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England im Sommer 2014. Die Nacht, in der die schmucke kleine Küstenstadt Crosby im Nordwesten Englands das Verbrechen des Jahrhunderts erlebt. Zum Entsetzen der Einwohner zeigt sich das Gesicht des Verbrechens ausgerechnet auf dem allseits beliebten Kastanienplatz. Das Panther-Team, eine Elite-Einheit der Kriminalpolizei für Verbrechensbekämpfung, macht sich auf die langwierige Suche nach Opfern und Tätern.
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Seitenzahl: 266
Veröffentlichungsjahr: 2016
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„Die Zukunft gehört denen, die an die Wahrhaftigkeit ihrer Träume glauben.“ Eleanor Roosevelt
In diesem Sinne widme ich dieses Buch meiner Familie, die Träume stets zu leben weiss.
-.-.-
England im Sommer 2014. Die Nacht, in der die schmucke kleine Küstenstadt Crosby im Nordwesten Englands das Verbrechen des Jahrhunderts erlebt. Zum Entsetzen der Einwohner zeigt sich das Gesicht des Verbrechens ausgerechnet auf dem allseits beliebten Kastanienplatz.
Das Panther-Team, eine Elite-Einheit der Kriminalpolizei für Verbrechensbekämpfung, macht sich auf die langwierige Suche nach Opfern und Tätern.
Teil 1 – Der Fall
Kapitel 1
Erster Brief
Kapitel 2
Kapitel 3
Zweiter Brief
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Dritter Brief
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Vierter Brief
Kapitel 12
Fünfter Brief
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Sechster Brief
Kapital 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Siebenter Brief
Teil 2 – Die Suche
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Teil 3 – Die Zeitzeugen
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Personenverzeichnis
„Calvin, bist du des Wahnsinns?“ schrie Eric Locklear entrüstet.
„Nein, ich bin mir absolut sicher. Es passt alles zusammen!“ erwiderte dieser in derselben Lautstärke. Caroline Featherstone nickte nur still, während David Kendall noch zwischen Herzinfarkt und Ohnmachtsanfall schwankte.
Gerry Bond versuchte verzweifelt, die schreckliche Wahrheit, die Calvin dem Panther-Team soeben präsentiert hatte, irgendwie doch noch zu widerlegen.
„Nein, Calvin. Nein! Caroline, sag was!“ Eric Locklear tigerte von links nach rechts und fuchtelte mit dem Stück Papier, das Calvin seinen Kollegen vor wenigen Minuten gezeigt hatte, herum. „Sag ihm dass er sich irrt!“
„Das kann ich nicht, Eric. Du siehst doch, wie sich alle Puzzleteile zusammenfügen. Wir müssen es Peter sagen.“
„Ich habe versucht ihn anzurufen, aber er scheint in einem Funkloch zu stecken.“ erwiderte Calvin. „Und ich hab's im Hotel versucht, aber er war nicht da. Der Concierge seines Hotels meinte, die beiden seien zum Sightseeing nach Lochness gefahren. Ich habe ihn darum gebeten, Peter mitzuteilen dass er sofort zurückrufen solle falls er sich melden würde. Ausserdem habe ich ihm eine Sprachnachricht auf dem Handy hinterlassen. Ich hoffe sie kommt durch!“
„Dann fliegen wir eben hin. Heute noch! Packt eure Sachen und dann buche bitte einer einen Flug! Jetzt sofort!“ Gerrys Stimme überschlug sich.
„Denkt ihr...“ Calvin wagte es nicht auszusprechen.
„Calvin, denk nicht! Deine Nerven kannst du ein anderes Mal in den Urlaub schicken. Jetzt brauchen wird dich!“ Caroline wusste, dass Ablenkung jetzt die einzige Möglichkeit war, Calvin vor dem kurz bevorstehenden Nervenzusammenbruch zu bewahren.
„Du rufst New Scotland Yard an und berichtest ruhig und professionell, was vorgefallen ist.“ ordnete sie an.
„Caroline hat recht. Ich kann hier auch nicht sitzenbleiben. Wir informieren New Scotland Yard, die Sache ist einfach zu heiß. Jeder, der mitkommen möchte, geht jetzt sofort seine Sachen packen. Caroline, hast du noch den Nerv, für uns die Flüge zu buchen?“
„Gerade noch, ja. Und ich komme auch mit.“ sagte sie still. Offiziell waren sich die beiden nicht gerade grün, aber die Vorstellung, dass Peter etwas passiert sein könnte, liess sie alle Zwistigkeiten vergessen. Sie hatte Angst um ihn.
Sie erhoben sich von ihren Stühlen und gingen nachdenklich, ein jeder für sich, nach Hause. Sie mussten packen für die wohl schwierigste Reise ihrer Laufbahn.
