Kassandras Weg - Nona Simakis - E-Book

Kassandras Weg E-Book

Nona Simakis

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Beschreibung

Am Ende eines heißen langen Sommertages sehnt sich Kassandra Cross nach dem erlösenden Feierabend, als ihre Freundin, die alte Aborigine-Frau Eerin plötzlich in Trance fällt und mit einer geheimnisvollen Prophezeiung Kassandras Leben auf den Kopf stellt. Dem Ruf dieser mysteriösen Weissagung folgend unternimmt Kassandra eine Reise nach Griechenland in das Land ihrer Ahnen. Doch kaum angekommen überstürzen sich die Ereignisse. Antike Götter erscheinen, mystische Wesen und Gestalten aus einer fernen Vergangenheit machen sich bemerkbar, um das Schicksal und Kassandras Leben zu beeinflussen. Als ob das nicht verwirrend genug wäre, wird sie von einem unbekannten Feind in das antike Delphi entführt. Auf der Suche nach Antworten verlieren sich schnell die Grenzen zwischen Realität und Phantasie. Alles deutet auf eine einzige Aufgabe hin. Kassandra muss sich entscheiden, welchen Weg sie nimmt, um den Lauf der Geschichte ins Gute zu lenken. Wird sie ihr Erbe annehmen und die Herausforderung erfolgreich bestehen. Ihr Schicksal und das Überleben ihrer Ahnenreihe hängen davon ab. Kassandras einziger Ratgeber ist eine Eule, nicht irgendeine, es ist die sprechende Eule der Pallas Athene.

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Seitenzahl: 317

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Ähnliche


Für alle Träumer und Weltveränderer. Für meine wundervolle Tochter.

Inhaltsverzeichnis

Ankunft

Spirituelle Rundreise

Delphi: Johns Version

Delphi – Die Götter erwachen

Die Göttin erklärt

Lazarus' Taverne

Die erwachenden Erwachten

Über Eulen nach Athen tragen

Die Ägäis singt

Antworten, die neue Fragen suchen

Noch mehr Fragen, noch mehr Antworten

Ferfried darf zeigen, was er kann, John erzählt, was er weiß

Von falschen Entscheidungen

Gefangen zwischen den Welten

Edel gekleidet, Übles im Sinn

Auf nach Delphi

Pythias Gemächer

Delphis Shoppingmeile

Von Königen und Philosophen

Der Albtraum meiner Schulzeit

Der Tod ist süß und höchst lebendig

Ares

Zurück

Auf dem Weg zum Kloster

Die Wahrheit über John

Der Täufer

Epilog

Johns Meditation

Rezept für einen »Happy Morning«

Glossar

Danksagung

Mehr zu Nona Simakis

Teil 1

Gegenwart

»Eine wahrscheinliche Unmöglichkeit ist immer einer wenig

überzeugenden Möglichkeit vorzuziehen.«

Aristoteles

Ankunft

»In wenigen Minuten landen wir auf dem Flughafen Elefterios Venizelos in Athen, die momentane Temperatur beträgt ...«

Die weiteren Informationen des Piloten registrierte ich nicht mehr. Nach stundenlangem Flug und einigen Strapazen war ich endlich in Griechenland, dem Land meiner Vorfahren mütterlicherseits, angekommen.

Mittlerweile breitete sich die übliche Hektik im Flieger aus. Frauen puderten sich noch schnell nach und der verblassende Lippenstift wurde ebenfalls nachgezogen. Männer versuchten, ihre zerknitterten Hemden zurechtzurücken. Es ertönte die ermahnende Stimme der Stewardess, die um mehr Ruhe bat. Die sich ausbreitende Hektik überwältigte mich auch und ich spürte, wie mich eine gewisse Unruhe erfasste. Langsam stand ich auf, meine Hände hielten krampfhaft die Handtasche fest und ich überließ mich dem Vorwärtsdrängen der Passagiere, die Richtung Ausgang strebten.

Endlich stand ich an der Gangway des Flugzeuges und die gleißende Sonne Athens begrüßte mich. Zum Schutz vor der grellen Sonne schirmte ich mit der Hand die Augen ab und fragte mich, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, nach Griechenland zu reisen. Mittlerweile drängten und schubsten mich meine Mitreisenden, da ich den Ausgang des Flugzeuges und die Gangway, hinunter zum Bus versperrte.

Unsicheren Schrittes stieg ich die Stufen hinunter, während die heiße Luft und der Staub mir das Atmen erschwerten.

Am liebsten wäre ich zurück in das Flugzeug gelaufen, um wieder nach Hause, nach Melbourne zu fliegen. Doch bevor ich mich versah, saß ich in dem stickigen Bus und ließ mich zur Ankunftshalle fahren.

Ich kam kaum dazu, die Gedanken zu ordnen, denn der Touristenstrom zog mich mit sich in Richtung des Gepäckbandes. Bereits von Weitem konnte ich meinen korallenroten Samsonite-Koffer erkennen und versuchte, an ihn heranzukommen. Doch ich wurde weggeschoben und der Koffer war kurz davor, eine Ehrenrunde zu drehen.

Genervt mit den Augen rollend, blickte ich nochmals in Richtung des Gepäckbandes. Eine hektische Atmosphäre herrschte. Jeder versuchte, drängelnd und schubsend als Erster am Gepäckband zu stehen, um sofort an den eigenen Koffer heranzukommen.

»Dreht Ihr Koffer eine weitere Runde?«, hörte ich hinter mir eine sonore Stimme, die einen humorvollen Unterton nicht unterdrücken konnte.

Ich drehte mich um und sah direkt in zwei kobaltblaue Augen. Unzählige kleine Lachfältchen umwebten wie ein zartes Gespinst diese unglaublichen Augen.

Halblange, schwarze Haare umrahmten ein attraktives und sonnengebräuntes Gesicht. Für einen kurzen Moment kamen mir diese Augen unendlich vertraut vor. Doch ich schob diesen Gedanken schnell beiseite.

»Mein Name ist John Archos. Ich saß im Flieger hinter Ihnen«, stellte er sich mir lächelnd, mit funkelnden Augen vor.

»Cassy«, stammelte ich und wischte mir meine verschwitzte Hand an der Jeans ab, bevor ich sie John reichte. »Ich heiße Cassy Cross«, sagte ich unsicher lächelnd.

