Kasse 19 - Claire-Louise Bennett - E-Book

Kasse 19 E-Book

Claire-Louise Bennett

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Beschreibung

»10 Best Books of 2022.« The New York Times Book Review

»Brillant, einzigartig, feministisch. Claire-Louise Bennett ist eine großartige Autorin.« Sinéad Gleeson

Mit atemberaubender Intensität erzählt die preisgekrönte britische Schriftstellerin Claire-Louise Bennett die Geschichte einer jungen Frau – vom Entdecken des eigenen Körpers, vom Beharren auf Unabhängigkeit und von der grenzenlosen Liebe zur Literatur.

In einer Arbeiterstadt einer Grafschaft westlich von London kritzelt ein junges Mädchen Geschichten auf die letzten Seiten ihres Schulheftes, berauscht von den ersten Funken ihrer Fantasie. Als sie heranwächst, werden alles und jeder, dem sie begegnet, zum Brennstoff für ihr Talent: der russische Mann mit dem alten kastanienbraunen Auto, der in dem Supermarkt, in dem sie an Kasse 19 sitzt, einkauft und ihr ein Exemplar von Nietzsches »Jenseits von Gut und Böse« zusteckt. Der immer größer werdende Stapel an Büchern, in denen sie sich verliert - und wiederfindet.

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Seitenzahl: 334

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Zum Buch

In einer Arbeiterstadt einer Grafschaft westlich von London kritzelt ein junges Mädchen Geschichten auf die letzten Seiten ihres Schulheftes, berauscht von den ersten Funken ihrer Fantasie. Als sie heranwächst, werden alles und jeder, dem sie begegnet, zum Brennstoff für ihr Talent: der russische Mann mit dem alten kastanienbraunen Auto, der in dem Supermarkt, in dem sie an Kasse 19 sitzt, einkauft und ihr ein Exemplar von Nietzsches »Jenseits von Gut und Böse« zusteckt. Der immer größer werdende Stapel an Büchern, in denen sie sich verliert – und wiederfindet.

Mit atemberaubender Intensität erzählt die preisgekrönte britische Schriftstellerin Claire-Louise Bennett die Geschichte einer jungen Frau – vom Entdecken des eigenen Körpers, vom Beharren auf Unabhängigkeit und von der grenzenlosen Liebe zur Literatur.

»Brillant, einzigartig, feministisch. Claire-Louise Bennett ist eine großartige Autorin.« Sinéad Gleeson

»Kasse 19 erinnert an Virginia Woolf, an frühe Romane von Toni Morrison, an Sheila Heti, weil das Buch darauf besteht, dass Frauen ihre eigenen Geschichten auf ihre eigene Weise erzählen.« The Boston Globe

»Bennett schreibt wie keine andere. Sie ist ein außergewöhnliches Talent. Kasse 19 ist ein meisterhaftes Buch.«Karl Ove Knausgård

Zur Autorin

Claire-Louise Bennett ist eine der faszinierendsten Stimmen unserer Zeit. Sie wuchs in Wiltshire, im Südwesten Englands, auf und studierte Literatur und Theaterwissenschaften an der University of Roehampton. Seit vielen Jahren schon lebt Claire-Louise Bennett in Galway, an der irischen Westküste. Bereits ihr Erzähldebüt »Teich« hat international für Aufsehen gesorgt. »Kasse 19« ist mehrfach als »bestes Buch des Jahres« ausgezeichnet worden und stand auf der Shortlist des renommierten Goldsmiths Prize.

Claire-Louise Bennett

Kasse 19

Aus dem Englischen von Eva Bonné

Luchterhand

Die englische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Checkout 19« bei Jonathan Cape, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2021 Claire-Louise Bennett

Copyright © der deutschen Ausgabe 2023

Luchterhand Literaturverlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Covergestaltung buxdesign | München, unter Verwendung eines Motivs von © Ruth Botzenhardt

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-641-29648-3V002

www.luchterhand-literaturverlag.de

www.facebook.com/luchterhandverlag

www.twitter.com/luchterhandlit

»Glauben Sie mir, Ausdruck ist Wahn, entspringt aus unserem Wahn. Es hat auch mit dem Umblättern zu tun, mit dem Jagen von einer Seite zur anderen, der Flucht, der Mittäterschaft an einem wahnwitzigen, geronnenen Erguß, es hat zu tun mit der Niedertracht eines Enjambements, mit der Versicherung des Lebens in einem einzigen Satz, mit der Rückversicherung der Sätze im Leben.«

Malina, Ingeborg Bachmann, 1971

»Manchmal besitzt die Gleichheit einer Stellung etwas Magisches, sie gehört zu den Dingen, die uns von ewiger Kameradschaft kündigen. Sie veränderte die Lage ihrer Ellbogen, ehe sie fortfuhr: ›Wie ich mich benommen habe – das war lächerlich.‹«

