Teich - Claire-Louise Bennett - E-Book
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Teich E-Book

Claire-Louise Bennett

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Beschreibung

Vom Geheimtipp zur weltweit gefeierten literarischen Sensation. Claire-Louise Bennett erzählt vom Alltag in einem einsamen Cottage an Irlands Westküste und verwandelt persönliches Erleben in soghafte Sprache. „Eines der sensationellsten Debüts des Jahres.“ (Colum McCann).

Sie lässt alles hinter sich – Freund, Job, Karriere - und zieht in ein kleines irisches Küstendorf. Sprachmächtig und fesselnd zeichnet Claire-Louise Bennett das Porträt einer jungen Frau, die allein in einem hundert Jahre alten Steincottage lebt - mitten in der Natur, abseits von den Zwängen der Gesellschaft. Ein Rückzug, der die Wahrnehmung schärft und den Blick auf die Welt verändert, dem Profanen eine besondere Schönheit entlockt. Mitreißend und kunstvoll beschreibt Claire-Louise Bennett ihren Alltag und zeigt, wie kleine Dinge mit einem Mal eine ungeahnte Tiefe gewinnen, wenn man auf alles Überflüssige verzichtet und die Welt auf sich wirken lässt.

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Seitenzahl: 189

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Claire-Louise Bennett

Teich

Aus dem Englischen von Eva Bonné

Luchterhand

Die englische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Pond« bei The Stinging Fly Press, Dublin.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2015 Claire-Louise Bennett

Copyright © der deutschen Ausgabe 2018 Luchterhand Literaturverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: buxdesign | München unter Verwendung eines Motivs von © Nora Reza;

Blue Window, 2007-08 (oil on canvas) / Bridgeman Images

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-641-21292-6V002

www.luchterhand-literaturverlag.de

www.facebook.com/luchterhandverlag

www.twitter.com/luchterhandlit

Aus der höchsten Freude tönt der Schrei des Entsetzens oder der sehnende Klagelaut über einen unersetzlichen Verlust. [Dann] bricht gleichsam ein sentimentalischer Zug der Natur hervor, als ob sie über ihre Zerstückelung in Individuen zu seufzen habe.

Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie

Aber konnte vielleicht jede Wohnung mit der Zeit zu einer Höhle werden? Und mich in ihrem wohltuenden, lauen, beruhigenden Halbdunkel aufnehmen?

Natalia Ginzburg, Nie sollst du mich befragen

Die Wölfe im Schneckenhaus sind grausamer als die streunenden.

Gaston Bachelard, Die Poetik des Raumes

Inhalt

Inhalt

Reise im Dunkeln

Morgens, mittags, abends

Gleich als Erstes

Der große Tag

Wunschdenken

Um kurz vor sieben

An einen unbekannten Gott

Vor zwei Wochen

Pfannengericht

Letzte Hand anlegen

Kontrollknöpfe

Postkarte

Das tiefste Meer

O Tomatenmark!

Morgen, 1908

Mit bloßen Händen

Aus & vorbei

Wörter entfallen mir

Die Dame des Hauses

Bekanntes Terrain

Reise im Dunkeln

Als Erstes fiel uns auf, wie gut du aussahst. Und dass sich in den Hauptfenstern deines Hauses die Glut der untergehenden Sonne spiegelte. Eines Abends, wir kamen gerade von den Wiesen draußen zurück, war der Effekt so dramatisch, dass wir dachten, deine Zimmer stünden in Flammen. Nichts taten wir lieber, als den rasselnden Kies der Einfahrt zu harken, auf einen der makellosen Bäume am Wegesrand zu klettern und zu warten.

Irgendwann hörten wir dann das Motorendröhnen im Tal, gefolgt von einer nervenzerreißenden Stille, in der wir die Füße baumeln ließen und an deine Hände am Lederlenkrad dachten, links und rechts. Dabei waren wir nur Mädchen, kleine Mädchen an der Schwelle zum Erwachsenwerden; lange würden wir keine kleinen Mädchen mehr sein. Die beiden anderen waren mit ihren leeren Luftballonstäben am Bach zurückgeblieben, während ich nun über die Mauer in deinen Ziergarten kletterte, auf den zum Spielen völlig untauglichen Rasen niedersank, die zartlila Muschelschale – meinen kostbarsten Besitz – fest umklammerte und einschlief.