Mit einem kühlen und festen Händedruck nahm er meine Hand kurz in die seine. Obwohl seine Hand kühl war, fühlte sie sich gleichzeitig warm an. Bevor ich noch etwas sagen konnte, machte John einen Schritt in Richtung des Gepäckbandes und hievte meinen Koffer vom Band.

»So, Cassy, hier ist Ihr Koffer. Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt.«

Ehe ich antworten konnte, wandte sich John abermals in Richtung Gepäckband und blieb dort stehen, um sein Gepäck zu ergattern. Dankend winkte ich ihm zu, in der Hoffnung, dass er dies bemerken würde, und machte mich mit meinem Koffer auf den Weg zum Ausgang. Je mehr ich mich der großen Ausgangstür näherte, umso lauter wurden die Stimmen der davor wartenden Angehörigen, die versuchten, einen Blick auf ihre Familienmitglieder zu erhaschen. Ich bemühte mich, in dem Gewimmel von Hunderten von Menschen, abgestandener Luft und mannigfaltigen Gerüchen mein Hotelschild ausfindig zu machen.

Aiolos Hotel Delphi. Ganz weit hinten an der Ausgangstür stand eine junge Frau und hielt das gesuchte Schild in der Höhe.

Ich seufzte erleichtert und begab mich, so schnell ich konnte, zu ihr. Einige Minuten später saß ich in einem leicht abgedunkelten Bus und war über die laut brummende Aircondition, die kühle Luft spendete, zutiefst beglückt. Mein Leinenhemd war zerknittert und durchgeschwitzt. Ich spürte immer noch den heißen Staub auf dem Gesicht. Nach dem fast zwanzig Stunden dauernden Flug schmerzte mir jeder einzelne Wirbel im Körper. Eine wohlige Müdigkeit überfiel mich und so schloss ich die Augen und gab mich diesem Gefühl hin.

Kaskadengleich schossen mir die letzten Ereignisse durch mein Bewusstsein. Cassy Cross, erfolgreiche dreiunddreißigjährige Boutiquebesitzerin in Melbourne, im Greek Quarter. Mutter Griechin, Vater Australier. Genauso erfolgreich, wie ich in meinem Unternehmen war, genauso versagte ich in allem, was nur dem Hauch einer Beziehung ähnelte. Ich, die geliebte Tante, Patentante, reiche Tante, coole Tante, ich war nur Tante.

Langsam fingen schon die Kleinen an zu fragen, warum ich keine Kinder hätte. Ich sah dann, wie meine Familie ihre Kinder lachend mit der Antwort wegschickte: »Der Mann für Cassy muss noch geboren werden.« Die leichte Ironie, ich sei zu wählerisch, überhörte ich geflissentlich.

An sich war ich glücklich. Nun ja, fast glücklich, wäre da nicht die Trennung meiner letzten Beziehung. Ich war Ethan zu modern, zu selbstbewusst und von diesem zu viel und zu wenig von jenem.

Es wunderte mich, dass ich all meinen Partnern zu selbstbewusst war, wenn es um das Thema heiraten ging. Doch dass ich hier in Griechenland gelandet war, hatte mit dieser Trennung nichts zu tun. Vielmehr war der Auslöser eine merkwürdige Begegnung, eine Prophezeiung, die ich von einer sehr alten Aborigine-Dame bekam und die mich seither verfolgte.

Müde versuchte ich, meine Gedanken zu ordnen.

Es war einer dieser kochend heißen Tage in Melbourne gewesen. In meiner Boutique herrschte gähnende Leere, denn nicht einmal der normale Tourist ging an solchen Tagen shoppen. Während ich einen Eiscafé schlürfte und gelangweilt die Bestellungen für die Boutique durchging, drifteten meine Gedanken ab. Wieder einmal fragte ich mich, wer ich eigentlich war. Meine Hand glitt zu einem Medaillon, das ich noch von meiner geliebten Yiayia – das griechische Wort für Großmutter – kurz vor ihrem Tode bekam.

»Kassandroula mou«, sagte sie auf Griechisch. »Dies wird dich immer schützen und dir helfen, deinen Glauben in jeder Lebenssituation zu bewahren. Trag dies, mein Kind«, flüsterte sie mir damals ins Ohr und küsste mich auf die Stirn.

Ich erinnerte mich an diesen letzten Besuch in Griechenland. Meine Oma nannte mich immer bei meinem vollen griechischen Namen: »Kassandra« oder liebkosend »Kassandroula«. Griechen sind sehr erfindungsreich, ihre Vornamen in allen möglichen Versionen zu verändern, sodass man am Ende nicht mehr den tatsächlichen Namen erkennt. So wurde zum Beispiel aus jeder Elena eine Lena oder Leni oder Noula. Die Abkürzung »Oula« war sehr beliebt.

Meine Großmutter war eine sehr geschätzte Frau in der kleinen Stadt in der Nähe des Vermion Berges. Sie war bekannt als Heilerin und »Magissa« – als Zauberfrau. Sie konnte Warzen wegbeten, den bösen Blick von Menschen nehmen, Kräutertinkturen herstellen und Streitereien schlichten. Oma war sehr gottgläubig, aber nicht kirchenfromm. Es kam oft vor, dass sie über die Sünder in ihren schwarzen Soutanen schimpfte und wenn sie schimpfte, versammelte sich meist der halbe Ort. Denn wenn Oma schimpfte, war es erfrischend in seiner Klarheit. Oma verbarg nichts. Sie brachte alles auf den Punkt, denn es interessierte sie nicht, was man über sie dachte. Sie erzählte uns immer, sollte sie eines Tages vor Gott stehen und ihm in die Augen blicken, dann wollte sie sich nicht schämen müssen, jemals etwas nicht laut ausgesprochen zu haben, was hätte gesagt werden müssen. Das gesprochene Wort, Kassandroula mou, beteuerte sie immer, nur das gesprochene Wort heilt.

Ich betastete mein kleines Medaillon und sinnierte weiterhin über die Frage: Wer bin ich? Was bin ich und was soll ich eigentlich in diesem Leben? Es war auf Dauer nicht befriedigend, tagein, tagaus dasselbe zu erleben, und ich konnte mir nur schwerlich vorstellen, dass mein Leben sich weiterhin so gestalten sollte.

