Kassandra - Christa Wolf - E-Book + Hörbuch

Kassandra E-Book

Christa Wolf

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Beschreibung

In Kassandra greift Christa Wolf auf einen Mythos des abendländischen Patriarchats zurück, den Trojanischen Krieg. Während Kassandra, die Seherin, auf dem Beutewagen des Agamemnon sitzt, überdenkt sie noch einmal ihr Leben. Mit ihrem Ringen um Autonomie legt sie Zeugnis ab von weiblicher Erfahrung in der Geschichte.

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Seitenzahl: 230

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Christa Wolf

Kassandra

Erzählung

Suhrkamp

Schon wieder schüttelt mich der gliederlösende Eros,bittersüß, unbezähmbar, ein dunkles Tier.

Sappho

Hier war es. Da stand sie. Diese steinernen Löwen, jetzt kopflos, haben sie angeblickt. Diese Festung, einst uneinnehmbar, ein Steinhaufen jetzt, war das letzte, was sie sah. Ein lange vergessener Feind und die Jahrhunderte, Sonne, Regen, Wind haben sie geschleift. Unverändert der Himmel, ein tiefblauer Block, hoch, weit. Nah die zyklopisch gefügten Mauern, heute wie gestern, die dem Weg die Richtung geben: zum Tor hin, unter dem kein Blut hervorquillt. Ins Finstere. Ins Schlachthaus. Und allein.

Mit der Erzählung geh ich in den Tod.

Hier ende ich, ohnmächtig, und nichts, nichts was ich hätte tun oder lassen, wollen oder denken können, hätte mich an ein andres Ziel geführt. Tiefer als von jeder andren Regung, tiefer selbst als von meiner Angst, bin ich durchtränkt, geätzt, vergiftet von der Gleichgültigkeit der Außerirdischen gegenüber uns Irdischen. Gescheitert das Wagnis, ihrer Eiseskälte unsre kleine Wärme entgegenzusetzen. Vergeblich versuchen wir, uns ihren Gewalttaten zu entziehn, ich weiß es seit langem. Doch neulich nachts, auf der Überfahrt, als aus jeder Himmelsrichtung die Wetter unser Schiff zu zerschmettern drohten; niemand sich hielt, der nicht festgezurrt war; als ich Marpessa betraf, wie sie heimlich die Knoten löste, die sie und die Zwillinge aneinander und an den Mastbaum fesselten; als ich, an längerer Leine hängend als die anderen Verschleppten, bedenkenlos, gedankenlos mich auf sie warf; sie also hinderte, ihr und meiner Kinder Leben den gleichgültigen Elementen zu lassen, und sie statt dessen wahnwitzigen Menschen überantwortete; als ich, vor ihrem Blick zurückweichend, wieder auf meinem Platz neben dem wimmernden, speienden Agamemnon hockte – da mußte ich mich fragen, aus was für dauerhaftem Stoff die Stricke sind, die uns ans Leben binden. Marpessa, sah ich, die, wie einmal schon, mit mir nicht sprechen wollte, war besser vorbereitet, auf was wir nun erfahren, als ich, die Seherin; denn ich zog Lust aus allem, was ich sah – Lust; Hoffnung nicht! – und lebte weiter, um zu sehn.

Merkwürdig, wie eines jeden Menschen Waffen – Marpessas Schweigen, Agamemnons Toben – stets die gleichen bleiben müssen. Ich freilich hab allmählich meine Waffen abgelegt, das wars, was an Veränderung mir möglich war.

Warum wollte ich die Sehergabe unbedingt?

Mit meiner Stimme sprechen: das Äußerste. Mehr, andres hab ich nicht gewollt. Zur Not könnt ich es beweisen, doch wem? Dem fremden Volk, das, frech und scheu zugleich, den Wagen umsteht? Ein Grund zu lachen, gäbe es den noch: Mein Hang, mich zu rechtfertigen, sollte sich, so kurz vor mir selbst, erledigt haben.

Marpessa schweigt. Die Kinder will ich nicht mehr sehn. Sie hält sie unter dem Tuch vor mir versteckt.