Morgens, mittags, abends

Hin und wieder passt eine Banane ganz gut zum Kaffee. Allerdings darf sie nicht zu reif sein – die Schale braucht genau genommen noch einen Hauch von Grün. Andernfalls kann man es vergessen. Wobei das zugegebenermaßen leichter gesagt ist als getan. Äpfel kann man eine Zeit lang liegen lassen, Bananen nicht. Ihnen bekommt das Vergessenwerden kein bisschen. Sie schrumpeln, riechen faulig und werden schwarz.

Haferkekse passen ebenfalls ganz gut dazu, aber nur die groben; grobe Haferkekse schmecken sogar hervorragend zu einer Banane. Die sollte dann allerdings leicht gekühlt sein, über Nacht im Kühlschrank beispielsweise, falls man zu den vorausschauenden Leuten gehört, die sich schon am Vorabend Gedanken um ihr Frühstück machen; oder man legt sie, und das ist noch besser, einfach in eine schön kalte Fensternische in die Schale nur für Obst.

Eine herrlich breite, tiefe Fensternische, ohne Holzbrett und aus nackten, kalten Ziegeln. Eine Fensternische, die so breit ist, dass sie selbst mit drei ziemlich großen Obstschüsseln nicht vollgestellt wirkt. So macht es wirklich Spaß, die Einkäufe aus der Fahrradtasche zu nehmen und in den Schalen am Fenster zu arrangieren. Auberginen, Kürbis, Spargel und kleine Kirschtomaten sehen zusammen sehr edel aus, es wäre überhaupt kein Wunder, wenn jemand sich spontan berufen fühlte, Pinsel und Palette zu holen und die exotische Patina der erlauchten Gemüseversammlung abzubilden, die da in der schön kalten Fensternische liegt.

Birnen sind weniger gesellig. Birnen sollten immer klein sein und in einer eigenen Schale flach nebeneinanderliegen. Man könnte noch einen pflückfrischen Stiel Johannisbeeren dazugeben, der allerdings den Birnen nicht wie ein Kranz umgelegt, sondern nur locker drapiert wird, sodass einige der scharlachroten Beeren in die sich langsam verschiebenden Zwischenräume kullern können.

Bananen und Haferkekse sind am Morgen übrigens ein guter Ersatz für Porridge, wenn der richtige Zeitpunkt, sich an den Herd zu stellen, verstrichen ist. Etwa, wenn man einen Nachbarn belauschen oder Handtücher falten musste und der Tag plötzlich so weit fortgeschritten ist, dass ein Porridge als bedrückender Rückschritt aufgefasst würde, als graues Mahl aus der Unterwelt. Höchstwahrscheinlich käme gleich beim ersten Löffel ein dumpfer Unmut zum Vorschein, der einen dann für den Rest des Tages begleitet und sich gegen vier Uhr nachmittags an einer zufällig anwesenden Person entlädt. Genau genommen an einer bestimmten Verhaltensweise dieser Person, einer immer schon irritierenden Angewohnheit zum Beispiel, die sich nun mühelos aufblasen und zuletzt zur Hauptursache für diesen unheimlichen, seit jenem ersten Löffel Porridge anschwellenden Unmut erklären lässt.

Ein Klecks schwarze Johannisbeermarmelade mitten auf dem Porridge kann ganz schön aussehen, ehrlich gesagt macht er sogar einiges her. Dazu ein paar gehobelte Mandeln. Doch Obacht, Obacht bei den gehobelten Mandeln: Für mürrische oder zimperliche Gemüter sind sie nichts, und sie dürfen keinesfalls wie Konfetti über das Porridge geworfen werden, denn Mandeln haben mit Konfetti nichts gemein. Nein, die Mandelhobel sollten einander nicht berühren, sondern vielmehr wie bei einer russischen Pavlova ganz locker hier und da verteilt werden, nur dann sehen sie hübsch und unverfänglich aus. Wenn man hingegen eine Handvoll Mandelhobel einfach wahllos verstreut, erinnern sie an Fingernägel, die sich gerade aus der Erde bohren.