Leises Glockenklingen erklang und riss mich aus tiefen Gedanken. Ich sah auf und erblickte Eerin, leise und wie immer lächelnd, hereinkommen. Eerin war eine ältere Aboriginefrau, die mich wöchentlich mit wunderbarer selbst hergestellter und bestickter Bekleidung der Aborigines belieferte und so ihren Lebensunterhalt verdiente. Wenn man Eerin fragte, wie alt sie war, lautete ihre Antwort, dass sie älter sei als das Wispern des jungen Morgenwindes. Nun, was konnte ich da noch fragen? Hocherfreut ging ich ihr entgegen und wollte sie umarmen, als sie plötzlich erstarrte, mich mit glasigen Augen ansah und mit leiser Stimme sprach.

»Du verlierst den Weg zu deinen Ahnen, die Wurzeln sind geschwächt, der Weg des Traumes dringt nicht zu dir durch. Entscheide dich schnell und kehre zurück. Die Erde ruft.«

Wie angewurzelt blieb ich stehen, wusste nicht, was ich tun sollte. War dies eine Botschaft, eine Prophezeiung, oder war die Sonne sogar für Einheimische zu stark, sodass sie halluzinierte? Bevor ich mich entscheiden konnte, was ich tun sollte, schüttelte sich Eerin einmal und sah mich fest an.

»Cassy, die Ahnen haben gesprochen. Bitte beherzige die Worte und handele so schnell wie möglich.«

Ich drückte Eerin ein Glas kaltes Wasser in die Hand und wünschte mir einen doppelten Whiskey. Der Schock, Zeuge einer paranormalen Situation zu werden, hatte mich erschüttert. Obwohl ich von meiner griechischen Familie einiges gewohnt war, sei es Kaffeesatzlesen oder Gebete zu diversen Heiligen gegen alle Art von Krankheiten. Doch dies war eine Spur too much, wie meine Freundin Evangelista zu sagen pflegte. Gleichzeitig hatte ich sehr viel über die spirituellen Kräfte der Ureinwohner Australiens gelesen und wusste, dass man als Außenstehender sehr selten einen Einblick in solche Phänomene bekam.

»Eerin?«, fragte ich mit belegter Stimme. »Eerin, bitte sag mir, dass du mich auf den Arm nehmen wolltest, du hast mich jetzt verschaukelt, stimmt's?« Meine Augen flehten sie um eine bejahende Antwort an.

»Cassy mein Kind, auch mich verwundert es, dass meine Ahnen dir diese Botschaft zukommen ließen. Ich kann es mir nur so erklären, dass deine und meine Ahnen aus derselben alten Essenz des Universums erschaffen worden sind und dass diese nun einen Kanal gesucht haben, um sich dir mitzuteilen. Ich weiß, dass es eine sehr große Gnade ist und ein Zeichen dafür, dass die karmischen Kräfte der Erde dich rufen. Folge ihnen und du wirst gesegnet, verweigere dich ihnen und du wirst es bereuen. Letztendlich ist es aber deine Entscheidung, Kind.«

Ich lachte laut auf. Im Angesicht dieser angeblich zwei Möglichkeiten, gesegnet zu werden oder zu bereuen. Gab es noch irgendetwas dazwischen, dass meine Entscheidung beeinflussen konnte?

Nachdem ich das Geschäftliche mit Eerin erledigt hatte, schloss ich meinen Laden und musterte mich sichtlich erschöpft im Spiegel. Große, grau-grüne Augen blickten mir aus einem ziemlich blassen Gesicht entgegen. Mit meinen fast einen Meter fünfundsiebzig und den halblangen, blonden, gelockten Haaren sah ich recht ungriechisch aus, im Gegensatz zu meinen dunkelhaarigen Cousinen. Meine Figur war grazil, wie mein Vater es nannte. Für meine Mama war ich einfach nur dürr und hätte ihrer Ansicht nach ruhig ein paar Kilo mehr vertragen können.

Ich griff zum Hörer, um meine Freundin Evangelista anzurufen. Evangelista war die sachlichste Person von Melbourne. Wenn es etwas gab, was sie erschüttern konnte, so hatte ich es in unserer knapp zwanzigjährigen Freundschaft nie erlebt. Sie konnte alles, was für mich ein Albtraum war, perfekt analysieren, organisieren, ruhig bleiben, wo ich die Wände dreißig Mal rauf- und runtergelaufen wäre. Die Ruhe und Gelassenheit in Person und das Ganze noch mit einem süffisanten Humor versehen. Wenn mir jemand zu der heutigen »Eerin-Prophezeiung« etwas sagen konnte, dann sie.

Nachdem ich ihr die ganze Geschichte erzählt hatte, kam die trockene Antwort: »Cassy, jetzt mal ganz im Ernst, gesetzt den Fall, es stimmt alles, was hier in Australien über die Aborigines erzählt wird, dann wärst du wirklich dumm, die Aufforderung ihrer Ahnen zu ignorieren. Außerdem hast du Urlaub nötig, und den könntest du mit einem Besuch deiner griechischen Verwandten verbinden. Zu verlieren hast du wirklich nichts. Nur würde ich natürlich nicht jedem unter die Nase reiben, warum du plötzlich in Griechenland deinen Urlaub verbringen möchtest. Um dein Geschäft kann ich mich gern kümmern. Außerdem habe ich von einem superschönen, kleinen Hotel in Delphi gehört.

Das wäre doch die Idee«, lachte sie lauthals. »Fahr nach Delphi zu einem griechischen Orakel. Erhole dich ein paar Tage, besuche dann deine Familie und komm entspannt zurück.«

Langsam öffnete ich Augen und sah mich um. Die meisten Urlauber im Bus waren wie ich eingenickt. Ich setzte meine Sonnenbrille ab und versuchte herauszufinden, wo ich war.

Der Fahrer des Busses summte leise vor sich hin. Die Armaturentafel im Fahrerbereich war gepflastert mit Ikonen. Alle Heiligen in zigfacher Ausfertigung waren dort angebracht, gaben mir aber nicht unbedingt das Gefühl der Sicherheit. Der Fahrer musste sich jedoch sehr sicher fühlen, denn sein Summen und Pfeifen wurde lauter.