Der gleiche Himmel über Mykenae wie über Troia, nur leer. Emailleschimmernd, unzugänglich, blankgefegt. Etwas in mir entspricht der Himmelsleere über dem feindlichen Land. Noch alles, was mir widerfahren ist, hat in mir seine Entsprechung gefunden. Es ist das Geheimnis, das mich umklammert und zusammenhält, mit keinem Menschen habe ich darüber reden können. Hier erst, am äußersten Rand meines Lebens, kann ich es bei mir selber benennen: Da von jedem etwas in mir ist, habe ich zu keinem ganz gehört, und noch ihren Haß auf mich hab ich verstanden. Einmal, »früher«, ja, das ist das Zauberwort, hab ich in Andeutungen und halben Sätzen mit Myrine darüber sprechen wollen – nicht, um mir Erleichterung zu verschaffen, die gab es nicht. Sondern weil ich es ihr schuldig zu sein glaubte. Troias Ende war abzusehen, wir waren verloren. Aineias mit seinen Leuten hatte sich abgesetzt. Myrine verachtete ihn. Und ich versuchte ihr zu sagen, daß ich Aineias – nein, nicht nur verstand: erkannte. Als sei ich er. Als kauerte ich in ihm, speiste mit meinen Gedanken seine verräterischen Entschlüsse. »Verräterisch« sagte Myrine, die zornig mit der Axt auf das kleine Gebüsch im Graben um die Zitadelle einschlug, mir nicht zuhörte, mich vielleicht gar nicht verstand, denn seit ich im Korb gefangen gesessen, sprech ich leise. Die Stimme ist es nicht, wie alle meinten, die hatte nicht gelitten. Es ist der Ton. Der Ton der Verkündigung ist dahin. Glücklicherweise dahin.

Myrine schrie. Seltsam, daß ich, selbst noch nicht alt, von beinahe jedem, den ich gekannt, in der Vergangenheitsform reden muß. Nicht von Aineias, nein. Aineias lebt. Aber muß ein Mann, der lebt, wenn alle Männer sterben, ein Feigling sein? War es mehr als Politik, daß er, anstatt die Letzten in den Tod zu führen, sich mit ihnen auf den Berg Ida, in heimatliches Gelände, zurückzog? Ein paar müssen doch übrigbleiben – Myrine bestritt es –: warum nicht zuallererst Aineias und seine Leute.

Warum nicht ich, mit ihm? Die Frage stellte sich nicht. Er, der sie mir stellen wollte, hat sie zuletzt zurückgenommen. Wie ich, leider, unterdrücken mußte, was ich ihm jetzt erst hätte sagen können. Wofür ich, um es wenigstens zu denken, am Leben blieb. Am Leben bleibe, die wenigen Stunden. Nicht nach dem Dolch verlange, den, wie ich weiß, Marpessa bei sich führt. Den sie mir vorhin, als wir die Frau, die Königin gesehen hatten, nur mit den Augen angeboten hat. Den ich, nur mit den Augen, abgelehnt. Wer kennt mich besser als Marpessa? Niemand mehr. Die Sonne hat den Mittag überschritten. Was ich begreifen werde, bis es Abend wird, das geht mit mir zugrund. Geht es zugrund? Lebt der Gedanke, einmal in der Welt, in einem andern fort? In unserm wackern Wagenlenker, dem wir lästig sind?

Sie lacht, hör ich die Weiber sagen, die nicht wissen, daß ich ihre Sprache sprech. Schaudernd ziehn sie sich von mir zurück, überall das gleiche. Myrine, die mich lächeln sah, als ich von Aineias sprach, schrie: Unbelehrbar, das sei ich. Ich legte meine Hand in ihren Nakken, bis sie schwieg und wir beide, von der Mauer neben dem Skäischen Tor, die Sonne ins Meer tauchen sahn. So standen wir zum letzten Mal beisammen, wir wußten es.

Ich mache die Schmerzprobe. Wie der Arzt, um zu prüfen, ob es abgestorben ist, ein Glied ansticht, so stech ich mein Gedächtnis an. Vielleicht daß der Schmerz stirbt, eh wir sterben. Das, wär es so, müßte man weitersagen, doch wem? Hier spricht keiner meine Sprache, der nicht mit mir stirbt. Ich mache die Schmerzprobe und denk an die Abschiede, jeder war anders. Am Ende erkannten wir uns daran, ob wir wußten, daß es an den Abschied ging. Manchmal hoben wir nur leicht die Hand. Manchmal umarmten wir uns. Aineias und ich, wir haben uns nicht mehr berührt. Unendlich lange, scheint mir, waren seine Augen über mir, deren Farbe ich nicht ergründen konnte. Manchmal sprachen wir noch, wie ich mit Myrine sprach, damit der Name endlich genannt wurde, den wir so lange beschwiegen hatten: Penthesilea.