Schwarzblaue Marmelade und leichenbleiche Fingernägel, die langsam in den weichen Haferschleim sinken! In letzter Zeit höre ich Ravel zum Frühstück, immer wieder eine äußerst passende musikalische Untermalung. Und so beginnt derzeit also mein Tag, mit minimalen Abweichungen.

Mit meinen Nägeln ist übrigens alles bestens, vermutlich waren sie nie gepflegter als jetzt. Wer es genau wissen will: Letzten Mittwoch nach dem Mittagessen habe ich sie lackiert, in der Küche, und die von mir dort in der Küche aufgetragene Farbe nennt sich »Hochlandnebel«. Ein schöner und, wie sich herausgestellt hat, sehr passender Name. Denn der Naturton meiner Nägel wird nicht ganz überdeckt und ist unter dem Lack noch schwach sichtbar, an den weißen wie an den rosa Stellen. Im Laufe der Zeit ist die Lackschicht nicht abgesplittert, sondern lediglich etwas dünner geworden, sodass man jetzt nicht nur den weißen und den rosa Teil des Nagels sehen kann, sondern auch den Dreck darunter. Durch den Nebel, der selbstverständlich die Farbe von Heidekraut hat, kann ich den Kohlenstaub unter meinen Nägeln sehen. Wären die Nägel nicht lackiert, würde der Schmutzrand einfach nur ungepflegt wirken; doch die sich auflösende Schicht Hochlandnebel beschert mir völlig neue Assoziationen beim Betrachten meiner Hände. Plötzlich scheinen sie einem bezaubernden, gebildeten Menschen zu gehören, der sich aus einem klammen, muffigen Erdloch befreien musste, in das er niemals hätte hineinfallen dürfen. Die Vorstellung gefällt mir, sie gefällt mir sogar sehr.

In der Tat wäre es gar nicht so abwegig zu behaupten, dass ich so aussehe und mich manchmal auch so gebe wie jemand, der etwas im Garten anpflanzt. Damit will ich sagen, dass ich als bodenständig durchgehen könnte. Die Wahrheit ist jedoch, dass ich mich nie fortgepflanzt habe und mich nicht sonderlich für Gartenarbeit interessiere. Ja, es stimmt, neben der Haustür steht ein Übertopf mit leuchtend grüner Petersilie, aber die habe ich kein bisschen selbst gezogen. Ich habe sie als ganze Pflanze in einem nahe gelegenen Supermarkt gekauft, das kompakte Geflecht aus Wurzeln und Erde aus der Plastikschale gezogen und in den Übertopf neben der Tür gestopft.

Früher, vor ein paar Jahren, als ich noch in der Nähe des Kanals wohnte, hatte ich vom Schlafzimmerfenster aus freien Blick auf ein idyllisches Stückchen Land, das von den Gärten parallel verlaufender Häuserzeilen eingeschlossen und somit verführerisch unzugänglich war. Es zu betreten schien unmöglich, bis mich eines frühen Morgens eine Katze direkt hinführte. Auf der Flucht vor mir schlug sie einen spitzen Haken und verlor dabei einen gefolterten Zaunkönig, den ich nur noch wiegen und zusammenfalten konnte. Der Zaunkönig hatte wochenlang hoch über mir gesungen, wenn ich morgens beim Briefeschreiben in der Sonne gesessen hatte, und verständlicherweise schrie ich vor Schreck, als ich ihn da stumm und verstümmelt im Moos unter der Ligusterhecke liegen sah. Ich war so wütend, am liebsten hätte ich mir die Katze geschnappt und ihr stinkendes Hinterteil in siedendes Öl getaucht. Fauchen sollst du, kleines Miststück. Aber egal. Ich fand mich in dem Garten wieder, der von niemandem benutzt oder besessen wurde, und weil ich einmal da war, beschloss ich wiederzukommen. So lief es, als ich ein Kind war, und grundsätzlich hatte sich seither wohl nicht viel geändert.