Wilder Oleander säumte den Mittelstreifen der Autobahn und Schmetterlinge flatterten zwischen den Blüten herum. Nach einer Weile verließ der Bus die Autobahn an einer Ausfahrt und wenige Minuten später hielten wir vor dem Hotel. Es war ein kleines Hotel, das ziemlich zentral in der Ortschaft lag.

Gerädert stieg ich aus und nahm meinen schweren Koffer in Empfang. Warmes Licht strömte aus der geöffneten Tür des Hotels und dunkle Nachtfalter schwebten in dem Licht der Straßenlaternen. Die Luft roch nach wildem Jasmin und der Himmel färbte sich in verschiedenen Blau- und Violetttönen.

Langsam ging ich auf das Hotel zu, betrat die Lobby, um endlich einzuchecken.

»Guten Abend, Mrs ...?«

»Cross«, antwortete ich. »Kassandra Cross.«

»Herzlich willkommen in Delphi, Frau Cross. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Anreise. In Ihrem Zimmer haben wir einen kleinen Snack für Sie vorbereitet. Falls Sie weitere Wünsche haben sollten, so informieren Sie uns bitte. Wir haben übrigens ein Fax für Sie erhalten.«

Der Rezeptionist reichte mir einen Umschlag, den ich hastig aufriss, um seinen Inhalt zu lesen.

»Hi Cassy,

du wunderst dich bestimmt, gleich mit einem Brief empfangen zu werden. Ich habe dich für eine spirituelle Rundreise im Hotel angemeldet. Sie wird morgen beginnen. Ich wollte es dir nicht zu Hause erzählen, da du bestimmt nicht mitgemacht hättest. Wünsche dir viel Spaß und melde dich nicht...

Küsschen, Evangelista.«

Ich musste lachen, so etwas Freches, mich mit einer spirituellen Rundreise zu überraschen. Das war mal wieder typisch für meine Freundin.

Als ich mein Zimmer betrat, überfiel mich eine bleierne Müdigkeit. Ich wollte nur noch eines: eine erfrischende Dusche und ein Bett. Die Rundreise interessierte mich gerade nicht. Alles in mir schrie nach einem Bett.

Spirituelle Rundreise

Die Sonne schien mir ins Gesicht und machte ein Weiterschlafen unmöglich. Obwohl es früh am Morgen war, schien die Sonne jetzt schon sehr intensiv. Es versprach, ein wundervoller Tag zu werden. Ich war gestern Abend wie gerädert in mein Bett gefallen und hatte mein Hotelzimmer noch gar nicht richtig begutachtet.

Evangelista hatte eine gute Wahl getroffen. Das Zimmer war wunderschön. Überwiegend in Weiß gehalten, mit leichten braungoldenen Akzenten. Antike Bilder verzierten die Wände. Der Ausblick vom Balkon war atemberaubend. Weiße Wolken lagen wie Inseln am hellblauen Himmelszelt. Man blickte auf grüne Olivenberge und das Ägäische Meer funkelte in schillernden Blautönen.

Eine halbe Stunde später betrat ich mit noch leicht feuchten Haaren die Lobby. Einzelne widerspenstige Strähnen lösten sich von meinem Zopf. Suchend hielt ich Ausschau nach einem Hotelangestellten.

»Kalimera Kyria – guten Morgen, darf ich Ihnen den Frühstücksraum zeigen?«, fragte mich ein freundlich lächelnder Kellner.

»Oh Efcharisto – danke«, antwortete ich auf Griechisch.

Das Lächeln des Kellners wurde ein wenig breiter. »Sie sprechen Griechisch, Mrs. Cross?«

Ich lachte. »Nun ja, ich bin mütterlicherseits Griechin, aber ich denke, dass mein Griechisch schon sehr eingerostet ist.«

»O nein, nein, Ihr Griechisch ist bezaubernd«, beeilte sich der Kellner zu sagen, stellte sich gleich als Kosta vor und führte mich in den Frühstücksraum.

Frische Blumen schmückten die Tische und eine große Flügeltür mit Blick auf die Terrasse lud zum Verweilen ein. Sonnenschirme schenkten den notwendigen Schatten. Die meisten Tische waren schon von den Gästen des Hauses besetzt.

Eine Gruppe Touristen belagerte das Buffet und ich konnte schon von Weitem hören, dass es sich um eine deutsche Gruppe handelte. Die Sprache war mir durch meine Kundschaft bekannt und ich hatte in den letzten Jahren gelernt, einige Worte zu sprechen.

Orientierend sah ich mich nach einem leeren Tisch um und blickte dabei in zwei leuchtend blaue Augen und auf ein umwerfendes Lächeln.

»Hey, Cassy, sagen Sie bloß, Sie gehören auch zur Delphi Touristengruppe?«

Ich traute meinen Augen kaum. Vor mir stand John Archos, mein Kofferretter. Ich fragte mich, wann er überhaupt in das Hotel gekommen war. Und gleichzeitig fragte ich mich, wie ich es übersehen konnte, dass wir in einem Bus angekommen waren. Ich war mir sicher, dass es nur diesen einen Bus in Richtung Delphi zu unserem Hotel gegeben hatte. Gleichzeitig war ich hocherfreut, ein bekanntes Gesicht zu sehen.

»John, welche Freude, Sie hier zu sehen. Sagen Sie jetzt nicht, dass wir die ganze Zeit auch in demselben Bus gesessen haben?«

»Nein«, lachte John und man sah seine ebenmäßigen Zähne. »Ich bin erst heute Morgen angekommen. Es war eine spontane Entscheidung, Delphi zu besuchen. Ich wollte herausfinden, ob die Pythia im Laufe der Jahre immer noch so gut orakelt«, sagte er mit ernsthafter Stimme.

»Oh, das würde mir fehlen, noch einem Orakel zu begegnen«, antwortete ich.

John sah mich fragend an.

»Lass uns erst frühstücken und ich erzähle dir gern, was ich meine«, hörte ich mich sagen.

Hatte ich das gerade gesagt? Einem wildfremden Menschen die Prophezeiung von Eerin erzählen? Er machte einen vertrauenswürdigen Eindruck. Mir fiel auf, dass er intensiv nach wildem Honig und Weihrauch duftete. Dieser Geruch war betörend. Ich hatte dieses Aroma schon in der Flughafenhalle wahrgenommen, konnte es jedoch damals nicht zuordnen.