Wie ich sie, Myrine, vor drei, vier Jahren an der Seite der Penthesilea mit ihrer geharnischten Schar durch dieses Tor hatte einziehn sehn. Wie der Ansturm unvereinbarer Empfindungen – Erstaunen, Rührung, Bewunderung, Entsetzen, Verlegenheit und, ja, eben auch eine infame Erheiterung – sich in einem Lachkrampf Luft machte, der mich selbst peinigte und den mir Penthesilea, empfindlich wie sie war, niemals verzeihen konnte, Myrine bestätigte es mir. Sie war verletzt. Dies und nichts andres sei die Ursache für die Kälte gewesen, die sie mir zeigte. Und ich gestand Myrine, meine Versöhnungsangebote waren halbherzig; obwohl ich doch wußte, Penthesilea würde fallen. Woher! fragte Myrine mich mit einem Anflug ihrer früheren Heftigkeit, aber ich war nicht mehr eifersüchtig auf Penthesilea. Tote sind nicht eifersüchtig aufeinander. Sie fiel, weil sie fallen wollte. Oder weshalb glaubst du, kam sie nach Troia? Und ich hatte Grund, sie genau zu beobachten, da sah ich es. Myrine schwieg. Mehr als alles an ihr hatte mich immer ihr Haß auf meine Voraussagen entzückt, die ich ja niemals aussprach, wenn sie dabei war, doch eilfertig hat man sie immer unterrichtet, auch von meiner beiläufig einmal erwähnten Gewißheit, ich würde getötet werden, die sie mir, anders als die anderen, nicht durchgehn ließ. Woher ich mir das Recht auf solche Sprüche nähme. Ich antwortete nicht, schloß die Augen, vor Glück. Endlich nach so langer Zeit wieder mein Körper. Wieder der heiße Stich durch mein Inneres. Wieder die Schwäche für einen Menschen, ganz. Wie sie mich anging. Sie habe mir nicht gelegen, Penthesilea, die männermordende Kämpferin, wie? Ob ich denn glaubte, sie, Myrine, habe weniger Männer umgebracht als ihre Heerführerin? Nicht eher mehr, nach Penthesileas Tod, um sie zu rächen?

Ja mein Pferdchen, aber das war etwas andres.

Das war dein geballter Trotz und deine flammende Trauer um Penthesilea, die ich, was denkst du denn, verstand. Da war ihre tief verkrochene Scheu, ihre Furcht vor Berührung, die ich niemals verletzte, bis ich ihre blonde Mähne um meine Hand wickeln durfte und so erfuhr, wie mächtig die Lust gewesen war, die ich lange schon darauf gehabt. Dein Lächeln in der Minute meines Todes, dacht ich, und hatte, da ich mich keiner Zärtlichkeit mehr enthielt, für lange den Schrecken hinter mir. Jetzt kommt er dunkel wieder auf mich zu.

Myrine ist mir ins Blut gegangen, im gleichen Augenblick, da ich sie sah, hell und kühn und in Leidenschaft brennend neben der dunklen sich selbst verzehrenden Penthesilea. Ob sie mir Freude oder Leid brachte, loslassen konnte ich sie nicht, aber sie jetzt neben mir zu haben, wünsch ich nicht. Freudig sah ich sie, ein Weib, als einzige sich bewaffnen, als die Männer von Troia gegen meinen Einspruch das Pferd der Griechen in die Stadt holten; bestärkte sie in ihrem Entschluß, bei dem Untier zu wachen, ich mit ihr, unbewaffnet. Freudig, wieder in diesem verkehrten Sinn, sah ich sie sich auf den ersten Griechen stürzen, der dem hölzernen Roß gegen Mitternacht entstieg; freudig, ja: freudig! sie fallen und sterben unter einem einzigen Streich. Mich, da ich lachte, schonte man, wie man den Wahnsinn schont.

Ich hatte noch nicht genug gesehn.