Ich stellte Nachforschungen an, hatte aber nicht bedacht, dass die Leute, anders als bei einem Kind, hellhörig werden würden. Schon bald musste ich einen unverfänglichen Grund erfinden, warum ich wissen wollte, wem das Stück Land gehörte und ob ich es gelegentlich betreten dürfe. Bestimmt ließe sich da ganz wunderbar Gemüse anbauen, sagte ich. Obwohl ich mich niemals fürs Gärtnern begeistert hatte und meine Anfrage ziemlich vage formuliere, nahm man meinen Vorschlag ernst. Wie sich herausstellte, gehörte das Grundstück der katholischen Kirche, deshalb schickte man mich zu dem großen Haus an der Ecke, wo der für die Gemeinde zuständige Pastor wohnte. Auf diese Entwicklung war ich nicht vorbereitet gewesen, ehrlich gesagt hatte ich keinerlei ernsthafte Absichten bei der ganzen Sache gehegt. Wahrscheinlich fand ich einfach den Gedanken zu verlockend, einen abgelegenen Ort ganz für mich allein zu haben und hin und wieder dort herumzustehen, in meinem geheimen Garten sozusagen. Aber ich hätte niemals den Mund aufmachen sollen, denn wie immer war ab dem Moment alles verdorben und überhaupt nicht mehr so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Gleichzeitig nahm die Sache einen so unvorhergesehenen und absurden Verlauf, dass ich mich fügen musste.

Der Pastor war angenehm gleichgültig und erwähnte Gott kein einziges Mal. Zwar betonte er das Wort Spende auffällig oft, doch ich zuckte dabei nicht einmal mit der Wimper. Wo wohnen Sie?, fragte er. Da drüben, sagte ich und deutete zu einem Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite hinüber. Er schaute nicht in die angezeigte Richtung, anscheinend reichte es ihm, dass meine Wohnung in Sichtweite war, und dann kamen wir zu einer Übereinkunft. Ich kann mich an die Einrichtung des Pastorenhauses nicht erinnern. Die Tapete im Flur war vielleicht lindgrün. Könnte sein, dass ich nicht weiter hineingegangen bin als bis in den Flur. Möglicherweise stand ich auch vor der Haustür und schaute nur in den Flur hinein, und dann hinunter auf die Kunststoffstufe zu meinen Füßen. Ja, so war es; der Mann trug Turnschuhe.

Eine ausreichend große Fläche zu jäten und ein Kartoffelbeet anzulegen, ist harte, monotone Arbeit, außerdem war der Frühlingsanfang in der Gegend eher unangenehm warm, ganz besonders in jenem Jahr. Ich weiß nicht mehr genau, was mich dazu trieb, jeden Tag in der Hitze zu stehen und dickes, struppiges Unkraut zu entwurzeln. Ich hielt oft inne, stand reglos da und fragte mich, welchen Träumen mein Geist gerade nachhing, konnte mich aber nur selten an etwas erinnern. Ich war verwirrt, aber die anderen wussten zum ersten Mal genau, was ich tat. Es war ihnen sonnenklar. Ich kehrte nach Hause zurück, lehnte die Gartengeräte an die Wand, ging hinein und wusch mir die Hände, und jeder, der mich dabei sah, wusste, was ich tagsüber getan hatte. Ich glaube, zu jener Zeit waren die Nachbarn – mit wenigen Ausnahmen – überraschend freundlich zu mir.