Was sollte mir schon passieren, außer ihn zu einem lauten Lachen zu animieren oder bestenfalls zu einem netten Kopfschütteln.

Ich ging zum Buffet, an dem es sich gelichtet hatte und blickte auf die mageren Reste. Die deutsche Gruppe schien großen Hunger gehabt zu haben. Es war nicht sonderlich viel übrig geblieben. Ich nahm mir einen Teller, um wenigstens noch etwas zu ergattern, als der Kellner mit einem Tablett voller duftender Blätterteigtaschen ankam.

»Bougatsa?«, sah er mich fragend an.

Ich fühlte mich wie im Paradies. Diese Art von Spezialitäten schmeckte am besten in Nordgriechenland. Es war das traditionelle Frühstück der Griechen. Blätterteigstückchen gefüllt mit Schafskäse und Spinat oder mit Gehacktem. Es gab unzählige Variationen davon.

Hoffnungsvoll sah ich Kosta an. »Spinat?«, fragte ich wie ein kleines Mädchen, das kurz davor stand, Weihnachtsgeschenke auszupacken.

Er lachte herzhaft. »Ja, mit Spinat oder nur Schafskäse. Einen Frappé dazu?«

Jetzt war ich mir sicher, in Griechenland zu sein. Frappé, ein kaltes Kaffeegetränk, das nur im Sommer schmeckte.

Ich spürte die Blicke der anderen Gäste auf meinem Rücken. Leise kichernd ging ich, zum ersten Mal nach vielen Jahren wieder stolz auf meine Herkunft, zu dem Tisch, an dem John schon saß und an seinem griechischen Mokka nippte.

Ich ließ mir mein Frühstück schmecken. Meinen gesunden Appetit hatte ich auf der Reise hierher leider nicht verloren und so aß ich glücklich alles auf und schlürfte entspannt an meinem Frappé.

»So, Cassy, meine Neugierde ist ungestillt im Gegensatz zu deinem Hunger«, grinste John mich an. »Was meintest du mit nicht noch ein Orakel?«

Schmunzelnd nahm ich zur Kenntnis, dass John meinen kleinen Hinweis leider nicht vergessen hatte. Ich druckste etwas herum. Wie erklärte ich einem fremden Menschen etwas Übersinnliches, ohne gleichzeitig als verrückt dazustehen?

John sah mich immer noch fragend an. Ich gab mir einen Ruck und erzählte ihm die ganze Geschichte mit einer Gelassenheit, als ob ich gerade die neue Sommerkollektion für meine Boutique bestellen würde. Ich hoffte, durch meine Ruhe etwas souveräner zu wirken.

Als ich meine Erzählung beendet hatte, herrschte Schweigen an unserem Tisch. Ich fühlte mich etwas unbehaglich und sah schon vor meinem inneren Auge, wie John ab sofort einen großen Bogen um die verrückte Australierin machen würde. In diesem Moment, als ich beschloss, die ganze Geschichte als unwirklich abzutun,

kam John mir zuvor.

»Cassy«, er nahm meine Hände zwischen seine kühlen Handflächen. »Du hast etwas sehr Seltenes und Heiliges erlebt. Und nein, ich werde mich darüber nicht lustig machen. Falls es das ist, was du befürchtet hast. Und ja, ich kann in deinem Fall auch Gedanken lesen«, beantwortete er meine noch nicht gestellte Frage.

Ich lächelte unsicher, da ich etwas ganz anderes erwartet hatte. Diese Reaktion stand nicht auf der Liste meiner Erwartungen.

John betrachtete mich prüfend. »Cassy, ich beschäftige mich beruflich mit allem, was zwischen Himmel und Erde existiert. Vielleicht ist unsere Begegnung auch ein Wink des Himmels. Oder, wie deine liebenswerte Eerin sagte, ›dieselbe Substanz, die das Universum gestaltet hat‹. Ich habe noch nie so wohlklingende Worte für den Begriff ›Gott‹ gehört«, lachte er.

Ich musste doch etwas verstört geguckt haben, sodass John mir lächelnd über die Haare strich. In diesem Moment hatte ich das Gefühl, als ob Johns Gesicht sich wandeln würde. Der Geruch von wildem Honig und Weihrauch verstärkte sich für einen kurzen Moment und Johns Konturen veränderten sich. Ich kniff die Augen zusammen und musterte ihn. John sah aus wie immer und der Geruch war verflogen.

Ich blinzelte mehrmals und starrte John ungläubig an. »Wie, du beschäftigst dich damit? Bist du ein Parapsychologe oder so etwas Ähnliches?«

»Ja«, lachte John lauthals. »So etwas Ähnliches ist schon eine recht gute Beschreibung. Auf jeden Fall solltest du solche Hinweise besonders ernst nehmen, gerade die Aborigines sind in der Kunst der Propheterie bewandert. Ich muss dir nichts über die Traumwege erzählen. Auf jeden Fall hast du mich neugierig gemacht, und ich bin schon gespannt, was sich daraus entwickeln wird. Gern kannst du mich über alles ausfragen. Mein Wissen steht dir uneingeschränkt zur Verfügung«, erwiderte John vergnügt.

Ich war überwältigt, dass ich gleich bei meiner Ankunft die Gunst einer Begleitung, die sich in spirituellen Dingen auskannte, haben durfte. Das war wirklich mehr als ein Zufall. Es würde mich nicht wundern, wenn jetzt der Kellner mit einem neuen Brief von Evangelista ankam, in dem sie mir John als gebuchte Urlaubsbegleitung vorstellte.

Der Frühstücksraum leerte sich und die Kellner klapperten laut mit dem Geschirr und deckten schon für den Mittagstisch ein. Mir schwirrten Tausende Fragen durch den Kopf und ich glaubte, dass ich auch so aussah.

»Mrs. Cross, Mr. Archos«, hörten wir die Stimme von Kosta, »an der Rezeption wartet ein kleines Essenspaket für die gebuchte Rundreise auf Sie beide. Sollten Sie noch etwas wünschen, so sagen Sie bitte an der Rezeption Bescheid.« Kosta verbeugte sich kurz und ging wieder seiner Arbeit nach.

