gelangen. Nur war ich leider gerade in die völlig falsche Richtung unterwegs.

Deshalb räusperte ich mich kurz und brummte energisch: "Ziel zurücksetzen. Neues Ziel: Sanicorps Zentrale, Bremen."

"Zielführung aktualisiert", antwortete der Bordcomputer in einem mechanischen Ton.

Ich wusste, dass er nun wahrscheinlich unnötig lange für die Suche nach einer legalen Wendemöglichkeit aufbringen würde, also erspähte ich kurzerhand eine Lücke im Verkehr, riss den Lenkhebel mit aller Kraft herum und beförderte das Auto so schnurstracks auf die Gegenfahrbahn. Wieder sollte ich nun also die Weser überqueren, gerade, wo ich diese letzte Hürde in Richtung Zuhause hinter mir gelassen hatte. Doch was brachte das ganze Klagen? Es gab jetzt nun mal eine Pflicht, die ausgeführt werden musste, ob ich es wollte oder nicht. Ausnahmsweise erklärte ich mich dazu bereit, für diese kurze Strecke uneingeschränkt auf den Autopilot zu vertrauen, nur, um vor lauter Frust die Hände vors Gesicht zu schlagen.

"Warum?", quiekte ich in mich selbst hinein. "Warum ausgerechnet jetzt? Ich hab genug von diesem Scheiß, ich will einfach nur nach Hause!"

Tatsächlich ging die Fahrt noch schneller vorüber als gedacht. Der Wagen war hinter der Brücke nur noch einmal nach rechts und dann nach links abgebogen und schon waren wir angekommen.

Ein letztes Mal rieb ich mir frustriert die Augen, bevor ich den Motor abschaltete, mich mühsam stöhnend von meinem Sitz erhob und nach Einfahren des Daches unbeholfen ausstieg. Als meine Füße den glattgeschliffenen Asphalt trafen, lenkte ich meinen Blick sofort auf das protzige Gebäude vor mir. Auf architektonischer Ebene eher langweilig, strahlte das Sanicorps-Hauptgebäude nichtsdestotrotz eine unglaubliche Macht aus. Es wirkte wie ein riesiger, fünfzig Stockwerke hoher Bauklotz, dessen spiegelähnliche Glasfassade problemlos die Lichter der Nacht reflektierte. Auf der linken Seite zog sich längs, von oben nach unten, und in strahlend weißen Buchstaben der Schriftzug Sanicorps, wobei jeder der neun Buchstaben sich durchschnittlich über drei Stockwerke erstreckte mit jeweils einem Stockwerk Abstand. So begann das vordere S irgendwo beim achtundvierzigsten Stock, während das hintere sich irgendwo im Bereich des dreizehnten tummelte. Der pompöse, rechteckige Eingang, ebenfalls aus feinstem Glas gewerkelt, führte zunächst in eine prachtvolle, fast schon verschwenderisch ausgestattete Lobby und umfasste gut zwei Etagen.

Mit einem leisen Zischen aktivierte sich mit einem Mal die Automatik der Eingangstür und heraus stürmten drei Männer. Die beiden äußeren waren recht stämmig und trugen Anzug und Sonnenbrille, gehörten also eindeutig zu unserer Security. Und der in der Mitte, das war Leo, gekleidet in seinen typischen abgewetzten Laborkittel, den sein fassartiger Bauch fast schon zu überspannen schien. Sein Gesicht stieß pausenlos Schweiß aus und glänzte dadurch ungemein im Wirrwarr der nächtlichen Lichter. Leos Poren waren schon immer etwas überproduktiv gewesen, nicht einmal der Weg vom Parkplatz bis ins Labor ließ ihn für gewöhnlich trocken, doch das hier sprengte jeglichen Rahmen. Es wirkte beinahe, als würde sein Gesicht bald zu einer weichen, buttrigen Masse zerlaufen.

"Johannes!", rief er, noch während er auf mich zueilte, und schnappte immer wieder verzweifelt nach Luft.

"Was zur Hölle ist hier passiert?", entgegnete ich verbissen und marschierte energisch Leo entgegen.

Dieser bremste abrupt ab, als wir uns auf halbem Weg trafen, drehte sich zurück in Richtung Eingang und krächzte, während er mich mit seinen großen braunen Glubschaugen anstarrte: "Komm mit, wir müssen aufs Dach! Dieser Mistkerl hat sich Lewandowski geschnappt und hält ihn dort oben nun als Geisel. Er ist komplett verrückt geworden. Ich weiß wirklich nicht, wie man mit ihm verhandeln könnte, er macht ja nicht einmal deutlich, was er überhaupt will."

"Du meine Güte", stammelte ich angespannt und spürte, wie mein Herz wie wild ausschlug. "Was ist das denn für ein Kerl? Konntest du noch irgendetwas Näheres über ihn in Erfahrung bringen?"