Ich will nicht mehr sprechen. Alle Eitelkeiten und Gewohnheiten sind ausgebrannt, verödet die Stellen in meinem Gemüt, von wo sie nachwachsen könnten. Mitleid mit mir hab ich nicht mehr als mit anderen. Beweisen will ich nichts mehr. Das Lachen dieser Königin, als Agamemnon auf den roten Teppich trat, ging über jeden Beweis.

Wer wird, und wann, die Sprache wiederfinden.

Einer, dem ein Schmerz den Schädel spaltet, wird es sein. Und bis dahin, bis zu ihm hin, nur das Gebrüll und der Befehl und das Gewinsel und das Jawohl der Gehorchenden. Die Ohnmacht der Sieger, die stumm, einander meinen Namen weitersagend, das Gefährt umstreichen. Greise, Frauen, Kinder. Über die Gräßlichkeit des Sieges. Über seine Folgen, die ich schon jetzt in ihren blinden Augen seh. Mit Blindheit geschlagen, ja. Alles, was sie wissen müssen, wird sich vor ihren Augen abspielen, und sie werden nichts sehen. So ist es eben.

Jetzt kann ich brauchen, was ich lebenslang geübt: meine Gefühle durch Denken besiegen. Die Liebe früher, jetzt die Angst. Die sprang mich an, als der Wagen, den die müden Pferde langsam den Berg heraufgeschleppt hatten, zwischen den düsteren Mauern zum Halten kam. Vor diesem letzten Tor. Als der Himmel aufriß und Sonne auf die steinernen Löwen fiel, die über mich und alles hinwegsahn und immer hinwegsehn werden. Angst kenn ich ja, doch dies ist etwas andres. Vielleicht kommt es in mir zum erstenmal vor, nur um gleich wieder erschlagen zu werden. Jetzt wird der Kern geschliffen.

Jetzt ist meine Neugier, auch auf mich gerichtet, gänzlich frei. Als ich dies erkannte, schrie ich laut, auf der Überfahrt, ich, wie alle, elend, vom Seegang durchgewalkt, naß bis auf die Haut vom überspritzenden Gischt, belästigt vom Geheul und den Ausdünstungen der anderen Troerinnen, mir nicht wohlgesonnen, denn immer wußten alle, wer ich bin. Nie war es mir vergönnt, in ihrer Menge unterzutauchen, zu spät hab ich es mir gewünscht, zu viel hab ich, in meinem früheren Leben, dazu getan, gekannt zu sein. Auch Selbstvorwürfe hindern die wichtigen Fragen, sich zu sammeln. Jetzt wuchs die Frage, wie die Frucht in der Schale, und als sie sich ablöste und vor mir stand, schrie ich laut, vor Schmerz oder Wonne:

Warum wollte ich die Sehergabe unbedingt?

Es traf sich, daß der König Agamemnon, der »sehr Entschlossene« (Götter!), mich in jener Sturmnacht aus dem Knäuel der andern Leiber riß, mein Schrei damit zusammenfiel, andere Deutung nicht brauchte. Ich, ich sei es gewesen, schrie er mich an, besinnungslos vor Angst, die Poseidon gegen ihn aufgehetzt habe. Habe er dem Gott nicht drei seiner besten Pferde vor der Überfahrt geopfert? Und Athene? sagte ich kalt. Was hast du ihr geopfert? Ich sah ihn blaß werden. Alle Männer sind ichbezogene Kinder.

(Aineias? Unsinn. Aineias ist ein erwachsener Mensch.) Spott? In den Augen einer Frau? Das ertragen sie nicht. Der Siegerkönig hätte mich erschlagen – und das war es, was ich wollte –, hätte er nicht auch vor mir noch Angst gehabt. Immer hat dieser Mensch mich für eine Zauberin gehalten. Ich sollte Poseidon beschwichtigen! Er stieß mich an den Bug, riß mir die Arme hoch zu der Gebärde, die er für passend hielt. Ich bewegte die Lippen. Du armer Wicht, was scherts dich, ob du hier ertrinkst oder zu Hause erschlagen wirst?

Wenn Klytaimnestra war, wie ich sie mir vorstellte, konnte sie mit diesem Nichts den Thron nicht teilen. – Sie ist, wie ich sie mir vorstellte. Dazu noch haßerfüllt. Als er sie noch beherrschte, mag es der Schwächling, wie sie es alle tun, wüst genug mit ihr getrieben haben. Da ich nicht nur die Männer, sondern, was schwieriger ist, auch die Frauen kenne, weiß ich, mich kann die Königin nicht schonen. Mit Blicken hat sie es mir vorhin gesagt.