O mein Gott, die spirituelle Rundreise. Ich hatte dieses »Geschenk« von Evangelista bereits verdrängt. Fragend sah ich John an. »Fährst du auch mit?«

»Ja klar«, freute sich John. »Das wird eine wunderbare Tour werden, Cassy. Los, geh dich umziehen und nimm einen Sonnenhut mit. Unser heutiges Ziel ist meine alte Freundin Pythia. Ich werde dir im Bus zwei Geschichten erzählen. Einmal die allgemein bekannte, die du vielleicht aus dem Geschichtsunterricht kennst, und die wahre Geschichte, die sich die Mystiker seit Jahrhunderten erzählen.«

John sah mich erwartungsvoll an und sein Lächeln wurde breiter, als mein Gesichtsausdruck immer verdutztere Züge annahm.

Seufzend stand ich auf, um mich auf die bevorstehende Reise vorzubereiten.

Ein paar Minuten später stand ich bereits auf der Veranda und genoss die warmen Sonnenstrahlen auf meiner Haut. John war nirgends zu entdecken. Ich stand etwas unschlüssig herum und beobachtete die deutsche Touristengruppe, die anscheinend auch zu der spirituellen Reisegruppe gehörte. Einige der Touristen legten ihre Hände auf die Schultern des anderen. Ein paar liefen mit geöffneten Händen herum. Und ein Tourist stand mit geschlossenen Augen da und schien ganz entrückt zu sein.

Es sah schon ziemlich verrückt aus und ich fragte mich, ob dies wirklich eine normale Reisegruppe war oder sie heute nur Ausgang hatte. Ich musste mir wirklich ein Auflachen verkneifen und blickte mit Lachtränen in den Augen in eine andere Richtung. Doch ich konnte das Lachen nicht unterdrücken und es prustete aus mir heraus. Allein die Vorstellung, dass ich Evangelista anrufen würde und sie bitten müsste, mich aus einer griechischen Irrenanstalt zu befreien, sorgte dafür, dass die Bilder sich verselbstständigten und der Film vor meinem inneren Auge nicht mehr aufhörte zu laufen.

Verschämt drehte ich mich wieder zu der Reisegruppe herum und sah, wie man mir freundlich zuwinkte. Ich winkte etwas unsicher zurück und hoffte, dass man meinen Lachanfall nicht mit der Gruppe in Verbindung gebracht hatte.

»Was gibt es denn zu lachen?«, hörte ich Johns Stimme neben mir.

Mir war gar nicht aufgefallen, dass er plötzlich aufgetaucht war. Etwas peinlich scharrte ich mit dem Fuß und mein innerer Film startete erneut. Ein aufkeimendes Glucksen versuchte ich herunterzuschlucken und als Husten zu tarnen.

Ich erzählte John von dem merkwürdigen Verhalten der Touristengruppe und konnte mir bei aller Disziplin ein Kichern doch nicht verkneifen.

Schmunzelnd sah mich John an. Kleine, freche Lachfältchen durchzogen seine Augenwinkel und ich erkannte viel Humor in diesen Augen, aber gleichzeitig die Würde eines alten Mannes. Irritiert schaute ich kurz weg. Als ich ihn wieder anblickte, hatten seine Augen erneut die ursprüngliche jugendliche Frische.

»Cassy, die Reisegruppe kommt aus Deutschland. Ich kenne den Leiter seit etlichen Jahren. Er heißt Ferfried und praktiziert so etliches an esoterischen Sachen. Einige sind wirklich aus der reinen Fantasie der Menschen entstanden, andere hingegen sind, energetisch gesehen, gut. Ich denke, du hast beobachtet, wie die Gruppe Reiki praktizierte. Es ist angeblich eine japanische Heiltechnik, jedoch geht das Thema Heilenergie weiter als nur bis nach Japan. An sich wird es seit den Essenern, eine religiöse Gruppe vor Christi Zeiten in Jerusalem, praktiziert. Ich erzähle dir gern mehr, falls es dich interessiert.«

Mit leicht geöffnetem Mund sah ich John überwältigt an. John wusste scheinbar gut über dieses uralte Wissen Bescheid. Er erinnerte mich immer mehr an meine Yiayia, die weise Frau. Nur dass John alles andere als ein alter Mann war. Bevor ich weiter in meinen Gedanken versinken konnte, stand schon Ferfried vor mir.

»Hallo, ich sah, wie du uns beobachtet hast, und wollte mich kurz vorstellen. Ich bin Ferfried und Reiki-Lehrer«, stellte er sich in einem sehr deutsch gefärbten Englisch vor.

»Cassy«, antworte ich, »Cassy Cross aus Melbourne« und streckte ihm die Hand entgegen. »Freut mich, dich kennenzulernen«. Ich griff in eine sehr warme Handfläche und hatte das Gefühl, als ob mich eine Welle voller Energie überspülte. Es fühlte sich angenehm an. Ich hatte das Gefühl, als würden meine Lebensgeister erweckt. Verwundert sah ich meine Handinnenfläche an.

Ferfried lächelte breit. »Oh, ich glaube, du hast gerade Reiki gespürt.«

Ich lächelte etwas unsicher zurück. Langsam empfand ich die ganze Situation als etwas merkwürdig. Es schien, als ob ich wie ein Magnet spirituelle Begebenheiten anzog. Obwohl, ich war ja auch in Delphi und hier stand eine esoterische Reisegruppe. Innerlich sah ich mich schon am Ende meiner Reise, in weißen, schlabbrigen Gewändern gekleidet und mit ausgestreckten Händen hinter Evangelista und Eerin herlaufen. Ein spitzbübisches Grinsen breitete sich immer mehr auf meinen Lippen aus.

»Danke, Ferfried, für die Demonstration dieser Kunst«, antwortete ich und wischte meine feuchten Hände an meiner Jeans ab. »Ich würde gern mehr von diesem Reiki erfahren, vielleicht erzählst du mir später etwas darüber?«

Ferfried nickte begeistert. »Ja, ja, sehr gern. Als ich dich von Weitem sah, spürte ich bereits eine ungeheure Energie in deiner Aura. Diese silbernen und violetten Farben um dich herum fielen mehreren aus meiner Gruppe auf und wir dachten uns schon, dass du eine Freundin von John sein musst.«

Ich kam nicht dazu, diese Aussage zu korrigieren, da zeitgleich unser Reisebus die Tür öffnete und wir aufgefordert wurden, einzutreten.