Zimmer mit Aussicht, E. M. Forster, 1908

I.Eine dumme Angewohnheit

»Die Zukunft jeder Errungenschaft ist unvorhersehbar.«

Erinnerungen eines Mädchens, Annie Ernaux

Später hatten wir dann oft ein Buch dabei. Später. Als wir endlich ein bisschen größer waren, aber natürlich längst nicht so groß wie die anderen, nahmen wir immer Bücher mit. Sehr viele Bücher! Und setzten uns damit ins Gras unter dem Baum. Eigentlich war es nur ein Buch. Nur ein einziges, ganz genau. Viele Bücher, aber immer nur eins zur Zeit. Jawohl, eins zur Zeit. Haufenweise Bücher – das hätte uns nicht gefallen, oder? Nein, gar nicht, und das ist bis heute so geblieben. Wir mögen ein Buch. Ja, wir mögen ein Buch, heute wie damals. Beispielsweise haben wir es uns in der Bücherei ziemlich schnell wieder abgewöhnt, nicht wahr, Bücher über Bücher auszuleihen. Ja. Ja, so war das. Anfangs haben wir natürlich so viele mitgenommen wie möglich. Bestimmt an die acht Stück. Es waren immer entweder sechs, acht oder zwölf, außer es handelte sich um Sammelbände, in dem Fall waren es eher nur vier. Und anfangs haben wir so viele Bücher ausgeliehen wie möglich. Oh, ja. Dieses und dieses und dieses, und das und das hier auch. Und so weiter. Ja. Aufgestapelt auf dem hohen Tresen, damit der Wackeldackel sie stempeln konnte. Und kein einziges lasen wir von Anfang bis Ende. Das ging gar nicht. Wir konnten uns überhaupt nicht darin vertiefen. Egal, welches Buch wir gerade in der Hand hielten – wir fragten uns pausenlos, welche Wörter wohl in den anderen Büchern standen. Wir waren machtlos dagegen, nicht wahr. Wir konnten einfach nicht anders, als über die anderen Bücher und die Wörter darin nachzudenken, und wenn wir dann eins der anderen Bücher in die Hand nahmen, um nachzusehen, ging alles von vorn los. Es war immer dasselbe, egal, zu welchem Buch wir griffen. Solange da noch andere Bücher waren, mussten wir nonstop an die Wörter denken, die wohl in ihnen standen, was uns davon abhielt, uns in das Buch in unserer Hand zu vertiefen. In eben dieses Buch. Eine dumme Angewohnheit. Wirklich zu dumm. Ein Buch weglegen, ein anderes nehmen, auch das beiseitelegen und ein neues nehmen und so weiter, und kein Stück weiterkommen. Kein Stück. Immer und immer wieder. So ging das eine ganze Weile, nicht wahr, bis uns etwas klar wurde: Dass wir sechs Bücher acht Bücher zwölf Bücher vier Bücher ausleihen durften, bedeutete noch lange nicht, dass wir es auch mussten.

Nein, natürlich nicht. Also liehen wir nur eins aus. Was die anderen natürlich aufregte. Ja. Oh, ja. Und wie. Ohne Ende. Ist das alles, riefen sie. Das ist viel zu wenig. Nur eins – das reicht doch höchstens bis morgen, hieß es, wir kommen diese Woche nicht noch mal her. Na und? Als könnte man mit einem Buch nichts anderes tun, als es zu lesen. Ja, genau. Wir konnten ziemlich lange neben einem Buch sitzen, ganz ohne es aufzuschlagen, so war es doch. Keine Frage. Und das war sehr erbaulich. Auf jeden Fall. Wie wir feststellten, ließ sich einem Buch sogar jede Menge abgewinnen, ganz ohne es aufzuschlagen. Es einfach nur neben uns liegen zu sehen, war schon etwas Besonderes. Weil wir uns dann nämlich fragen konnten, nicht wahr, welche Wörter wohl darin standen, statt uns in einen lächerlich verzückten Zustand hineinzusteigern. Mit nur einem Buch konnten wir im Gras sitzen und in aller Ruhe und ausführlich über die Wörter nachdenken, die wohl darin standen, so dass sich wie von allein und von wer weiß woher die klarsten Bilder einstellten. Das war schön. Wirklich. Die Bilder ähnelten nur selten Dingen, die wir gesehen hatten, trotzdem wirkten sie kein bisschen unscharf oder weit hergeholt. Kein bisschen. Vielleicht um sicherzustellen, dass die Bilder, die sich wie von allein einstellten, nicht zu sehr von Thema, Ton und Zeit des neben uns liegenden Textes abwichen, nahmen wir das Buch gelegentlich in die Hand, schlugen es dort auf, wo der Daumen hängen blieb, und lasen ein oder zwei Wörter der Zeile, auf der unser Blick zufällig gelandet war, und diese ein oder zwei Wörter reichten schon aus, nicht wahr, um noch spannendere Bilder heraufzubeschwören.