Mein Haß kam mir abhanden, wann? Er fehlt mir doch, mein praller saftiger Haß. Ein Name, ich weiß es, könnte ihn wecken, aber ich laß den Namen lieber jetzt noch ungedacht. Wenn ich das könnte. Wenn ich den Namen tilgen könnte, nicht nur aus meinem, aus dem Gedächtnis aller Menschen, die am Leben bleiben. Wenn ich ihn ausbrennen könnte aus unsren Köpfen – ich hätte nicht umsonst gelebt. Achill.

Die Mutter hätte mir jetzt nicht einfallen dürfen, Hekabe, auf anderen Schiffen zu anderen Ufern mit Odysseus unterwegs. Wer kann für seine Einfälle. Ihr irres Gesicht, als sie sie wegrissen. Ihr Mund. Der gräßlichste Fluch, der, seit es Menschen gibt, ausgestoßen wurde, gilt den Griechen, und meine Mutter Hekabe hat ihn über sie verhängt. Sie wird recht behalten, man muß nur warten können. Ihr Fluch werde sich erfüllen, rief ich ihr zu. Da war mein Name, ein Triumphschrei, ihr letztes Wort. Als ich das Schiff betrat, war alles in mir stumm.

Nachts hat der Sturm sich, als ich ihn »beschworen«, bald gelegt, nicht nur die Mitgefangenen, auch die Griechen, selbst die rohen gierigen Ruderknechte rückten scheu und ehrerbietig von mir ab. Dem Agamemnon sagt ich, ich verlöre meine Kraft, wenn er mich in sein Bett zwänge. Er ließ mich. Seine Kraft war lange schon dahin, das Mädchen, das das letzte Jahr mit ihm im Zelt gewohnt, verriet es mir. Für diesen Fall – Verrat seines unsagbaren Geheimnisses – hatte er ihr angedroht, sie unter Vorwand von den Truppen steinigen zu lassen. Da begriff ich auf einmal seine ausgesuchte Grausamkeit im Kampf, wie ich begriff, daß er um so tiefer verstummte, je näher wir, von Nauplion her, auf der langen staubigen Straße durch die Ebene über Argos schließlich seiner Zitadelle kamen: Mykenae. Zu seinem Weib, dem er nie Grund gegeben, mit ihm Erbarmen zu haben, falls er Schwäche zeigte. Wer weiß, aus welcher Not sie ihn, wenn sie ihn mordet, reißt.

O daß sie nicht zu leben verstehn. Daß dies das wirkliche Unglück, die eigentlich tödliche Gefahr ist – nur ganz allmählich hab ich es verstanden. Ich Seherin! Priamostochter. Wie lange blind gegen das Naheliegende: daß ich zu wählen hatte zwischen meiner Herkunft und dem Amt. Wie lange voll Furcht vor dem Schauder, den ich, wenn ich unbedingt war, bei meinen Leuten wachrufen mußte. Der ist mir nun über das Meer vorausgeeilt. Die Leute hier – naiv, wenn ich sie mit den Troern vergleiche; sie haben den Krieg nicht erlebt – zeigen ihre Gefühle, betasten den Wagen; die fremden Gegenstände; Beutewaffen; auch die Pferde. Mich nicht. Der Wagenlenker, der sich seiner Landsleute zu schämen scheint, hat ihnen meinen Namen genannt. Da sah ich, was ich gewöhnt bin: ihren Schauder. Die Besten, sagt der Wagenlenker, seien es allemal nicht, die zu Hause blieben. Die Frauen nähern sich wieder. Ungeniert schätzen sie mich ab, spähen unter das Tuch, das ich mir über Kopf und Schultern gezogen habe. Sie streiten sich, ob ich schön sei; die Älteren behaupten es, die Jüngeren leugnen es ab.

Schön? Ich, die Schreckliche. Ich, die wollte, daß Troia untergeht.

Das Gerücht, das Meere überwindet, wird mir auch in der Zeit vorauseilen. Panthoos der Grieche wird recht behalten. Aber du lügst ja, meine Liebe, sagte er mir, wenn wir am Schrein des Apollon die vorgeschriebenen Handgriffe taten, die Zeremonie vorzubereiten: Du lügst, wenn du uns allen den Untergang prophezeist. Aus unserm Untergang holst du dir, indem du ihn verkündest, deine Dauer. Die brauchst du dringlicher als das bißchen Nestglück jetzt. Dein Name wird bleiben. Und das weißt du auch.