"Ein wenig schon", antwortete Leo, deutlich bemüht, sich wieder einigermaßen zu fassen, und mit einem Mal begann er, hektisch in seiner Brusttasche herumzuwühlen.

Mit eisernem Tempo passierten wir beide und die zwei Sicherheitsleute die Eingangstür und drangen in die Lobby ein. Jetzt gerade hatte ich allerdings nichts für die stylischen Wasserfälle vor Milchglas oder die exotischen Pflanzen in grellweißen, würfelförmigen Töpfen übrig, mein Fokus lag ganz woanders. Ungeduldig schaute ich Leos unbeholfenen Handbewegungen zu, während wir im Eilschritt geradewegs auf die Fahrstühle zumarschierten.

Gerade, als wir diese dann erreicht hatten und der Sicherheitsmann rechts von Leo die Tür des mittleren der drei Fahrstühle per Knopfdruck geöffnet hatte, gelang es meinem ungeschickten und aufgebrachten Freund endlich, einen kleinen, ovalen Holo-Projektor aus seiner Tasche zu ziehen.

"So", begann er, als wir in der kleinen Kabine zum Stehen gekommen waren und uns der automatischen Tür zugewandt hatten. "Zuerst sollst du sehen, was dort im Versuchstrakt vorgefallen ist."

Ein greller, in einem leichten Blaustich gehaltener Bildschirm wurde von dem dünnen, ovalen Chip in Leos Hand auf die Innenseite der Tür projiziert, welchen ich nun gebannt betrachtete. Es dauerte nur einen kurzen Augenblick, da erschien plötzlich ein Film innerhalb des abbildenden Rechtecks, verwackelt und mit unterirdischem Ton für heutige Verhältnisse.

"Ich hoffe, du glaubst mir jetzt", sprach Leo in einem unheilvollen Flüsterton und schaute mich mit ernster Miene an.

Ich jedoch hatte meinen Blick fest auf den Bildschirm fixiert. Da war er, der Versuchstrakt. Rotes Licht blinkte unaufhörlich in einem sterilen weißgrauen Gang auf. Am hinteren Ende meinte ich zwei Leichen und die dazugehörigen Blutlachen zu erkennen, doch eine genauere Identifizierung ließ das mangelhafte Bild nicht zu. Auf der rechten Seite reihte sich Glasfront an Glasfront. Es waren die Zellen der Testsubjekte. Hastig schwenkte die Kamera im Vorbeigehen dorthin. Was würde man wohl darin vorfinden?

Plötzlich blieb mir der Atem weg und das Blut gefror mir in den Adern. Überall lagen sie, die Leichen der Versuchspersonen, meist kümmerlich zusammengekauert auf dem Boden, die Haut verschrumpelt und von innen ausgebrannt, so wie es aussah. Nicht selten erblickte ich auch kleine Blutlachen und dickflüssige Eiterpfützen, die jeweils in der gesamten Zelle verteilt waren. Ein Schriftzug jagte den nächsten. Zelle 021, Zelle 022, Zelle 023. Alle waren sie tot, zugrundegerichtet von dem, was sie eigentlich hätte retten sollen. Wie war das nur möglich gewesen?

Entsetzt blickte ich rüber zu Leo, während der endlos ratternde Fahrstuhl meine Klaustrophobie schürte, doch sofort fuhr ich wieder zurück, als ich plötzlich deutlich hören konnte, wie sich der Kameramann erschrak. Die Zelle, vor der er sich nun befand, stand offen und innen drin überkam mich der Anblick einer übel zugerichteten Leiche. Das komplette Gesicht war eingeschlagen und mit Blut bedeckt, sodass kaum noch menschliche Züge zum Vorschein kamen. Eine riesige Lache der roten Flüssigkeit breitete sich von unterhalb des Schädels auf dem Boden aus, während außerdem wirre, großflächige Blutspuren die Wände zierten. Der weiße, ebenfalls mit Blut besprenkelte Kittel ließ mich wissen, dass dieser Mann einer von uns gewesen war, jemand, den ich höchstwahrscheinlich gut gekannt hatte.

Als ich gerade noch mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen diesen Anblick zu verarbeiteten versuchte, pausierte Leo auf einmal und seufzte niedergeschlagen.

"Patient 029 hat Robert Hansen in der Zelle überwältigt und auf brutalste Weise erschlagen", erklärte er und verhaspelte sich beinahe vor Nervosität. "Später hat er es auch noch irgendwie fertiggebracht, einen Wachmann auszuschalten und ihm seine Waffe abzunehmen."

Ich jedoch war noch gar nicht soweit, mich mit den weiteren Fakten auseinanderzusetzen. Bei Robert Hansen hatte ich bereits ausgesetzt. Robert Hansen, einer meiner wichtigsten Kollegen. Er war immer ein netter Kerl gewesen, höflich und zurückhaltend. Warum hatte Patient 029 ihm das angetan? Zugleich niedergeschlagen und wütend blickte ich gen Boden und ballte die Fäuste.