Wenn wir ein Buch aufschlagen, wandert unser Blick fast immer zur linken Seite. Oh, ja – aus Gründen, über die wir noch nie nachgedacht haben, fühlen wir uns von der linken Seite stärker angezogen als von der rechten. Aber zuerst blicken wir auf die rechte Seite hinunter. Die rechte zuerst, jawohl. Die Wörter auf der rechten Seite erscheinen uns viel zu dicht. Zu dicht beieinander und zu dicht vor unserem Gesicht. In der Tat sorgen die Wörter auf der rechten Seite dafür, dass wir unser Gesicht seltsam verziehen. Sind das wirklich wir? Ja? Nun? Die Wörter rechts wirken übereifrig und aufdringlich, ja in der Tat fast anbiedernd, und schon bald wenden sich unsere erschütterten Augen von der rechten Seite ab und suchen Zuflucht auf der linken. Auf die rechte Seite sehen wir hinunter und zur linken sehen wir auf. Im Ernst. Und fast immer lesen wir die linke viel langsamer als die rechte. Auf der linken ist anscheinend mehr Zeit. Ja. Oh, ja. Und wie! Auf der linken Seite ist mehr Platz, zu beiden Seiten der Begriffe und auch über und unter den Sätzen. Außerdem stehen auf der linken Seite fast immer die besseren Wörter. Genau – Wörter wie »strahlte«, »Geschöpf«, »Champagner«, »zottig« und »Klumpen« beispielsweise. Wörter, die keine weitere Erklärung brauchen. Die unser Auge eins nach dem anderen passieren, statt sich zusammenzurotten und uns von etwas überzeugen zu wollen, was gar nicht passiert. Wobei es doch eigentlich nicht sein kann, dass diese unterschiedlichen, durch die Wörter ausgelösten Vorgänge so treffsicher auf die linken und die rechten Seiten verteilt wurden, oder? Nein, vermutlich nicht. Viel wahrscheinlicher ist, dass wir für die Wörter auf der linken Seite sehr viel empfänglicher sind als für die auf der rechten, weil wir auf die rechte hinabschauen und zur linken aufblicken. Wirklich. Tun wir. Was wohl bedeutet, dass das Buch in unserer Hand sich bewegt. Ja, es bedeutet, dass wir das Buch, wenn wir die rechte Seite umblättern und sie zur linken wird, leicht in die Höhe heben. In die Höhe, ja wirklich.

Wir neigen dazu, die letzten Sätze der rechten Seite hastig zu lesen, nicht wahr. In der Tat. Wir genießen das Umblättern sehr, es erfüllt uns mit einer geradezu glühenden Vorfreude und nimmt unsere Aufmerksamkeit dermaßen in Anspruch, dass wir nicht anders können, als die letzten Sätze auf der rechten Seite hastig zu überfliegen und kein einziges Wort wirklich aufzunehmen. Ziemlich oft ergibt der Anfang einer linken Seite keinen Sinn. Nein. Nein, gar keinen. Und erst dann erkennen wir, wenn auch nur widerwillig, dass wir die letzten Zeilen der Seite davor nicht richtig gelesen haben. Ziemlich oft ist unser Widerwille so groß, dass wir einfach weiterlesen. Wir lesen weiter, jawohl, selbst wenn wir aus dem Gelesenen nicht schlau werden. Wir lesen weiter, weil wir vage davon überzeugt sind, dass sich uns, wenn wir nur durchhalten, der Zusammenhang zwischen den aktuellen und den bereits gelesenen Sätzen früher oder später vollständig erschließen wird. Wir kommen aber nicht sehr weit. Nein, leider nicht. Fast immer blättern wir zurück. Oh, ja. Und fast immer sind wir überrascht, wie viele augenfällige Details in den letzten Zeilen der vorherigen rechten Seite untergebracht sind, und noch überraschender finden wir den unpassenden, von wer weiß woher stammenden Gedanken, dass der Setzer des Buches wirklich keinerlei Verantwortungsgefühl besitzt, hat er doch zugelassen, dass am Ende einer rechten Seite so wichtige Sätze stehen. Dem Setzer muss doch bewusst gewesen sein, wie viel Freude den Leuten das Umblättern und wieder Umblättern macht; deshalb kann niemand von ihnen erwarten, dass sie die letzten Zeilen der rechten Seite mit der gebotenen Aufmerksamkeit lesen. Sollte man meinen. Umblättern. Umblättern. Umblättern und das Buch ein wenig höher halten. Und der Grund, nun da wir darüber nachdenken, ist wohl, dass wir nach dem Umblättern Lust haben, das Kinn zu heben und nach oben zu sehen. Und wir wollen nach oben sehen, weil sich das Blatt gewendet hat. Ein neues Blatt! – jawohl. Das Blatt hat sich gewendet, und wir fühlen uns schlagartig jung und wahnsinnig aufgeschlossen, und so nimmt unser Gesicht beim Umblättern ganz ungezwungen den erhabenen Ausdruck einer kultivierten, wenn auch leicht verwöhnten Göre an. Das neue Blatt. Ja. Bis zum Ende der rechten Seite sind wir um ungefähr zwanzig Jahre gealtert. Dann halten wir das Buch nicht mehr in die Höhe. Nein. Oh, nein. Das Buch ist gesunken, unser Kopf ist gesunken. Wir haben Hängebacken. Wirklich. Wir haben ein Doppelkinn. Jawohl. Wir suhlen uns. Wir suhlen uns. Wir suhlen uns in unseren Kinnfalten. Wirklich, wir sind um mindestens zwanzig Jahre gealtert. Da ist es doch kein Wunder, nicht wahr, dass wir die rechte Seite nicht ordentlich zu Ende lesen. Nein. Gar nicht. Gar kein Wunder, dass es uns in den Fingern juckt, endlich umzublättern. Überhaupt kein Wunder, dass wir uns so glühend aufs Umblättern freuen. In der Tat freuen wir uns, als ginge es um Leben und Tod. Um Leben und Tod. Leben und Tod. Und in der Tat geht es um Leben und Tod. Ja. Oh, ja. Die Seite umblättern. Die Seite umblättern. Wenn wir eine Seite umblättern, werden wir neu geboren. Wir leben und sterben, leben und sterben, leben und sterben, wieder und wieder. Und ganz ehrlich – so sollte es auch sein. So geht lesen. Ja. Oh, ja. Die Seite umblättern. Die Seite umblättern. Mit dem ganzen Leben.