„Caroline!?“ Calvin blieb noch einmal stehen, „Was, wenn es schon..?“
Die ansonsten so distanzierte Frau blieb stehen und nahm den jungen Kriminalbeamten wie ein Kind in den Arm. „Wir schaffen das, Kleiner. Ganz sicher. Du hast gute Arbeit geleistet.“
Das ist eine Katastrophe!“ rief einer von dutzenden Polizeibeamten einem Kollegen zu, während er fassungslos in ein heilloses Durcheinander von entsetzt kreischenden Schaulustigen und den mit den Pressefotografen konkurrierenden Polizeifotografen starrte. Während er versuchte die Leute zu verscheuchen, auf dass die Polizei ihre Arbeit machen könne, hielt er sich zum Schutz vor dem süsslichen Gestank angewidert ein Tuch vor den Mund.
Matt im Laternenlicht zeigte sich ein Bild des Grauens. Das Grauen, aufgehängt an den starken Ästen des Kastanienbaumes. Der Rauch, der sich nach dem Löschen des Brandes gebildet hatte, lag immer noch penetrant in der Luft und stieg den Anwesenden unaufhaltsam in Nase, Kleidung und Gedächtnis.
Auf der bis anhin so romantisch wirkenden Aussichtsplattform, auf die sich zumeist junge, verliebte Pärchen begaben um ein wenig Zweisamkeit zu geniessen, war im wahrsten Sinne des Wortes die Hölle los.
Man benötigte nur knapp zehn Minuten, um vom Stadtzentrum aus über eine steile Steintreppe nach oben zu kommen. Erst einmal oben angelangt, wurde man mit einem grandiosen Blick über die Stadt belohnt, der an klaren Tagen bis zur Küste reichte. An heissen Sommertagen bot die in der Mitte des Platzes stehende alte Kastanie genügend Schatten für die Menschen von Crosby, welche, zumindest bis zu dieser Nacht, dort gerne ihre Mittagspausen verbrachten.
Besonders den alteingesessenen Städtern war der Kastanienplatz ein liebgewonnener Ort voller Erinnerungen an die Jugend. Noch nie war hier in irgendeiner Form etwas Negatives vorgefallen. Bis heute.
Mit zusammengekniffenen Augen versuchte Peter, das nervenaufreibend laut klingelnde Handy zu ergattern, das irgendwo auf seinem Nachttisch lag.
Er hatte heute keinen Bereitschaftsdienst und es war eine Frechheit, ihn in einer seiner freien Nächte so unsanft aus dem Schlaf zu reissen. Vermutlich handelte es sich, wie schon so oft, um eine kleine Schlägerei am Bahnhof.
„Das hätten die doch auch mal alleine übernehmen können!“ grummelte er wütend vor sich hin, bevor er in einem absichtlich harschen Tonfall „Kommissar Whitman – wer stört?“ den Anruf entgegennahm.
„Peter....äh....Kommissar...nein ich meine...“ stammelte es in den Hörer.
„Calvin, sind sie noch von Sinnen, mich mitten in der Nacht aus meinem wohlverdienten Schlaf zu reissen? Sie wissen ganz genau, dass ich heute keinen Notfalldienst habe und finden sicherlich einen Kollegen der sich – um welche Sache auch immer – kümmern kann! Das ist das Notfallhandy. Für Notfälle!“ donnerte Peter so laut er, schlaftrunken wie er war, konnte. Es war nicht leicht, so einen strengen Ton anzuschlagen, wenn man gerade mitten aus dem Tiefschlaf gerissen worden war.
„K...Ko...Kommissar Whitman...bitte ich...ich bitte Sie zu kommen!“ stotterte dieser weiter.
Jetzt war Peter hellwach. „Der stottert sonst nie. Es scheint tatsächlich ein Notfall zu sein,“ schoss es ihm durch den Kopf.
Calvin Lansburry war ein zwar noch sehr junger Kriminalbeamter, unüberlegtes Handeln gehörte aber definitiv nicht zu seinen Persönlichkeitsmerkmalen. Schliesslich hatte er unter Peters Fittichen seine ersten Berufserfahrungen als Kriminalbeamter in einem hochspezialisierten Team gemacht. Er würde ganz bestimmt nicht ohne einen triftigen Grund mitten in der Nacht anrufen.
Peter hatte ihn durch die Ausbildung begleitet und war seit ungefähr sieben Monaten sein direkter Vorgesetzter, wobei sie mit dem restlichen Team eng zusammen arbeiteten. Er kannte seinen Schützling gut und Calvin war mit seinen knapp 25 Lenzen ein überaus talentierter, intelligenter und vor allem überlegter Mitarbeiter. In die Abteilung „Panther“ kamen denn auch nur die Besten; es war eigentlich nicht üblich, einen Youngster wie Calvin einzustellen.
Man benötigte nicht nur das Fachwissen und die scharfe Intuition eines Kriminalbeamten, sondern auch eine besonders harte Schale. Schliesslich war das hier kein Fernsehfilm mit Happy End, sondern die oft sehr brutale Realität. Ein psychologisches Gutachten mit erhöhtem Anforderungsprofil hatte jeder über sich ergehen lassen müssen, denn psychische Labilität oder ähnliche Anzeichen menschlicher Schwächen wäre in diesem Berufszweig mehr als hinderlich. Calvin hatte alle Tests mit Bravur bestanden und war auch sonst ein überaus angenehmer Kollege.
Aber so aufgebracht wie jetzt hatte Peter ihn noch nie erlebt.