Zum zweitenmal konnte ich ihm nicht ins Gesicht schlagen. Panthoos war eifersüchtig, und er war boshaft und scharfzüngig. Hatte er auch recht? Jedenfalls lehrte er mich das Unerhörte denken: Die Welt könnte nach unserem Untergange weitergehn. Ich zeigte ihm nicht, wie es mich erschütterte. Warum hatte ich nur die Vorstellung zugelassen, mit unserm Geschlecht lösche die Menschheit aus? Wußte ich denn nicht, wie immer die Sklavinnen des besiegten Stamms die Fruchtbarkeit der Sieger mehren mußten? Wars Überheblichkeit der Königstochter, daß ich nicht anders konnte als sie alle, alle Troerinnen – die Troer sowieso – in unseres Hauses Tod hineinzuziehn? Erst spät, und mühsam, lernte ich die Eigenschaften, die man an sich kennt, von jenen unterscheiden, die angeboren sind und fast nicht zu erkennen. Umgänglich, bescheiden, anspruchslos sein – das gehörte zu dem Bild, das ich mir von mir selber machte und das sich aus jeder Katastrophe beinah unversehrt erhob. Mehr noch: Wenn es sich erhoben, lag die Katastrophe hinter mir. Habe ich etwa, um mein Selbstgefühl zu retten – denn aufrecht, stolz und wahrheitsliebend gehörte auch zu diesem Bild von mir –, das Selbstgefühl der Meinen allzu stark verletzt? Habe ich ihnen, unbeugsam die Wahrheit sagend, Verletzungen heimgezahlt, die sie mir beigebracht? Dies, glaube ich, hat Panthoos der Grieche doch von mir gedacht. Er kannte sich, ertrug sich, wie ich spät bemerkte, schwer und suchte sich zu helfen, indem er für jede Handlung oder Unterlassung einen einzigen Grund nur zuließ: Eigenliebe. Zu tief war er von der Idee durchdrungen, die Einrichtung der Welt verbiete es, zugleich sich selbst und anderen zu nützen. Nie, niemals wurde seine Einsamkeit durchbrochen. Doch hatte er kein Recht, das weiß ich heute, mich ihm ähnlich oder gleich zu finden. Am Anfang, ja, mag sein, wenn auch nur in diesem einen Punkt, den Marpessa Hochmut nannte. Das Glück, ich selbst zu werden und dadurch den andern nützlicher – ich hab es noch erlebt. Ich weiß auch, daß nur wenige es bemerken, wenn man sich verändert. Hekabe die Mutter hat mich früh erkannt und sich nicht weiter um mich gekümmert. Dies Kind braucht mich nicht, hat sie gesagt. Dafür hab ich sie bewundert und gehaßt. Priamos der Vater brauchte mich.

Wenn ich mich umdreh, seh ich Marpessa, die lächelt. Seit es ernst wird, seh ich sie fast nur noch lächeln. Die Kinder, Marpessa, werden nicht davonkommen, es sind die meinen. Du, denk ich, ja. – Ich weiß, sagt sie. – Sie sagt nicht, ob sie davonkommen will oder nicht. Die Kinder wird man ihr wegreißen müssen. Vielleicht wird man ihr die Arme brechen müssen. Nicht, weil es meine – weil es Kinder sind. – Zuerst bin ich dran, Marpessa. Gleich nach dem König. – Marpessa antwortet mir: Ich weiß. – Dein Hochmut, Marpessa, stellt noch den meinen in den Schatten. – Und sie, lächelnd, erwidert: So muß es sein, Herrin.

Wie viele Jahre hat sie mich nicht mehr mit Herrin angeredet. Wohin sie mich geführt, bin ich nicht Herrin, nicht Priesterin gewesen. Daß ich dies erfahren durfte, macht mir das Sterben leichter. Leichter? Weiß ich, was ich sage?

Nie werde ich erfahren, ob diese Frau mich geliebt hat, um deren Neigung ich mich bewarb. Zuerst aus Gefallsucht, mag sein, etwas in mir hat früher danach verlangt zu gefallen. Später, weil ich sie kennen wollte. Da sie mir bis zur Selbstaufgabe diente, hat sie die Zurückhaltung wohl gebraucht.