Man könnte behaupten, dass es genau genommen keine linken Seiten gibt, sondern nur Rückseiten von rechten, nicht wahr. Das könnte man durchaus behaupten, wenn das Buch aufgeschlagen daliegt, mit dem Cover nach oben. Nach oben. Ja. Mit dem Cover nach oben im Gras. Ja. Dort im Gras ein Buch direkt neben uns. Mit dem Cover nach oben. Nach oben auf der Wiese in dem Gras neben dem großen, alten Baum. Nur ein Buch. Ja. Und in der Tat waren wir in unserer Vorstellung die Einzigen, die dieses Buch besaßen. Sonst niemand. Keiner. Keine Menschenseele. Niemand besaß dieses Buch, und darüber hinaus hatte niemand es je gesehen. Es gehörte uns allein. Nur uns. Wir wussten natürlich ganz genau, dass das überhaupt nicht stimmte, aber es fühlte sich trotzdem so an, und in der Tat stellt sich dieses Gefühl selbst heute noch ein, bei manchen Büchern. Wirklich. Irrtümlicherweise und dennoch zwingend. Dieses Buch gehört uns und uns allein. Vielleicht rührt das Gefühl der Exklusivität daher, dass es zu Hause nicht viele Bücher gab und die wenigen vorhandenen außer Sicht in einem Eckschrank im Esszimmer aufbewahrt wurden, zusammen mit Kerzen, Serviettenringen und einer Sauciere, gegen die unsere Mutter eine plötzliche und heftige Abneigung entwickelt hatte. Sie waren außer Sicht und gleichzeitig seltsam präsent. Verstörend präsent. Geradezu omnipräsent. Ja, präsenter noch als Reihen über Reihen von Büchern in offenen Regalen, an denen man x-mal am Tag vorbeigeht. Und Der kleine Klaus und der große Klaus war natürlich präsent, weil unsere Mutter uns damals die Treppe hinauf und bis ins Badezimmer folgte und uns dabei das schreckliche Märchen vom kleinen und vom großen Klaus und ihren irrwitzigen Betrügereien und herzlosen Streichen vorlas. Hü, alle meine Pferde! Hü, alle meine Pferde! Jawohl. Unsere Mutter liebte das. Hat sich schlappgelacht. Im Ernst. Und selbst als wir schon größer waren, ist sie hinter uns die Treppe hinaufgestiegen und hat sich schlappgelacht, in der Hand Der kleine Klaus und der große Klaus. Hü, alle meine Pferde! Das Buch stand oben im Extrazimmer in einem Regal zwischen unseren anderen Büchern. Im Spielzimmer. Ja. Während die Bücher unserer Mutter im Eckschrank vor sich hin schmollten wie dunkle Geheimnisse. Oh, ja. Ganz selten drehten wir vorsichtig den kleinen Messinggriff, öffneten lautlos die Tür des Eckschranks und warfen einen Blick auf die aufgeschreckten Bücherrücken neben den Kerzen, den Serviettenringen und der verbannten Sauciere, und jedes Mal verschlug es uns fast den Atem. Es machte uns nervös. Ehrlich. Was wir sahen, ging uns nichts an. Es war verboten. Ja. Oh, ja. Und das Verbotene erwiderte unseren Blick und sah etwas. Jawohl, etwas in uns, von dem wir tatsächlich nichts geahnt hatten. Die Bücher erwiderten unseren Blick, und in uns regte sich etwas. Ja. Eins davon war Switch Bitch von Roald Dahl. Oben in unserem Zimmer hatten wir Bücher von Roald Dahl, Danny oder die Fasanenjagd beispielsweise, unser Roald-Dahl-Lieblingsbuch; wir hatten sie alle gelesen, nicht wahr, alle außer diesem hier. Nein, über dieses wussten wir nichts. Rein gar nichts. Aber es war ziemlich offensichtlich, nicht wahr, dass dieses Buch anders war als die Roald-Dahl-Bücher oben in unserem Regal und nichts für uns. Nein, auf keinen Fall. Dieses Buch war etwas für Erwachsene. Jawohl. Das erkannten wir sofort. Innen im Umschlag gab es ein Foto von Roald Dahl, genau wie in den Umschlägen unserer Roald-Dahl-Bücher. Sogar fast an der gleichen Stelle. Oh, ja. Aber in dem Umschlag des Buches, das meine Mutter neben Kerzen, Serviettenringen und der ausrangierten Sauciere im Eckschrank aufbewahrte, sah er vollkommen anders aus. Wirklich. Erstens blickte er nicht direkt in die Kamera. Oh, nein. Und er saß auch nicht. Nein, er stand, und zwar draußen. Draußen im Wind. Im Wind, jawohl. Dass er im Wind stand, konnte man daran erkennen, dass sein eher schütteres Haar flatterte. Was uns auf den Gedanken brachte, nicht wahr, dass er wahrscheinlich neben einem kleinen Propellerflugzeug stand. Ja. Genau. Er blickte nicht in die Kamera. Nein. Und das verriet uns, dass er beim Verfassen des Buchs Erwachsene im Sinn gehabt hatte. Erwachsene, jawohl. Das, und der Titel. Der Titel, natürlich. Switch Bitch. Switch Bitch. Wenn unsere Mutter unserem kleinen Bruder Sophiechen und der Riese vorlas, hatten wir sofort das Bild einer Frau mit kleiner Stupsnase und schwarzem Netzschleier vor Augen, die ihr verschwommenes Spiegelbild betrachtet, während ihre dunkelrot glänzenden Lippen stumm das Wort bitch formen, was wir unglaublich aufregend fanden, ohne ganz zu verstehen, warum; die durch das Bild erzeugte Aufregung war von einer unbekannten Art und irgendwie verstörend, und schon bald fühlten wir uns schuldig und einsam und fürchteten uns wer weiß wovor. Wir wussten es nicht. Nein. Trotzdem hatten wir Schiss.