Wie in fast allen Bereichen des Lebens, in denen Erfolg messbar ist, entwickelte ich auch hier keinen Ehrgeiz und entschied mich schon bald für pflegeleichte Gemüsesorten. Kartoffeln, Spinat und Dicke Bohnen. Das war’s. Das reichte. Man erzählte mir, es sei ein Kinderspiel, Zucchini, Kürbis und Karotten anzubauen, aber eigentlich hatte sich für mich nichts geändert: weder war ich über Nacht zur Gärtnerin geworden, noch wollte ich wie eine behandelt werden. Kurze Zeit später, die Pflanzen machten sich ganz gut, wurde ich eingeladen, an einer bedeutenden Universität jenseits des großen Wassers über ein Thema zu sprechen, das mich wirklich sehr interessierte, wenn auch aus ungesunden Gründen. Damit will ich sagen, dass mein Interesse viel zu persönlich war, streng genommen gar nicht wissenschaftlich. Meine Methodik war angeblich nostalgisch und mein Ansatz geradezu naiv. Ich hatte keine der gängigen akademischen Regeln beachtet, die ich ohnehin nicht verstand, und stattdessen planlos den Literaturkanon der westlichen Welt geplündert, um eine These zu belegen, an die ich mich leider nicht mehr erinnern kann. Irgendwie ging es um Liebe. Um die zwangsläufige Brutalität der Liebe. Um jene ungestümen Seelen, die sich der Liebe als Mittel zur totalen Selbstaufgabe bedienen. Ja, genau. Ich wollte zeigen, dass die Liebe in der Literaturgeschichte durchweg als ein verzehrender Prozess ekstatischen Leidens dargestellt wird, der uns auslöscht. Am Ende bleibt nur das Vergessen. Amputiert, abserviert. Etwas in der Art. Etwas in der Richtung. Ich bin verrückt nach dir. Ich verliere noch den Verstand. Meine Seele verzehrt sich nach dir. Ich brenne für dich. Es gibt nichts mehr, nichts außer dir. Ohne dich bin ich hoffnungslos verloren. Etwas in der Art. Ich glaube, es kam nicht so gut an.

Genau genommen wurde meine These als eher bieder aufgenommen, und ich weiß noch, dass ich mich trotz meiner neuen Blümchenbluse plötzlich miesepetrig fühlte, geradezu gruftig. Unterm Strich wollte ich wohl nur sagen, dass die Liebe in der Tat einen teuflischen, göttlichen Zerfall des Selbst bedeutet, und dass ihre künstlerische Darstellung in den meisten Fällen gar nicht ungewöhnlich und haarsträubend genug sein kann. Im Werk des Dramatikers, den die Tagung vorgeblich neu bewerten sollte, verbarg sich furchtbar viel Gewalt, die im Großen und Ganzen und bis dahin immer nur als dramaturgische Strategie rezipiert worden war. Es ging darum, das Publikum zu schockieren, was ich nie wirklich glauben konnte; denn was um alles in der Welt soll an Gewalt schockierend sein? Um eine Sprache der Liebe herauszuarbeiten, die die grässliche, mit dem Verlangen nach einem anderen Menschen einhergehende Entfesselung beschreibt, hatte ich, wie ich zugeben muss, in der Tat nicht nur auf Sappho, Seneca, Novalis, Roland Barthes, Denis de Rougement und den niederländischen Kulturhistoriker Johan Huizinga Bezug genommen, sondern mir auch Texte von PJ Harvey und Nick Cave angeschaut. Ich wollte aufzeigen, dass das Verlangen zu sterben mindestens so stark ist wie der Wunsch nach Selbstbehauptung, manchmal sogar stärker. So tief wie Tinte und schwarz, schwarz wie das tiefste Meer.

Danach schlenderten die Leute umher oder standen nickend in Grüppchen beisammen. Ich überlegte noch, durch welchen der Ausgänge ich am schnellsten verschwinden könnte, als mich eines der akademischen Schwergewichte ansprach und meinen Vortrag bewertete. Das alles ist übrigens viele Jahre her. Ich weiß nicht genau, warum ich es jetzt erzähle, da es doch ein wenig vorteilhaftes Licht auf mich wirft. Ich weiß nicht mehr genau, was er zu mir sagte, aber es war äußerst herablassend, und ich erinnere mich noch sehr deutlich daran, dass ich dachte: Warum kippst du nicht einfach um? Warum verhedderst du dich auf dem Weg zur Tür nicht in irgendwelchen Monitorkabeln, warum schlägst du nicht mit dem Kopf gegen die harte Kante des Tisches, an dem ich eben noch gesessen und meinen ach so niedlichen Vortrag gehalten habe? Zieh dir doch einfach eine kleine Platzwunde zu, aus der ein paar Tropfen Blut quellen. Ein winziges Rinnsal bloß, damit du nicht ernstlich verletzt aussiehst, sondern einfach nur dumm und irgendwie unseriös. Vielen Dank, sagte ich. Ich spürte schlagartig eine Kälte im Rücken und vermutete eine offene Tür hinter mir. Ich drehte mich um und ging los, und tatsächlich, der Untergrund veränderte sich und wurde nass. Der Parkplatz war praktisch leer und roch nach alten Geschirrtüchern.