„Calvin,“ raunte Peter, dessen Wut von einem Moment auf den anderen wie weggeblasen zu sein schien, mit ruhiger Stimme: „stammeln sie nicht und formulieren sie in klaren, präzisen Sätzen was vorgefallen ist.“
Dann sprudelte es aus Calvin nur noch so heraus. Fünf menschliche Beine sollten verkohlt an Ketten und Seilen an der alten Kastanie hängen. Diese habe lichterloh gebrannt, weshalb die Feuerwehr gerade mit den mühseligen Löscharbeiten beschäftigt sei. Es sei kein einfaches Unterfangen gewesen, aber sie schienen es trotz der steilen Treppe irgendwie geschafft zu haben, ihre Löschapparaturen auf den Kastanienplatz zu befördern.
„Calvin, die Probleme der Feuerwehr kannst du mir später berichten. Was hängt da an der Kastanie?“
„Fünf Beine. Menschenbeine.“
„Ich bin unterwegs!“ vermeldete Peter, der sich bereits Hemd und Hose übergezogen hatte und mit dem zwischen Ohr und Schulter geklemmten Handy versuchte, die Krawatte zu richten.
Unterhose und Socken erschienen ihm in der jetzigen Situation völlig überbewertet und es würde sowieso kein Mensch etwas davon mitbekommen. Wie denn auch.
Ungestüm wühlte er im halbdunkel über das Möbel im Entree, schnappte sich seine Dienstmarke mit der einen, den obligaten Notizblock mit der anderen Hand und hetzte mit dem Autoschlüssel zwischen den Zähnen aus dem Haus.
„Glück im Unglück“ blitze ein Gedanke in ihm auf, denn wäre er kein 40ig-jähriger Single, hätte er diese Situation sicher nicht so Hals über Kopf in Angriff nehmen können. Dann hätte er sich leise aus dem Bett schleichen müssen, hätte den Anruf flüsternd entgegengenommen und wäre auf Samtfüssen leise aus dem Haus geschlichen, um die Liebste nicht zu wecken. Vielleicht hätte er ihr sogar trotz Zeitdruck noch ein kleines Zettelchen an den Kühlschrank geklebt, damit sie sich keine Sorgen machte. Nun ja, wenn er ehrlich zu sich selbst war, er wäre wohl genau so wie er es immer tat aus dem Hause gehetzt, aber zumindest hätte er sich danach ein schlechtes Gewissen machen können.
Manchmal vermisste er ein bisschen weibliche Wärme in seinem Leben. Jetzt war aber weder der richtige Zeitpunkt, sich der fehlenden Unterwäsche zu widmen, noch der Moment um in rosaroten Gedanken zu verweilen. Es gab einen Notfall.
Zehn Minuten später stand er dann auch schon unten an den Steintreppe, dem einzigen Zugang zum Kastanienplatz.
„Derjenige, welcher für das da oben verantwortlich ist, muss auch diese Treppe hochgestiegen sein.“ notierte er sich pflichtbewusst hinter seine Ohren. Er sah sich noch kurz um. Der grosse Parkplatz, welcher für ungefähr zwanzig Fahrzeuge Platz bot, war mindestens zu zwei Dritteln voll und er überlegte, was all diese Leute um diese Urzeit hier verloren hatten. Schliesslich war es drei Uhr morgens, also mitten in der Nacht! Darüber hinaus sah er ganze Gruppen von Menschen die Treppe zum Kastanienplatz hochgehen oder herunterkommen und sie schienen, wie er den Gesprächsfetzen die er aufschnappen konnte entnahm, bestens über das Ereignis informiert zu sein. Einige hatten Taschenlampen dabei, andere zeigten ihre Prioritäten offen, indem sie der Sensation im Schlafanzug ihre Aufwartung machten. Es war ein seltsames Bild und Peter fragte sich ernsthaft, ob er eigentlich der letzte Mensch auf dem Planeten war, der es zu dieser Stunde aus dem Bett geschafft hatte.
„Sie scheinen exakt das Alarmsystem zu besitzen, das der Polizei noch fehlt.“ dachte er und rannte los. Die Treppe hinauf zum Kastanienplatz, wo Calvin und die anderen schon auf ihn warteten.
Er erreichte keuchend und schnaufend das Ende der Treppe, die er viel zu hastig hochgelaufen war.
„Das kommt davon, wenn man sich nicht altersgerecht verhält.“ schalt er sich selbst.
Vor ihm bot sich ein Bild des Grauens in seiner ganzen, morbiden Pracht dar. Es stockte ihm kurzerhand der Atem, als er seinen Blick über den sonst so friedlichen Kastanienplatz schweifen liess. Trotz der vielen Schaulustigen und einem Grossaufgebot der Polizei war es gespenstisch still. Von der alten Kastanie hingen die Beine und rauchten stinkend vor sich hin. Wenigstens brannte es nicht mehr.
Zwei Panther-Kollegen kamen zusammen mit Calvin angerannt, sich ihre zerfledderten Notizzettelan die Brust haltend. So einen Fall hatte bisher noch keiner von ihnen erlebt. Zwar war das Team das wohl erfahrenste Ermittlerteam im Lande, was die Aufklärung von Kriminalfällen betraf, aber so ein Verbrechen war selbst für sie ein Schock.