Ein Start ins Leben stand auch im Eckschrank. Ein Start ins Leben, ganz genau, allerdings von Alan Sillitoe und nicht von Anita Brookner. Das hatten wir eines Sommers im Garten hinter dem Haus im Nu durch. Im Garten hinter dem Haus standen zwei Sonnenliegen auf der Terrasse, und eines Sommers, als wir eigentlich Bücher von der Literaturliste unserer Schule lesen sollten, lagen wir in einem schwarzen Neckholder-Bikini und mit einer Schachtel Dunhill auf einer der Sonnenliegen und lasen stattdessen Ein Start ins Leben von Alan Sillitoe. Später an dem Nachmittag, als sie von ihrer Halbtagsschicht im Kaufhaus zurück war, kam unsere Mutter mit Sonnencreme auf die Terrasse, legte sich in ihrem neongelben, trägerlosen Bikini auf die Liege neben uns und ließ sich einzelne Passagen vorlesen, die wir schon kannten und besonders lustig fanden. Das gefiel ihr. Es gefiel ihr, und sie lachte. Sie lachte fast immer an den Stellen, an denen wir zuvor gelacht hatten. Das Buch war sehr unterhaltsam. Sie lag neben uns auf der Sonnenliege und rauchte Benson & Hedges. Lachend. Lachend schnippte sie die Asche auf die Terrasse. Das ist lange her. Wirklich. Es war einer der letzten Sommer. Mittlerweile können wir uns nicht mehr daran erinnern, wovon Ein Start ins Leben handelt. Wir haben keine Ahnung. Obwohl wir uns grob an die Stelle erinnern können, die wir so lustig fanden. Ja, an der Stelle, die wir so lustig fanden und unsere Mutter auch, gibt der Erzähler zu bedenken, dass nicht jeder Mensch dafür gemacht ist, tagein, tagaus zu faulenzen und dass man Leute, die den Tag vertrödeln, nicht mit Wut und Verachtung strafen, sondern mit höchster Wertschätzung behandeln sollte, denn tagein, tagaus rein gar nichts zu tun, ist nicht ansatzweise so leicht, wie es aussieht.

In der Tat ist Nichtstun eine hohe Kunst. Jawohl, es ist eine Kunst, und nur wenige Menschen haben den Mumm und die Stärke, es durchzuziehen. An einem Sommernachmittag im Freien lesen. Nach endlosen Wochen mit heißen Sonnentagen. Das ist wirklich mit nichts zu vergleichen. Nichts taten wir lieber. Manchmal kletterte ein kleiner, gepunkteter Käfer auf das Buch, das mit dem Cover nach oben neben uns lag. Das Buch, das niemand zuvor je gesehen, geschweige denn aufgeschlagen hatte. Der Käfer kam raus aus dem zerzausten Gras und rauf auf das ehrwürdige Tableau, auf das Cover von was eigentlich – von Platons Phaidros vielleicht. Die Säulen die Schalen das Zinngeschirr die Weinblätter die Trinkgefäße die dunklen Schienbeine die zitronigen Zitronen das Chiaroscuro. Wäre uns danach gewesen, hätten wir ihn mühelos mit einem sanften Daumendruck zerquetschen können. Ja. Ja, hätten wir. Da war er. Kleiner, gepunkteter Käfer. Hielt still, krabbelte weiter. In diese und in jene Richtung. Immer rundherum auf dem ehrwürdigen Tableau, ewig pünktlich. Immer rundherum und unfähig, sich in die verlockende, weise Finsternis der schwermütigen Szene zu vertiefen. Aber wir hatten nicht die Absicht, gepunktete oder andere Käfer zu plätten, nicht wahr. Nein, überhaupt nicht. Auch keine Ameisen. Nein. Nicht einmal Spinnen. Trinkgefäße. Trinkgefäße. Und irgendwie konnten wir nicht sagen, ob der kleine Käfer von jetzt war oder noch von früher. Nein, nicht genau. Nicht einmal, als er über die Kante fiel und abschwirrte.

II.Heller Funken

»Eines Tages werden wir ihn zu einem Menschen zähmen, und dann werden wir ihn zeichnen können. So haben wir es auch mit uns selbst gemacht und mit Gott.«