Delphi: Johns Version

Ich stieg ein, ging ohne Umschweife zu einem der hinteren Plätze und setze mich in den bequemen Sitz. Der Bus füllte sich zügig und bald schon fuhren wir los. Kurz darauf erhob sich John und griff zum Mikrofon.

»Hallo, liebe Reisegruppe. Ferfried bat mich, euch etwas über Delphi zu erzählen, was ich auch wirklich gern mache, denn ihr müsst wissen, dass kein anderer Delphi so gut kennt wie ich. Ich war mit der Pythia sehr lange befreundet.«

Unter Gelächter erhob sich Applaus. John verstand es, die Gruppe im Reisebus komplett zu vereinnahmen und in seinen Bann zu ziehen. Ich spürte, wie ich neugierig auf Johns »Delphi Version« wurde. John sah in die Gesichter der Reisenden, so als wollte er sich jeden einzeln einprägen.

»Werte Reisende, vor Tausenden von Jahren zogen, so wie wir heute in einem modernen Reisebus, Pilger auf Pferden und in Sänften aus der bekannten Welt gen Delphi. Bevor Delphi dem Apollon geweiht wurde, verehrte man dort die Erdmutter mit Namen Gaia.«

Erstaunte Blicke kreisten umher und einige der Anwesenden tuschelten untereinander. John hob kurz die Arme und es wurde wieder still.

»Apollon hatte viele Namen. Doch dies ist der Name, unter dem wir ihn kennen. Er bedeutet der Lichtbringende, der Heilende. Doch als der Lichtbringende spielt er in unserem inneren, spirituellen Wachsen eine große Rolle. Lasst mich euch erzählen, wie ich ihn kennenlernte.«

Gelächter füllte den Reisebus, doch John blieb weiterhin ernst. Das Lachen beruhigte sich.

Hier und da war noch ein leises Kichern zu hören, als John weitersprach: »Nun, mein Freund Apollon ist älter als die Erwähnung der griechischen Mythologie und die Erschaffung der Götter. Apollon ist an sich der erste Weisheitslehrer der Geschichte, denn er hinterließ uns die größte Formel der Eigenarbeit, und zwar den Satz: Erkenne dich selbst und du erkennst Gott in dir. Ein Hinweis, der leider zu oft fehlinterpretiert wird. Yeshua, euch besser bekannt als Jesus, erwähnte diesen Satz in einer anderen Version, ich und der Vater sind eins ... Ihr seid in mir ... nur um ein paar Beispiele zu nennen. Apollon war selbst ein Wanderer zwischen der spirituellen und göttlichen Welt sowie der Welt der Sterblichen und der Materie. Er zeigte dem Menschen, der gefangen war von den Mächten des Schicksals und den Flüchen seiner Ahnen, dass es immer eine Veränderung geben kann. Immer, wenn man aus wahrem Herzen dazu bereit ist.

Es geht hier um das Bewusstsein jedes einzelnen Menschen, der sein geistiges Antlitz der Sonne zuwenden möchte. Interessant sind dabei alle Symbole, die Apollon verwendet.«

Einige der Reiseteilnehmer sahen total verzückt zu John und machten sich Notizen. Einige legten ihre Hände auf ihr Herz und lächelten mit geschlossenen Augen. Und ich? Nun, ich fragte mich langsam, ob diese Reisegruppe mit ihrem komischen Auftreten wirklich das Richtige für mich wäre. Ich blickte verstohlen zu Ferfried hinüber und sah, dass er Johns Erklärungen mit einem Diktiergerät aufnahm. Also wirklich, das fand ich schon etwas dreist.

John schien dies alles nicht zu stören. Entspannt lächelte er die Gruppe an und gab jedem das Gefühl, nur für ihn zu lächeln.

Es war merkwürdig, was diese Erzählung in mir auslöste. Alles in mir bejahte das gerade Gehörte. Obwohl mein Verstand mir laut klarmachen wollte, dass John viel ausschmückte und den lieben Esoterikern zuliebe einige Begebenheiten hinzuerfand, fühlte es sich in meinem Herzen richtig an. Es war doch an den Haaren herbeigezogen, dass er Apollon und die Pythia kannte. Dies würde ja bedeuten, dass die griechischen Götter real wären. Oder war es Johns Art von Humor, um die Geschichte etwas interessanter zu gestalten?

Wie auch immer, er konnte spannend erzählen und ich vermutete langsam, dass mit dem Begriff spirituelle Rundreise eher Märchenfahrt gemeint war.

»Entschuldigung«, hörte ich hinter mir eine zaghafte Frauenstimme, »könnten Sie uns mehr über die Pythia erzählen?«

Zustimmendes Murmeln erfüllte den Raum. John schien auf diese Aufforderung gewartet zu haben. Theatralisch breitete er die Arme aus und begann, seine Geschichte über seine angebliche Freundin in der mir mittlerweile bekannten John-Art zu erzählen.

»Ah, die Pythia«, schwärmte er und hielt kurz inne, um diesen einzigen Satz sekundenlang im Raum schweben zu lassen.

Es herrschte absolute Stille. Alle Augenpaare blickten erwartungsvoll zu ihm und erwarteten seine weiteren Ausführungen.

John strich sich kurz mit der Hand über die Augen und hielt diese für einige Augenblicke geschlossen.

»Pythia, meine Lieben, ist nur ein Begriff, ein Titel sozusagen. Ihr wisst bestimmt, dass dieser Name die Zeugende, die Schaffende bedeutet. Und das war sie. Sie war die Bezeugende unserer Zukunft. Ihre Worte erschufen die Realität der Suchenden. Aber nicht nur das. Beobachtet, was über diese wunderbaren Frauen, die den Titel Pythia trugen, in der Geschichte gesagt wurde. Sie alle saßen auf einem dreibeinigen, bronzenen Stuhl. Goethe erwähnt ihn in seinem Faust, diesen dreibeinigen Stuhl. Herakles kämpfte gegen Apollon um diesen Stuhl. Plutarch erwähnt ihn. Doch was ist die Bedeutung des Dreifußes? Warum kämpften Heroen, um ihn zu besitzen? Was glaubt ihr, meine lieben Suchenden? Nun, es ist das Symbol des erwachten Menschen. Das vollkommene Dreieck. In seiner Mitte befindet sich nur die Wahrheit. Er zeigt dem Menschen, der mit beiden Füßen fest auf der Erde steht und aus ihm, besser gesagt aus seiner Wirbelsäule, fließt die Kundalini und vermählt sich mit der Erde. Und dies ist die sogenannte Shekinah oder auch, wie die Griechen sagen, Sophia-Weisheit, in seiner weiblichen Form niedergelassenen Göttin. Und wir erinnern uns, dass es der Platz der Erdmutter Gaia war. Außerdem, meine Freunde, es ist doch auch passend, dass Delphi übersetzt die Gebärmutter bedeutet.