Vielleicht sollte ich erwähnen, dass ich zu der Zeit bei einer Frau wohnte, die ich ein Jahr zuvor in London kennengelernt hatte. Sie war eine begnadete Wissenschaftlerin. Ihre Fähigkeit, auf alles, was gerade passiert oder gesagt worden war, etwas Mitreißendes entgegnen zu können, beeindruckte mich schwer. Wie jemand spontan und unter beliebigen Umständen so ausnahmslos wohlgeformte und zweifelsfreie Gedanken absondern konnte, war mir schleierhaft. Sie teilte sich ein Reihenhaus mit einigen anderen Doktoranden, einer davon war ein richtiger Macho. Eines späten Abends, als meine Freundin schon im Bett lag, kam er ins Wohnzimmer, wo ich mit einem dicken Buch auf den Knien saß, und schob mir eine Wärmflasche unter die Füße. Wir haben uns nicht geküsst, das kam erst danach, ein paar Wochen später. Davor flog ich nach Hause, wir schrieben uns ein paar Mails, und plötzlich mussten wir einander dringend wiedersehen. Also flog ich zurück, und da erst küssten wir uns.

Das alles hat übrigens nichts mit jetzt zu tun. Obwohl ich das mit dem Mann und der Wärmflasche sehr vielversprechend habe klingen lassen, stand die Liaison in Wahrheit unter einem schlechten Stern. Zudem, und das ist wohl weniger überraschend, entwickelte die Aussichtslosigkeit meiner akademischen Bemühungen eine Dynamik von so heimtückischer Wucht, dass ich eines Tages beim Verlassen eines Ladens das Zellophan von einer Zigarettenschachtel zupfte und für etwa eine halbe Stunde im Nirgendwo verschwand. Mein Geld war aufgebraucht; ich hatte meine Mittel so lange strapaziert, bis nichts mehr auf dem Konto war, und nun wusste ich nicht mehr, ob ich nach rechts oder links gehen sollte. Und als ich mich etwa eine halbe Stunde später wieder in Bewegung setzte, war es hauptsächlich, weil ich ständig von irgendwelchen fremden Leuten gefragt wurde, ob der Bus denn schon abgefahren sei. Weiß ich nicht, sagte ich. Weiß ich nicht. Ich wusste es nicht. Es war, als würden die Leute zurückweichen und sich auflösen, und ich blieb allein und absolut planlos zurück – ich glaube nicht, dass ich mich seither jemals wieder so überflüssig gefühlt habe. Endlich stand mir die Sinnlosigkeit meiner Anstrengungen glasklar vor Augen.