»Federzeichnung eines Jungen«, Clarice Lispector

Am Ende des Schuljahres versuchte der Fachbereich Englisch, die zu Beginn des Schuljahres so optimistisch an die Schülerschaft ausgegebenen Bücher wieder einzusammeln. Seit Beginn des Schuljahres hatte sich kaum jemand die Mühe gemacht, in die Bücher hineinzusehen, trotzdem fühlte sich jetzt, am Ende des Schuljahres, niemand verpflichtet, sie zurückzugeben. Für den Fachbereich muss das sehr ärgerlich gewesen sein. Die Schüler hatten einfach kein Interesse. Weder daran, die Bücher zu lesen, noch daran, sie zurückzugeben. Bis zum letzten Klingeln interessierte sie nur eins, nämlich den Fluss aus Informationen und Ideen, den die Lehrkräfte in jeder neuen Unterrichtsstunde anzuregen versuchten, durch alle möglichen, scheinbar endlosen Streiche zu stören. Dabei war ihr Repertoire trotz aller Hartnäckigkeit nicht besonders abwechslungsreich. In der Tat legten sie sich gleich nach den Ferien auf ein bestimmtes Manöver fest, das dann mit großer Freude und in unveränderter Form durchgezogen wurde, Tag für Tag und bis ans Ende des Schuljahres. Es war ziemlich grotesk. Wie schon den Künstlern der Avantgarde war ihnen bewusst, dass durch ausdauerndes Wiederholen subtile und absurde Variationen entstehen, die ebenso lähmend wie subversiv wirken können. Das fortwährende Blödeln kam vor allem in den naturwissenschaftlichen Laboren zum Einsatz, wo die Hände der zündelnden Klasse mühelosen Zugriff auf eine große Auswahl an Geräten und Stoffen hatten, die sich untereinander kombinieren ließen und zuverlässig in eine spür- und halbwegs überschaubare Wechselwirkung traten – obwohl sich die exakte Reichweite der Reaktion weniger zuverlässig einschätzen ließ. Zu wissen, was passiert, ohne zu wissen, in welchem Ausmaß, ergab eine sehr aufregende Mischung, und nie kam am Ende eine Enttäuschung dabei heraus – im Gegenteil, wenn eine Mission scheiterte, war die Befriedigung höchstens noch größer. Für die Klasse schien selbst die Ernüchterung einen Reiz zu haben. Schwammkopf, der Chemielehrer, fand ihre Heiterkeitsausbrüche albern, irritierend und auch ein bisschen beunruhigend. Ihr Verhalten war idiotisch und, was noch schlimmer war, absolut unberechenbar. Warum nur klang das kurze, allzu prompte Johlen nach einer schönen, hellen Stichflamme so pflichtbewusst und leer, wohingegen ein Rohrkrepierer eine fast schon unheimliche, von Herzen kommende Kakophonie aus Jubel und Beifall auslöste? Es hatte fraglos etwas Finsteres. War den Schülern vielleicht klar, dass sie selbst es nie weit bringen würden? Sie wussten, das System war gegen sie, sie spürten es in ihren noch im Wachstum befindlichen Knochen – ihre Knochen, die auch die Knochen ihrer Mutter und ihres Vaters waren, und die Knochen der Mutter und des Vaters ihrer Mutter, und die Knochen der Mutter und des Vaters ihres Vaters und so weiter und so fort, ringsum nichts als lange Reihen aus angeknacksten, weggeschobenen, aufgeschichteten Knochen. Und so heckten die gegenwärtigen Hüter der ebenso blutjungen wie beherrschten Knochen ein kontrollierbares Szenario aus, das manchmal in einem blitzenden Knall gipfelte, meist aber nur jämmerlich zischte und dann tropfend verpuffte. Das Scheitern war programmiert, nicht wahr, deswegen konnten sie sich genauso gut einen Spaß daraus machen und ihm wieder und wieder ins mürrische Gesicht lachen, voll höhnischer Freude und so laut und so oft wie möglich. Ihre Zukunft war vorgezeichnet und passte auf einen winzigen Zettel. Wie schon die ihrer Eltern und der Eltern ihrer Eltern und der Eltern der Eltern ihrer Eltern und so weiter; warum sollte sich ausgerechnet jetzt etwas ändern? Wie gut oder wie schlecht sie in der Schule abschnitten, würde absolut keine Rolle spielen. Tagein, tagaus an einem Tisch in diesem oder jenem Klassenzimmer zu sitzen, auf alles zu lauschen und es sich einzuprägen war eine komplette Zeitverschwendung, die reinste Farce, sie mussten da nicht mitmachen, sie brauchten nicht so gehorsam, fleißig und stumm zu sein wie ihre Eltern und die Eltern ihrer Eltern und die Eltern der Eltern ihrer Eltern, denn die Lehrer hatten keine Macht mehr über sie. Einen harten Tafelwischer quer durch den Raum schleudern, bis er einen Kopf trifft, zehn Schläge auf den Hintern mit einem Rohrstock oder zwanzig mit einem Lineal auf die nackten Handflächen – die willkürliche Austeilung solch plumper körperlicher Strafen war schon seit Jahren verboten. Dauerhaft für Ordnung sorgen konnte nur, wer die Schüler zur Eigenverantwortung überredete und das Stillsitzen und Aufpassen zu ihrer persönlichen Aufgabe erklärte, was aber nur funktionierte, wenn sie glaubten, dass sich dadurch etwas bewirken ließ, nicht wahr, und deshalb wurde ihnen immer wieder gesagt, dass ihre Möglichkeiten grenzenlos wären und sie alles erreichen könnten, solange sie sich nur anstrengten; immer wieder wurde betont, dass die Stadt, in der sie lebten, die am schnellsten wachsende in ganz Europa war, in ganz Europa, und die