Ihre Abteilung behandelte zwischen fünf bis zehn Kriminalfälle landesweit pro Jahr, die man in die Kategorie „Mord und Totschlag à la Hollywood“ hätte einteilen können. Ihre Arbeit bestand meistens darin, einem Fall mit forensischen Untersuchungen, Täterprofilen und Rekonstruktionen des Tathergangs zur Aufklärung und damit zur Festnahme des Täters zu verhelfen. Dazu arbeiteten sie teilweise eng mit New Scotland Yard zusammen, waren aber dennoch als mehr oder weniger autonome Einheit der Kriminalpolizei von Crosby angegliedert.
Das Team wurde für die weiteren Ermittlungen bei Schiessereien, Überfällen, Brandstiftung, Vergewaltigung oder auch Mord gerufen, wobei letztere zumeist aus Habgier oder Familienzwist mittels Gift oder einer Schusswaffe begangen worden waren. Dann übernahmen die Leute von der Spurensicherung die Suche nach brauchbaren Fingerabdrücken, die Ballistiker untersuchten vorhandene Tatwaffen. Peter erstellte dann aus all diesen Hinweisen ein Täterprofil. In 90 % der Fälle konnten Sie den Täter hinter Gitter bringen, das war eine Quote, von der andere Ermittlerteams nur träumen konnten.
Es gab in der Regel einen Täter und ein Opfer, und zwar ein ganzes Opfer. Nicht nur ein paar Beine.
Das Ermittlerteam hatte in enger Zusammenarbeit mit der Stadtpolizei bereits Absperrungen rund um die Kastanie errichtet und quasi nebenbei noch einige zusätzliche Zeugen befragt. Die Leute hatten sich ihnen geradezu aufgedrängt. Kein Wunder, sie hatten vermutlich den Schock ihres Lebens. Nun waren die Ermittler damit beschäftigt, erste Notizen für die Tatortanalyse zu machen.
Peter erkannte von weitem die Kollegen von der Spurensicherung, die mit ihren weissen Gummihandschuhen noch emsig arbeiteten. Es durfte nicht ganz einfach sein, Fingerabdrücke auf einem Baumstamm zu finden...aber das war nicht sein Fachgebiet. Die immer noch am Baum hängenden Beine würden im Anschluss sofort an die Gerichtsmedizin überführt werden. Bis dahin hatte alles exakt so zu bleiben, wie es war.
Calvin wies ihm den Weg durch die Menge, die mit spitzen Ohren und grossen Augen jede Bewegung von all denen verfolgte, die aufgrund der Uniform vermeintlich mehr wussten. Sogar Journalisten kamen angerannt in der Hoffnung, der Neuankömmling hätte Antworten auf ihre Fragen.
„Kein Kommentar.“ Peter winkte ab, wobei er seinen Blick auf den Boden richtete, um von den Kamerablitzen nicht geblendet zu werden.
„Es sind fünf rechte Männerbeine, soviel wissen wir bereits.“ flüsterte Calvin so leise er konnte.
„Fünf rechte Beine?“
„Ja genau.“
„Fünf rechte Männerbeine?“
„Du hast richtig gehört. Caroline sagt das zumindest und du weisst ja, sie irrt sich selten bei so etwas.“
„Ja und wie hat sie das so schnell herausgefunden? Ich sehe hier nur schwarz verkohltes Fleisch, was von Länge und verbliebener Form her ein Bein sein könnte.“
„Anhand der Länge der Beinknochen sowie der Grösse der Füsse hat sie sofort vermutet, dass es sich um Männerbeine handeln muss. Natürlich wird dies im kriminaltechnischen Labor noch verifiziert. Um zu sehen, dass es sich um rechte Beine handelt muss man kein Experte sein, diese Tatsache ist klar.“
„Wieso? Mensch lass es Dir nicht aus der Nase ziehen. Du weisst, dass ich im Fach Anatomie einen Fensterplatz hatte!“
„Peter Du bist in Sachen Leichenteile immer noch eine Memme. Schau doch einmal richtig hin und stell dich nicht so an. Wenn der grosse Zeh links ist, muss es ein rechtes Bein sein. Das ist doch logisch.“
„Und der Rest? Wo sind die Körper und die linken Beine?“
„Keine Ahnung.“ erwiderte Calvin, der Peters gekonnte Überleitung sofort durchschaut hatte, trocken.
„Wir haben einen halb abgebrannten Kastanienbaum, Blutspuren auf dem Kieselsteinboden unterhalb der verkohlten fünf rechten Beine, einen grünen Männerschal und ein Stück Draht. Und wenn ich das noch erwähnen darf mein lieber Peter: Einen Profiler ohne Socken haben wir auch noch.“
„Lansburry, halten sie ihr freches Maul.“ konterte Peter grinsend.
„Was ist hier passiert? Können sie uns etwas über den Fall berichten?“ quatschte ein eifriger Journalist, Peter und Calvin wechselnd ein Mikrophon unter die Nase haltend, dazwischen.