Aber die Kartoffeln gediehen trotz alledem prächtig! Ich habe meinen Machofreund viele Male besucht, und den Kartoffeln, dem Spinat und den Dicken Bohnen machte es gar nichts aus. Wenn ich dort war, lag ich manchmal neben ihm im Bett, konnte nicht einschlafen und musste an die Kartoffeln, den Spinat und die Dicken Bohnen denken. Ich reckte die Hände zur Zimmerdecke, spreizte die Finger und spürte eine solche Sehnsucht! Ich konnte mich sehr gut an die Erde erinnern, die dunkel war und roch, als wäre sie nie zuvor umgegraben worden, und an den Kanal in der Nähe, und immer stand über allem der Mond, und manchmal wagten die Spinnen sich ganz kurz vom Netz herunter und nahmen zögerlich Kontakt zu den reglosen Kanten der Dinge auf. Wir verstanden uns nicht besonders gut, was aber unseren Sex nicht beeinträchtigte. Der war unantastbar und unwiderstehlich und ließ alle anderen Aspekte der schwindenden Beziehung eine ganze Zeit lang in den Hintergrund treten. Wir schrieben einander hunderte von lüsternen E-Mails, und mit lüstern meine ich sowohl explizit als auch obszön. Es war herrlich. Ich hatte so etwas noch nie zuvor getan, niemals hatte ich etwas Schlüpfriges geschrieben, das Ganze war mir vollkommen neu, aber ich muss sagen, ich hatte den Bogen ziemlich schnell raus. Ich wünschte, ich hätte die Mails archiviert; ich wünschte, ich wäre nicht ganz so abrupt aus dem Gleichgewicht geraten, als wir uns endlich eingestanden, dass achtzehn Monate mehr oder weniger das waren, was man von einer Beziehung, die hauptsächlich aus begeisterter Kopulation bestand, erwarten konnte. Unsere Korrespondenz, die sich zu dem Zeitpunkt auf etwa zweitausend E-Mails belief, löschten wir vollkommen unüberlegt. Nie wieder werde ich solche E-Mails schreiben können, beziehungsweise nie wieder zum ersten Mal. Und genau das hatte es im Grunde so aufregend gemacht – mich der Sprache auf ungekannte Weise zu bedienen und einen intimen Bereich meiner selbst zu transkribieren, der nie zuvor linguistisch aufgearbeitet worden war. Ich muss schon sagen, es war wirklich schön, sich dann und wann eine Auszeit zu gönnen und, anstatt ein weiteres überladenes Abstract zu den immer gleichen Themen zusammenzuschustern, genauestens auszuführen, wie und wo ich mich um den Verstand vögeln lassen wollte.

Das Ganze war natürlich nicht einseitig. Er hat mich auch besucht, ehrlich gesagt hat er sogar das von mir angebaute Gemüse gegessen und vollkommen zu Recht gelobt. Wir aßen auch Orangen, ziemlich oft sogar – genau genommen wurde der Verzehr von spanischen Orangen zu einer Art Ritual. Nach stundenlangem Sex schmecken Orangen besonders gut. Ihre Säure durchschneidet den Mief und sorgt für geschmackliche Klarheit; man ist wieder in der Lage, einen Plan zu fassen, beispielsweise das Haus zu verlassen und essen zu gehen.

Das alles hängt jedoch, wie ich schon sagte, mit jetzt überhaupt nicht zusammen. Ich weiß nicht, womit es zusammenhängt, ehrlich gesagt weiß ich nicht einmal, was genau es zu bedeuten hat. Ich könnte erzählen, dass ich auf zwei japanische Wandteppiche warte, die ich dieses Jahr in Frankreich gekauft habe, doch selbst das wäre wenig zielführend und könnte am Ende einen falschen Eindruck von mir vermitteln, einen glamouröseren Eindruck, als wäre ich die äußerst wohlhabende und dabei sehr bescheidene Eigentümerin eines geheimen Warenlagers voller exotischer Sammlerstücke und gefragter objets d’art. Das ist leider ein Trugschluss, ehrlich gesagt kann man in diesem Fall kaum von Wandteppichen sprechen. Im Grunde sind es nur zwei in Rahmen gespannte, mit roségoldenen Fäden bestickte alte schwarze Stofflappen. Der eine zeigt zwei Hände, der andere ein eher vage angedeutetes Profil. Soweit ich es beurteilen kann, müssen da ursprünglich viel mehr Stiche und die Bilder entsprechend detailreicher gewesen sein; aus einem mir völlig unverständlichen Grund wurden die meisten Stiche entfernt. Wenn man sich Mühe gibt, kann man noch erkennen, wo der – wahrscheinlich seidene – Faden sorgsam durch den Stoff gefädelt wurde und winzige Löcher hinterließ. Ich fürchte, dass die Wandbilder in ihrer neuen Umgebung nur noch wie zwei eingerahmte Stofflappen aussehen werden, falls sie überhaupt jemals hier ankommen. Angeblich sollten sie um sieben Uhr geliefert werden, inzwischen ist es schon nach halb acht.