Perspektiven, die sich ihnen eröffneten, folglich real und unbegrenzt waren, hoch und noch höher hinaus, und natürlich gab es einige wenige, die auf dieses weichgespülte Geschwätz hereinfielen, bereitwillig irgendwelchen wirklichkeitsfremden Fantasien nachhingen, hanebüchene Ziele anstrebten und sich gern anpassten, die kleinen Eierköpfe, und wohnten diese wenigen nicht ohnehin schon in Einfamilienhäusern am Ende von gewundenen Vorortsackgassen? Die große Mehrheit aber wollte partout nicht darauf hereinfallen, und so waren die meisten Unterrichtsstunden von Anfang bis Ende eine Katastrophe. Deshalb war jede Lehrkraft gezwungen, sich für den Fall, dass im Klassenraum alles aus dem Ruder lief, eine Methode zu überlegen, um die mutwillige Nachlässigkeit der Schüler zu stoppen und ihnen etwas Disziplin einzutrichtern, wie kurzlebig auch immer. Meistens lief das nicht ohne Gebrüll ab, oftmals begleitet von Schlägen auf das Pult. Zum Brüllen musste der Lehrer, ohnehin schon am Ende seiner Kräfte, sich natürlich von seinem Platz erheben, und während er brüllte, tastete er blindlings nach etwas Werfbarem; aber weil er keinen Tafelwischer und auch sonst nichts auf die Klasse schleudern durfte, konnte er den gefundenen Gegenstand nur auf das Pult knallen, wieder und wieder, was für sich genommen aber schon recht kathartisch wirkte und ziemlich oft für leicht betretenes Schweigen sorgte, auf das eine kurze, himmlische Ruhe folgte. Einer der Lehrer brüllte nur ungern. Vielleicht konnte er nicht; nicht jeder ist dafür gemacht. Er war groß, hatte einen weichen Bart, blaue, klare Augen und eine Vorliebe für Tweed. Er sah aus wie ein Schweizer oder wie ein Mann aus der Viktorianischen Zeit. Sprich, wie jemand, der nach draußen an die frische Luft gehört und im Mai zu ausgiebigen, gemächlichen Wanderungen über schöne Hügelketten aufbricht, bei denen er immer wieder innehält, um eine Blume, einen Schmetterling oder eine Flechte zu zeichnen. Dort hätte er sein sollen, hoch oben bei den blühenden Edelweiß, nicht hier unten im Klassenzimmer, wo Blödmänner mit brennenden Daumen herumliefen und sich Tesafilm um den Kopf wickelten. Der Lehrer hieß Aitken, und seine einzige Disziplinarmethode bestand darin, die Hand zu heben. Er sagte nichts, er stand nicht einmal auf. Er blieb einfach sitzen, stützte die Ellenbogen auf das Pult, hob einen Unterarm, für gewöhnlich den linken, und kehrte der Klasse die Handfläche zu. Seine Finger waren geschlossen. Lange, wohlgeformte Finger. Spitz zulaufende Finger. Geschickte Finger. Wie gemacht dafür, Brombeerranken von Kleidung zu zupfen und kleinere Dinge aus dem Gras aufzulesen. Angesichts dieser merkwürdigen Geste brachen die Schüler in Gelächter aus. Sie eilten zu ihrem Platz zurück, setzten sich rittlings auf ihren Stuhl und hoben ebenfalls die Hand. »Howgh«, riefen sie, »howgh!« Wieder und wieder, mit tiefer, getragener Stimme, und dann hob ihr Kriegsgeheul an: Sie legten den Kopf in den Nacken, jaulten und johlten und schlugen sich dabei auf den Mund. Aber Aitken sagte immer noch kein Wort. Unbeweglich und in geschmeidigem Tweed saß er da und zeigte der Klasse die Handfläche wie ein Friedensangebot, und seine wissenden Augen leuchteten vor erhabener Nachsicht. Manchmal schien der Klamauk ihn zu amüsieren. Fühlte er sich dazugehörig? Denn schließlich war es seine knappe und gleichzeitig ausdauernde Geste, über die sie sich so lustig machten. Nachahmung kann boshaft sein, aber wenigstens nimmt sie die Anwesenheit des Nachgeahmten zur Kenntnis. Der rätselhafte Humor der selbstgemachten Streiche grenzte ans Unverständliche und das eskalierende Lachen war verwirrend, wenn nicht gar verstörend, doch immerhin war der Lehrer hier in den Witz eingeweiht. In der Tat sah es manchmal so aus, als lächelte er hinter seinem weichen Bart. Zog er eine Grimasse, machte er gute Miene zum bösen Spiel? Oder trieben sie ihn langsam in den Wahnsinn? Wie schon Frau Floyd. Frau Floyd. Wo war sie hin? Eines Morgens war sie noch da gewesen wie seit Jahr und Tag mit ihrem ständigen der, die, das, aber dann war sie plötzlich weg und wurde nie wieder gesehen. Frau Floyd. Streng, humorlos, mit viel Holz vor der Hütte und – deutsch, jawohl. Die Klasse hatte einen Heidenspaß. Ihr kleinen Scheißer. Ihr Penner. Gebt die verdammten Bücher zurück! Aber die Schüler gaben die Bücher nicht zurück, nicht freiwillig. Sie mussten geschmiert werden. Und so kam es, dass der Fachbereich am Ende des Schuljahres versuchte, die zu Beginn des Schuljahres ausgegebenen Bücher wieder einzusammeln, indem er für jedes zurückgegebene Buch einen anständigen Schokoriegel versprach. Bis die Taktik verfing, dauerte es eine ganze Weile – zunächst waren die Jugendlichen misstrauisch und vermuteten irgendeinen Haken. Ihre Vorbehalte wurden erst durch den Anblick einiger unerschrockener Mitschüler zerstreut, die in der Pause lässig mit einem Twix wedelten. Da konnten die kleinen Scheißer ihre Bücher natürlich gar nicht schnell genug zurückgeben. 