Erst ein spirituell erwachter Mensch ist in der Lage, sich seiner Schöpfung bewusst zu werden. Sich zu seiner Erlösung hinbewegend, die Erde, auf der er steht, segnend. Ach ja«, seufzte John in die absolute Stille, »bevor ich aufhöre, möchte ich nur erwähnen, dass Johannes in seinem Zitat 1.14 dies auch erwähnte. Er sagte: Der Logos ist Fleisch geworden und hat unter uns sein Lager/Zelt aufgeschlagen.«

Ich merkte, wie ich ausgeglichen atmete, um diese wunderbare Geschichte durch lautes Ein- und Ausatmen nicht zu unterbrechen. Ich war fasziniert und aufgewühlt. Es fühlte sich alles richtig an. Ich war sprachlos, wie John diese hellenistischen Zusammenhänge spielerisch mit der christlichen Lehre in Verbindung brachte.

So langsam spürte ich, wie die Flamme der Neugierde in mir erwachte. Ich wollte unbedingt mehr erfahren. Allmählich fing mein Urlaub an, mir Spaß zu machen. Evangelista würde große Augen machen, wenn ich ihr das alles erzählte.

Die Stimmen im Bus wurden wieder lauter. Einige Teilnehmer unterhielten sich angeregt über Johns Version der Geschichte. Es fiel immer wieder sein Name.

Mir wurde bewusst, dass er eigentlich gar nichts über die Pythia erzählt hatte, sondern bei dem alten Dreifuß stehen geblieben war. Es war keinem der Zuhörer aufgefallen, dass er einen großen Bogen um dieses Thema gemacht hatte. Ich musste ihn bei Gelegenheit danach fragen, ob es von ihm beabsichtigt war oder er es in seiner Erzähllaune einfach vergessen hatte.

Der Bus wurde langsamer und hielt auf einem großen Parkplatz, auf dem weitere Reisebusse und unzählige private Fahrzeuge standen. Nachdem wir den Bus verlassen hatten, konnten wir Menschen hören, die sich in verschiedenen Sprachen unterhielten. Der Platz war erfüllt von Stimmen und dem Klicken von Fotoapparaten.

Langsam stieg ich aus und blieb unschlüssig stehen. Sollte ich auf John warten? Ich wollte auch nicht den Anschein erwecken, auf Johns Nähe fixiert zu sein. Daher entschied ich mich dafür, die Anlage auf eigene Faust zu erkunden.

Delphi – Die Götter erwachen

Ich blickte mich ehrfürchtig um und war überwältigt von der stillen und mächtigen Schönheit der Anlage, die inmitten des Parnass-Gebirges lag. Artefakte aus längst vergangenen Zeiten. Verwitterte dorische Säulen umrahmten den Priesterplatz. Haushohe Zypressen in einem schillernden, satten Grün reckten sich gen Himmel und küssten sanft den hellblauen Himmel.

Die Aussicht war so vielfältig, dass es einem den Atem raubte. Berge, ohne einen Hauch von Grün und gleichzeitig vor mir bewaldete Berge in allen Grünschattierungen. Diese Farbenpracht war so blendend, dass ich nach meiner Sonnenbrille griff und gleichzeitig nach dem Fotoapparat suchte. Ich spürte nicht, wie der Strom der Touristen mich langsam vorwärts schob. Wenige Minuten später fand ich mich auf einer Anhöhe wieder, weit entfernt von unserem Bus und sah auf Delphi hinunter. Was mir anfangs wie eine lose Steinsammlung vorkam, aus der hier und da einige Säulen emporragten, ergab jetzt einen Sinn. Begeistert blickte ich auf den durchdachten Aufbau einer riesigen Tempelanlage.

Es war unvorstellbar, wie die damaligen hellenischen Architekten ohne Laptop und Hightech-Rechner, wie heute üblich, solche kunstvollen Städte errichten konnten. Ich sah die sogenannte Heilige Straße, die sich durch die ganze Stadt zog und vor dem Tempel des Apollon endete. Rechts und links säumten die alten Schatzhäuser der diversen hellenischen Städte die Straße. Ich konnte mir vorstellen, wie sie damals mit Stoffen, Elfenbein und Juwelen gefüllt waren.

Dies war wohl die sicherste Bank der Welt. Die sogenannten Schweizer Banken der Hellenen, erkannte ich schmunzelnd. Wer würde es schon wagen, Delphi auszurauben? Der normale Sterbliche hatte eine zu große Furcht vor dem Zorn der Götter. Denn, wie bekannt war, gingen diese nicht gerade zimperlich mit den Menschen um. Und der Fluch einer Seherin musste erst recht Angst und Schrecken einjagen. Leise kicherte ich vor mich hin. Ein ausgeklügeltes System, dachte ich voller Respekt.

Ich hing meinen Gedanken nach und ließ meine Füße entscheiden, welchen Weg sie einschlagen wollten. Eine wohlige Gelassenheit breitete sich in mir aus.

Ich war dankbar, dass John mich an Sonnencreme erinnert hatte, denn obwohl es noch nicht Mittag war, schien die Sonne bereits sehr stark. Ich cremte mir sicherheitshalber das Gesicht ein. Zwar war ich es gewohnt, der australischen Sonne ausgesetzt zu sein, doch Vorsicht war die Mutter der Porzellankiste.

Mittlerweile war ich auf dem höchsten Punkt der Anlage angekommen. Vor mir breiteten sich die unzähligen Stufen des Amphitheaters Delphis aus. Der Geruch von wildem Ginster kitzelte meine Nase. Unzählige gelbe Büsche wuchsen aus dem Boden. Inmitten dieser gelben Blumenpracht funkelte roter Mohn.