„Kein Kommentar!“ blökten die beiden im Chor zurück. Seltsam, dass die Journalisten immer und immer wieder dieselben Fragen stellen konnten. Bei jedem Vorfall standen sie da und wedelten mit ihren Mikrophonen herum, als ob sie sich eine Chance auf ein direktes Interview von einem Polizisten ausrechneten.
„Okay. Wenn alle mit den Untersuchungen vor Ort fertig sind, bringt die Beine so rasch wie möglich ins kriminaltechnische Labor. Die Forensiker sollen jedem noch so kleinen Indiz nachgehen.“ Peter hatte sich wieder vollständig gefasst.
„Und deckt verdammt nochmal die Leichenteile ab. Macht eine Plane aussen rum wenn ihr noch Untersuchungen durchführen müsst!“
Sie hatten es im Eifer des Gefechtes entweder vergessen oder es angesichts der Tatsache, dass mittlerweile wirklich jeder den grausigen Fund gesehen hatte, unterlassen. Immerhin hatten sie, damit ihnen die Leute zu allem Überfluss nicht auch noch durch den Tatort trampelten, eines dieser knallgelben Absperrbänder rund um den Kastanienbaum gezogen. Zudem hatten sie einige der anwesenden Polizeianwärter mit der Aufgabe beglückt, die vielen Journalisten fernzuhalten.
Peter ergriff die Initiative, wies an, telefonierte, notierte. Eigentlich war das nicht seine Aufgabe, aber er pflegte sich die Informationen, welche sich an Tatorten mit blossem Auge finden liessen, blitzschnell hinter die Ohren zu schreiben. Das war wesentlich weniger umständlich als die Notizzettel. So hatte es sich eingebürgert, dass derjenige, der offensichtlich „nichts zu tun hat“, für die Arbeitsanweisungen zuständig war und den Überblick behielt.
Eine knappe Stunde später hatte die Spurensicherung das ihrige getan und die Beine waren auf dem Weg ins kriminaltechnische Labor. Auch die Schaulustigen verschwanden nach und nach. Es war ein Dienstagmorgen und die Leute mussten zur Arbeit. Die Bilder, die sie in dieser Nacht gesehen hatten, würde sie sicher noch mehrere Tage, vielleicht sogar Wochen begleiten, als Gedankenblitze, als kleine Erinnerungsfetzen gepaart mit einem Hauch erinnerten Schauderns. Ihr Hauptaugenmerk würde sich jedoch bereits in wenigen Stunden wieder auf den alltäglichen Trott mit all seinen kleinen und grossen Problemen richten. Man würde sich über das schlechte Wetter aufregen und ganz besonders über die ständig überlasteten öffentlichen Verkehrsmittel. Diejenigen, die im Dienstleistungssektor arbeiteten, würden sich über die wieder einmal völlig übertriebenen Kundenwünsche den Kopf zerbrechen und sich überlegen, ob man denn nun wirklich vierundzwanzig Stunden erreichbar sein sollte für den Fall, dass bei einem Kunden die Saftpresse nicht mehr richtig funktionierte. Natürlich würde man sich in den Pausen mit seinen Kollegen austauschen über die schreckliche Nacht und berichten, dass man hautnah dabei gewesen war und es geniessen, endlich einmal im Gesprächsmittelpunkt zu stehen. Natürlich nicht, ohne sich dabei mit einem besonders leidvollen Gesichtsausdruck gezwungenermassen an die Bilder zu erinnern, den Kollegen zuliebe.
Peter unterhielt sich noch eine Weile mit seinem Team und liess sich alles berichten, was sie bereits hatten in Erfahrung bringen können. Als erfahrener Profiler wusste er, dass man die Erinnerung dann abholen musste, wenn sie noch frisch war, denn auch bei erfahrenen Kollegen verblassten insbesondere die visuellen Eindrücke bereits nach wenigen Stunden. Danach waren sie unwiederbringlich verloren.
„Die Leute schienen mir aussergewöhnlich ruhig.“
„Ich würde sagen, es war eine Art Schockstarre. Bisher hat keiner etwas gesehen, was uns in der Sache weiterbringen könnte.“
„Gut, wir werden im Laufe der nächsten Tage sicher noch die ein- oder andere Meldung reinbekommen.“
„Seltsam“ grübelte Peter, „mittlerweile weiss doch sicherlich bereits die ganze Stadt, dass irgendwo fünf Personen fehlen. Da müsste doch einer auf die Idee kommen, es könnte sich um einen vermissten Angehörigen handeln. Wir haben doch einige noch ungeklärte Fälle.“
„Ich vermute, das liegt daran, dass keiner auch nur in die Nähe des Gedankens kommen möchte, ein verkohltes Bein von einem seiner Liebsten an einem Baum hängend gesehen zu haben.“
„Genau. Das ist meines Erachtens eine kognitive Vermeidungsstrategie menschlicher Gehirne.“ Caroline hatte ihre altkluge Lösung zur gestellten Frage eingebracht und schien es nicht für nötig zu halten, noch weiter darüber zu diskutieren. Sie musste ohnehin ihrer neuesten Kundschaft, den verkohlten Beinen, ins Labor folgen.