In einer Mittagspause, sagen wir an einem Mittwoch, trafen sich fünf oder sechs Mädchen in einem Klassenraum im Erdgeschoss des Englischtrakts und besprachen eine Präsentation, die sie in der darauffolgenden Woche vor der Klasse halten sollten. Sie schoben zwei Tische zusammen und setzten sich daran, und eins der Mädchen war ich. Was weiß ich noch über das Mädchen am Tisch, das später ich sein würde? Ich weiß, dass es lieber allein an der Präsentation gearbeitet hätte. Vielleicht hatte es den Lehrer sogar darum gebeten. Manchmal erlaubte Mr Burton eine Einzelarbeit, aber er konnte nicht jedes Mal nachgeben, egal, wie sehr das Mädchen litt und unabhängig davon, dass es in Einzelarbeit etwas Beeindruckendes zustande gebracht hätte. Das wusste er selbst, aber was sollte er machen – ich muss bestätigen können, sagte er, dass du in der Lage bist, gut mit anderen zusammenzuarbeiten. Aber ich konnte nicht gut mit anderen zusammenarbeiten. Gut mit anderen zusammenzuarbeiten bedeutete, den Mund zu halten, es sei denn, man hatte etwas absolut Belangloses zu sagen. Wenn ich es wagte, einen hilfreichen Vorschlag zu machen, war die Gruppe automatisch dagegen; anscheinend war ich nicht halb so schlau, wie ich glaubte, und die anderen waren immer sehr bedacht darauf, es mich spüren zu lassen. Es war seltsam, ohne den Rest der Klasse in dem Unterrichtsraum zu sitzen. Ohne Mr Burton. Wir fühlten uns wie Schiffbrüchige. In dem Raum gab es nichts als kalte Möbel und stagnierendes Denken; hier kreativ zu sein, gestaltete sich schwierig. Ich hatte keine Lust, lange zu bleiben. Es würde sowieso nichts dabei herumkommen. Anscheinend wollte niemand etwas sagen. Die wenigen Wortbeiträge waren vage und unzusammenhängend, die Diskussion stockte und nichts fesselte unsere Aufmerksamkeit. Schon nach kurzer Zeit wurden wir unruhig, und tatsächlich schien es, als würde die Situation bald ins Unangenehme kippen. Ich merkte, wie zwei oder drei Augenpaare mich fixierten, aber obwohl ich viele Ideen hatte, hielt ich lieber den Mund. Alles andere hätte sich einfach nicht gelohnt. Wahrscheinlich hatte ich nur eine einzige Idee, eine ziemlich naive Vision davon, wie die Präsentation ablaufen könnte, von der Stimmung, dem Ton, von der Auflösung am Schluss und so weiter. Mehr als einmal hatte ich versucht zu erklären, wie das Ganze funktionieren könnte, aber sobald ich meine Überlegungen laut aussprach, ergaben sie offenbar keinen Sinn mehr, ich erinnere mich sogar an ein bestimmtes Mädchen, das mich, während ich versuchte, meine Gedanken in Worte zu fassen, hasserfüllt ansah, was meiner Idee nicht gerade förderlich war. Manchmal frage ich mich, ob sich hinter meinem Hang zu abstrusen Ideen so etwas wie eine passive Aggressivität verbarg. Zu einer Seite des Raumes gab es ein breites, bodentiefes Fenster, von dem aus man über einen großen, asphaltierten Platz auf ein anderes Gebäude blicken konnte, wo sich die Umkleiden, die Aula und die Cafeteria befanden. Links vor dem Fenster standen ein paar dünne Bäume. In meiner Erinnerung tragen sie keine Blätter. In der Schule hatte ich oft ein mulmiges Gefühl. Einmal war während des Physikunterrichts, der Lehrer führte gerade einen Van-de-Graaff-Generator vor, meine Periode auf den Hocker durchgesickert. In der Mitte der hölzernen, lackierten Sitzfläche befand sich ein schmales Handloch; das Blut verteilte sich beunruhigend schnell auf dem Lack und tropfte dann durch das Loch auf den Boden. Ich hatte meine Periode erst wenige Male bekommen und gerade erst angefangen, Tampons zu benutzen, und diesen einen Tampon hatte ich offensichtlich zu lange getragen. Ich flüsterte dem Mädchen neben mir zu, dass ich auslief, und ohne den Blick von der haarsträubenden Metallkugel des Generators zu nehmen, steckte sie mir etwas aus ihrer Tasche zu, das ich zusammenknüllte und im Ärmel meiner Strickjacke verschwinden ließ. Ich hob eine Hand, die mit dem leeren Ärmel, und bat um die Erlaubnis, zur Toilette gehen zu dürfen. Der Lehrer sah mich über den Rand seiner Brille hinweg an und neigte auf gewohnt mürrische Weise den allmächtigen, seltsam elastisch aussehenden Kopf. Sein mürrisches Nicken erleichterte mich, bedeutete es doch, dass alles wie immer war. Dass niemand außer dem Mädchen neben mir die kleine Blutlache am Boden bemerkt hatte, warm und menschlich und direkt unter meinem Holzstuhl.