Wenn die Angst abebbt, wie eben jetzt, fällt mir Fernliegendes ein. Warum haben die Gefangenen aus Mykenae ihr Löwentor noch gewaltiger beschrieben, als es mir erscheint? Warum schilderten sie die Zyklopenmauern ungeheurer, als sie sind, ihr Volk gewalttätiger und rachsüchtiger, als es ist? Gern und ausschweifend haben sie mir von ihrer Heimat erzählt, wie alle Gefangenen. Keiner hat mich je gefragt, warum ich so genaue Erkundigungen über das feindliche Land einzog. Und warum tat ich es denn, zu einer Zeit, als auch mir sicher schien, daß wir siegten? Da man den Feind schlagen, nicht aber kennen sollte? Was trieb mich, ihn zu kennen, da ich den Schock: Sie sind wie wir! für mich behalten mußte. Wollte ich wissen, wo ich sterben würde? Dacht ich ans Sterben? War ich nicht triumphgeschwollen wie wir alle?

Wie schnell und gründlich man vergißt.

Der Krieg formt seine Leute. So, vom Krieg gemacht und zerschlagen, will ich sie nicht im Gedächtnis behalten. Dem Sänger, der noch bis zuletzt den Ruhm des Priamos sang, hab ich eins aufs Maul gegeben, würdeloser schmeichlerischer Wicht. Nein. Vergessen will ich den zerrütteten, verwahrlosten Vater nicht. Doch auch den König nicht, den ich als Kind über alle Menschen liebte. Der es nicht ganz genau nahm mit der Wirklichkeit. Der in Phantasiewelten leben konnte; nicht ganz scharf die Bedingungen ins Auge faßte, die seinen Staat zusammenhielten, auch die nicht, die ihn bedrohten. Das machte ihn nicht zum idealen König, doch war er der Mann der idealen Königin, das gab ihm Sonderrechte. Abend für Abend, ich seh ihn noch, ist er zur Mutter gegangen, die, häufig schwanger, in ihrem Megaron saß, auf ihrem hölzernen Lehnstuhl, der einem Thron sehr ähnlich sah und an den der König sich, liebenswürdig lächelnd, einen Hocker heranzog. Dies ist mein frühestes Bild, denn ich, Liebling des Vaters und an Politik interessiert wie keines meiner zahlreichen Geschwister, ich durfte bei ihnen sitzen und hören, was sie redeten, oft auf Priamos’ Schoß, die Hand in seiner Schulterbeuge (die Stelle, die ich an Aineias am meisten liebe), die sehr verletzlich war und wo, ich sah es selbst, der Speer des Griechen ihn durchbohrte. Ich, der sich die Namen der fremden Fürsten, Könige und Städte, der Waren, mit denen wir handelten oder die wir auf unseren berühmten Schiffen durch den Hellespont beförderten, die Zahlen der Einnahmen und die Erörterung ihrer Verwendung mit dem strengen sauberen Geruch des Vaters für immer vermischten – Fürsten, die gefallen, Städte, die verarmt oder zerstört,Waren, die verdorben oder geraubt sind: Ich bin es gewesen, von allen seinen Kindern ich, die, wie der Vater meinte, unsre Stadt und ihn verraten hat.

Für alles auf der Welt nur noch die Vergangenheitssprache. Die Gegenwartssprache ist auf Wörter für diese düstre Festung eingeschrumpft. Die Zukunftssprache hat für mich nur diesen einen Satz: Ich werde heute noch erschlagen werden.

Was will der Mann. Spricht er zu mir? – Ich müsse doch Hunger haben. – Ich nicht, er hat Hunger, er will die Pferde einstellen und endlich in sein Haus kommen, zu seinen Leuten, die ihn ungeduldig umstehn. – Ich solle doch seiner Königin folgen. Ruhig in die Burg gehn, mit den beiden Wächtern, die zu meinem Schutz, nicht zur Bewachung auf mich warten. – Ich werde ihn erschrecken müssen. – Ja, sag ich ihm, ich geh. Nur jetzt noch nicht. Laß mich noch eine kleine Weile hier. Es ist nämlich, weißt du, sag ich ihm, und suche ihn zu schonen: Wenn ich durch dieses Tor gegangen bin, bin ich so gut wie tot.