Es war ein seltsames Gefühl, als ich ihn bei seinem letzten Atemzug beobachtete. Kurz überlegte ich, ob ich womöglich doch nicht richtig gehandelt hatte. Ob ich ihn hätte anzeigen sollen. Aber was wäre dann passiert? Hätte man mir geglaubt? Hätten die anderen gegen ihn ausgesagt? Er hat so viel Böses getan, hat so viel Leid über andere gebracht. Es gibt in England keine Strafe, die dem gerecht werden würde, was er getan hat. Selbst wenn ich alles beweisen könnte, was ich ihm vorzuwerfen habe.
Nein, er hat mir nichts getan. Ich habe ihn vor einigen Monaten an diesem Haus vorbeilaufen sehen und wurde auf den lauten Streit, der wohl gerade im Gange war, aufmerksam.
Da er in einer Klasse unter mir war, wusste ich nur weniges über ihn und das war alles wirklich positiv. Abgesehen davon, dass er ein wahnsinnig hübscher Bursche war, war er unter seinen Schulfreunden sehr beliebt. Die Mädchen schwärmten von ihm und wäre es nicht total uncool, als Mädchen auf einen Jüngeren zu stehen, hätte wohl auch ich ein Auge auf ihn geworfen.
Wie dem auch sei, es war nicht das erste mal, dass ich laute Schreie oder Streitereien aus diesem Haus kommen hörte. An diesem Tag habe ich deshalb beschlossen, mir das näher anzusehen. Ich habe mich bis unter das Küchenfenster geschlichen und konnte mit eigenen Augen sehen, was das wirklich für ein Mensch war. Ein Monster. Ich bekam solche Angst, dass ich daraufhin nach Hause gelaufen bin. Wie konnte er so etwas tun? Warum? Und weshalb war das bisher niemandem aufgefallen? Warum unternahm die Familie nichts?
Ich schwöre dir, ich habe versucht mit seiner Mutter darüber zu sprechen. Sie wurde wütend. Dann habe ich versucht, mit seinem Vater zu sprechen. Er glaubte mir nicht. Und dann habe ich all meinen Mut zusammengenommen und dieses Monster selbst darauf angesprochen, was ich gesehen habe. Er lachte mich aus und drohte mir, dass mir dasselbe passieren würde, wenn ich jemandem davon erzählte. Ausserdem würde mir erstens sowieso keiner glauben und zweitens sei er noch nicht volljährig, was bei einer Verurteilung höchstens ein paar Stunden Sozialdienst oder ähnliches einbringen würde.
Einige Wochen später habe ich dann einen Entschluss gefasst. Ich habe ihn angerufen und ihn um ein Treffen gebeten nach der Schule. Heimlich natürlich. Und dann habe ich das Messer genommen, das ich für meine Mitgift im letzten Sommer geschenkt bekommen habe. Es ist sowieso ein ziemlich altmodischer Brauch, einem Mädchen heutzutage noch Dinge für die Mitgift zu schenken. Aber es war so schön scharf, und ich konnte ihm damit ganz leicht die Kehle durchschneiden. Ich hatte es mir eigentlich viel schwieriger vorgestellt, aber er rechnete logischerweise nicht mit einem Angriff meinerseits. Warum sollte er auch. Zum Glück waren wir im Garten, so konnte das Blut gut versickern, sonst hätte ich es noch wegmachen müssen.
Ein Monster ist tot. Und es fühlt sich gut an.
Bis bald.
Zur gleichen Zeit hockte eine Journalistin namens Adline Grieben ganz am Rande des Geschehens auf der kleinen Mauer des Kastanienplatzes. Ein Bein links und eines rechts der Mauer. So hatte sie auf der einen Seite die grandiose Sicht über Crosby, einen Vorort von Liverpool im Nordwesten Englands, beleuchtet von unzähligen schmucken Strassenlaternen und Werbelichtern und auf der anderen Seite konnte sie im krassen Kontrast zu dieser Idylle die Geschehnisse auf dem Kastanienplatz beobachten. Der Himmel wechselte langsam die Farbe von schwarz zu morgen-blau. Bald würde er in der aufgehenden Sonne orange leuchten.
„Genau so orange wie das mittlerweile gelöschte Feuer von der alten Kastanie, an der jetzt die verkohlten Beine hängen.“ murmelte sie und übergab sich ein weiteres Mal über die Mauer. Es stank bestialisch nach verbranntem Menschenfleisch. Wäre sie nicht schon seit sie denken konnte eine Vegetarierin, hätte sie in dieser Nacht vermutlich beschlossen, eine zu werden.
Der Ortsname Crosby ist normannischen Ursprungs und heisst übersetzt so etwas wie Ort des Kreuzes. Vielleicht, so dachte sie trotz der sie immer wieder übermannenden Übelkeit, liesse sich daraus zu einem späteren Zeitpunkt eine gute Story machen.
„Eigentlich dachte ich immer, ich hätte diesen Job aus purer Abgebrühtheit gewählt“ sinnierte sie weiter. Aus Schau-Gier sozusagen, wobei sie das bisher nicht einmal sich selbst gegenüber jemals zugegeben hätte. Nun waren da aber Hunderte von Menschen, die ihren Blick nicht von dem abwenden konnten, was eigentlich Grauen auslösen müsste. Im Gegenteil. Man sah sich die verkohlten Beine an, als ob es sich um moderne Kunst handelte. Faszinierend allein durch die Tatsache, dass sie so entsetzlich war, dass keiner den Blick davon lassen konnte. Natürlich machte man dazu eine entsetzte Miene. So gehörte sich das auch.
Bisher hatte sie immer eine Entschuldigung für ihren Beruf, brutale Dinge und Vorkommnisse zu betrachten, zu fotografieren und zu beschreiben parat. Schliesslich verdiente sie damit ihren Lebensunterhalt. Sie sagte dann immer, einer müsse ja wohl darüber berichten, worauf sie hin und wieder mit einem mitleidsvollen Gesichtsausdruck belohnt wurde.
„Bisher“, überlegte Adline, „dachte ich es wäre eine Art Mitleid“.
Heute kam es ihr eher wie Selbstmitleid vor, als ob diese Leute gerne selbst dabei gewesen wären, um auch etwas „Gangsterluft“ schnuppern zu können und bedauerten, nicht selbst einen journalistischen Beruf gewählt zu haben. Gewalt zu sehen. Blut zu riechen.
„Jetzt haben sie, wonach sie sich alle gesehnt haben.“ dachte sie mehr übermüdet als boshaft. Sie rutschte langsam vom Mäuerchen und packte ihre sieben Sachen in den kleinen Rucksack, den sie immer mit sich zu führen pflegte. Die für ihren Rucksack viel zu grosse Kamera hängte sie sich samt Stativ über die Schulter.
Heute Nacht war ihre Nacht, ihr Sprungbrett für eine grosse Karriere. Sie hatte sich vor einigen Monaten verbotenerweise ein Hacker-App auf dem Handy installieren lassen, welches bei hoher Aktivität von Polizeifunk aus der Umgebung einen Warnton auslöste. Der Informatiker ihres Vertrauens war genial und – wenn auch nicht ganz gesetzeskonform – ein verlässlicher Komplize wenn es darum ging, bei nicht-alltäglichen Dingen die Journalistennase ganz weit vorne zu haben. Ein aktiver Warnton bedeutete in der Regel, dass sich irgendwo in der Stadt ein kleiner Tankstellenüberfall oder eine Schlägerei im Rotlichtviertel zugetragen hatte. Adline wartete schon lange auf eine Razzia, aber irgendwie schien sich die Polizei bei solchen Anlässen ohne Funk abzusprechen.
Aber heute Nacht brauchte sie es nicht, denn sie hatte einen Tip bekommen und war schon lange vor dem Warnsignal vor Ort. Sie war noch vor der Polizei und der Feuerwehr da und konnte als einzige Bilder des in Flammen stehenden Kastanienbaumes samt Beinen schiessen. Die zu der Zeit bereits anwesenden Schaulustigen knipsten zwar ebenfalls mit ihren Handys, aber ohne Stativ würden sie, selbst wenn sie die Einstellungen richtig setzten, kaum brauchbares Bildmaterial bekommen.
Offensichtlich beherbergte die kleine Stadt einige umsichtige Nachtschwärmer, die das Feuer auf dem Kastanienplatz sofort gesehen hatten und hochgeeilt waren, um nach dem Rechten zu sehen. Adline ging davon aus, dass diese dann nicht nur die Polizei, sondern auch Angehörige und Freunde über die Ereignisse informiert hatten, was schlussendlich dazu führte dass die halbe Stadt auf den Beinen war. Sie hätte ihre Familie nicht informiert in Anbetracht dieser Grausamkeit, aber da sie sowieso keine Verwandte hatte in Crosby, brauchte sie darüber auch nicht weiter nachzudenken.
Adline, die ihre Bilder und einen kurzen Bericht bereits an ihre Zeitung gemailt hatte, schwirrten unzählige mögliche Folgeartikel im Kopf herum. Im Vergleich zum mit Artikel-Ideen gefüllten Gehirn befand sich im Magen derzeit nichts mehr. Der Gestank des verkohlten Fleisches hatte ihm den gesamten Inhalt mehrfach entlockt.
Hinzu kam nun noch diese spezielle Stimmung der Menschen. Eine Mischung aus Entsetzen, Angst und Gier. Die Gier der Schaulust. Wäre der Gestank nicht so abartig gewesen, hätte auch sie sich diese verkohlten Beine vielleicht noch einen Tick länger betrachtet. Wo sonst schon konnte man menschliche Räucherbeine an verkohlten Kastanienbäumen betrachten.
Die Polizei war zwar schon länger da, aber durch die vielen Schaulustigen, die sich der Polizei für Zeugenbefragungen regelrecht aufgedrängt hatten, musste sie nicht fürchten, selbst auch noch befragt zu werden. Adline hatte aus unterschiedlichen Gründen keine Lust auf eine solche Befragung: Erstens war sie todmüde und zweitens bekam man keine journalistisch relevanten Informationen aus einer solchen Befragung. Da sie sowieso keine Angaben zum Tathergang machen konnte, wollte sie hier auch keine weitere Zeit verlieren. Sie wollte erst einmal gründlich ausschlafen.