Das alte Lied: Nicht die Untat, ihre Ankündigung macht die Menschen blaß, auch wütend, ich kenn es von mir selbst. Und daß wir lieber den bestrafen, der die Tat benennt, als den, der sie begeht: Da sind wir, wie in allem übrigen, alle gleich. Der Unterschied liegt darin, ob mans weiß.

Ich hab es schwer gelernt, weil ich, gewohnt, die Ausnahme zu sein, mich unter kein gemeinsames Dach mit allen zerren lassen wollte. Da schlug ich Panthoos, als er am Abend jenes Tags, an dem er mich zur Priesterin geweiht, mir sagte: Dein Pech, kleine Kassandra, daß du deines Vaters Lieblingstochter bist. Geeigneter, das weißt du, wäre Polyxena: Sie hat sich vorbereitet, du verläßt dich auf deinen Rückhalt bei ihm. Und, wie es scheint – ich fand sein Lächeln unverschämt, als er das sagte –, auch auf deine Träume.

Dafür schlug ich ihm ins Gesicht. Sein Blick durchfuhr mich, doch er sagte nur: Und jetzt verläßt du dich darauf, daß ich zwar der erste Priester, aber doch bloß ein Grieche bin.

Er traf die Wahrheit, doch nicht ganz und gar, denn weniger, als er sich vorstellen konnte, ließ ich mich von Berechnung leiten. (Auch unsre Berechnung wird, uns unbewußt, geleitet, ja, ich weiß!) Der Traum die Nacht zuvor kam ungerufen, und er hat mich sehr verstört. Daß es Apollon war, der zu mir kam, das sah ich gleich, trotz der entfernten Ähnlichkeit mit Panthoos, von der ich kaum hätte sagen können, worin sie bestand. Am ehesten im Ausdruck seiner Augen, die ich damals noch »grausam«, später, bei Panthoos – nie wieder sah ich Apoll! – nur »nüchtern« nannte. Apollon im Strahlenglanz, wie Panthoos ihn mich sehen lehrte. Der Sonnengott mit der Leier, blau, wenn auch grausam, die Augen, bronzefarben die Haut. Apollon, der Gott der Seher. Der wußte, was ich heiß begehrte: die Sehergabe, die er mir durch eine eigentlich beiläufige, ich wagte nicht zu fühlen: enttäuschende Geste verlieh, nur um sich mir dann als Mann zu nähern, wobei er sich – ich glaubte, allein durch meinen grauenvollen Schrecken – in einen Wolf verwandelte, der von Mäusen umgeben war und der mir wütend in den Mund spuckte, als er mich nicht überwältigen konnte. So daß ich beim entsetzten Erwachen einen unsagbar widerwärtigen Geschmack auf der Zunge spürte und mitten in der Nacht aus dem Tempelbezirk, in dem zu schlafen ich zu jener Zeit verpflichtet war, in die Zitadelle, in den Palast, ins Zimmer, ins Bett der Mutter floh. Mir blieb der Augenblick kostbar, als Sorge um mich Hekabes Gesicht veränderte, aber sie hatte sich in der Gewalt. Ein Wolf, fragte sie kühl. Warum ein Wolf, wie kommst du darauf. Und woher die Mäuse. Wer sagt dir das.

Apollon Lykeios. Die Stimme Parthenas der Amme. Der Gott der Wölfe und der Mäuse, von dem sie dunkle Geschichten wußte, die sie mir zuraunte und die ich niemandem weitersagen durfte. Daß dieser zwiespältige Gott der gleiche sei wie unser unanfechtbarer Apoll im Tempel, das hätte ich nie gedacht. Nur Marpessa, Parthenas Tochter, mir gleichaltrig, wußte Bescheid und schwieg wie ich. Die Mutter bestand nicht darauf, daß ich Namen nannte, denn mehr noch als des Sonnengottes Wolfsgestalt beunruhigte sie meine Angst, mich mit ihm zu vereinigen.

Wenn sich ein Gott zu ihr legen wollte: War das nicht ehrenvoll für eine Sterbliche! Das war es. Und daß der Gott, zu dessen Dienst ich mich bestimmt, mich ganz besitzen wollte – war es nicht natürlich? Doch. Also. Was fehlte? – Nie, niemals hätte ich diesen Traum der Hekabe erzählen sollen! Sie blieb dabei, mich auszuforschen.