Kurz nach Tagesanbruch machte sich Adline auf den Weg nach Hause. Eine Hand schützend vor die teure Kamera haltend, durchquerte sie den Platz, wo sich mittlerweile fast nur noch Polizeibeamte befanden.
Die damit geschossenen Bilder und ein kurzer Bericht, den sie vom Handy aus an ihre Zeitung gemailt hatte, würden von Kollegen bearbeitet und für den Druck vorbereitet.
„Das wird mir sicher einen Bonus einbringen“. Obwohl sie sich natürlich über einen Zuschuss in der Form eines Bonus freute, strebte sie insgeheim nach etwas anderem. Lob und Anerkennung warteten auf sie, da war sie sich sicher. Sie liebte es, Firmengespräch Nummer Eins zu sein, die Blicke die ihr folgten, wenn sie es war, die am Ende des Monats nach vorne treten konnte und sich den Reportage-Blumenstrauss abholen konnte. Es gab jeden Monat einen kleinen Preis in Form eines Blumenstrausses für den besten Bericht des Monats und einmal im Jahr die Auszeichnung für den oder die beste/ n Journalisten des Jahres. Diese Auszeichnung wollte sie unbedingt haben und spekulierte darauf, ihn durch dieses Ereignis am Kastanienplatz auch zu erhalten.
Mitten auf der Steintreppe surrte und zuckte es plötzlich in ihrer Handtasche und Adline stellte genervt fest, dass sie vergessen hatte, das Handy auf stumm zu schalten. Während Sie die lange Treppe ins Städtchen hinunter eilte, kramte Sie das surrende Ding hervor und knurrte, etwas aus der Puste, ein „Ja, Grieben!“ hinein.
„Adeliiiiiine, Liebes!“ säuselte es ungewohnt freundlich am Ende der Leitung. Es war Joe Reacock, Adlines Chefredakteur vom Klatschblatt HIERundJETZT.
Sie mochte ihn kein bisschen und missgönnte ihm den Posten als Chefredakteur. Schliesslich hatte er diesen nur deshalb bekommen, weil sein Onkel das Blatt vor einigen Jahren mit einer kleinen Gönnerschaft aus der Patsche gerettet hatte. Adlines Bericht, ergänzt mit den Bildern, die sie von den noch brennenden Beinen hatte schiessen können, hatte nicht nur auf ihren beruflichen Erfolg eine positive Auswirkung. Je erfolgreicher HIERundJETZT wurde, desto erfolgreicher wurde auch Joe Reacock. Kein Wunder war er jetzt so zuckersüss zu ihr. Adline machte sich nichts daraus. Sobald sie bekannt genug war, würde sie eine Stelle bei einem renommierten Blatt suchen. Dann konnte er sich eine andere suchen, die er mit Zuckerbrot und Peitsche immer wieder in die Schranken weisen konnte. Seine Stimmungsschwankungen nervten sie gewaltig, man wusste bei ihm nie genau, woran man eigentlich war.
Viel passierte nicht im Städtchen Crosby und nichts war schlimmer für eine Tageszeitung mit Klatschblattcharakter als traute Harmonie weit und breit. Dramen und Tragödien waren letztendlich das täglich Brot einer jeden Zeitung. Ihr Name würde in aller Munde sein, zumindest unter den Zeitungsfachleuten, überlegte Adline.
„Herr Reacock, schön sie zu hören!“
„Grandiose Arbeit! Ich wusste sie würden es noch zu etwas bringen!“
„Sie haben also meinen Bericht erhalten.“ Adline ignorierte die bösartige Anspielung ihres Vorgesetzten. Er konnte es nicht lassen, seine Angestellten niederzumachen, auch wenn es dafür keinerlei Grund gab. Sie war eine sehr gute Journalistin und hatte es nicht nötig, sich von solchen Bemerkungen auch nur ansatzweise aus der Ruhe bringen zu lassen.
„Er ist der Burner! Wir haben die Story auf der ersten Seite platziert und Ihren Bericht auf die ersten drei Seiten des Blattes ausgedehnt. Drei Seiten meine Liebe! Nur für Ihren Bericht. Zudem gibt es eine Bildstrecke.“
„Das ehrt mich natürlich sehr.“
„In zwei Stunden ist das Blatt gut zum Druck und geht dann gleich in den Verkauf. Sie haben gute Arbeit geleistet. Ich gratuliere, Frau Grieben!“
„Danke. Ich bin auf dem Weg nach Hause und...“
„Tüt tüüt tüüt tüüt.“
Die Verbindung war abgebrochen. Genauer gesagt, Adline hatte ihren ich-will-jetzt-schlafen-Joker gezogen, was einer Entnahme des Akkus aus dem Handy gleichkam. Der Trick dabei war, dass man diese Entnahme rechtzeitig vornehmen musste, nämlich exakt eine Sekunde bevor Reacock die Ansage kommen Sie doch noch kurz zu mir ins Büro um den Artikel nochmals gemeinsam durchzugehen